Soundpolitics von Shakira bis Beyoncé

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Soundpolitics von Shakira bis Beyoncé
Soundpolitics von Shakira bis Beyoncé | norient.com                       3 Nov 2021 02:38:39

    Soundpolitics von Shakira bis
    Beyoncé
    I N T E R V I E W by Anja Wernicke

    «Shakira ist die Allzweckwaffe des Exotizismus in der
    Popmusik» sagt der Musikwissenschaftler Markus Henrik
    Wyrwich. Gerade hat er ein Buch zu Orientalismus in der
    Popmusik veröffentlicht und hat neben anderen Norient-
    Autorinnen und Autoren am 8. November 2013 auf der
    Tagung «Popular Orientalism(s). In Erinnerung an Edward
    Said als Musikkritiker» in Hildesheim vorgetragen. Im
    Interview spricht der Berliner über seine Analysen populärer
    Orientalismen, über soundpolitics und darüber, wie ihn
    Edward Said beeinflusst hat.
    Zu Hause? Wo oder was ist das eigentlich? fragte sich bereits der
    Internatsschüler Edward Said, als seine Mitschüler im Sommer «nach Hause»
    in die Ferien gingen. Später als Student und Jung-Wissenschaftler setzte sich
    dieses Gefühl des Entwurzeltsein für ihn fort. Seine Autobiografie nannte er
    Out of Place, auf Deutsch übersetzt mit «am falschen Ort», wobei es sich
    doch für ihn scheinbar nicht so sehr um eine Täuschung bzw. Verirrung dreht,
    als vielmehr dem grundsätzlichen Nichtvorhandensein eines Bezugsorts,
    weder hier noch da fühlte er sich «in place», also am richtigen Ort.

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    Diese Distanzierung erlaubte ihm einen Schritt zurück zutreten und zu
    betrachten, welche kulturellen Repräsentationen eigentlich mit dem
    geografischen und kulturellen Raum, in dem er seine erste physische Heimat
    erlebte, in der westlichen Welt verbunden werden.

    Der Orient und seine Orientalismen, das heisst Klischees und
    Repräsentationen mit denen im Westen «der Orient» verbunden wird, sind
    Erfindungen und Konstruktionen des Okzidents. Das «Andere» wird hier in
    wenige Attribute gepresst und damit benennbar gemacht. Said enttarnte die
    Denkweise, die durch die verbale Unterscheidung in Orient und Okzident
    geprägt ist. Er untersuchte weiter die historische Entwicklung des Begriffs
    des Orients und wie die damit verbundenen Repräsentationen und Klischees,
    die bis heute damit einhergehen, entstanden sind. Edward Saids viel
    rezipiertes Buch Orientalism (1978) gilt als ein Gründungsdokument
    Postkolonialer Theorie (mehr zu Said im aktuellen Feature auf
    Deutschlandradio Kultur).

    [Anja Wernicke]: Was bedeutet Orientalismus für sie?

      [Markus Henrik Wyrwich]: Für mich ist der Orientalismus-Begriff mit
      politischen Implikationen eingefärbt - wie man es auch bei Edward Said
      lesen kann. Ich habe mich sehr dafür interessiert, wie dies in der Musik
      aussieht. Dabei habe ich nicht versucht, krampfhaft bestehende
      Orientalismus-Thesen in der Musik zu verifizieren. Es war vielmehr
      inspirierend, den Orientalismus als theoretisches Konzept beziehungsweise
      analytische Perspektive heranzuziehen, um damit gewisse ideologische
      Muster in der Popmusik kritisch zu hinterfragen.

    [AW]: Was bedeutet das für die Musik? Warum greifen Shakira und
    Beyoncée zum Beispiel Orientalismen auf?

      [MHW]: Die Musikindustrie muss im grossen Kampf um Aufmerksamkeit
      ständig neue auditive und visuelle Reize liefern. Für mich persönlich war es
      interessant, den Sound im Kontext einer Orientalismus-Debatte näher zu
      untersuchen. Natürlich gibt es auch Orientalismen in Liedtexten, wenn ich
      zum Beispiel an Madonna denke, die solche Worte wie «Karma» verwendet
      hat. Dem Sound näher auf den Grund zu gehen, stellt allerdings eine
      besondere Herausforderung dar, weil die Forschung hier immer noch auf
      der Suche nach geeigneten Analysetechniken und Beschreibungstermini ist.
      Eine meiner Hauptthesen im Buch ist, dass in vielen Fällen mit
      orientalistischen Sounds ein gewisser Angstreiz ausgelöst wird. Der
      Orientalismus wird genutzt, um Spannungen zu erzeugen, die wiederum für
      Aufmerksamkeit beim Rezipienten sorgen. Sehr verkürzt ausgedrückt: Zum
      Teil schwingen im Sound die negativen Orient-Assoziationen mit, jene die
      aufgeladen sind mit terroristischen Bildern oder der Angst vor einem
      vermeintlichen kulturellen Antagonismus.

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    [AW]: Wie schätzen Sie denn diese Situation mit Hinblick auf die Musiker ein,
    die aus den Gebieten stammen, die zum Orient gezählt werden. Ist es für sie
    eine ungerechte Sache, dass sie sofort mit solchen Stereotypen assoziiert
    werden oder ist es vielleicht sogar eine Chance für sie Aufmerksamkeit zu
    erhalten?

      [MHW]: Ich habe mit verschiedenen Musikern Gespräche dazu geführt. An
      «Beautiful Liar» von Shakira, dem Hauptanalysegegenstand meiner Arbeit,
      waren zwei in Syrien bzw. Ägypten beheimatete Musiker beteiligt. Kareen
      Roustom, zum Beispiel, war damit betraut worden, die
      Streicherarrangements für einen Zwischenteil im Song zu komponieren.
      Sehr interessant war die im Gespräch hervortretende Ambivalenz des
      Musikers, einerseits zu einem gewissen Grad im vollen Bewusstsein
      musikalische Klischees erzeugen zu wollen, andererseits aber den Versuch
      zu unternehmen, eine musikalische Ausdifferenzierung im Rahmen des
      Möglichen vorzunehmen.

    [AW]: Es ist ja nicht das erste Exotismus-Klischee, dass von Shakira bedient
    wird. Gibt es da ein Ende oder kommt es auf die immer neue Suche an?

      [MHW]: Shakira scheint die Allzweckwaffe des Exotizismus in der Popmusik
      zu sein. Man erinnert sich vielleicht an die Fussball-WM 2006 in Südafrika,
      als sie den Song «Waka Waka» präsetnierte. Dieser war hoch umstritten, da
      die Rechte wesentlicher Teile des Songs nachweislich bei einer
      afrikanischen Band lagen und Sony Music sich juristisch lange quer stellte.
      Irgendwann gab es eine aussergerichtliche Einigung. Das war natürlich hoch
      paradox, wenn Shakira als Popstarmarke als offene, tolerante Person
      inszeniert wird und dann solch ein global wahrgenommener Song einfach
      geklaut wird. Das Gesamtphänomen Shakira muss sehr kritisch beäugt
      werden. In fast jedem exotizistischem Video, wie auch bei «Waka Waka», ist
      sie selbstverständlich barfuss inszeniert, sie tanzt auf Sand, um eine
      vermeintliche Naturverbundenheit auszudrücken. Persönlich kann man das
      als ziemlich anstrengend empfinden, objektiv ist dies aber Teil der
      industriellen Inszenierungslogik anzusehen.

    [AW]: Ein weiteres Beispiel aus ihrem Buch bzw. aus ihrem Vortrag am
    Symposium «Orientalism(s)» in Hildesheim ist ein Lied von Maroon 5. Da ist
    der «Orientalismus» ja weniger offensichtlich. Wie begründen sie dieses
    Beispiel?

      [MHW]: Hier beziehe ich mich auf eine Single, die vielleicht nicht so oft im
      deutschen Radio lief, die allerdings in Amerika sehr bekannt wurde und bei
      Tour-Konzerten als Eröffnungssong gespielt wurde. «Shiver» – so der
      Name des Songs – wurde mit einem orientalistisch aufgeladenen
      Gitarrenlick ausproduziert. Live wurde der Song in Fernsehshows auf
      orientalischen Teppichen performt. Interessant ist hierbei, wie der in der
      Popmusikforschung relativ ausdifferenziert debattierte Rockmusikdiskurs

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      zum Tragen kommt und gegen ein feminisiertes Orientklischee textlich und
      musikalisch ausgespielt wird. Der männlichen Rockästhetik werden
      zerbrechliche orientalistische Melodien gegenübergestellt. Die Rationalität
      des Mannes trifft auf das «paralysierende», «hypnotisierende» und
      gefährliche Anteile einer Frau.

      Was mich umtrieb, ist die Frage, woher kommt das eigentlich? Ob als
      Rezipient oder Produzent, worauf geht diese tiefe Klischeeverwurzelung
      zurück, so dass mitunter drei bis vier Töne auszureichen scheinen, um den
      Orient zu repräsentieren. Wo haben wir in unserem westlichen kulturellen
      Gedächtnis melodiös beziehungsweise vom Sound her den Orient
      abgespeichert?

    [AW]: Haben Sie das in Ihrem Buch auch diskutiert?

      [MHW]: Ja, das ist eine Kernfrage. Ich habe eine kleine Kulturgeschichte der
      Orientklischees zusammen getragen und dann versucht eine kleine
      Geschichte der Popmusik zu schreiben, um historische Schlüsselereignisse
      sichtbar zu machen. Die Weltausstellung 1893 in Chicago repräsentiert ein
      solches, als Bauchtänze zu bestimmten Melodien aufgeführt wurden, die
      sich bis heute in diversen westlichen Musikproduktionen wiederfinden.
      Gewisse musikalische Konstruktionen sind scheinbar zur Natur geworden,
      um damit den vermeintlichen Orient repräsentieren zu können.

    [AW]: Gibt es da für Sie einen Ausweg?

      [MHW]: Ich sehe es schon kritisch, Es ist nicht immer genau zu belegen, ob
      gewisse orientalistische Zugänge vielleicht sogar für einen interkulturellen
      Austausch sorgen oder ob sie einfach nur Klischees bis hin zu rassistischen
      Ressentiments bedienen. Sorgsam gewählte Kollaborationsprojekte können
      gewiss zur Verständigung beitragen. Wenn mit drei bis vier Tönen Millionen
      von Menschen und verschiedenste Kulturen klanglich abgebildet werden
      sollen, dann sollte man dies nicht als vollkommen beliebig ansehen und
      wissenschaftlich übergehen. Der Sound ist in seiner Wirkung deutlich
      subversiver, als es vielleicht so manche Textzeile und weniger abstrakte
      künstlerische Ausdrucksformen sein können.

    [AW]: Was erhoffen Sie sich von dem Symposium?

      [MHW]: Es ist die erste Konferenz nach Veröffentlichung des Buches und
      ich freue mich auf die Interdisziplinarität der Teilnehmer und darauf, Kritik
      und Anregungen mitzunehmen.

    [AW]: Sind Sie selber auch Musiker?

      [MHW]: Ja, ich habe recht viel politische Rockmusik gemacht. Mittlerweile
      sind auch Arbeiten im Bereich der Filmmusik dazu gekommen. Ich
      persönlich mag musikalische Projekte am meisten, wenn mit Ihnen

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      gesellschaftlich etwas bewegt werden kann.

    [AW]: Wie möchten Sie in Zukunft weiterforschen?

      [MHW]: Bisher habe ich vor allem die Produktionsprozesse analysiert. Ich
      habe für die Analyse von «Beautiful Liar» den Wertschöpfungsprozess
      aufgeschlüsselt und den Produktionsdiskurs untersucht. Auch hier ist es
      sehr interessant zu sehen, wie selbstverständlich gewisse Orientklischees
      einbezogen wurden und durch alle Instanzen liefen. In Zukunft würde ich
      mich gern vermehrt mit der Rezeptionsseite beschäftigen und auch etwas
      zur musikalischen Orientalismusforschung beitragen.

    [AW]: Wie haben Sie die drei Aspekte Musik, Performance, Marketing in Ihrer
    Analyse verbunden?

      [MHW]: In der Musikwissenschaft hat man sich teilweise stark auf einzelne
      Bereiche konzentriert, diese analytische aus dem Gesamtkontext
      herausgelöst und dabei die Rezeptionsrealität ausgeklammert. Ich habe
      mich bemüht, einen ganzheitlichen Ansatz umzusetzen, der auch breitere
      Hörerschaften berücksichtigt. Dabei spielen auch Marketing-Aspekte eine
      Rolle, das Zielgruppendesign, Veröffentlichungsstrategien, visuelle
      textuelle Elemente etc.

    [AW]: Stichwort Soundpolitics. Aus welcher Perspektive betrachten Sie denn
    das Verhältnis von Musik und Politik?

      [MHW]: Auch hier finde ich die Frage nach dem Sound spannend. In den
      frühen Anfängen der Popmusikforschung hat man sich der Einfachheit
      halber primär auf Liedtexte gestürzt. Mittlerweile hat es aber einen grossen
      Wandel gegeben und es wird der Frage auf den Grund gegangen, welche
      politischen Implikationen im Sound liegen können.

    [AW]: Wie hat sie da Edward Said in der Analyse beeinflusst?

      [MHW]: Die Lektüre seines Buches damals im Studium war ein grosses
      Schlüsselereignis. Said hat historisch an vielen Beispielen gezeigt, wie gross
      die Notwendigkeit ist, vermeintlich Gegebenes zu hinterfragen. Ansonsten
      haben mich verschiedene Musikwissenschaftler stark beeinflusst, die das
      Spektrum der Musikanalyse etwas weiter gefasst haben. Wie zum Beispiel
      Keith Negus, der sich mit der Popmusikindustrie auseinandersetzt oder
      Marcel Eng, der mit seinem Buch «Popstars als Marke» erfolgreich eine
      Brücke zwischen der Analyse von Musik und Musikindustrie geschlagen hat.

    [AW]: Welches aktuelle Lied beschäftigt sie denn? Welches haben sie zuletzt
    gehört. dass sie gern analysieren würden bzw. für eine Analyse interessant
    fänden?

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      [MHW]: Ja, da gibt es zum Beispiel das Stück «Talk Dirty» von Jason Derulo,
      das zur Zeit ganz hoch in den Charts ist. Auch hier tritt eine orientalistische
      Sound-Hookline im Zentrum des Songs hervor, die zweifelsohne analytisch
      relevant ist, da ihr ein wesentlicher Anteil zur erfolgreichen Verbreitung des
      Songs anzurechnen ist.

    Markus Henrik Wyrwich
    Orientalismus in der Popmusik
    ISBN 978-3-8288-3203-9
    398 Seiten, Paperback
    Tectum Verlag 2013

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    → Published on June 05, 2014

    → Last updated on January 04, 2021

    Anja Wernicke lebt in Basel und ist als Kulturjournalistin sowie als Kulturmanagerin
    für verschiedene Projekte im Bereich der zeitgenössischen Musik tätig.

    → Topics
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    → Topics

              Colonialism
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