Stabilitätspolitische Erfolge, Verfall der Reformbereitschaft

 
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Stabilitätspolitische Erfolge, Verfall der Reformbereitschaft
Merkels Finanzpolitik – 17. September 2021

„Stabilitätspolitische Erfolge, Verfall der
Reformbereitschaft“
Ökonomische Bilanz der Ära Merkel: Seit 2005 erlebte die Bundesrepublik tiefe
Krisen, aber auch beispiellosen Wohlstand. Es wäre die beste Zeit gewesen, um
Deutschland fit zu machen für die Zukunft. Doch Angela Merkel verlor früh ihren
Reformeifer.
von Prof. Clemens Fuest

Die haushalts- und finanzpolitische Bilanz der Ära Merkel enthält Licht und Schatten. Der größte
Erfolg liegt darin, dass die Stabilität der deutschen Staatsfinanzen in dieser Zeit weniger gelitten hat
als in anderen Ländern, obwohl die Wirtschaft die beiden tiefsten Wirtschaftskrisen seit dem
Zweiten Weltkrieg überstehen musste - die globale Finanzkrise und die Corona-Pandemie. Die
wichtigsten Schwächen sind die mit der Zeit nachlassende Bereitschaft zu weitsichtigen Reformen
und die zunehmende Tendenz zu kurzfristig und wahltaktisch orientierter Finanzpolitik.

Der sichtbarste Indikator für die Stabilität der deutschen Staatsfinanzen ist die Staatsschuldenquote,
also das Verhältnis aus Staatsschulden und Bruttoinlandsprodukt. Sie lag im Jahr 2005, als Angela
Merkel Bundeskanzlerin wurde, bei 67 Prozent, stieg während der globalen Finanzkrise im Jahr
2010 auf 82 Prozent, sank bis zum Jahr 2019 aber wieder auf 60 Prozent. Durch die Coronakrise
wird die Quote in diesem Jahr voraussichtlich wieder über 70 Prozent liegen. Aber dieser Anstieg
ist in einer tiefen Krise auch sinnvoll.

Die Finanzen anderer europäischer Länder haben sich deutlich schlechter entwickelt. Frankreichs
Staatsschuldenquote lag 2005 ebenfalls bei 67 Prozent und stieg infolge der globalen Finanzkrise
bis 2010 auf 85 Prozent. Anders als in Deutschland stieg sie danach jedoch weiter an und erreichte
im Jahr 2019 98 Prozent. Italien hatte 2005 mit Staatsschulden von 107 Prozent der
Wirtschaftsleistung bereits eine schlechtere Ausgangsposition. Die Kombination aus Finanz- und
Euro-Krise warf das Land wirtschaftlich weiter zurück, 2019 lag die Schuldenquote dort bei 135
Prozent. Infolge der Coronakrise wird die Quote voraussichtlich auf Werte um 160 Prozent steigen.

Die hohe Verschuldung der Partnerländer hat mittlerweile allerdings auch für Deutschland
Konsequenzen. Als die Coronakrise ausbrach, drohte an den Finanzmärkten eine Wiederholung des
Vertrauensverfalls, der Italien und andere Länder in der Euro-Krise an den Rand des Staatsbankrotts
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gebracht hatte. Um das abzuwenden, wurde mit dem Rettungsfonds "Next Generation EU" ein
umfangreiches Transferprogramm aufgelegt, bei dem Deutschland Nettozahler ist. Zu verhindern,
dass die Probleme der Euro-Krise zurückkehren, lag auch im deutschen Interesse. Kritiker
bemängeln, die finanzpolitische Disziplin Deutschlands führe nur dazu, dass das Land Transfers an
Staaten zahlen muss, die sich weniger anstrengen, ihre Finanzen unter Kontrolle zu halten.

Wie groß waren finanzpolitische Anstrengungen und Disziplin in Deutschland wirklich? Der
Rückgang der deutschen Schuldenquote um 22 Prozentpunkte in den Jahren zwischen 2010 und
2019 ist Folge erheblicher Haushaltsüberschüsse, die mit der von Finanzminister Wolfgang
Schäuble vertretenen Politik der "schwarzen Null" eingeleitet wurden. Übermäßig anstrengen
musste die deutsche Finanzpolitik sich dafür allerdings nicht. Gelegentlich wird behauptet, der
Bevölkerung sei "Austerität" zugemutet worden oder man habe öffentliche Investitionen
vernachlässigt. Tatsächlich kann von Austerität zumindest bei den Ausgaben keine Rede sein. Die
öffentlichen Ausgaben ohne Zinsen und Investitionen betrugen 2019 41,6 Prozent des BIP und
lagen damit ungefähr so hoch wie 2005 mit 42 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es 2005
etwa doppelt so viele Arbeitslose gab wie 2019, die unterstützt werden mussten. Austerität in Form
sinkender konsumtiver Staatsausgaben gab es also nicht. Es gab auch keine Kürzungen der
Investitionen, im Gegenteil: Der Anteil der öffentlichen Investitionen am BIP stieg sogar um ein
Viertel, von rund zwei Prozent 2005 auf 2,5 Prozent 2019. Sicherlich hätte man hier mehr tun
können, vor allem bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors. Aber hier fehlten wohl eher
Agilität und Problembewusstsein als Geld.

Ermöglicht wurde die schwarze Null durch zwei andere Faktoren: Der erste ist der Zinsrückgang.
2005 betrugen die öffentlichen Zinsausgaben noch 2,8 Prozent des BIP. 2019 waren es nur noch 0,8
Prozent. Der zweite Faktor ist eine steigende Steuerlast: Die Abgabenquote stieg von 38,8 Prozent
im Jahr 2005 auf 41 Prozent im Jahr 2019.

Auch wenn die schwarze Null Angela Merkel also quasi in den Schoß gefallen ist, muss man
anerkennen, dass diese Politik Deutschland finanzielle Spielräume verschafft hat. In der
Coronakrise konnte Deutschland die Konjunktur massiv stützen, ohne befürchten zu müssen, dass
das Vertrauen in die finanzielle Solidität des Landes leidet.

Diesen stabilitätspolitischen Erfolgen steht ein Verfall der Reformbereitschaft vor allem in der
Steuer- und Sozialpolitik gegenüber. In den frühen Jahren der Ära Merkel war das noch anders.
2008 wurde die Unternehmensbesteuerung neu geordnet, unter anderem sank der Steuersatz auf
Unternehmensgewinne von 38 auf 30 Prozent. Es folgt die Einführung der Schuldenbremse im Jahr
2009. Beide Reformen sind bis heute umstritten. Aber die Politik hat gehandelt, um die langfristige
Wachstumsentwicklung und die Stabilität der Staatsfinanzen zu stärken.

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In den Jahren danach richtete sich die Finanz- und Haushaltspolitik stattdessen eher auf das
Verteilen von Wohltaten aus. Dabei erschien Wahltaktik wichtiger als sozialpolitische
Zielgenauigkeit. Das betrifft vor allem die Rentenpolitik. Beispiele sind die Rente ab 63, die
Mütterrente und die Grundrente.

Der Vorwurf, dass diese Leistungsausdehnung angesichts der Demografie Nachhaltigkeit und
Generationengerechtigkeit gefährde, wurde mit dem Versprechen der "doppelten Haltelinie"
beantwortet. Danach sollen die Renten nicht unter ein gewisses Niveau sinken, die Beiträge aber
auch nicht über einen Höchstwert steigen. Diese Politik erweckt den Eindruck, dass das Geld, mit
dem die künftigen Renten bezahlt werden, wohl vom Himmel fallen wird. Die vielleicht
unpopuläre, aber notwendige Antwort auf die Frage, wie die absehbaren Finanzlücken gefüllt
werden sollen, wird verweigert. In der Kranken- und Pflegeversicherung gibt es ähnliche Probleme.

Zu dieser Realitätsflucht in der Sozialpolitik hat sich eine Reformverweigerung in der Steuerpolitik
gesellt. Andere Länder haben in den letzten zehn Jahren Steuern für Unternehmen gesenkt, um
Investitionen und Beschäftigung zu fördern. Deutschland hat auf diesem Gebiet seit 2008 nichts
getan und weist deshalb im internationalen Vergleich mittlerweile eine der höchsten Steuerlasten
für Unternehmen auf.

Bei der Einkommensteuer ist es erforderlich, die Erwerbsanreize für die Zweitverdiener zu
verbessern. Im System der Sozialtransfers herrscht ein irrationaler Wildwuchs, mit der Folge, dass
mehr Erwerbstätigkeit im Niedrigeinkommensbereich teilweise finanziell bestraft wird. So wird
verhindert, dass Menschen sich aus eigener Kraft aus der Abhängigkeit von staatlichen Hilfen
befreien. Reformbedürftig sind auch die Kommunalfinanzen, deren Abhängigkeit von der
Gewerbesteuer in der aktuellen Krise erneut Schaden angerichtet hat. Es wäre nicht schwer, diese
Probleme zu lösen. Aber es geschieht nichts.

Ob die erlahmenden Reformkräfte mit der langen Amtszeit von Angela Merkel zu tun haben oder
nicht, darüber kann man nur spekulieren. Die nächste Bundesregierung hat jedenfalls die Chance
und die Pflicht, diesen Reformstau mit neuem Elan aufzulösen.

Sie kann sich dabei immerhin auf Staatsfinanzen stützen, die trotz aller Versäumnisse und künftiger
Herausforderungen vergleichsweise solide sind.

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Stabilitätspolitische Erfolge, Verfall der Reformbereitschaft
Haushaltspolitik: Hohe Einnahmen, hohe Ausgaben

Mit ihrem Leipziger Reformprogramm von 2003 wollte Angela Merkel einst auch das deutsche
Steuersystem vereinfachen. Ihr Plan sah nur noch drei Steuertarife vor. In ihrer Regierungszeit
änderte Angela Merkel am Steuersystem trotz Reformbedarf dann aber einfach so gut wie gar nichts
- und Deutschland wurde zum Hochsteuerland.

Da gleichzeitig die Wirtschaft florierte, füllten sich die Kassen des Staates in seit Jahrzehnten nicht
gekanntem Ausmaß. Zum Teil wurde das Geld durchaus sinnvoll eingesetzt. So schraubte die
amtierende Bundesregierung die Investitionen mit 50 Milliarden Euro pro Jahr auf ein neues
Rekordhoch.

Gleichzeitig nehmen die Ausgaben für Soziales einen immer größeren Raum im Haushalt ein. Der
aktuelle Anstieg hängt stark mit der Coronakrise zusammen. Doch laut aktuellen Prognosen wird
die Sozialquote auch 2025 bei 32 Prozent liegen - fast drei Prozentpunkte höher als zur Mitte des
vergangenen Jahrzehnts, das sind gut 100 Milliarden Euro im Jahr.

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Stabilitätspolitische Erfolge, Verfall der Reformbereitschaft
Wachstum: Ein zweites deutsches Wirtschaftswunder

Trotz aller Krisen werden die Merkel-Jahre als eine Zeit des Wohlstands in die Geschichtsbücher
eingehen. Dies zeigt insbesondere ein Vergleich mit den G7-Staaten. Kein anderer der großen
Industriestaaten wuchs in den vergangenen 16 Jahren unterm Strich stärker als Deutschland, nicht
einmal die wachstumsverwöhnten USA. Deutschland gelang es, große Wirtschaftskrisen wie die
Finanzkrise 2008 oder Corona relativ gut abzufedern. Und die Jahre 2010 bis 2020 bezeichnen
Ökonomen sogar als "goldende Dekade", weil die deutsche Wirtschaft in dieser Zeit
ununterbrochen wuchs, die Beschäftigung ebenso unaufhörlich stieg und die Arbeitslosigkeit sank,
in Teilen des Landes sogar nahezu verschwand. Auch die Löhne zogen zuletzt stärker an.

Allerdings hat das Wachstum in Deutschland auch die Ungleichheiten im europäischen
Währungsraum verschärft. Während die Wirtschaft in der Bundesrepublik stark wuchs, ist etwa das
Bruttoinlandsprodukt in Italien pro Kopf zwischen 2008 und 2018 sogar gesunken.

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Staatsverschuldung: Die schwarze Null

Die Schuldenquote Deutschlands glich jahrzehntelang einer stetigen Bergauffahrt. Egal unter
welchem Bundeskanzler, die Schulden gemessen an der Wirtschaftskraft legten zu. Bis Merkel das
Zepter übernahm. Unter ihr glich die Entwicklung der Schulden einer Achterbahnfahrt. In der
Finanzkrise 2008/2009 stieg der Schuldenstand stark an. Doch danach setzte eine lange
Konsolidierungsphase ein. Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble verordneten dem
Land eine "schwarze Null", an der sogar Schäubles SPD-Nachfolger Olaf Scholz zum Entsetzen
seiner Parteifreunde festhielt. Die Verschuldung sank, bis sie durch die staatlichen
Rettungsmaßnahmen in der Coronakrise wieder in die Höhe schoss, etwas unter den Stand zur Zeit
der Finanzkrise. Merkel gelang es so zumindest, die Verschuldung trotz gleich zweier Jahrhundert-
Krisen stabil zu halten.

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