Streik(recht) in der Internationalen Arbeitsorganisation
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PERSPEKTIVE Streik(recht) in der Internationalen Arbeitsorganisation Steht das System zur Überwachung internationaler Arbeits- und Sozialstandards auf der Kippe? CLAUDIA HOFMANN Mai 2014 n Auf der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) 2012 blockierte die Arbeitgeberseite die Verabschiedung und Diskussion einer Liste von Staaten, denen – auf der Basis des jährlichen Berichts des Sachverständigenausschusses – die schwersten Verletzungen internationaler Arbeits- und Sozialstandards vorgeworfen werden. Die Erörterung dieser Liste, das damit verbundene »naming and shaming« im Konferenzausschuss der IAK und die abschließenden Handlungsempfehlungen an betreffende Staaten stellen ein zentrales Element der Überwachung der IAO-Normen dar, das in diesem Fall gänzlich außer Gefecht gesetzt wurde. n Vordergründig bestreiten die Arbeitgebervertreter_innen, dass den Normen der In- ternationalen Arbeitsorganisation (IAO), insbesondere dem Übereinkommen Nr. 87, ein Streikrecht entnommen werden kann. Darüber hinaus stellen sie jedoch das Man- dat und die Reichweite des Sachverständigenausschusses zur Debatte. n Die Lösung der Streitfrage wird für die Zukunft der IAO wegweisend sein und über die Chancen für eine effektive Durchsetzung internationaler Arbeits- und Sozial- normen auch in internationalen Freihandelsabkommen entscheiden. Wünschens- wert wäre eine explizite Erklärung der Internationalen Arbeitskonferenz, die dem Sachverständigenausschuss ausdrücklich die Kompetenz zur verbindlichen Ausle- gung der IAO-Normen einräumt.
CLAUDIA HOFMANN | STREIK(RECHT) IN DER INTERNATIONALEN ARBEITSORGANISATION Der Ausgangspunkt: Widerstand Im Grunde geht es bei dieser Debatte um nichts weni- gegen die Auslegungspraxis des ger als die Sicherung der Handlungsfähigkeit der IAO Sachverständigenausschusses und der Effektivität der Überwachung internationaler Arbeits- und Sozialstandards. Der Sachverständigenaus- Die Frage, ob dem Normenbestand der Internationa- schuss erfüllt hier eine wesentliche Funktion, da er die len Arbeitsorganisation (IAO) – dabei insbesondere den Berichte der IAO-Mitgliedstaaten zu den von ihnen ra- Regelungen des Übereinkommens Nr. 87 über Vereini- tifizierten Übereinkommen auswertet und auf etwaige gungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes Verstöße in seinem jährlichen Bericht hinweist. Dieser (1948) – ein Streikrecht entnommen werden könne, war Bericht liefert die Grundlage für das öffentliche »naming über Jahrzehnte unbestritten; seit 1994 ist sie jedoch and shaming« der gravierendsten Fälle im Konferenzaus- Gegenstand einer kontrovers geführten Debatte zwi- schuss (auch Normenanwendungsausschuss genannt) schen den Vertreter_innen der Arbeitnehmerschaft und der IAK. Wenn die Arbeitgeberseite nun die Reichweite der Arbeitgeberschaft sowie der Regierungen. Dieser des Mandats des Sachverständigenausschusses infrage schwelende Konflikt eskalierte im Jahr 2012, als sich die stellt, greift sie folglich das »Herzstück« des Überwa- Gruppe der Arbeitgebervertreter_innen im Rahmen der chungsmechanismus an. Sollte es gelingen, den Beurtei- Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) weigerte, eine lungsspielraum des Ausschusses einzuschränken, wäre Liste von 25 IAO-Mitgliedstaaten zu beschließen und zu die unabhängige Entscheidungsfindung dieses Gremi- diskutieren, denen die gravierendsten Verletzungen von ums nicht mehr gewährleistet. Es entstünde somit der IAO-Übereinkommen vorgeworfen werden. Eindruck, dass sich die Staaten missliebiger Feststellun- gen durch den Sachverständigenausschuss einfach da- Die Seite der Arbeitgeberschaft hatte kritisiert, dass der durch erwehren können, dass sie diesem die Kompetenz Sachverständigenausschuss für die Durchführung der für ebendiese Feststellungen absprechen. Es bleibt die Übereinkommen und Empfehlungen der IAO (im Fol- Frage, wie viel die (Selbst-)Verpflichtungen, die die IAO- genden: der Sachverständigenausschuss) in vielen Fällen Mitgliedstaaten durch Ratifikation der Übereinkommen eine Nichteinhaltung des Übereinkommens Nr. 87 auf eingehen, dann noch wert wären. der Basis moniere, dass ein Streikrecht durch die jeweili- gen Staaten nicht gewährleistet würde. Dieses Überein- Eine solche Schwächung des Sachverständigenaus- kommen beinhalte jedoch weder die explizite Regelung schusses wäre jedoch auch über die Kontrolle der Ein- eines Streikrechts noch verfüge der Sachverständigen- haltung der IAO-Übereinkommen hinaus von einiger ausschuss über ein Mandat, Übereinkommen Nr. 87 Tragweite. In der Debatte um die Inklusion von Arbeits- auf diese Weise auszulegen. Diese Vorgehensweise der und Sozialstandards in internationalen Freihandels- Arbeitgebervertreter_innen ist beispiellos in der Ge- abkommen wird seitens der Vertreter_innen der IAO schichte der Internationalen Arbeitskonferenz und von die Gefahr einer Uneinheitlichkeit der Überwachungs- nicht gering zu achtender potenzieller Sprengkraft für mechanismen betont. Wird in Handelsabkommen im die dreigliedrige Struktur und die Arbeitsweise dieser Rahmen von Sozialklauseln auf die Einhaltung von Organisation. IAO-Übereinkommen Bezug genommen, stellt sich die Frage, wer über die Nichteinhaltung dieser Sozialklau- Zwar konnten sich die Delegierten auf der Arbeitskon- seln wachen soll. Vertreter_innen der IAO heben die ferenz im Jahr 2013 wieder auf eine Liste von – in die- Notwendigkeit der Verzahnung der Überwachungs- sem Fall 26 – Ländern einigen, dies jedoch nur unter mechanismen hervor und weisen darauf hin, dass die der Voraussetzung, dass Fragen des Streikrechts nicht Zuständigkeit in erster Linie beim Sachverständigenaus- diskutiert würden; ferner sprachen sich die Repräsen- schuss liege. Sollte die IAO sich selbst durch Einschrän- tant_innen der Arbeitgeberseite wiederholt gegen ein kung der Kompetenzen des Sachverständigenausschus- »IAO-Streikrecht« aus. Der Streit ist daher keineswegs ses in ihrer Aufgabenwahrnehmung behindern, so beigelegt; im Gegenteil wird innerhalb der IAO auf un- behindert sie sich zugleich in ihrer Rolle als Verfechterin terschiedlichen Ebenen insbesondere über das Mandat von Arbeits- und Sozialstandards im Feld des internatio- des Sachverständigenausschusses und die Frage, wie nalen Handels. Um den Aktionsradius der Organisation der IAO-Überwachungsmechanismus gestärkt werden in diesem Feld zu sichern, ist es notwendig, dieses Kon- könne, weiter diskutiert. fliktthema endgültig zu regeln. 1
CLAUDIA HOFMANN | STREIK(RECHT) IN DER INTERNATIONALEN ARBEITSORGANISATION Hintergrund der Debatte Die Reichweite des Mandats um das Streikrecht aus juristischer Sicht Den Vertreter_innen der Arbeitgeberseite ist zuzugeste- Die IAO-Verfassung enthält keine Regelungen zum hen, dass weder Übereinkommen Nr. 87 noch Überein- Sachverständigenausschuss. Erst im Jahr 1926 hatte die kommen Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze Arbeitskonferenz den Verwaltungsrat mit dessen Ein- des Vereinigungsrechts und des Rechts zu Kollektivver- richtung beauftragt. Es ging darum, dem Verwaltungs- handlungen (1949) ein Streikrecht explizit erwähnen. rat ein unabhängiges und unparteiisches Expert_innen- Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 87 gewährleistet gremium an die Seite zu stellen, das die Anwendung der ein Recht der Arbeitnehmerorganisationen, sich Satzun- IAO-Instrumente anhand der Staatenberichte objektiv gen und Geschäftsordnungen zu geben, ihre Vertreter überprüft und Verstöße feststellt – eine Aufgabe für frei zu wählen, ihre Geschäftsführung und Tätigkeit die man die IAK mit ihren von Eigeninteressen gelei- zu regeln und ihr Programm aufzustellen. Art. 10 des teten Delegierten für weniger geeignet erachtet hat.1 Übereinkommens Nr. 87 definiert eine Arbeitnehmeror- Während das Aufgabenfeld des Sachverständigenaus- ganisation als eine, die »die Förderung und den Schutz schusses zunächst also eher technischer Natur war, so der Interessen der Arbeitnehmer […] zum Ziele hat«. Mit erweiterte sich dies in der Folge auf eine zunehmend Blick auf diese Zielsetzung kann man Art. 3 Abs. 1 des beratende Funktion gegenüber dem Verwaltungsrat. Übereinkommens Nr. 87 dahingehend auslegen, dass Diese Erweiterung der Tätigkeit wurde von der IAK aus- diese Vorschrift den Gewerkschaften nicht nur garan- drücklich befürwortet. Im Jahr 1947 wurden die Terms tiert, ihre Tätigkeit im Inneren zu regeln, sondern dass of Reference des Sachverständigenausschusses durch dies notwendigerweise auch die Regelung und eigen- den Verwaltungsrat unter anderem dahingehend neu ständige Ausübung der Tätigkeit im Außenverhältnis geschrieben, als der Ausschuss explizit mit der Auswer- beinhaltet. Die Ausgestaltung dieser Tätigkeit umfasst tung der Staatenberichte zur Umsetzung der Überein- mit dem Arbeitskampf als ultima ratio ein genuines kommen und Empfehlungen beauftragt wurde. Dabei Mittel der Durchsetzung der Interessen der Arbeitneh- wurde es dem Sachverständigenausschuss überlassen, mer_innen. die Art und Weise der Untersuchung der Staatenbe- richte festzulegen. Diese Sichtweise vertreten auch der Sachverständigen- ausschuss und der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit, Wenn es dabei um die Frage der Einhaltung der Ver- indem sie in ihrer Spruchpraxis seit mehr als sechzig pflichtungen aus den IAO-Übereinkommen durch die Jahren betonen, dass das Streikrecht als zentraler Be- Mitgliedstaaten geht, so ist die Natur dieser Überein- standteil und unverzichtbare logische Folge der Ver- kommen als Rechtsnormen im Allgemeinen und als einigungsfreiheit zu verstehen sei. Das Streikrecht völkerrechtliche Verträge im Besonderen ausdrücklich sei ein grundlegendes Instrument, das die abhängig zu berücksichtigen. Als Rechtsnormen enthalten sie Beschäftigten zur Sicherung und Durchsetzung ihrer abstrakt-generelle Regelungen, d. h. Vorschriften die wirtschaftlichen und sozialen Interessen brauchten. zwangsläufig offen abgefasst sind und unbestimmte Diese Auslegung lässt sich, wie dargelegt, auch am Rechtsbegriffe enthalten. Dies wird durch die Tatsache Wortlaut festmachen. Der Sachverständigenausschuss verstärkt, dass im internationalen Recht nicht nur Re- erkennt das Streikrecht keinesfalls absolut an, sondern gelungen gefunden werden müssen, die für eine Viel- mit Restriktionen. Diese betreffen in erster Linie die zahl von Anwendungsfällen in einem Land, sondern in Modalitäten des Streiks, die Bewertung von politischen sämtlichen IAO-Mitgliedstaaten gelten müssen. Eine Streiks, sogenannte Sympathiestreiks und nicht zuletzt Auslegungsbedürftigkeit ist diesen Vorschriften mithin das Streikrecht im öffentlichen Dienst. Diese Heran- inhärent. gehensweise macht deutlich, wie sehr der Ausschuss auch die berechtigten Interessen der Arbeitgeberseite berücksichtigt und auf diese Weise versucht, sie in Ein- 1. Dem Sachverständigenausschuss gehören in der Regel 20 Jurist_in- klang mit den Interessen der Arbeitnehmer_innenseite nen, zumeist aus dem Bereich der Wissenschaft, an. Sie stammen aus verschiedenen Ländern und werden vom IAO-Verwaltungsrat für einen zu bringen, um so beiden Positionen zu optimaler Gel- Zeitraum von 3 Jahren ernannt (wiederholte Ernennung nach Ende der tung zu verhelfen. Amtsdauer ist möglich). 2
CLAUDIA HOFMANN | STREIK(RECHT) IN DER INTERNATIONALEN ARBEITSORGANISATION Sofern die IAO-Mitgliedstaaten die ratifizierten Über- schusses – keine Kompetenz für eine authentische, d. h. einkommen in nationales Recht übertragen wollen, er- verbindliche, Auslegung eingeräumt wurde. Dies folgt fordert dies bereits eine Auslegung des Inhalts und der aus dem Grundsatz, dass Vertragsparteien konsensual Reichweite der Vorschriften. Engisch betont diese Ver- die vertraglichen Regelungen jederzeit anpassen kön- knüpfung der Rechtsanwendung mit der Rechtsausle- nen. Dies setzt aber voraus, dass die Vertragsparteien gung, indem er darauf hinweist, dass es »die Aufgabe übereinstimmend dem jeweiligen Gremium die Ausle- der Auslegung [sei], dem Juristen Inhalt und Umfang der gungskompetenz absprechen. Hier wurden divergie- Rechtsbegriffe zu vergegenwärtigen«.2 Diese Verknüp- rende Ansichten insbesondere der Vertreter_innen der fung besteht logischerweise auch mit der Überprüfung Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ausdrücklich vor der (ordnungsgemäßen) Rechtsanwendung. Dies macht allem für die Frage des Streikrechts in Übereinkommen auch der Sachverständigenausschuss deutlich, der sich Nr. 87 geäußert, was eine unterschiedliche Position auch in Vorbereitung für die IAK 2014 wiederholt zur Frage über das Auslegungsmandat des Sachverständigenaus- seines Mandats äußert: »Im Bewusstsein unterschiedli- schusses implizieren mag. Zum einen handelt es sich cher nationaler Realitäten und Rechtssysteme analysiert hierbei jedoch nicht um die Vertragsparteien (d. h. die der Sachverständigenausschuss auf unparteiische und Staaten), zum anderen liegt keine konsensual abwei- fachliche Art, wie die Übereinkommen in Gesetzgebung chende Praxis oder Übereinkunft vor. und Praxis der Mitgliedstaaten durchgeführt werden. Dabei muss er den rechtlichen Rahmen, den Inhalt und die Bedeutung der Vorschriften von Übereinkommen Varianten zur Lösung des bestimmen. Seine Stellungnahmen und Empfehlungen derzeitigen Konflikts sollen beim Handeln innerstaatlicher Stellen als Richt- schnur dienen. Ihre Überzeugungskraft beruht auf der Nach der hier vertretenen Position lässt sich folgender Legitimität und dem rationalen Charakter der Tätigkeit Status quo festhalten: In der Tatsache, dass der Aus- des Ausschusses, gestützt auf dessen Unvoreingenom- legungspraxis des Sachverständigenausschusses und menheit, Erfahrung und Fachwissen.«3 den durch den Ausschuss vertretenen Rechtsansichten durch die IAO-Mitgliedstaaten über Jahrzehnte nicht Über Jahrzehnte hinweg wurde die Herangehensweise widersprochen wurde, kann grundsätzlich ein Konsens des Ausschusses bei der Überprüfung der Einhaltung der sowohl über das Mandat als auch über das Streikrecht Übereinkommen nicht nur akzeptiert, sondern durch gesehen werden. Der Widerspruch, der sich seit Mitte die IAK-Delegierten ausdrücklich willkommen gehei- der 1990er Jahre auf Arbeitgeberseite regt, kann nur die ßen. Mit guten Gründen kann man daher argumentie- inhaltliche Frage nach dem Streikrecht betreffen, da die ren, dass es eigentlich bereits einen (stillschweigenden) Auslegungszuständigkeit, wie oben deutlich gemacht, Konsens der Vertragsparteien sowohl über das Mandat der grundsätzlichen Aufgabenzuweisung des Sachver- des Ausschusses als auch im Hinblick auf das Streikrecht ständigenausschusses zur Überwachung der Einhaltung gibt und lediglich seit 1994 einige Vertreter_innen die- der IAO-Normen folgt. Gleichwohl ranken sich die Dis- ser Vertragsparteien in der Frage des Streikrechts nicht kussionen derzeit im Besonderen um das Mandat des mehr mit der Rechtsansicht des Ausschusses überein- Ausschusses. Nachfolgend werden daher einige Optio- stimmen. Selbstverständlich liegt es in der Macht der nen zur Lösung des vorherrschenden Konflikts diskutiert. Vertragsparteien, sich über die Interpretationen eines Überwachungsgremiums hinwegzusetzen, sofern die- sem Gremium – wie im Fall des Sachverständigenaus- Eskalation und Zusammenbruch des Überwachungssystems 2. Engisch, Karl (2010): Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage, Stuttgart, S. 126; Dörr, Oliver (2012), in: Dörr, Oliver / Schmalenbach, Kirs- ten (Hrsg.) (2012): Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commen- Wenngleich diese Variante nach momentaner Lage der tary, Heidelberg. Art 31, Rdnr. 1 weißt ebenfalls darauf hin, dass »inter- Dinge unwahrscheinlich erscheint, soll sie der Vollstän- pretation is indispensable not only for understanding a rule, but also for the process of applying or implementing it« [Hervorhebung im Original]. digkeit halber hier dennoch aufgenommen werden. 3. Internationales Arbeitsamt, Durchführung der Internationalen Arbeits- Zwar haben sich in der Vergangenheit vor allem die normen 2014 (I), Bericht des Sachverständigenausschusses für die Durch- Vertreter_innen der Arbeitgeberseite kritisch gegenüber führung der Übereinkommen und Empfehlungen, Bericht III (Teil 1A), ILC.103/III(1A), Genf 2014, Absatz 31. der Auslegungspraxis des Sachverständigenausschusses 3
CLAUDIA HOFMANN | STREIK(RECHT) IN DER INTERNATIONALEN ARBEITSORGANISATION gezeigt, diese sind jedoch lediglich Delegierte und keine im Rahmen der Auslegung von Übereinkommen Nr. 87 Mitglieder der IAO – Letztere sind nur die Staaten. – schließt demnach die grundsätzliche Kompetenz des Gleichwohl ist es zumindest nicht gänzlich ausgeschlos- Sachverständigenausschusses für die Auslegung der sen, dass sich beispielsweise diejenigen Mitgliedstaaten, Übereinkommen bei Ausführung seiner Überwachungs- die häufiger in der Kritik durch den Sachverständigen- tätigkeit nicht aus. ausschuss stehen, dieser Position anschließen und auf der nächsten Arbeitskonferenz eine weitere Eskalation Alternativ regelt Art. 37 Abs. 2 der IAO-Verfassung die droht. Würde etwa zum wiederholten Male im Konfe- Schaffung eines separaten Tribunals »for the expeditious renzausschuss der IAK die Annahme einer Länderliste determination of any dispute or question relating to the boykottiert, käme dies einer offiziellen Erklärung des interpretation of a Convention«. Die Arbeitgeberseite Scheiterns des Überwachungssystems gleich. Damit wendet sich auch gegen die Variante, ein solches Tribu- würde zum Ausdruck gebracht, dass die IAO nicht in nal zu schaffen und schlägt vielmehr die nicht in der Ver- der Lage sei, die Einhaltung ihrer Normen durch ein un- fassung geregelte Option der Einrichtung eines Quasi- abhängiges Gremium zu überwachen und dass selbst Tribunals vor, »in other words, a mechanism within the der ohnehin bereits oft als »zahnlos« verschriene Sank- spirit of article 37, paragraph 2«.4 Da die Entscheidung tionsmechanismus ausgehebelt werden könne, wenn eines derartigen Gremiums wenig Rechtssicherheit ver- sich bestimmte Akteure hartnäckig genug dagegen zur sprechen würde, ist zu begrüßen, dass der IAO-Verwal- Wehr setzten. Die Art und Weise, wie seitens des Ver- tungsrat in seiner Sitzung im März 2014 beschlossen waltungsrats die Notwendigkeit einer funktionierenden hat, für die kommende IAK die Modalitäten einer Anru- Überwachung der Einhaltung der IAO-Normen unter- fung sowohl des IGH als auch eines Tribunals nach Art. strichen wird, lässt jedoch auf eine konstruktive Lösung 37 Abs. 2 der IAO-Verfassung zu klären.5 hoffen. »Flickschusterei« um ein Scheinproblem Anrufung des Internationalen Gerichtshofs Hier wird die Ansicht vertreten, dass die Frage der Reich- Eine Option zu einer solchen konstruktiven Lösung lie- weite des Mandats des Sachverständigenausschusses im fert die IAO-Verfassung selbst: Nach Art. 37 Abs. 1 der Grunde bereits geklärt sei und es allenfalls der Explika- IAO-Verfassung steht es den IAO-Mitgliedern zu, den In- tion eines bereits bestehenden Konsenses und einer ent- ternationalen Gerichtshof (IGH) zu einer abschließenden sprechenden jahrzehntelangen Praxis bedürfe. Auch die Klärung von Streitfragen über die Auslegung von IAO- Frage des Streikrechts wird »nur« durch Vertreter_innen Übereinkommen anzurufen. Dazu müsste die Debatte von IAO-Mitgliedern, nicht jedoch durch eine deutliche demnach von der Delegierten- auf die Mitgliederebene Mehrheit dieser Mitglieder infrage gestellt. Dennoch gehoben werden. Die Vorlagefrage an den IGH müsste könnte man diese Frage punktuell durch Anrufung des nach der hier vertretenen Ansicht dabei allein die Frage IGH klären. Da die Streitfrage nunmehr seit fast zwanzig betreffen, ob und inwieweit Art. 3 Abs. 1 des Überein- Jahren ungeklärt ist, könnte man wohl auch die Dauer kommens Nr. 87 auch ein Streikrecht der Gewerkschaf- eines Verfahrens vor dem IGH abwarten. Der Instrumen- ten beinhalte, nicht hingegen – wie von Arbeitgeberver- talisierung dieser Streitfrage zur Schwächung des IAO- treter_innen nahe gelegt – die Frage nach der Reichweite Normenkontrollmechanismus würde diese Lösung allein des Mandats des Sachverständigenausschusses. jedoch vielleicht nicht gerecht werden. In der Diskussion um die (vermeintlich ausschließliche) 4. International Labour Office, Governing Body, 317th Session, Geneva, Zuständigkeit des IGH für Auslegungsfragen wird oft 6 – 28 March 2013, Fourth Item on the Agenda: Matters arising out of the work of the International Labour Conference, Follow-up to the decision verkürzt darauf verwiesen, dass diese in Art. 37 Abs. adopted by the International Labour Conference on certain matters aris- 1 der IAO-Verfassung geregelt sei. Geregelt ist jedoch ing out of the report of the Committee on the Application of Standards, Summary report concerning the informal tripartite consultations held on vielmehr, dass der IGH für »any question or dispute re- 19 – 20 February 2013, Absatz 20. lating to the interpretation« zuständig ist. Die Zustän- 5. International Labour Office, Governing Body, 320th Session, Geneva, 13–27 March 2014, Fourth Item on the Agenda: The standards initiative: digkeit des IGH für (Streit-)Fragen in Bezug auf die Aus- Follow-up to the 2012 ILC Committee on the Application of Standards, legung – wie vorliegend die Frage nach dem Streikrecht Absatz 41. 4
CLAUDIA HOFMANN | STREIK(RECHT) IN DER INTERNATIONALEN ARBEITSORGANISATION Sollte der IGH auch zur Frage des Mandats angerufen umfassende Überarbeitung dieses Systems erforderlich, werden, wenn dies eigentlich nicht erforderlich ist? Hier bevor eine solche Erklärung überhaupt diskutiert wer- sind die Unwägbarkeiten weitaus größer. Selbst wenn den könnte. Immerhin wird der Verwaltungsrat bis zur der IGH entscheiden würde, dass dem Sachverständi- IAK 2014 »einen zeitlichen Rahmen zur Prüfung der genausschuss die Kompetenz zur Auslegung von IAO- noch offenen Fragen im Zusammenhang mit dem Auf- Übereinkommen zukommt, könnte der IGH dem Aus- sichtssystem und zur Einführung des Normen-Überprü- schuss nicht das Mandat zur authentischen Auslegung fungsmechanismus« ausarbeiten.7 einräumen. Somit bleibt die Frage, wie viel mit einer Anrufung des IGH zur Frage des Mandats gewonnen wäre. Das bestehende Instrumentarium stärken Vor 95 Jahren wurde die IAO unter dem Eindruck des Explizite Erklärung zum Mandat des Ersten Weltkriegs gegründet – getragen von dem Sachverständigenausschusses Grundgedanken, dass der »Weltfriede […] auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut wer- Als best case scenario könnte man eine Klärung der den« könne. Der IAO wurde die Aufgabe der Wächterin Streitfragen im Rahmen der IAK in Form einer expliziten über die globale Gewährleistung menschenwürdiger Erklärung zum Mandat des Sachverständigenausschusses Arbeitsbedingungen übertragen. Oft schon wurde ihr ansehen, die dem Ausschuss beispielsweise ausdrücklich mangelnde Wirkmächtigkeit vorgeworfen. Aufgrund die Kompetenz zur authentischen, d. h. verbindlichen, des im Völkerrecht geltenden Konsensprinzips hängt Auslegung der IAO-Normen einräumt. Wie oben bereits diese Wirkmächtigkeit jedoch wesentlich davon ab, ausgeführt, liegt es in der Macht der IAO-Mitgliedstaa- welche Kompetenzen die Mitgliedstaaten der IAO zu- ten, dieses Mandat konsensual zu regeln. Eine solche weisen. Hier haben sich die Staaten auf Arbeits- und Erklärung böte den Vorteil, dass innerorganisatorische Sozialstandards in Form von freiwilligen Selbstverpflich- Fragen auch innerhalb der Organisation durch die Ver- tungen geeinigt, deren Nichteinhaltung vor allem durch tragsparteien und nicht durch ein externes Gericht ent- öffentliches Anprangern sanktioniert werden kann. Die schieden würden. Im Gegensatz zur Entscheidung eines IAO-Mitgliedstaaten sind es auch, die stärkere Sankti- Tribunals (oder gar Quasi-Tribunals) würde diese Erklä- onen, beispielsweise Geldzahlungspflichten, vereinba- rung über eine hinreichende demokratische Legitimation ren könnten. Dass dies geschieht wäre zwar sehr wün- innerhalb der IAO verfügen. Mit ihr könnten die Mitglied- schenswert, besonders wahrscheinlich ist es allerdings staaten ein starkes Signal der Befürwortung internationa- nicht. ler Arbeits- und Sozialstandards und ihrer Überwachung durch unabhängige Expert_innen setzen und somit die Es gilt daher auszuloten, wie die Effektivität des beste- Handlungsfähigkeit der IAO weiter stärken. henden Mechanismus gestärkt werden kann. Zu den- ken ist dabei organisationsintern zum Beispiel an eine An dieser Stelle darf jedoch nicht verschwiegen wer- weitere Unterstützung des Sachverständigenausschus- den, dass diese Variante zwar äußerst wünschenswert ses bei der Auswertung der Staatenberichte, an eine wäre, allerdings nicht sonderlich wahrscheinlich. Die Überarbeitung des Beschwerde- und des Klageverfah- Frage nach der Reichweite des Auslegungsmandats des rens vor der IAO sowie an eine Stärkung der Position des Sachverständigenausschusses ist keineswegs der einzige Konferenzausschusses bei der IAK. Wenn jedoch öffent- Diskussionspunkt in Bezug auf das derzeitige System zur liches Anprangern das zentrale zur Verfügung stehende Überwachung der IAO-Normen.6 Im Grunde wäre eine Instrumentarium ist, dann muss dieses gezielt gefestigt und die Öffentlichkeitsarbeit – beispielweise durch eine verstärkte öffentliche Diskussion über die Befunde des 6. Vgl. Maupain, Francis (2013): The ILO Regular Supervisory System: A Model in Crisis?, in: International Organizations Law Review 10 (2013), jährlichen Berichts des Sachverständigenausschusses – S. 117–165; Simpson, W. R. (i. E.): Comments on »The Regular Supervi- sory System: A Model in Crisis?« an article by Francis Maupain, Septem- ber 2013; International Labour Office, Governing Body, 320th Session, 7. International Labour Office, Governing Body, 320th Session, Geneva, Geneva, 13–27 March 2014, Fourth Item on the Agenda: The standards 13–27 March 2014, Fourth Item on the Agenda: The standards initiative: initiative: Follow-up to the 2012 ILC Committee on the Application of Follow-up to the 2012 ILC Committee on the Application of Standards, Standards, Absätze 24 ff. sowie 40 f. Absatz 41 (Buchstabe b). 5
CLAUDIA HOFMANN | STREIK(RECHT) IN DER INTERNATIONALEN ARBEITSORGANISATION ausgeweitet werden. Auch wenn die primären Adressa- tungszusammenhang stärken, indem sie sich – gegebe- ten der IAO-Normen die Staaten sind, so betreffen diese nenfalls auch durch eine gezielte Zusammenarbeit mit Normen doch konkret die arbeits- und sozialrechtliche zivilgesellschaftlichen Akteur_innen – noch aktiver am Wirklichkeit von Menschen vor Ort in einem Land. Die öffentlichen Meinungsbildungsprozess in den IAO-Mit- IAO könnte selbst das Bewusstsein für diesen Bedeu- gliedstaaten beteiligt. 6
Über die Autorin Impressum Dr. Claudia Hofmann ist als Akademische Rätin am Lehrstuhl Friedrich-Ebert-Stiftung | Globale Politik und Entwicklung für Öffentliches Recht und Politik an der Fakultät für Rechtswis- Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland senschaft der Universität Regensburg tätig. Ihre Forschungs- schwerpunkte liegen im Völkerrecht (dort insbesondere im Be- Verantwortlich: reich sozioökonomischer Menschenrechte und internationaler Mirko Herberg | Globales Gewerkschaftsprojekt Gleichheitsnormen), im Sozialrecht sowie im Staats- und Ver- waltungsrecht. Tel.: ++49-30-269-35-7458 | Fax: ++49-30-269-35-9255 http://www.fes.de/gewerkschaften Dieser Beitrag stellt eine Zusammenfassung des im Archiv des Völkerrechts 51 (2013), S. 483–508 erschienenen Aufsatzes »In- Bestellungen / Kontakt: ternationale Arbeitsorganisation, quo vadis? Einige Gedanken Blanka.Balfer@fes.de zur Debatte um das Streikrecht und das Mandat des Sachver- ständigenausschusses« (zusammen mit Norbert Schuster) dar. Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert-Stiftung Für weiterführende Informationen sowie für sämtliche zugrunde (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustim- liegenden Quellen sei auf diesen Beitrag verwiesen. mung durch die FES nicht gestattet. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Genf arbeitet in Kooperation mit in Genf ansässigen internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO), dem Internationalen Menschenrechtsbüro (OHCHR) sowie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Das Genfer Büro dient außerdem als Verbindungsbüro zwischen diesen Organisationen, den UN-Organisationen und den Aus- landsbüros der FES sowie deren Partnern in Entwicklungs- und Schwellenländern, um die Stimme des globalen Südens zu stärken. Mit der ILO, deren tripartite Konstitution aus Regierung, Arbeitnehmer_innen und Arbeitgeber_innen dem Dialogansatz der Fried- rich-Ebert-Stiftung entspricht, verbindet uns eine enge Partnerschaft. Die ILO ist ein unverzichtbarer Akteur der Global Governance. Ihr Normenwerk, wie die Kernarbeitsnormen, die Agenda für menschenwürdige Arbeit sowie andere Konventionen, sind Referenz- rahmen für alle, die sich für eine faire Arbeitswelt einsetzen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung betrachtet die Stärkung der Interessenver- tretungen von abhängig Beschäftigten als einen integralen Bestandteil ihrer Bemühungen zur Förderung von sozialer Demokratie weltweit und wirkt deshalb darauf hin, dass gewerkschaftliche Positionen in politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen einbezogen werden. Die FES bietet hierfür Diskussionsforen an, in denen politische Entscheidungsträger_innen, Wissenschaftler_innen, zivilgesell- schaftliche Akteure sowie Vertreter_innen der ILO zusammen- kommen, um gemeinsame strategische Ansätze zur Umsetzung dieser politischen Absichtserklärungen zu entwickeln. Flankiert wird dies durch die Veröffentlichung von Analysen wie der hier vorliegenden Perspektive. www.fes.de/gewerkschaften | www.fes-geneva.org Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten ISBN sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. 978-3-86498-869-1 Diese Publikation wird auf Papier aus nachhaltiger Forstwirt- schaft gedruckt.
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