TAGUNGSBERICHT: MIGRATION. ERINNERN. PRAKTIKEN DES ERZÄHLENS UND ERINNERNS IN DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT
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ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG TAGUNGSBERICHT: MIGRATION. ERINNERN. PRAKTIKEN DES ERZÄHLENS UND ERINNERNS IN DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT Selin Kilic Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft E-Mail: selin.kilic@ife.uzh.ch URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/kilicselin.html Zitationsvorschlag: Kilic, Selin (2020): Tagungsbericht: Migration. Erinnern. Praktiken des Erzählens und Er- innerns in der Migrationsgesellschaft. In: Gesellschaft – Individuum – Sozialisation (GISo). Zeitschrift für Sozialisationsforschung 1 (1). DOI: 10.26043/GISo.2020.1.7 Link zum Artikel: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.7 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG TAGUNGSBERICHT: MIGRATION. ERINNERN. PRAKTIKEN DES ERZÄHLENS UND ERINNERNS IN DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT Selin Kilic Vom 24. bis 25.10.2019 fand an der Universität wie diese Suchbewegungen und Auseinander- Zürich die vom Lehrstuhl Ausserschulische Bil- setzungen mit der Migrationsgeschichte künstle- dung und Erziehung des Instituts für Erziehungs- risch bearbeitet werden können. wissenschaft organisierte Tagung „Migration. Erinnern. Praktiken des Erzählens und Erinnerns Der Vortrag von Sibylle Ulbrich (Universität Mün- in der Migrationsgesellschaft“ statt. Ausgangs- chen) widmete sich methodologischen Überle- punkt der Tagung waren aktuelle Entwicklungen gungen hinsichtlich der Erfassung von Heimat- europäischer Migrationsgesellschaften, die durch erfahrungen, wobei der Heimatbegriff, welcher in ein Neben- und Miteinander unterschiedlicher der anschliessenden Diskussion kritisch hinter- Sprachen und Zugehörigkeiten gekennzeichnet fragt wurde, nicht territorial, sondern als Feldbe- sind, welche mit verschiedenen Erfahrungen von griff kulturell und emotional verstanden werden Ausgrenzung und Diskriminierung sowie unter- sollte. Die Referentin ging der Frage nach, inwie- schiedlichen Zuschreibungen einhergehen. Dar- fern Erinnerungen über Erzählungen hinausge- aus resultieren verschiedene Fragen: Wie lässt hen und in welcher Weise dabei Artefakte und sich über diese kollektiven Erinnerungen spre- situative Handlungspraktiken relevant werden. chen? Wie kann Migrationsgeschichten erinnert Die Referentin verstand in ihrem Vortrag den werden? In welcher Weise schreiben sich Erin- Leib als Gedächtnis und den Habitus als Produkt nerungen in Biographien ein? der eigenen Geschichte, die in kulturellen und ge- sellschaftlichen Verhältnissen verortet ist. Sie Zum Einstieg in die Tagung beleuchtete Lena In- plädierte dabei für eine dichte Teilnahme seitens owlocki (Universität Frankfurt) Möglichkeiten und der Forschenden und einen stärkeren Gebrauch Herausforderungen in der Erforschung von Erin- der Sinne. Leibliche (Heimat)Erfahrungen, sind nerungen im Migrationskontext. Hervorgehoben für sie jeweils soziale Situationen, in welchen Er- wurden von ihr die Bedeutung und der Umgang innerungen hervorgerufen werden können und mit Erwartungen aufgrund eigener biografischer anhand bewusster Reize als leibliche Interaktio- Involvierung. Sie zeigte, dass Erinnerungen nicht nen evoziert werden. immer so zugänglich sind und erzählt werden können, wie sich Forschende dies wünschen. Der erste Tagungstag fand seinen Abschluss in Denn Erinnerungen können von den Befragten einem von Ellen Höhne (Universität Zürich) und oft nicht kohärent oder teilweise gar nicht erzählt Anna Schnitzer (Universität Halle-Wittenberg) und insofern nicht weitergegeben werden. Dies moderierten Forschungsgespräch zwischen gilt nicht nur für den Forschungsprozess, son- Paola de Martin (ETH Zürich), Miriam Trzeciak dern mitunter auch innerhalb der Familie. Wich- (Universität Cottbus-Senftenberg) und Lena Ino- tig sei daher, nach Lena Inowlocki, eine gewisse wlocki. Nach einer Vorstellungsrunde wurde die Flexibilität im Feld wie auch im gesamten For- Bedeutung der Thematisierung und Aufdeckung schungsprozess zu bewahren. Die interviewten von Machtverhältnissen in der Forschung über Personen befinden sich in Suchbewegungen Erinnern und Vergessen diskutiert. Anhand anre- und Ambivalenzen, die mit der Angst einer Auf- gender Beispiele und Erkenntnisse aus den For- arbeitung der eigenen oder familialen Migrati- schungsprojekten zu Erinnerungstraditionen in onsgeschichte und damit verbundenen der Designgeschichte (Paola de Martin) oder Erinnerungen einhergehen. Anhand literarischer dem Projekt der dekolonialen Stadtführungen in und filmischer Beispiele zeigte die Referentin auf, Cottbus (Miriam Trzeciak) ergaben sich Selin Kilic – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.7 Seite 1
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG spannende Fragen, wie wer worüber forschen Interviewten die Erzählweise der eigenen Bio- „darf“ und wer in welcher Weise gehört wird. grafie bedingt und wie wichtig es ist, den Blick Damit drängte sich für die Gesprächsteilnehme- darauf zu richten, wie die Migrationsgeschichte rinnen die weitere Frage auf, wem die Ge- erzählt wird bzw. wann und an welchen Stellen schichte und deren Deutungen „gehören“. geschwiegen wird. Neben diesen zentralen Fragen wurden zudem methodische und praktische Herausforderungen Ebenfalls in der Biografieforschung verortet wie auch Chancen in diesem Forschungsfeld an- knüpften Eva Mey (Zürcher Hochschule für An- gesprochen. Es wurde klar, dass Prozesse des gewandte Wissenschaften), Miryam Eser Davo- Erinnerns je nach biographischem und gesell- lio (Zürcher Hochschule für Angewandte schaftlichem Kontext heterogen sind. Dies geht Wissenschaften) und Garabet Gül (Zürcher mit der Herausforderung einher, eine gemein- Hochschule für Angewandte Wissenschaften) same Sprache zu finden, um diese Prozesse the- mit ihrem Beitrag an ihre Vorredner*innen an und matisieren zu können. So wurde im präsentierten Ergebnisse aus ihrer qualitativen Forschungsgespräch die gesellschaftliche und Langzeitstudie zur gesellschaftlichen Positionie- politische Dimension des Erinnerns, auf die be- rung im Übergang ins Erwachsenenalter bei reits Lena Inowlocki in ihrem Eröffnungsvortrag Nachkommen aus zugewanderten Arbeiter*in- hingewiesen hatte, erneut deutlich. Erinnern nenfamilien. Interessant war, wie die jungen Er- kann als umkämpfter Prozess angesehen wer- wachsenen im letzten Interview, als sie den, wobei sich Wissenschaftler*innen immer aufgefordert wurden, einen Blick zurück auf die dafür interessieren sollten, was in welchem Kon- Adoleszenz und ihren Werdegang zu werfen, text als „schützenswert“ und „erinnerungswür- Übergangsbewältigungen im Vergleich zu den dig“ gilt und wo bewusst oder unbewusst vorhergehenden Interviews anders bewertet ha- vergessen wird. Das Forschungsgespräch war ben und Umdeutungen ebendieser vornahmen. ein überaus interessantes Format, welches vor Besonders die familiäre Migrationsgeschichte allem von der lebhaften Diskussion und von den und die Erinnerungen daran wurden in unter- unterschiedlichen Perspektiven und disziplinären schiedlicher Weise als biografische Ressource Hintergründen profitiert hat. Im Prozess des genutzt. Auch die Positionierungen bezüglich Sprechens über den Forschungsgegenstand, dem Herkunftsmilieu sowie dem Herkunfts- und des gegenseitigen Nachfragens und Ergänzens Aufnahmeland haben sich in den Erzählungen wurden Spannungsfelder aufgezeigt und Denk- der Interviewten über die Zeit hinweg stark ver- anstösse formuliert, welche auch am nächsten ändert. Tag wieder aufgegriffen wurden. Dilyara Müller-Suleymanova legte den Fokus Den Auftakt des zweiten Tages machten Lalitha ebenfalls auf junge erwachsene Migrant*innen Chamakalayil (Fachhochschule Nordwest- in der Schweiz. Die Referentin arbeitete in ihrem schweiz, Muttenz), Oxana Ivanova-Chessex (Pä- Beitrag entlang der Frage, wie die sogenannte dagogische Hochschule Zug) und Wiebke „zweite Generation“ von Bosnier*innen mit Erin- Scharathow (Pädagogische Hochschule Frei- nerungen und Narrativen über die traumatische burg DE) mit ihrem Beitrag aus dem Projekt „El- Vergangenheit und ihr konfliktbeladenes Her- tern und Schule im Kontext gesellschaftlicher kunftsland umgehen und welche Rolle Erinne- Ungleichheiten“. Die Referentinnen rekonstruier- rungen über Konflikte in dem Selbst-Verstehen ten in ihrem Vortrag anhand einer biografischen und der Positionierung dieser jungen Erwachse- Fallanalyse Eigendynamiken im Kontext von he- nen spielen. Dilyara Müller-Suleymanovas Inter- gemonialen Regimen und Diskursen und zeigten viewpartner*innen sprachen zwar über die dabei unterschiedliche Darbietungen der Erzäh- Migrationsgeschichte ihrer Familien, jedoch lung der Migrationsgeschichte auf. Ihre Analysen schienen gewaltvolle Erfahrungen der Eltern in und Erkenntnisse basieren auf subjektivierungs- der Vergangenheit bei ihnen in der Familie nicht theoretisch informierten Interpretationen von Se- thematisiert und so zu einem Tabu geworden quenzen aus den Interviews. In der zu sein. In den Interviews wurde deutlich, dass anschliessenden Diskussion wurde ersichtlich, wichtige Informationen über die Familie von den wie stark die Gegenwartsperspektive der Selin Kilic – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.7 Seite 2
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Kindern oft nur durch Zufall herausgefunden Inana Othman (Leibnitz-Zentrum Moderner Ori- wurden und die Eltern nie explizit über den Krieg ent Berlin) Präsentation bot ein interessantes sprachen. Die Referentin konnte aufzeigen, wie Beispiel, um die eigene Involviertheit und biogra- die Vergangenheit noch immer präsent ist im fische Positionierung zu thematisieren und deren täglichen Leben, ohne jedoch explizit ausgespro- Relevanz für das Forschungsinteresse zu disku- chen zu werden. tieren. Basierend auf persönlichen Erfahrungen interessiert sich die Referentin für Erinnerungen Schwerpunkt des Beitrages von Laima Zilinski- von in Deutschland lebenden Syrier*innen aus ene (Universität Vilnius) bildete das Familienge- der Stadt Homs an deren Schulzeit vor 2011. Im dächtnis und die Frage danach, wie Beitrag fanden Raum und Zeitlichkeit eine be- generationale Solidarität und Emigration Familie- sondere Bedeutung. So wurde Schule von der nerinnerungen („family memory“) beeinflussen. Referentin vor allem räumlich gefasst und Erin- Laima Zilinskiene fasste Familienerinnerungen nerung daran als räumlich gebunden verstanden, als intergenerationales Phänomen. Im Zentrum was in der Diskussion kritisch diskutiert wurde. ihrer Forschung standen die Kommunikationska- Die zeitliche Dimension machte die Referentin an näle, über die Erinnerungen erzählt und weiter- der „Revolution“ fest, welche für sie in ein klares gegeben werden. Die Referentin unterschied davor und danach unterteilt werden konnte. In- zwischen „family channels“, welche zwischen ana Othman sah diese als Mittel, um etwas zur den Eltern, Grosseltern, Schwiegereltern und Ge- Sprache zu bringen, wofür es zuvor keine Worte schwistern bestehen, „network channels“, zu gab, d.h. als eine Möglichkeit, Erinnerungen zu welchen auch Onkel und Tanten beitragen und verbalisieren. den „initiative channels“, die dazu dienen, Dinge anderen Personen zu erzählen, die dem breiteren Beendet wurde die Tagung durch ein Fazit von Umfeld angehören. Die Referentin arbeitete her- Peter Rieker (Universität Zürich). Für ihn haben aus, wie diese „memory channels“ genutzt wur- sich referatsübergreifend zwei unterschiedliche den, um Informationen über historische Ebenen der Grenzen von Erinnerungen heraus- Traumata, welche von Familien- und Netzwerk- kristallisiert. Die erste Ebene bezieht sich auf den mitgliedern durchlebt wurden, zu bedeutenden Kontext des Interviews und die Interviewsitua- Familienveranstaltungen, zum Familienzusam- tion, wo sich die Fragen stellen, wie Erinnerun- menhalt und zu schmerzhaften Beziehungen gen erzählt und wie sie hervorgebracht werden weitergegeben werden. können. Die zweite Ebene bezieht sich auf den Kontext der Familien und die Fragen, was ge- Einen Fokus auf das Familiengedächtnis setzte schieht, wenn Kulturen des Erinnerns fehlen oder auch Anna Maria Kaim (Universität Osnabrück), nur marginal vorhanden sind und in der Familie die Überlegungen und erste Analysen aus ihrem gar nicht oder nur selten über Erinnerungen ge- Promotionsprojekt „Schule und Familie als Sozi- sprochen wird. Diese Problematik führe, so Peter alisationsinstanzen in der Migrationsgesell- Rieker, zu Fragen darüber, welche Formen des schaft“ vorgestellt hat. Anhand eines Falles Erinnerns und welche Kulturen des Erinnerns in arbeitete die Referentin heraus, wie Migration in der Alltagspraxis existieren. Diese wirken sich der Familie erinnert wird und wie diese Erinne- wiederum auf die konkrete Interviewsituation rung in den Kontext von Familie und Schule ein- aus. Als offene und weiterführende Fragen und gebettet ist. Dabei nahm sie die Thematisierung Überlegungen, die in den Diskussionen aufge- von Migration in Alltagssituationen in den Blick. worfen wurden, formulierte Peter Rieker die Not- Anhand der präsentierten Ausschnitte aus den wendigkeit einer kritischen Reflexion der Beobachtungsprotokollen und Gesprächen Sprechpositionen im Feld. So müssten wir uns zeigte Anna Maria Kaim auf, in welcher Weise bi- als Forscher*innen stärker damit auseinander- ografisches Wissen und Sinnkonstruktionen von setzen, wer eigentlich erzählt und wem erzählt Kindern in den schulischen Kontext hineinwirken wird sowie danach fragen, wer aus welcher Po- und wie wiederum ebendieser Kontext das Wis- sition heraus was thematisieren kann. Es ist sen und die Sinnkonstruktionen von Kindern be- wichtig, sich dabei nicht auf die falsche Annahme einflusst. zu stützen, Erzählung sei gleich Erzählung, unge- achtet davon, wer wem was erzählt. Damit Selin Kilic – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.7 Seite 3
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG einhergehend ist wesentlich, in den Blick zu neh- gemeinsame Denken an einem geteilten For- men, wer wann die Erlaubnis bzw. das Recht zu schungsinteresse aus unterschiedlichen Per- sprechen hat und wer wann schweigen muss. spektiven im Vordergrund stand. Besonders anregend waren dabei die vielen offenen Fragen, Die Tagung ermöglichte Einblicke in die Vielfalt die aufgeworfen wurden, und die spezifischen der thematischen und methodischen Zugänge zu Herausforderungen, zu welchen sich die Teil- Erinnerungen, Erinnerungsprozessen sowie nehmenden auch immer wieder selbstkritisch Praktiken des Erinnerns im Kontext von Migrati- positioniert haben und die im abschliessenden onsgesellschaften. Besonders interessant war Fazit von Peter Rieker noch einmal aufgenom- die Beobachtung, wie schnell thematische Fra- men wurden. Die Tagung bot den entsprechen- gen zu methodischen Herausforderungen über- den Rahmen, um auch persönliche leiteten und schlussendlich in methodologischen Unsicherheiten und Irritationen im Forschungs- Reflexionen des Forschungsgegenstandes mün- prozess zur Diskussion zu stellen und mit den deten. Die beiden Tage waren gekennzeichnet anderen anwesenden Forschenden zu teilen. durch einen sich gegenseitig wertschätzenden kollegialen Austausch, bei welchem das Zur Autorin Selin Kilic ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Ausserschulische Bildung und Erziehung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Sie forscht zu Jugend und Jugendsoziologie, In- tersektionalität mit besonderem Fokus auf Geschlecht und Klasse, Migration sowie Theorien zu Anerken- nung und Entfremdung. Kontakt Selin Kilic Institut für Erziehungswissenschaft Universität Zürich Freiestr. 36 CH-8032 Zürich Tel.: +41 44 634 27 55 E-Mail: selin.kilic@ife.uzh.ch URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/kilicselin.html Selin Kilic – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.7 Seite 4
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