Taube und hörende Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam
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ERZI E H UNG Taube und hörende Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam VON RONJA DIETRICH, LISA FÜRSTENBERG, ANNA GRIMM, In der Klasse 9f soll heute in den ersten LAURA HÄUSSER, JOSEPHINE MEINHARDT, SUSANN PETERS zwei Stunden des Tages im Geschichts- UND JULIA RATAJCZAK unterricht das Thema „Nachkriegszeit in Deutschland“ behandelt werden. Herr Müller, der Fachlehrer, leitet den Unterricht. Die Gebärdensprachdol- metscherin Frau Böhm dolmetscht das Unterrichtsgeschehen für die drei tau- ben Schülerinnen und Schüler. Herr Müller will zu Stundenbeginn einen einführenden Film zeigen. Er schaltet das Licht aus und wendet sich an Frau Böhm: „Könnten Sie bitte die Vorhän- ge zuziehen, damit die Klasse den Film besser sehen kann?“ 268 DZ 100 15 Herr Müller, der in diesem Schul Im Rahmen eines gemeinsamen Projektseminars von Studentinnen der jahr zum ersten Mal in einem inklu Masterstudiengänge „Gebärdensprach-/Audiopädagogik“ und „Gebärden- siven Setting auch taube Schülerin sprachdolmetschen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigten nen und Schüler unterrichtet und wir uns im Sommersemester 2014 mit dem Thema „Inklusion – Hörbeein- nie zuvor mit einer Gebärdensprach trächtigte und hörende Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam“. Ne- dolmetscherin gearbeitet hat, kann ben der theoretischen Auseinandersetzung mit diesem Thema anhand von sich nur schwer an die neue Klassen Fachlektüre konnten wir auch praktische Erfahrungen sammeln und eine situation gewöhnen. Aufgrund sei eigene Studie durchführen. Die angehenden Dolmetscherinnen haben in ner bisher geringen Erfahrungen im einer Klasse in der Sekundarstufe I, in der hörende und taube Schülerin- Umgang mit tauben Menschen ist nen und Schüler gemeinsam lernen, ihre Dolmetschfähigkeiten in diesem ihm nicht bewusst, dass die tauben speziellen Setting erprobt. Die Studentinnen der Sonderpädagogik führten Schülerinnen und Schüler Luise, Tom zum einen Interviews mit Regelschullehrkräften und Sonderpädagogin- und Jenny auf gute Lichtverhältnisse nen und -pädagogen, die in dieser Klasse tätig sind, zu Fragen der interdis- angewiesen sind, um die Verdolmet ziplinären Kooperation durch. Zum anderen befragten sie die tauben und schung von Frau Böhm optimal ver hörenden Schülerinnen und Schüler mithilfe von Fragebögen, wobei die folgen zu können. Schwerpunkte auf der sozialen Integration und dem Erleben des gemein- Frau Böhm hat in dieser Situa samen Unterrichts lagen. tion mehrere Handlungsmöglichkei Die vielfältigen praktischen Erfahrungen, die wir in diesem Projektsemi- ten. Sie könnte der Aufforderung des nar sammeln konnten, bilden die Grundlage für den folgenden Artikel: Wir Lehrers nachkommen, den Vorhang resümieren unsere Diskussionen, indem wir einen fiktiven Unterrichtstag zuziehen und den tauben Schülerin der fiktiven Klasse 9f in einer fiktiven Regelschule beschreiben.1 Die Klasse setzt sich aus 24 hörenden sowie den drei tauben Schülerinnen und Schü- 1 Aus Datenschutzgründen wurden alle lern Luise, Tom und Jenny zusammen. Zu Beginn des Tages befindet sich ne- Namen und sonstigen Angaben, die einen ben dem Fachlehrer Herrn Müller die Dolmetscherin Frau Böhm mit in der Rückschluss auf bestimmte Personen er möglichen, geändert. Klasse, nach zwei Unterrichtsstunden wird Letztere durch die Sonderpädago- 2 Die Handlungsmöglichkeiten, die dabei gin Frau Lewandowski im Unterricht abgelöst. Für diesen fiktiven Schultag für die Dolmetscherin Frau Böhm im Fol wurden exemplarisch Situationen ausgewählt, anhand derer Handlungs- genden aufgezeigt werden, entsprechen alternativen aus Sicht der Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie Päd- in ihrer Komplexität nicht unbedingt den realen Gedankengängen einer Gebärden agoginnen und Pädagogen diskutiert werden. Wir hoffen, auf diese Weise sprachdolmetscherin, die sich oftmals in Denkanstöße für die Gestaltung inklusiven Unterrichts aus den Perspekti- Bruchteilen von Sekunden für eine Mög ven zweier Berufsgruppen zu geben.2 lichkeit entscheiden muss. Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
BI LDUNG nen und Schülern die Verantwortung und Jenny meine Hände beim Gebär Wissen begrenzt ist und sie Nachfra überlassen, ggf. selbst zu protestie den gut sehen können.“ gen seitens der Gruppe ggf. an Herrn ren, oder aber sie könnte Herrn Müller Müller weiterleiten muss, anstatt sie über die notwendigen Lichtverhält Die Klasse 9f schaut nun den an- selbst womöglich fehlerhaft zu be nisse aufklären. Entschiede sie sich gekündigten Film an, der von Frau antworten. für die erste Option, könnte dies je Böhm in Deutsche Gebärdensprache Auch in dieser Situation sieht doch zur Folge haben, dass sich Luise, (DGS) gedolmetscht wird. Anschlie- sich Frau Böhm mit mehreren Hand Tom und Jenny nicht zu Wort mel ßend erläutert Herr Müller der Klas- lungsmöglichkeiten konfrontiert: den, da sie sich möglicherweise nicht se die Aufgabenstellung: „In dem kur- Wenn sie das Dolmetschen des Ar trauen, sich über Herrn Müllers An zen Filmausschnitt habt ihr einige beitsblattes und der Aufgabenstel weisung hinwegzusetzen. Eventuell Eindrücke vom Leben einer Familie lung übernähme, bestätigte dies wären sie sich aber auch gar nicht be im Nachkriegsdeutschland erhalten. möglicherweise die Einstellung des wusst, dass sie die Möglichkeit hätten, Dabei wurden verschiedene Themen Fachlehrers, er sei nur teilweise für Einspruch zu erheben. Somit entgin angesprochen. Einige dieser Themen die tauben Schülerinnen und Schü gen Luise, Tom und Jenny unter Um sowie dazugehörige Arbeitsaufträge ler zuständig und die Verantwortung ständen wichtige Unterrichtsinhalte. findet ihr an der Tafel. Ihr sollt euch läge zu großen Teilen bei der Dolmet DZ 100 15 269 Würde Frau Böhm die Möglich jetzt in 2er-, 3er- oder 4er-Gruppen scherin. Ähnliche Situationen könn keit wählen, Herrn Müller zu erklä zusammenfinden und zu diesen The- ten sich in Zukunft wiederholen. ren, dass die tauben Schülerinnen men recherchieren sowie die Aufga- Herr Müller ist im Vorhinein über und Schüler gute Lichtverhältnisse ben bearbeiten. Für eure Recherche die Aufgaben und die Rolle der Dol benötigen, um ihre Verdolmetschung habe ich Zeitschriften und Bücher metscherin aufgeklärt worden, was problemlos wahrnehmen zu können, mitgebracht. Ihr habt 45 Minuten dies aber in der Umsetzung kon könnte sie ergänzen, dass es zudem Zeit, die Aufgabe zu bearbeiten. Am kret bedeutet, bedarf wiederholten nicht in ihren Aufgabenbereich fällt, Ende sollt ihr eure Ergebnisse kurz vor Austauschs zwischen ihm und Frau Vorhänge zu schließen. Mit dieser Re der Klasse präsentieren.“ Böhm. Demnach bestünde eine wei aktion würde sie zwar auf die Bedürf Die Gruppe, in der sich u. a. die tere Option darin, Herrn Müller in der nisse der tauben Schülerinnen und taube Schülerin Jenny befindet, be- Situation nochmals kurz auf die Rolle Schüler hinweisen, Herr Müller könn arbeitet eine Reihe von Aufgaben. und die Aufgaben einer Dolmetsche te diese Reaktion jedoch als überheb Als die Gruppe eine Aufgabe beendet rin hinzuweisen und höflich darauf lich auffassen. hat, winkt Jenny Herrn Müller her- zu bestehen, dass er die Erklärung der Eine dritte Möglichkeit wäre, dass an, damit dieser die Antworten prüft Aufgabe selbst übernehmen muss. Frau Böhm den Vorhang nur soweit und der Gruppe eine neue Aufgabe Frau Böhm entscheidet sich für zuzieht, dass die Lichtverhältnisse für gibt. Die Dolmetscherin, Frau Böhm, die zweite Möglichkeit. Zudem sucht die tauben Schülerinnen und Schü kommt ebenfalls hinzu, um das Ge- sie nach Unterrichtsende das Ge ler nach wie vor ausreichend wären, spräch der Gruppe zu dolmetschen. spräch mit Herrn Müller, um die um die Verdolmetschung verfolgen Herr Müller schaut nur kurz auf die Situation noch einmal aufzugreifen zu können, und sie Herrn Müller ihr erledigten Aufgaben, händigt Jenny und ihm zu erklären, was ihrem Vorgehen kurz erläutert. Mit dieser ein neues Arbeitsblatt aus und meint Standpunkt nach zum Aufgabenbe Handlungsoption würde sie zugleich dann zu Frau Böhm: „Die Aufgabe reich einer Dolmetscherin gehört. eine Lösung für das Problem bieten. können Sie ja der Gruppe erklären.“ Frau Böhm entscheidet sich in der Frau Böhm ist mit dem Unter Wenige Minuten später befindet sich aktuellen Situation tatsächlich für richtsstoff der Geschichtsstunde ver Frau Böhm in der Gruppe um die tau- die letzte Handlungsmöglichkeit. Sie traut. Sie hat die Aufgaben zu Vorbe be Schülerin Luise und die beiden hö- zieht den Vorhang nicht vollständig reitungszwecken gelesen und kennt renden Schülerinnen Martha und zu und erklärt an Herrn Müller ge ihren Inhalt. Sie dolmetscht die Ar Tina. Plötzlich schaut Luise von ih- wandt: „Ich lasse den Vorhang noch beitsanweisungen auf dem Arbeits rem Text zum Thema „Alliierter Kon- einen Spalt offen, damit Luise, Tom blatt. Ihr ist jedoch bewusst, dass ihr trollrat“ auf und fragt ihre beiden Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG Gruppenmitglieder in Gebärdenspra- wort dolmetscht, ohne etwas hinzu wüssten immer alles und machten che: „Hier im Text ist von ‚Deeskala- zufügen. In diesem Fall würde Frau immer alles richtig, und dass taube tion‘ die Rede. Ich kenne dieses Wort Böhm jedoch ihre eigene Verantwor Menschen außerdem oft dazu neigen, nicht. Wisst ihr, was das bedeutet?“ tung für das Gelingen der Kommu sich mit einer mündlichen Erklärung Frau Böhm voict die Frage für Mar- nikation und den Lernprozess ver zufriedenzugeben, statt eine schrift tha und Tina. Daraufhin antwortet nachlässigen. Indem sie den falschen liche Erklärung zu suchen. Tina: „Na, wenn ein Konflikt immer Inhalt direkt an die taube Schülerin Eine weitere Möglichkeit wäre, schlimmer wird und eine Situation weitergäbe, würde er von jener als dass Frau Böhm zunächst Tinas Erklä außer Kontrolle gerät, dann nennt ‚zutreffendes Wissen‘ abgespeichert. rung dolmetscht, sich dann an Tina man das so.“ In einer späteren Situation, mögli wendet und sie unter Begleitung von Frau Böhm sieht sich an dieser cherweise einer Leistungsüberprü Gebärden fragt: „Wolltest du jetzt ge Stelle mit einer uneindeutigen Aus fung, könnte Luise dadurch Fehler rade das Wort ,Eskalation‘ oder aber gangssituation konfrontiert: Es könn machen und eine schlechtere Bewer das Wort ,Deeskalation‘ erklären? Ich te sein, dass Tina Luises Frage falsch tung bekommen. bin mir nicht ganz sicher, was ich dol verstanden hat. Es könnte auch sein, Darüber hinaus hätte die Dolmet metschen soll.“ Mit einer solchen In 270 DZ 100 15 dass sie akustisch die Verdolmet scherin auch die Möglichkeit, sich in tervention würde sie Tina zum Nach schung von Frau Böhm nicht richtig das Gruppengespräch einzumischen denken über das gerade Gesagte an verstanden, also das ,De-‘ nicht ge und allen Schülerinnen klarzuma regen und für alle Beteiligten deut hört hat. Es könnte aber auch sein, chen: „Das war leider nicht ganz rich lich machen, dass es zum einen den dass sie die Wortbedeutung durch tig. Vielleicht fragt ihr sicherheits Ausdruck „Eskalation“ und zum an Erläuterung des Gegenteils erklären halber noch mal Herrn Müller.“ Frau deren den Ausdruck „Deeskalation“ möchte, obwohl sie dies nicht kennt Böhm hätte dabei im Hinterkopf, gibt. Indem sie ihre Nachfrage mit ih lich macht, oder aber, dass sie selbst dass Deutsch für Luise eine Fremd ren eigenen Bedürfnissen als Dolmet unsicher ist, was das Wort bedeutet sprache ist, sie gegenüber den hören scherin begründet, würde sie weder und – unwissentlich – eine falsche den Schülerinnen und Schülern da übergriffig noch bevormundend wir Erklärung gibt. Frau Böhm muss sich her einen großen Nachteil hat und ken. Gleichzeitig würden durch die auch im vorliegenden Fall wiederum an der Verbesserung ihrer Deutsch se Art der Formulierung wahrschein für eine von mehreren Handlungs kompetenz kontinuierlich arbeiten lich alle Beteiligten darauf gestoßen, möglichkeiten entscheiden. muss. Die Dolmetscherin wäre sich das Gesagte noch einmal zu reflektie Sie könnte zu Luise gebärden: darüber im Klaren, dass es für die tau ren und ggf. den Lehrer um Hilfe zu „Das war falsch! Richtig heißt es …“ be Schülerin Luise wichtig ist, dass bitten. Im vorliegenden Beispiel ent und dann selbst eine Erklärung des diese die richtigen Wortbedeutun scheidet sich Frau Böhm für die letz Wortes „Deeskalation“ anschließen. gen erlernt und auch kleine Wortbe te Handlungsmöglichkeit. Ein solches Verhalten würde jedoch standteile, wie bei diesem Wort das weder Empowerment noch Selbst Präfix „De-“, kennenlernt. Bei dieser Einige Minuten später präsentiert die ständigkeit der Schülerinnen fördern. Handlungsvariante übernähme die hörende Mitschülerin Tina ihre Über- Stattdessen würden die Schülerin Dolmetscherin im Sinne einer bilin legungen zum Thema „Alliierter Kon- nen aus einer solchen Situation ler gual-bikulturellen Sachverständi trollrat “ in ihrer Gruppe. Sie spricht nen, dass die Dolmetscherin Miss gen kommunikative Verantwortung. dabei die ganze Zeit hindurch ihre verständnisse und Problemsituatio Sie weiß, dass Luise aufgrund ihrer Sitznachbarin Martha an. Frau Böhm nen auflöst und sie sich nicht selbst Taubheit ein sprachliches Defizit und dolmetscht ihre Ausführungen für darum bemühen müssen. Die Schüle im Gegensatz zur hörenden Martha Luise. Als Tina mit ihren Ausführun- rinnen könnten Frau Böhms Verhal nicht so viele Möglichkeiten hat, gen am Ende ist, dreht sie sich wieder ten aber auch als verletzend oder be einmal falsch erlerntes Wissen wie in die Gruppe und sieht wie die Dol- vormundend empfinden. der zu korrigieren. Frau Böhm wäre metscherin noch gebärdet. Tina fragt Eine weitere Handlungsmöglich sich außerdem bewusst, dass viele völlig erstaunt: „Haben Sie jetzt alles keit wäre, dass Frau Böhm Tinas Ant taube Menschen glauben, Hörende gedolmetscht, was ich gesagt habe?“ Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
BI LDUNG Obwohl die gesamte Klasse 9f zu denkt, Frau Böhm habe sie nicht ge Frau Böhm könnte eine korrigier Beginn des Schuljahres eine Einfüh hört, und Tina ihre Frage deshalb er te Version von Max Aussage in der rung im Hinblick auf die Aufgaben neut stellt. Wenn die Dolmetscherin Gebärdensprache produzieren. Eine einer Gebärdensprachdolmetsche dann bei ihrer Strategie bliebe und Ti Korrektur von Versprechern erfolgt rin und den Umgang mit ihr erhal nas Frage wiederum ignorierte, wür häufig seitens der Dolmetscherinnen ten hatte, ist Tina in diesem Moment de diese sich vermutlich in Gegen und Dolmetscher und ist in Situa nicht bewusst, was Frau Böhm dort wart der Dolmetscherin sehr unwohl tionen, in denen es lediglich um den gerade macht. Dadurch ist erkennbar, fühlen oder wäre sogar verärgert. Austausch von Informationen geht, dass die Schülerinnen und Schüler Stattdessen könnte Frau Böhm meist zweckdienlich. In einer Lehr- den Dolmetschprozess mit all seinen auch direkt auf Tinas Frage antworten Lern-Situation ist die Wahrschein Zusammenhängen erst selbst erle und ihre Antwort mit lautsprachbe lichkeit, dass die Lehrkraft auf einen ben müssen, um ihn wirklich durch gleitenden Gebärden begleiten, damit Versprecher eingeht, jedoch hoch, dringen und verstehen zu können. die taube Schülerin Luise das Gesche da ihre Aufgabe darin besteht, den Die Dolmetscherin, die in dieser Si hen verfolgen könnte. Tina erhielte so Schülerinnen und Schülern korrek tuation direkt angesprochen wird, eine Antwort auf ihre Frage und wäre te Inhalte zu vermitteln. Würde Frau muss sich für eine angemessene Re anschließend weder irritiert noch ge Böhm den Versprecher korrigieren, DZ 100 15 271 aktion entscheiden. hemmt. Luise könnte außerdem dem Herr Müller jedoch auf ihn eingehen, Zum einen könnte Frau Böhm die Beitrag von Frau Böhm noch etwas so müsste Frau Böhm im Nachhinein Frage für die taube Schülerin Luise hinzufügen. Frau Böhm entscheidet erklären, dass sie bei der vorangegan dolmetschen, ohne persönlich auf Ti sich im vorliegenden Fall für diese genen Verdolmetschung etwas ver nas Anliegen einzugehen. Luise könn letzte Variante und antwortet mithil bessert hat. Darüber hinaus müsste te daraufhin Tinas Frage beantworten fe von lautsprachbegleitenden Gebär sie entscheiden, ob sie diese Erklä und dabei in der dritten Person Sin den auf Tinas Frage: „Ja, ich habe das rung an die gesamte Klasse mithilfe gular über die Dolmetscherin spre jetzt gerade alles gedolmetscht.“ Die von lautsprachbegleitenden Gebär chen. Tina wäre dann jedoch mögli Gruppenarbeit läuft reibungslos wei den oder nur in Gebärdensprache an cherweise noch stärker irritiert, da sie ter, alle Schülerinnen tragen ihre Ge die tauben Schülerinnen und Schü ihre Frage an Frau Böhm gestellt hat. danken in die Runde und erarbeiten ler richtet. Dies würde wahrschein Sie erwartet die Antwort auf ihre Fra die Lösungen zur Aufgabe. lich zu Verwirrung und ggf. zu einer ge von der Dolmetscherin, nicht von Unterbrechung des Unterrichtsflus Luise. Dass Luise statt Frau Böhm ant In der anschließenden Präsentation ses führen. wortet, könnte befremdend auf die der Gruppenarbeit stellt Max, einer Eine andere Möglichkeit bestün hörenden Schülerinnen wirken und der hörenden Schüler, die Ergebnisse de darin, Max auf seinen Verspre Tina wäre ggf. beschämt, da sie nicht seiner Gruppe im Plenum vor. Der cher aufmerksam zu machen. Dies versteht, warum Frau Böhm nicht auf Fachlehrer, Herr Müller, moderiert bedeutete jedoch, dass Frau Böhm ihre Frage eingeht. Möglicherweise diesen Teil, während Frau Böhm dol- dem Lehrer zuvorkäme und eine Auf würde sie sich in Zukunft nicht mehr metscht. Max erklärt: „Die haben gabe übernähme, die sie nicht erfül trauen, weitere Fragen zu stellen. dann Lebensmittelmarken bekom- len muss, da die zuständige Fachkraft Eine weitere Handlungsmöglich men, da Lebensmittel sehr knapp wa- anwesend ist. Deshalb erschiene die keit für die Dolmetscherin läge darin, ren und viele Menschen keinen Hun- ses Verhalten unangemessen und an die Frage zu ignorieren. Dieses Ver ger hatten.“ maßend. halten riefe jedoch möglicherweise Die Aussage von Max enthält ei Weiterhin könnte Frau Böhm das ebenfalls große Irritation oder Krän nen Versprecher – tatsächlich woll Gesagte samt Versprecher dolmet kung bei Tina hervor, die sich außer te er sagen: „… und viele Menschen schen, da sie antizipiert, dass Herr dem eventuell in Zukunft nicht mehr Hunger hatten“. Die Dolmetscherin Müller in einer Lehr-Lern-Situation trauen würde, mit einer Frage an muss in dieser Situation schnell ent und in seiner Funktion als Lehrer auf Frau Böhm heranzutreten. Es könn scheiden, wie sie mit diesem Verspre diesen Versprecher eingehen wird, te jedoch auch passieren, dass Tina cher umgeht. indem er Max bittet, noch einmal Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG über seine Aussage nachzudenken. Eine weitere Möglichkeit für Frau Müller und erläutert die Intention ih Diese Lösungsmöglichkeit würde den Böhm wäre, von DGS zu lautsprach rer Bitte ausführlicher. Gesprächsfluss am wenigsten stö begleitenden Gebärden zu wechseln, ren und die tauben Schülerinnen und damit die tauben Schülerinnen und Am Ende des Unterrichts gibt Herr Schüler könnten zudem erkennen, Schüler auf diese Weise die Defini Müller einen kurzen Ausblick auf die dass die hörenden Mitschülerinnen tion korrekt aufschreiben können. Al kommende Geschichtsstunde. Frau und Mitschüler ebenfalls Fehler ma lerdings wäre es für die tauben Schü Böhm nimmt wahr, dass der taube chen. Frau Böhm entscheidet sich für lerinnen und Schüler nur sehr schwer Schüler Tom dazu noch eine Frage die letzte Variante und überlässt so möglich, dem gebärdeten Satz zu fol stellen möchte. Herr Müller bemerkt Herrn Müller die Verantwortung, den gen und diesen gleichzeitig mitzu ihn jedoch nicht. Versprecher zu korrigieren. schreiben. Außerdem könnte diese Die Dolmetscherin steht in die Handlungsmöglichkeit zur Folge ha sem Fall erneut vor einer Auswahl an Nach den Präsentationen fasst Herr ben, dass Luise, Tom und Jenny den Handlungsmöglichkeiten. Sie könn Müller die wichtigsten Punkte der ein- Inhalt der diktierten Sätze aufgrund te Herrn Müllers Ausführungen un zelnen Gruppen zusammen und bittet der anderen Sprachstruktur nicht so terbrechen und ihm mitteilen: „Tom 272 DZ 100 15 darum, dass sich die Schülerinnen und fort verstehen. Frau Böhm müsste meldet sich schon eine ganze Wei Schüler dazu Notizen machen. In der daher in diesem Fall eine gebärden le und möchte auch noch etwas sa bevorstehenden Klassenarbeit werden sprachliche Variante zur Verständ gen.“ In diesem Fall könnte sich Herr diese Punkte Thema sein. Des Weiteren nissicherung nachliefern. Müller jedoch möglicherweise bevor beginnt Herr Müller eine Definition zu Darüber hinaus könnte Frau mundet fühlen. diktieren, die er ebenfalls in der nächs- Böhm Herrn Müller bitten, die Defi Eine weitere Handlungsoption ten Klassenarbeit abfragen möchte: nition an die Tafel zu schreiben, und wäre, dass Frau Böhm Toms Melde „Diktatur bedeutet ...“. ihm anschließend kurz erklären, dass verhalten nur durch sehr kurze laut Auch in dieser Situation stehen es für die tauben Schülerinnen und sprachliche Äußerungen begleitet: der Dolmetscherin mehrere Hand Schüler nicht möglich ist, gleichzei „Mhh, mhh, Herr Müller, ich …“ Wäh lungsvarianten offen. Frau Böhm tig zur Dolmetscherin zu schauen – renddessen würde sie weiterhin ge könnte im vorliegenden Fall aufhö Kommunikation in Gebärdenspra bärden, was Herr Müller gerade er ren zu dolmetschen und die Defini che erfordert Sichtkontakt –, sie zu klärt. Eventuell gelänge es Frau Böhm tion für die tauben Schülerinnen und verstehen und den Satz korrekt auf auf diese Weise, die Aufmerksamkeit Schüler auf dem vor ihr liegenden zuschreiben, da DGS und deutsche des Klassenlehrers auf Tom zu lenken. Block schriftlich festhalten, den sie Schriftsprache sehr unterschiedliche Möglicherweise wäre Herr Müller je den tauben Schülerinnen und Schü grammatische Strukturen aufweisen. doch durch diesen vorsichtigen Ver lern anschließend zum Abschreiben Die Dolmetscherin entscheidet such von Frau Böhm irritiert und deu geben würde. Das könnte jedoch zur sich in dieser Situation für die zuletzt tete Frau Böhms Äußerung so, dass Folge haben, dass Luise, Tom und Jen aufgeführte Handlungsmöglichkeit. sie selbst eine Anmerkung machen ny sich übergangen, bevormundet Sie spricht Herrn Müller an und sagt oder Frage stellen möchte. oder abgewertet fühlen oder aber mit lautsprachbegleitenden Gebär Ferner könnte Frau Böhm Toms auch in Zukunft davon ausgehen, den, damit auch die tauben Schü Versuche, eine Frage zu stellen, igno dass Frau Böhm alle wichtigen In lerinnen und Schüler sie verstehen rieren. Sie würde in diesem Fall ein formationen schriftlich für sie fest können: „Könnten Sie bitte die Defi fach weiter dolmetschen, was Herr hält. Hinzukommt, dass Herr Müller nition zusätzlich an die Tafel schrei Müller gerade spricht. Dies bedeutete in dieser Situation zudem auf den ben? Dann können die tauben Schü jedoch, dass bei Tom eine Wissenslü Gedanken kommen könnte, dass lerinnen und Schüler der gebärdeten cke bestehen bliebe, da er keine Ant die tauben Schülerinnen und Schü Version folgen und die schriftliche wort auf seine Frage erhielte. ler faul sind und die Dolmetscherin Definition im Nachhinein abschrei Frau Böhm könnte darüber hin eine Aufgabe übernimmt, die nicht ben.“ Nach Unterrichtsende wendet aus auf eine Sprechpause von Herrn die ihre ist. sich Frau Böhm nochmals an Herrn Müller warten und diesen dann de Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
BI LDUNG zent auf Toms Meldung aufmerksam hat noch nie die gesamte Klasse ei ny schätzen die Englischstunden mit machen. Damit gäbe sie Letzterem genständig unterrichtet. Zum ande Frau Lewandowski, sie sind jedoch die Möglichkeit, mit dem Lehrer in ren konnte sich Frau Lewandowski froh, nur zwei Stunden gesondert un ein Gespräch zu kommen. In diesem aufgrund des kurzfristigen Ausfalls terrichtet zu werden, da Frau Lewan Fall sähe sich Frau Böhm als diejeni ihres Kollegen im Vorfeld nicht auf dowski sehr streng ist und viel von ge, die für die Gesprächssteuerung die kommende Stunde vorbereiten. ihnen fordert. Manchmal wünschen zuständig ist und dafür, dass Tom Da es sich bei Mathematik nicht um sie sich, einfach im großen Klassen den Turn erhält. Deshalb gebärdet ihr studiertes Unterrichtsfach han verband untertauchen zu können, sie im vorliegenden Fall zwar einer delt, befürchtet sie, dass sie die Fragen wie ihre hörenden Mitschülerinnen seits das, was Herr Müller gerade er der Schülerinnen und Schüler nicht und Mitschüler dies tun. Alle drei klärt, sagt jedoch in einer Sprechpau ausreichend bzw. fachgerecht beant sind der Meinung, dass der Fachleh se von Herrn Müller leise zu diesem: worten kann. Zum Glück wurden ihr rer, Herr Smith, viel lockerer ist als „Tom möchte auch noch etwas dazu vom Fachlehrer jedoch Übungsmate Frau Lewandowski. sagen.“ Sobald Herr Müller Tom sei rialien hinterlegt, die die Schülerin Heute findet der Englischunter- ne Aufmerksamkeit zugewandt hat, nen und Schüler selbstständig bear richt im Klassenverband statt. Die signalisiert sie diesem, dass er jetzt beiten sollen. Da diese den aktuellen Schülerinnen und Schüler werden DZ 100 15 273 seine Frage stellen kann. Unterrichtsstoff gut beherrschen, ver in zwei Gruppen geteilt. Die größere läuft die Vertretungsstunde problem Gruppe wird von Herrn Smith frontal Nach der Geschichtsdoppelstunde ver- los und Frau Lewandowskis Befürch unterrichtet. Für die kleinere Gruppe lässt die Dolmetscherin Frau Böhm die tungen werden nicht bestätigt. ist Frau Lewandowski zuständig und Klasse 9f. Sie weiß, dass die Sonderpä- steht für Fragen zur Verfügung. Dabei dagogin, Frau Lewandowski, jederzeit Anschließend steht für die Klasse 9f arbeiten alle Schülerinnen und Schü- eintreffen wird. Frau Böhm ist froh, der Englischunterricht an. Dieser ist so ler selbstständig, üben und wiederho- nicht die Mathematikstunde dolmet- aufgeteilt, dass die tauben Schülerin- len Aufgaben. Die drei tauben Schüle- schen zu müssen, da sie immer wieder nen und Schüler Luise, Tom und Jenny rinnen und Schüler schließen sich der erlebt hat, dass Tom größere Probleme zwei Stunden pro Woche getrennt von frei arbeitenden Gruppe an. beim Verstehen mathematischer In- ihren hörenden Mitschülerinnen und In diesem Setting wird die Klasse halte hat. Sie ist in solchen Fällen oft Mitschülern durch die Sonderpädago- nicht nach Hörstatus bzw. Kommuni hin und her gerissen, ob sie Tom z. B. gin Frau Lewandowski und zwei Stun- kationsform getrennt, sondern nach bei einer Einzelarbeit den Stoff noch den pro Woche im Klassenverband ge- Leistung und Förderbedarf. In der einmal erklären soll. meinsam von Herrn Smith, dem Eng- größeren Gruppe werden neue The Als Frau Lewandowski eintrifft lischlehrer, und Frau Lewandowski un- men frontal vermittelt, in der klei und vor Beginn der dritten Unter- terrichtet werden. neren Gruppe werden Inhalte klein richtsstunde auf den Vertretungsplan Die taube Schülerin Luise freut schrittig erarbeitet, wobei mehr Ge schaut, erfährt sie, dass sie jetzt in der sich jede Woche auf diese Stunden legenheit für individuelles Arbeiten Klasse 9f für ihren Kollegen einsprin- bei Frau Lewandowski, da sie die di und Unterstützung gegeben ist. gen und die Mathematikstunde allein rekte Kommunikation in der kleinen In den zwei Stunden, in denen die übernehmen soll. Gruppe sehr schätzt. Außerdem inte drei tauben Schülerinnen und Schüler Obwohl Frau Lewandowski be ressiert sie sich sehr für die Amerika im Klassenverband unterrichtet wer reits seit einigen Monaten in der Klas nische Gebärdensprache (ASL). Frau den, teilen sich Herr Smith und Frau se als Sonderpädagogin arbeitet und Lewandowski verknüpft diese mit Lewandowski die Verantwortung dieser gegenüber sehr positiv einge der englischen Schriftsprache und so für die gesamte Klasse. Die Sonder stellt ist, hat sie einige Bedenken be hat Luise das Gefühl, besonders viel pädagogin ist somit nicht nur für die züglich der Vertretungsstunde: Zum zu lernen. Zu Hause schaut sie sich drei tauben Schülerinnen und Schü einen war sie bisher fast ausschließ viele Videos in ASL an. Sie träumt da ler zuständig, sondern auch für die lich für die tauben Schülerinnen und von, später an der Gallaudet Univer hörenden Mitschülerinnen und Mit Schüler der Klasse 9f zuständig und sity zu studieren. Auch Tom und Jen schüler. Die Anwesenheit von zwei Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG Lehrkräften wird für einen binnendif Frau Lewandowski ist nicht si deren Gruppen.“ Nach einer Weile se- ferenzierten Unterricht genutzt, was cher, ob Tom mit der gestellten Auf hen Herr Smith und Frau Lewandow- bedeutet, dass für die Schülerinnen gabe unter- oder überfordert ist und ski, dass Tom und Ali ihre Handys he- und Schüler entsprechend ihren indi kann demnach nicht einschätzen, rausgeholt haben. viduellen Bedürfnissen unterschied ob er sich langweilt, sich nicht län Die Lehrkräfte vermuten, dass die liche Lernangebote zur Verfügung ger konzentrieren kann oder die Auf beiden Schüler ihre Handys zur Über stehen. Die Zusammenarbeit empfin gabe eventuell zu anspruchsvoll für brückung der Sprachbarriere benut den beide Lehrkräfte als Bereicherung. ihn ist. Sie gerät an dieser Stelle in zen. Sie sind unsicher, wie sie reagie Sie glauben, durch die Teamarbeit so den Konflikt, ob sie sich auf das Ge ren sollen. Frau Lewandowski könn wohl für die hörenden als auch für die spräch einlassen oder dieses freund te zu den beiden Schülern gehen, um tauben Schülerinnen und Schüler ei lich abweisen soll. Möglicherwei das Gespräch zwischen Tom und Ali nen besseren Unterricht anbieten zu se verspürt Tom nur das Bedürfnis zu übersetzen. Dann würde die Kom können. Frau Lewandowski schätzt nach direkter Kommunikation, die munikation jedoch indirekt erfolgen es, dass Herr Smith sie in die Unter zwischen ihm und seinen hörenden und eigentlich freuen sich beide Lehr richtsplanung mit einbezieht und sie Gruppenmitgliedern aufgrund der kräfte darüber, dass Tom und Ali ei 274 DZ 100 15 nicht wie im Mathematikunterricht Sprachbarriere nicht möglich ist. In nen Weg gefunden haben, um sich nur für die methodische Adaption zu der vorliegenden Situation entschei direkt miteinander zu verständi ständig ist. Sie hat das Gefühl, dass det sich Frau Lewandowski dafür, gen. Außerdem waren die Gruppen Herr Smith ihre Rolle als Sonderpä kein Gespräch mit ihm aufzuneh ergebnisse der beiden bei Präsenta dagogin versteht, was bei dem Ma men, da alle anderen Gruppenmit tionen bisher immer gut. Das größ thematiklehrer nicht der Fall zu sein glieder noch mit der Arbeit beschäf te Problem ist nach Meinung von scheint. Dieser kam nach der letzten tigt sind. Sie bittet Tom darum, be Herrn Smith, dass man nicht verfol Mathematikstunde auf sie zu und reits Geschriebenes noch einmal zu gen kann, was genau die Schüler im sagte: „Ich dachte immer, Sie und die kontrollieren bzw. auf Rechtschreib Internet machen. Allerdings sind bei Dolmetscherin Frau Böhm überneh fehler hin zu überprüfen. de in der 9. Klasse und somit alt ge men dieselben Aufgaben. Sie dolmet nug, um das Internet selbstständig schen doch sonst auch, oder?“ Eine halbe Stunde später arbeitet Tom zu nutzen – zumindest sollte man mit dem hörenden Schüler Ali zusam- ihnen einen solchen Vertrauensvor Frau Lewandowski gestaltet die Frei- men. Beide sollen eine kurze Präsen- schub gewähren. Frau Lewandow arbeit im Englischunterricht so, dass tation zum Thema „Eating habits in ski ist es jedoch sehr wichtig, in Zu auch kleine Gruppenarbeiten möglich Australia“ erstellen. Die beiden Lehr- kunft ein Auge darauf zu haben, wie sind, in denen die Schülerinnen und kräfte, Herr Smith und Frau Lewan- die Schüler miteinander arbeiten und Schüler sich untereinander austau- dowski, haben sich zurückgezogen. möglicherweise andere Lösungen zu schen können. Während einer Grup- Tom denkt sich: „Okay, wir müssen finden. In der vorliegenden Situation penarbeit versucht der taube Schü- das jetzt bald präsentieren. Ich habe lassen sie Tom und Ali jedoch erst ler Tom mehrfach, ein Gespräch mit in dem Text gerade was Interessan- einmal eigenständig und mithilfe ih Frau Lewandowski über das vergange- tes gefunden. Ich schreibe das Ali rer Handys weiterarbeiten. ne Wochenende anzufangen. Er kann mal per Whatsapp. Da kann ich auch sich gerade einfach nicht auf seine gleich ein passendes Bild posten.“ Ali Nach der Gruppenarbeit hält der Aufgabe konzentrieren und sehnt sich schaut auf sein Handy und denkt sich: Fachlehrer, Herr Smith, einen kurzen nach einer unbeschwerten Unterhal- „Wir schreiben die Sachen einfach per Lehrervortrag über die Kultur der Ab- tung, um seinen Kopf wieder frei zu be- Whatsapp. Das geht total schnell. origines. Frau Lewandowski soll die- kommen. Da seine tauben Mitschüle- Wenn man was nicht weiß, kann man sen für die tauben Schülerinnen und rinnen noch mit ihren Aufgaben be- auch gleich noch was nachschlagen, Schüler in Gebärdensprache über- schäftigt sind, ist Frau Lewandowski ohne dass die Lehrer gleich meckern, setzen. Sie fühlt sich in der Situation in diesem Moment die einzige Person, weil man das Handy benutzt. Wir sind unwohl und der Dolmetschaufgabe mit der er sich direkt unterhalten kann. dadurch genauso schnell wie die an- nicht gewachsen. Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
BI LDUNG Zwar hat Frau Lewandowski Die tauben Schülerinnen und Aufgabenstellung noch einmal ge- im Laufe ihres Studiums Gebärden Schüler werden in Englisch, wie be nau erklärt wurde, bietet die Sonder- sprachkenntnisse erworben und kann reits oben erwähnt, zwei Stunden pro pädagogin Frau Lewandowski den mit den tauben Schülerinnen und Woche getrennt von der Klasse durch tauben Schülerinnen und Schülern Schülern gut kommunizieren, aller die Sonderpädagogin unterrichtet. Die an: „Wenn ihr wollt, kann ich mir eure dings fehlt ihr das Wissen und Kön mündliche Note hat der Englischleh fertigen Hausaufgaben gern ansehen. nen, um fachlich komplexe Inhalte si rer Herr Smith gegeben, ohne die Ein Ihr könnt sie nächste Woche nach der multan in DGS zu übertragen. Sie ist in schätzung der Sonderpädagogin in Stunde bei mir abgeben.“ dieser Situation unzufrieden mit sich ausreichendem Maß mit einzubezie Auch wenn Tom Frau Lewan selbst und hat das Gefühl, ihre Auf hen. Frau Lewandowski ist mit der dowskis Angebot durchaus schätzt, gabe nicht ausreichend zu erfüllen. Note nicht einverstanden, da Luise bevorzugt er die Hausaufgabenkon Die Sonderpädagogin kann ihren ei bei ihr immer gut mitgearbeitet hat. trolle durch Herrn Smith. Er will in genen Erwartungen und Ansprüchen Die Sonderpädagogin muss sich dieser Situation die gleiche Behand nicht genügen. Im Englischunterricht entscheiden, ob sie das Problem lung wie seine Mitschülerinnen bzw. kommt erschwerend hinzu, dass ihr gleich löst, während Luise dabei ist, Mitschüler erfahren und nicht stän nicht klar ist, in welche Sprache sie oder ob sie es auf später verschiebt. dig eine Sonderrolle im Unterrichts DZ 100 15 275 das gesprochene Englisch von Herrn Sie beschließt Luise zu bitten, in der geschehen einnehmen. Ebenso möch Smith übersetzen soll. In diesem Mo nächsten Stunde noch einmal zu ihr te er sich in Bezug auf seinen Leis ment muss sie abschätzen, ob es wich zu kommen. Sie teilt ihr mit, dass es tungsstand mit seinen Klassenkame tiger ist, etwas über die Kultur der Ab ein Missverständnis bezüglich ihrer radinnen und -kameraden verglei origines zu vermitteln oder die Eng Mitarbeitsnote gab und sie erst mit chen können. lischkompetenzen der tauben Schü Herrn Smith sprechen muss. So sorgt Luise hingegen will Frau Lewan lerinnen und Schüler zu fördern. sie dafür, dass dieser nicht bloßge dowskis Angebot gern annehmen, da Auch den tauben Schülerinnen stellt wird. Nach der Stunde erklärt sie weiß, dass diese selbst auch Eng und Schülern fällt diese Unsicherheit sie ihm kurz, dass sie die Mitarbeit lischlehrerin ist, und Luise sich von auf. Jenny denkt sich: „Hm, übersetzt der tauben Schülerinnen und Schüler ihr wertvolle Hinweise zur Verbesse sie gerade den Inhalt oder fasst sie besser einschätzen kann. Die münd rung ihrer Leistung erhofft, da sie die ihn nur zusammen? Ich habe das Ge liche Mitarbeitsnote könne nicht auf Gründe kennt, warum ihr das Eng fühl, Herr Smith erzählt viel mehr als Basis der in Englisch gesprochenen lisch-Lernen schwerfällt. sie gebärdet. Mich interessiert das Beiträge gegeben werden, da die Thema, ich will das alles mitkriegen!“ Schülerinnen und Schüler in DGS Nach der siebten Stunde endet der Sie wünscht sich, den Unterrichts kommunizieren. Sie bittet ihn, die Schultag für alle Schülerinnen und stoff so detailliert und genau präsen Note zu ändern und fügt hinzu, dass Schüler der Klasse 9f. Auch an den tiert zu bekommen wie ihre hören in Zukunft die mündlichen Noten für darauffolgenden Tagen werden Frau den Mitschülerinnen und Mitschüler. die tauben Schülerinnen und Schü Böhm und Frau Lewandowski in der ler von ihnen beiden gemeinsam be Klasse zum Einsatz kommen. Da die Am Ende der Stunde teilt Herr Smith schlossen werden sollten. Allgemein beiden jedoch nicht alle Unterrichts- den Schülerinnen und Schülern die wünschen sich beide Lehrkräfte eine stunden in der Woche abdecken kön- Halbjahresnoten mit. Die taube Schü- gemeinsame, regelmäßige Bespre nen, wechseln sowohl die Gesichter lerin Luise versteht nicht, warum sie chungszeit, sodass Absprachen nicht der Dolmetscherinnen und Dolmet- eine schlechtere Note als gedacht be- zwischen Tür und Angel oder per scher als auch die der Sonderpädago- kommen hat und fragt die Sonder- E-Mail erfolgen müssen. ginnen und -pädagogen mehrmals pädagogin Frau Lewandowski nach in der Woche. dem Grund. Als diese die Notenüber- Als Hausaufgabe sollen die Schüle- sicht sieht, stellt sie fest, dass Luise für rinnen und Schüler eine Abenteuer Die Studien der Pädagogikstuden ihre mündliche Mitarbeit eine 4 be- geschichte zum Thema „Aborigines“ tinnen und die persönlichen Erleb kommen hat. schreiben. Nachdem der Klasse die nisse der Dolmetschstudentinnen in Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG der Sekundarstufe einer Regelschu diese größtenteils am Förderzentrum le haben gezeigt, dass ein wichti angestellt. Durch ein kleineres Team ger Faktor für das Gelingen der Ko von Sonderpädagoginnen und -päda operation ist, dass in der Vorberei gogen könnten eine stärkere Vertrau tung und während des inklusiven ensbasis aufgebaut und bessere Vor Unterrichts ein gemeinsamer Aus aussetzungen für den regelmäßigen tausch von Regelschullehrkräften Austausch mit den Regelschullehr und Sonderpädagoginnen und -pä kräften geschaffen werden. Vermie dagogen sowie Dolmetscherinnen den werden sollte hingegen, dass an und Dolmetschern über Erwartungen einer Schule ein große Anzahl an Son und Befürchtungen stattfindet. Da derpädagoginnen und -pädagogen bei sollte ebenfalls eine gegenseitige zum Einsatz kommt, und die Schüle Abklärung der jeweiligen Aufgaben- rinnen und Schüler sowie die Regel und Zuständigkeitsbereiche erfol schullehrkräfte stets mit wechseln gen. Einem solchen Austausch muss den Gesichtern konfrontiert sind. 276 DZ 100 15 auf jeden Fall eine größere Relevanz Berücksichtigt werden sollte au beigemessen werden als das derzeit ßerdem, dass Gebärdensprachdol der Fall ist und entsprechend müs metscherinnen und -dolmetscher in sen zeitliche und räumliche Ressour diesem Setting als weitere erwachse cen für das gesamte Team zur Verfü ne Personen im Raum wahrgenom gung gestellt werden. men werden. Dies erfordert, dass sie Für die Zufriedenheit aller betei ihr eigenes Rollenverständnis stets ligten Akteurinnen und Akteure ist reflektieren sollten und die Fähigkeit dabei wichtig, dass zwischen ihnen besitzen müssen, dieses an das vor gleichberechtigte Kooperationsfor liegende pädagogische Setting anzu men ausgehandelt werden. Insbe passen. sondere sollten Sonderpädagogin Ein festes Team an Dolmetsche nen und -pädagogen mehr an der rinnen und Dolmetschern ist eben Planung, Durchführung wie auch falls erstrebenswert. In diesem Fall Auswertung von Unterricht beteiligt würden die Dolmetscherinnen und werden. Um dem Anspruch von In Dolmetscher die bestehenden Abläu i klusion gerecht zu werden, sollte die fe kennen und könnten sich dadurch ausschließliche Zuständigkeit von auf alle Beteiligten, ihre Sprachspezi Sonderpädagoginnen und -pädago fika und individuelle Handlungswei gen für Schülerinnen und Schüler mit sen sowie das Setting einstellen. Zum Ronja Dietrich, Lisa Fürsten- Förderbedarf überdacht werden. In anderen kann eine Vertrauensbasis berg, Anna Grimm, Laura den im Rahmen der Studie durchge zwischen allen Beteiligten geschaf Häußer, Josephine Meinhardt, führten Interviews wurde von den fen werden. Susann Peters und Julia beteiligten Sonderpädagoginnen und Für die dauerhaft erfolgreiche Ratajczak sind Studierende der -pädagogen darüber hinaus geäußert, Entwicklung einer inklusiven Schul Masterstudiengänge „Sonder- dass eine bessere Verankerung in der kultur ist überdies die Unterstützung pädagogik mit dem Schwer- Regelschule bzw. Einbindung ins Kol des Inklusionsgedankens im gesam punkt Gebärdensprach- und legium erstrebenswert sei. Mögli ten Lehrerkollegium der Regelschule Audiopädagogik“ bzw. „Gebär- cherweise sollte über Festanstellun sowie bei allen beteiligten Sonderpä densprachdolmetschen“ an der gen der Sonderpädagoginnen und dagoginnen und -pädagogen und tä Humboldt-Universität zu Berlin. -pädagogen an der jeweiligen Schule tigen Dolmetscherinnen und Dolmet nachgedacht werden – aktuell sind schern unabdingbar. E-Mail: ratajczj@hu-berlin.de Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
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