Taube und hörende Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam

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ERZI E H UNG

                  Taube und hörende Schülerinnen
                  und Schüler lernen gemeinsam

                  VON RONJA DIETRICH, LISA FÜRSTENBERG, ANNA GRIMM,                                  In der Klasse 9f soll heute in den ersten
                  LAURA HÄUSSER, JOSEPHINE MEINHARDT, SUSANN PETERS                                  zwei Stunden des Tages im Geschichts-
                  UND JULIA RATAJCZAK                                                                unterricht das Thema „Nachkriegszeit
                                                                                                     in Deutschland“ behandelt werden.
                                                                                                     Herr Müller, der Fachlehrer, leitet den
                                                                                                     Unterricht. Die Gebärdensprachdol-
                                                                                                     metscherin Frau Böhm dolmetscht das
                                                                                                     Unterrichtsgeschehen für die drei tau-
                                                                                                     ben Schülerinnen und Schüler. Herr
                                                                                                     Müller will zu Stundenbeginn einen
                                                                                                     einführenden Film zeigen. Er schaltet
                                                                                                     das Licht aus und wendet sich an Frau
                                                                                                     Böhm: „Könnten Sie bitte die Vorhän-
                                                                                                     ge zuziehen, damit die Klasse den Film
                                                                                                     besser sehen kann?“
268   DZ 100 15                                                                                          Herr Müller, der in diesem Schul­
                  Im Rahmen eines gemeinsamen Projektseminars von Studentinnen der                   jahr zum ersten Mal in einem inklu­
                  Masterstudiengänge „Gebärdensprach-/Audiopädagogik“ und „Gebärden-                 siven Setting auch taube Schülerin­
                  sprachdolmetschen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigten             nen und Schüler unterrichtet und
                  wir uns im Sommersemester 2014 mit dem Thema „Inklusion – Hörbeein-                nie zuvor mit einer Gebärdensprach­
                  trächtigte und hörende Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam“. Ne-             dolmetscherin gearbeitet hat, kann
                  ben der theoretischen Auseinandersetzung mit diesem Thema anhand von               sich nur schwer an die neue Klassen­
                  Fachlektüre konnten wir auch praktische Erfahrungen sammeln und eine               situation gewöhnen. Aufgrund sei­
                  eigene Studie durchführen. Die angehenden Dolmetscherinnen haben in                ner bisher geringen Erfahrungen im
                  einer Klasse in der Sekundarstufe I, in der hörende und taube Schülerin-           Umgang mit tauben Menschen ist
                  nen und Schüler gemeinsam lernen, ihre Dolmetschfähigkeiten in diesem              ihm nicht bewusst, dass die tauben
                  speziellen Setting erprobt. Die Studentinnen der Sonderpädagogik führten           Schülerinnen und Schüler Luise, Tom
                  zum einen Interviews mit Regelschullehrkräften und Sonderpädagogin-                und Jenny auf gute Lichtverhältnisse
                  nen und -pädagogen, die in dieser Klasse tätig sind, zu Fragen der interdis-       angewiesen sind, um die Verdolmet­
                  ziplinären Kooperation durch. Zum anderen befragten sie die tauben und             schung von Frau Böhm optimal ver­
                  hörenden Schülerinnen und Schüler mithilfe von Fragebögen, wobei die               folgen zu können.
                  Schwerpunkte auf der sozialen Integration und dem Erleben des gemein-                  Frau Böhm hat in dieser Situa­
                  samen Unterrichts lagen.                                                           tion mehrere Handlungsmöglichkei­
                  Die vielfältigen praktischen Erfahrungen, die wir in diesem Projektsemi-           ten. Sie könnte der Aufforderung des
                  nar sammeln konnten, bilden die Grundlage für den folgenden Artikel: Wir           Lehrers nachkommen, den Vorhang
                  resümieren unsere Diskussionen, indem wir einen fiktiven Unterrichtstag            zuziehen und den tauben Schülerin­
                  der fiktiven Klasse 9f in einer fiktiven Regelschule beschreiben.1 Die Klasse
                  setzt sich aus 24 hörenden sowie den drei tauben Schülerinnen und Schü-            1
                                                                                                      Aus Datenschutzgründen wurden alle
                  lern Luise, Tom und Jenny zusammen. Zu Beginn des Tages befindet sich ne-          Namen und sonstigen Angaben, die einen
                  ben dem Fachlehrer Herrn Müller die Dolmetscherin Frau Böhm mit in der             Rückschluss auf bestimmte Personen er­
                                                                                                     möglichen, geändert.
                  Klasse, nach zwei Unterrichtsstunden wird Letztere durch die Sonderpädago-         2
                                                                                                       Die Handlungsmöglichkeiten, die dabei
                  gin Frau Lewandowski im Unterricht abgelöst. Für diesen fiktiven Schultag          für die Dolmetscherin Frau Böhm im Fol­
                  wurden exemplarisch Situationen ausgewählt, anhand derer Handlungs-                genden aufgezeigt werden, entsprechen
                  alternativen aus Sicht der Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie Päd-             in ihrer Komplexität nicht unbedingt den
                                                                                                     realen Gedankengängen einer Gebärden­
                  agoginnen und Pädagogen diskutiert werden. Wir hoffen, auf diese Weise
                                                                                                     sprachdolmetscherin, die sich oftmals in
                  Denkanstöße für die Gestaltung inklusiven Unterrichts aus den Perspekti-           Bruchteilen von Sekunden für eine Mög­
                  ven zweier Berufsgruppen zu geben.2                                                lichkeit entscheiden muss.

                              Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                                 (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
BI LDUNG

nen und Schülern die Verantwortung        und Jenny meine Hände beim Gebär­         Wissen begrenzt ist und sie Nachfra­
überlassen, ggf. selbst zu protestie­     den gut sehen können.“                    gen seitens der Gruppe ggf. an Herrn
ren, oder aber sie könnte Herrn Müller                                              Müller weiterleiten muss, anstatt sie
über die notwendigen Lichtverhält­        Die Klasse 9f schaut nun den an-          selbst womöglich fehlerhaft zu be­
nisse aufklären. Entschiede sie sich      gekündigten Film an, der von Frau         antworten.
für die erste Option, könnte dies je­     Böhm in Deutsche Gebärdensprache               Auch in dieser Situation sieht
doch zur Folge haben, dass sich Luise,    (DGS) gedolmetscht wird. Anschlie-        sich Frau Böhm mit mehreren Hand­
Tom und Jenny nicht zu Wort mel­          ßend erläutert Herr Müller der Klas-      lungsmöglichkeiten konfrontiert:
den, da sie sich möglicherweise nicht     se die Aufgabenstellung: „In dem kur-     Wenn sie das Dolmetschen des Ar­
trauen, sich über Herrn Müllers An­       zen Filmausschnitt habt ihr einige        beitsblattes und der Aufgabenstel­
weisung hinwegzusetzen. Eventuell         Eindrücke vom Leben einer Familie         lung übernähme, bestätigte dies
wären sie sich aber auch gar nicht be­    im Nachkriegsdeutschland erhalten.        möglicherweise die Einstellung des
wusst, dass sie die Möglichkeit hätten,   Dabei wurden verschiedene Themen          Fachlehrers, er sei nur teilweise für
Einspruch zu erheben. Somit entgin­       angesprochen. Einige dieser Themen        die tauben Schülerinnen und Schü­
gen Luise, Tom und Jenny unter Um­        sowie dazugehörige Arbeitsaufträge        ler zuständig und die Verantwortung
ständen wichtige Unterrichtsinhalte.      findet ihr an der Tafel. Ihr sollt euch   läge zu großen Teilen bei der Dolmet­    DZ 100 15   269
    Würde Frau Böhm die Möglich­          jetzt in 2er-, 3er- oder 4er-Gruppen      scherin. Ähnliche Situationen könn­
keit wählen, Herrn Müller zu erklä­       zusammenfinden und zu diesen The-         ten sich in Zukunft wiederholen.
ren, dass die tauben Schülerinnen         men recherchieren sowie die Aufga-             Herr Müller ist im Vorhinein über
und Schüler gute Lichtverhältnisse        ben bearbeiten. Für eure Recherche        die Aufgaben und die Rolle der Dol­
benötigen, um ihre Verdolmetschung        habe ich Zeitschriften und Bücher         metscherin aufgeklärt worden, was
problemlos wahrnehmen zu können,          mitgebracht. Ihr habt 45 Minuten          dies aber in der Umsetzung kon­
könnte sie ergänzen, dass es zudem        Zeit, die Aufgabe zu bearbeiten. Am       kret bedeutet, bedarf wiederholten
nicht in ihren Aufgabenbereich fällt,     Ende sollt ihr eure Ergebnisse kurz vor   Austauschs zwischen ihm und Frau
Vorhänge zu schließen. Mit dieser Re­     der Klasse präsentieren.“                 Böhm. Demnach bestünde eine wei­
aktion würde sie zwar auf die Bedürf­         Die Gruppe, in der sich u. a. die     tere Option darin, Herrn Müller in der
nisse der tauben Schülerinnen und         taube Schülerin Jenny befindet, be-       Situation nochmals kurz auf die Rolle
Schüler hinweisen, Herr Müller könn­      arbeitet eine Reihe von Aufgaben.         und die Aufgaben einer Dolmetsche­
te diese Reaktion jedoch als überheb­     Als die Gruppe eine Aufgabe beendet       rin hinzuweisen und höflich darauf
lich auffassen.                           hat, winkt Jenny Herrn Müller her-        zu bestehen, dass er die Erklärung der
    Eine dritte Möglichkeit wäre, dass    an, damit dieser die Antworten prüft      Aufgabe selbst übernehmen muss.
Frau Böhm den Vorhang nur soweit          und der Gruppe eine neue Aufgabe               Frau Böhm entscheidet sich für
zuzieht, dass die Lichtverhältnisse für   gibt. Die Dolmetscherin, Frau Böhm,       die zweite Möglichkeit. Zudem sucht
die tauben Schülerinnen und Schü­         kommt ebenfalls hinzu, um das Ge-         sie nach Unterrichtsende das Ge­
ler nach wie vor ausreichend wären,       spräch der Gruppe zu dolmetschen.         spräch mit Herrn Müller, um die
um die Verdolmetschung verfolgen          Herr Müller schaut nur kurz auf die       Situa­tion noch einmal aufzugreifen
zu können, und sie Herrn Müller ihr       erledigten Aufgaben, händigt Jenny        und ihm zu erklären, was ihrem
Vorgehen kurz erläutert. Mit dieser       ein neues Arbeitsblatt aus und meint      Standpunkt nach zum Aufgabenbe­
Handlungsoption würde sie zugleich        dann zu Frau Böhm: „Die Aufgabe           reich einer Dolmetscherin gehört.
eine Lösung für das Problem bieten.       können Sie ja der Gruppe erklären.“
    Frau Böhm entscheidet sich in der         Frau Böhm ist mit dem Unter­          Wenige Minuten später befindet sich
aktuellen Situation tatsächlich für       richtsstoff der Geschichtsstunde ver­     Frau Böhm in der Gruppe um die tau-
die letzte Handlungsmöglichkeit. Sie      traut. Sie hat die Aufgaben zu Vorbe­     be Schülerin Luise und die beiden hö-
zieht den Vorhang nicht vollständig       reitungszwecken gelesen und kennt         renden Schülerinnen Martha und
zu und erklärt an Herrn Müller ge­        ihren Inhalt. Sie dolmetscht die Ar­      Tina. Plötzlich schaut Luise von ih-
wandt: „Ich lasse den Vorhang noch        beitsanweisungen auf dem Arbeits­         rem Text zum Thema „Alliierter Kon-
einen Spalt offen, damit Luise, Tom       blatt. Ihr ist jedoch bewusst, dass ihr   trollrat“ auf und fragt ihre beiden

                            Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                               (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG

                   Gruppenmitglieder in Gebärdenspra-        wort dolmetscht, ohne etwas hinzu­        wüssten immer alles und machten
                   che: „Hier im Text ist von ‚Deeskala-     zufügen. In diesem Fall würde Frau        immer alles richtig, und dass taube
                   tion‘ die Rede. Ich kenne dieses Wort     Böhm jedoch ihre eigene Verantwor­        Menschen außerdem oft dazu neigen,
                   nicht. Wisst ihr, was das bedeutet?“      tung für das Gelingen der Kommu­          sich mit einer mündlichen Erklärung
                   Frau Böhm voict die Frage für Mar-        nikation und den Lernprozess ver­         zufriedenzugeben, statt eine schrift­
                   tha und Tina. Daraufhin antwortet         nachlässigen. Indem sie den falschen      liche Erklärung zu suchen.
                   Tina: „Na, wenn ein Konflikt immer        Inhalt direkt an die taube Schülerin          Eine weitere Möglichkeit wäre,
                   schlimmer wird und eine Situation         weitergäbe, würde er von jener als        dass Frau Böhm zunächst Tinas Erklä­
                   außer Kontrolle gerät, dann nennt        ‚zutreffendes Wissen‘ abgespeichert.       rung dolmetscht, sich dann an Tina
                   man das so.“                              In einer späteren Situation, mögli­       wendet und sie unter Begleitung von
                       Frau Böhm sieht sich an dieser        cherweise einer Leistungsüberprü­         Gebärden fragt: „Wolltest du jetzt ge­
                   Stelle mit einer uneindeutigen Aus­       fung, könnte Luise dadurch Fehler         rade das Wort ,Eskalation‘ oder aber
                   gangssituation konfrontiert: Es könn­     machen und eine schlechtere Bewer­        das Wort ,Deeskalation‘ erklären? Ich
                   te sein, dass Tina Luises Frage falsch    tung bekommen.                            bin mir nicht ganz sicher, was ich dol­
                   verstanden hat. Es könnte auch sein,          Darüber hinaus hätte die Dolmet­      metschen soll.“ Mit einer solchen In­
270   DZ 100 15    dass sie akustisch die Verdolmet­         scherin auch die Möglichkeit, sich in     tervention würde sie Tina zum Nach­
                   schung von Frau Böhm nicht richtig        das Gruppengespräch einzumischen          denken über das gerade Gesagte an­
                   verstanden, also das ,De-‘ nicht ge­      und allen Schülerinnen klarzuma­          regen und für alle Beteiligten deut­
                   hört hat. Es könnte aber auch sein,       chen: „Das war leider nicht ganz rich­    lich machen, dass es zum einen den
                   dass sie die Wortbedeutung durch          tig. Vielleicht fragt ihr sicherheits­    Ausdruck „Eskalation“ und zum an­
                   Erläuterung des Gegenteils erklären       halber noch mal Herrn Müller.“ Frau       deren den Ausdruck „Deeskalation“
                   möchte, obwohl sie dies nicht kennt­      Böhm hätte dabei im Hinterkopf,           gibt. Indem sie ihre Nachfrage mit ih­
                   lich macht, oder aber, dass sie selbst    dass Deutsch für Luise eine Fremd­        ren eigenen Bedürfnissen als Dolmet­
                   unsicher ist, was das Wort bedeutet       sprache ist, sie gegenüber den hören­     scherin begründet, würde sie weder
                   und – unwissentlich – eine falsche        den Schülerinnen und Schülern da­         übergriffig noch bevormundend wir­
                   Erklärung gibt. Frau Böhm muss sich       her einen großen Nachteil hat und         ken. Gleichzeitig würden durch die­
                   auch im vorliegenden Fall wiederum        an der Verbesserung ihrer Deutsch­        se Art der Formulierung wahrschein­
                   für eine von mehreren Handlungs­          kompetenz kontinuierlich arbeiten         lich alle Beteiligten darauf gestoßen,
                   möglichkeiten entscheiden.                muss. Die Dolmetscherin wäre sich         das Gesagte noch einmal zu reflektie­
                       Sie könnte zu Luise gebärden:         darüber im Klaren, dass es für die tau­   ren und ggf. den Lehrer um Hilfe zu
                  „Das war falsch! Richtig heißt es …“       be Schülerin Luise wichtig ist, dass      bitten. Im vorliegenden Beispiel ent­
                   und dann selbst eine Erklärung des        diese die richtigen Wortbedeutun­         scheidet sich Frau Böhm für die letz­
                   Wortes „Deeskalation“ anschließen.        gen erlernt und auch kleine Wortbe­       te Handlungsmöglichkeit.
                   Ein solches Verhalten würde jedoch        standteile, wie bei diesem Wort das
                   weder Empowerment noch Selbst­            Präfix „De-“, kennenlernt. Bei dieser     Einige Minuten später präsentiert die
                   ständigkeit der Schülerinnen fördern.     Handlungsvariante übernähme die           hörende Mitschülerin Tina ihre Über-
                   Stattdessen würden die Schülerin­         Dolmetscherin im Sinne einer bilin­       legungen zum Thema „Alliierter Kon-
                   nen aus einer solchen Situation ler­      gual-bikulturellen Sachverständi­         trollrat “ in ihrer Gruppe. Sie spricht
                   nen, dass die Dolmetscherin Miss­         gen kommunikative Verantwortung.          dabei die ganze Zeit hindurch ihre
                   verständnisse und Problemsituatio­        Sie weiß, dass Luise aufgrund ihrer       Sitznachbarin Martha an. Frau Böhm
                   nen auflöst und sie sich nicht selbst     Taubheit ein sprachliches Defizit und     dolmetscht ihre Ausführungen für
                   darum bemühen müssen. Die Schüle­         im Gegensatz zur hörenden Martha          Luise. Als Tina mit ihren Ausführun-
                   rinnen könnten Frau Böhms Verhal­         nicht so viele Möglichkeiten hat,         gen am Ende ist, dreht sie sich wieder
                   ten aber auch als verletzend oder be­     einmal falsch erlerntes Wissen wie­       in die Gruppe und sieht wie die Dol-
                   vormundend empfinden.                     der zu korrigieren. Frau Böhm wäre        metscherin noch gebärdet. Tina fragt
                       Eine weitere Handlungsmöglich­        sich außerdem bewusst, dass viele         völlig erstaunt: „Haben Sie jetzt alles
                   keit wäre, dass Frau Böhm Tinas Ant­      taube Menschen glauben, Hörende           gedolmetscht, was ich gesagt habe?“

                               Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                                  (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
BI LDUNG

    Obwohl die gesamte Klasse 9f zu        denkt, Frau Böhm habe sie nicht ge­           Frau Böhm könnte eine korrigier­
Beginn des Schuljahres eine Einfüh­        hört, und Tina ihre Frage deshalb er­     te Version von Max Aussage in der
rung im Hinblick auf die Aufgaben          neut stellt. Wenn die Dolmetscherin       Gebärdensprache produzieren. Eine
einer Gebärdensprachdolmetsche­            dann bei ihrer Strategie bliebe und Ti­   Korrektur von Versprechern erfolgt
rin und den Umgang mit ihr erhal­          nas Frage wiederum ignorierte, wür­       häufig seitens der Dolmetscherinnen
ten hatte, ist Tina in diesem Moment       de diese sich vermutlich in Gegen­        und Dolmetscher und ist in Situa­
nicht bewusst, was Frau Böhm dort          wart der Dolmetscherin sehr unwohl        tionen, in denen es lediglich um den
gerade macht. Dadurch ist erkennbar,       fühlen oder wäre sogar verärgert.         Austausch von Informationen geht,
dass die Schülerinnen und Schüler              Stattdessen könnte Frau Böhm          meist zweckdienlich. In einer Lehr-
den Dolmetschprozess mit all seinen        auch direkt auf Tinas Frage antworten     Lern-Situation ist die Wahrschein­
Zusammenhängen erst selbst erle­           und ihre Antwort mit lautsprachbe­        lichkeit, dass die Lehrkraft auf einen
ben müssen, um ihn wirklich durch­         gleitenden Gebärden begleiten, damit      Versprecher eingeht, jedoch hoch,
dringen und verstehen zu können.           die taube Schülerin Luise das Gesche­     da ihre Aufgabe darin besteht, den
Die Dolmetscherin, die in dieser Si­       hen verfolgen könnte. Tina erhielte so    Schülerinnen und Schülern korrek­
tuation direkt angesprochen wird,          eine Antwort auf ihre Frage und wäre      te Inhalte zu vermitteln. Würde Frau
muss sich für eine angemessene Re­         anschließend weder irritiert noch ge­     Böhm den Versprecher korrigieren,        DZ 100 15   271
aktion entscheiden.                        hemmt. Luise könnte außerdem dem          Herr Müller jedoch auf ihn eingehen,
    Zum einen könnte Frau Böhm die         Beitrag von Frau Böhm noch etwas          so müsste Frau Böhm im Nachhinein
Frage für die taube Schülerin Luise        hinzufügen. Frau Böhm entscheidet         erklären, dass sie bei der vorangegan­
dolmetschen, ohne persönlich auf Ti­       sich im vorliegenden Fall für diese       genen Verdolmetschung etwas ver­
nas Anliegen einzugehen. Luise könn­       letzte Variante und antwortet mithil­     bessert hat. Darüber hinaus müsste
te daraufhin Tinas Frage beantworten       fe von lautsprachbegleitenden Gebär­      sie entscheiden, ob sie diese Erklä­
und dabei in der dritten Person Sin­       den auf Tinas Frage: „Ja, ich habe das    rung an die gesamte Klasse mithilfe
gular über die Dolmetscherin spre­         jetzt gerade alles gedolmetscht.“ Die     von lautsprachbegleitenden Gebär­
chen. Tina wäre dann jedoch mögli­         Gruppenarbeit läuft reibungslos wei­      den oder nur in Gebärdensprache an
cherweise noch stärker irritiert, da sie   ter, alle Schülerinnen tragen ihre Ge­    die tauben Schülerinnen und Schü­
ihre Frage an Frau Böhm gestellt hat.      danken in die Runde und erarbeiten        ler richtet. Dies würde wahrschein­
Sie erwartet die Antwort auf ihre Fra­     die Lösungen zur Aufgabe.                 lich zu Verwirrung und ggf. zu einer
ge von der Dolmetscherin, nicht von                                                  Unterbrechung des Unterrichtsflus­
Luise. Dass Luise statt Frau Böhm ant­     In der anschließenden Präsenta­tion       ses führen.
wortet, könnte befremdend auf die          der Gruppenarbeit stellt Max, einer           Eine andere Möglichkeit bestün­
hörenden Schülerinnen wirken und           der hörenden Schüler, die Ergebnisse      de darin, Max auf seinen Verspre­
Tina wäre ggf. beschämt, da sie nicht      seiner Gruppe im Plenum vor. Der          cher aufmerksam zu machen. Dies
versteht, warum Frau Böhm nicht auf        Fachlehrer, Herr Müller, moderiert        bedeutete jedoch, dass Frau Böhm
ihre Frage eingeht. Möglicherweise         diesen Teil, während Frau Böhm dol-       dem Lehrer zuvorkäme und eine Auf­
würde sie sich in Zukunft nicht mehr       metscht. Max erklärt: „Die haben          gabe übernähme, die sie nicht erfül­
trauen, weitere Fragen zu stellen.         dann Lebensmittelmarken bekom-            len muss, da die zuständige Fachkraft
    Eine weitere Handlungsmöglich­         men, da Lebensmittel sehr knapp wa-       anwesend ist. Deshalb erschiene die­
keit für die Dolmetscherin läge darin,     ren und viele Menschen keinen Hun-        ses Verhalten unangemessen und an­
die Frage zu ignorieren. Dieses Ver­       ger hatten.“                              maßend.
halten riefe jedoch möglicherweise             Die Aussage von Max enthält ei­           Weiterhin könnte Frau Böhm das
ebenfalls große Irritation oder Krän­      nen Versprecher – tatsächlich woll­       Gesagte samt Versprecher dolmet­
kung bei Tina hervor, die sich außer­      te er sagen: „… und viele Menschen        schen, da sie antizipiert, dass Herr
dem eventuell in Zukunft nicht mehr        Hunger hatten“. Die Dolmetscherin         Müller in einer Lehr-Lern-Situation
trauen würde, mit einer Frage an           muss in dieser Situation schnell ent­     und in seiner Funktion als Lehrer auf
Frau Böhm heranzutreten. Es könn­          scheiden, wie sie mit diesem Verspre­     diesen Versprecher eingehen wird,
te jedoch auch passieren, dass Tina        cher umgeht.                              indem er Max bittet, noch einmal

                             Beitrag aus: DAS ZEICHEN 100/2015 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser
                                (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG

                  über seine Aussage nachzudenken.                 Eine weitere Möglichkeit für Frau      Müller und erläutert die Intention ih­
                  Diese Lösungsmöglichkeit würde den           Böhm wäre, von DGS zu lautsprach­          rer Bitte ausführlicher.
                  Gesprächsfluss am wenigsten stö­             begleitenden Gebärden zu wechseln,
                  ren und die tauben Schülerinnen und          damit die tauben Schülerinnen und           Am Ende des Unterrichts gibt Herr
                  Schüler könnten zudem erkennen,              Schüler auf diese Weise die Defini­         Müller einen kurzen Ausblick auf die
                  dass die hörenden Mitschülerinnen            tion korrekt aufschreiben können. Al­       kommende Geschichtsstunde. Frau
                  und Mitschüler ebenfalls Fehler ma­          lerdings wäre es für die tauben Schü­       Böhm nimmt wahr, dass der taube
                  chen. Frau Böhm entscheidet sich für         lerinnen und Schüler nur sehr schwer        Schüler Tom dazu noch eine Frage
                  die letzte Variante und überlässt so         möglich, dem gebärdeten Satz zu fol­        stellen möchte. Herr Müller bemerkt
                  Herrn Müller die Verantwortung, den          gen und diesen gleichzeitig mitzu­          ihn jedoch nicht.
                  Versprecher zu korrigieren.                  schreiben. Außerdem könnte diese                Die Dolmetscherin steht in die­
                                                               Handlungsmöglichkeit zur Folge ha­          sem Fall erneut vor einer Auswahl an
                   Nach den Präsentationen fasst Herr          ben, dass Luise, Tom und Jenny den          Handlungsmöglichkeiten. Sie könn­
                   Müller die wichtigsten Punkte der ein-      Inhalt der diktierten Sätze aufgrund        te Herrn Müllers Ausführungen un­
                   zelnen Gruppen zusammen und bittet          der anderen Sprachstruktur nicht so­        terbrechen und ihm mitteilen: „Tom
272   DZ 100 15    darum, dass sich die Schülerinnen und       fort verstehen. Frau Böhm müsste            meldet sich schon eine ganze Wei­
                   Schüler dazu Notizen machen. In der         daher in diesem Fall eine gebärden­         le und möchte auch noch etwas sa­
                   bevorstehenden Klassenarbeit werden         sprachliche Variante zur Verständ­          gen.“ In diesem Fall könnte sich Herr
                   diese Punkte Thema sein. Des Weiteren       nissicherung nachliefern.                   Müller jedoch möglicherweise bevor­
                   beginnt Herr Müller eine Definition zu          Darüber hinaus könnte Frau              mundet fühlen.
                   diktieren, die er ebenfalls in der nächs-   Böhm Herrn Müller bitten, die Defi­             Eine weitere Handlungsoption
                   ten Klassenarbeit abfragen möchte:          nition an die Tafel zu schreiben, und       wäre, dass Frau Böhm Toms Melde­
                  „Diktatur bedeutet ...“.                     ihm anschließend kurz erklären, dass        verhalten nur durch sehr kurze laut­
                       Auch in dieser Situation stehen         es für die tauben Schülerinnen und          sprachliche Äußerungen begleitet:
                   der Dolmetscherin mehrere Hand­             Schüler nicht möglich ist, gleichzei­      „Mhh, mhh, Herr Müller, ich …“ Wäh­
                   lungsvarianten offen. Frau Böhm             tig zur Dolmetscherin zu schauen –          renddessen würde sie weiterhin ge­
                   könnte im vorliegenden Fall aufhö­          Kommunikation in Gebärdenspra­              bärden, was Herr Müller gerade er­
                   ren zu dolmetschen und die Defini­          che erfordert Sichtkontakt –, sie zu        klärt. Eventuell gelänge es Frau Böhm
                   tion für die tauben Schülerinnen und        verstehen und den Satz korrekt auf­         auf diese Weise, die Aufmerksamkeit
                   Schüler auf dem vor ihr liegenden           zuschreiben, da DGS und deutsche            des Klassenlehrers auf Tom zu lenken.
                   Block schriftlich festhalten, den sie       Schriftsprache sehr unterschiedliche        Möglicherweise wäre Herr Müller je­
                   den tauben Schülerinnen und Schü­           grammatische Strukturen aufweisen.          doch durch diesen vorsichtigen Ver­
                   lern anschließend zum Abschreiben               Die Dolmetscherin entscheidet           such von Frau Böhm irritiert und deu­
                   geben würde. Das könnte jedoch zur          sich in dieser Situation für die zuletzt    tete Frau Böhms Äußerung so, dass
                   Folge haben, dass Luise, Tom und Jen­       aufgeführte Handlungsmöglichkeit.           sie selbst eine Anmerkung machen
                   ny sich übergangen, bevormundet             Sie spricht Herrn Müller an und sagt        oder Frage stellen möchte.
                   oder abgewertet fühlen oder aber            mit lautsprachbegleitenden Gebär­               Ferner könnte Frau Böhm Toms
                   auch in Zukunft davon ausgehen,             den, damit auch die tauben Schü­            Versuche, eine Frage zu stellen, igno­
                   dass Frau Böhm alle wichtigen In­           lerinnen und Schüler sie verstehen          rieren. Sie würde in diesem Fall ein­
                   formationen schriftlich für sie fest­       können: „Könnten Sie bitte die Defi­        fach weiter dolmetschen, was Herr
                   hält. Hinzukommt, dass Herr Müller          nition zusätzlich an die Tafel schrei­      Müller gerade spricht. Dies bedeutete
                   in dieser Situation zudem auf den           ben? Dann können die tauben Schü­           jedoch, dass bei Tom eine Wissenslü­
                   Gedanken kommen könnte, dass                lerinnen und Schüler der gebärdeten         cke bestehen bliebe, da er keine Ant­
                   die tauben Schülerinnen und Schü­           Version folgen und die schriftliche         wort auf seine Frage erhielte.
                   ler faul sind und die Dolmetscherin         Definition im Nachhinein abschrei­              Frau Böhm könnte darüber hin­
                   eine Aufgabe übernimmt, die nicht           ben.“ Nach Unterrichtsende wendet           aus auf eine Sprechpause von Herrn
                   die ihre ist.                               sich Frau Böhm nochmals an Herrn            Müller warten und diesen dann de­

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BI LDUNG

 zent auf Toms Meldung aufmerksam            hat noch nie die gesamte Klasse ei­         ny schätzen die Englischstunden mit
 machen. Damit gäbe sie Letzterem            genständig unterrichtet. Zum ande­          Frau Lewandowski, sie sind jedoch
 die Möglichkeit, mit dem Lehrer in          ren konnte sich Frau Lewandowski            froh, nur zwei Stunden gesondert un­
 ein Gespräch zu kommen. In diesem           aufgrund des kurzfristigen Ausfalls         terrichtet zu werden, da Frau Lewan­
 Fall sähe sich Frau Böhm als diejeni­       ihres Kollegen im Vorfeld nicht auf         dowski sehr streng ist und viel von
 ge, die für die Gesprächssteuerung          die kommende Stunde vorbereiten.            ihnen fordert. Manchmal wünschen
 zuständig ist und dafür, dass Tom           Da es sich bei Mathematik nicht um          sie sich, einfach im großen Klassen­
 den Turn erhält. Deshalb gebärdet           ihr studiertes Unterrichtsfach han­         verband untertauchen zu können,
 sie im vorliegenden Fall zwar einer­        delt, befürchtet sie, dass sie die Fragen   wie ihre hörenden Mitschülerinnen
 seits das, was Herr Müller gerade er­       der Schülerinnen und Schüler nicht          und Mitschüler dies tun. Alle drei
 klärt, sagt jedoch in einer Sprechpau­      ausreichend bzw. fachgerecht beant­         sind der Meinung, dass der Fachleh­
 se von Herrn Müller leise zu diesem:        worten kann. Zum Glück wurden ihr           rer, Herr Smith, viel lockerer ist als
„Tom möchte auch noch etwas dazu             vom Fachlehrer jedoch Übungsmate­           Frau Lewandowski.
 sagen.“ Sobald Herr Müller Tom sei­         rialien hinterlegt, die die Schülerin­           Heute findet der Englischunter-
 ne Aufmerksamkeit zugewandt hat,            nen und Schüler selbstständig bear­         richt im Klassenverband statt. Die
 signalisiert sie diesem, dass er jetzt      beiten sollen. Da diese den aktuellen       Schülerinnen und Schüler werden          DZ 100 15   273
 seine Frage stellen kann.                   Unterrichtsstoff gut beherrschen, ver­      in zwei Gruppen geteilt. Die größere
                                             läuft die Vertretungsstunde problem­        Gruppe wird von Herrn Smith frontal
Nach der Geschichtsdoppelstunde ver-         los und Frau Lewandowskis Befürch­          unterrichtet. Für die kleinere Gruppe
lässt die Dolmetscherin Frau Böhm die        tungen werden nicht bestätigt.              ist Frau Lewandowski zuständig und
Klasse 9f. Sie weiß, dass die Sonderpä-                                                  steht für Fragen zur Verfügung. Dabei
dagogin, Frau Lewandowski, jederzeit         Anschließend steht für die Klasse 9f        arbeiten alle Schülerinnen und Schü-
eintreffen wird. Frau Böhm ist froh,         der Englischunterricht an. Dieser ist so    ler selbstständig, üben und wiederho-
nicht die Mathematikstunde dolmet-           aufgeteilt, dass die tauben Schülerin-      len Aufgaben. Die drei tauben Schüle-
schen zu müssen, da sie immer wieder         nen und Schüler Luise, Tom und Jenny        rinnen und Schüler schließen sich der
erlebt hat, dass Tom größere Probleme        zwei Stunden pro Woche getrennt von         frei arbeitenden Gruppe an.
beim Verstehen mathematischer In-            ihren hörenden Mitschülerinnen und               In diesem Setting wird die Klasse
halte hat. Sie ist in solchen Fällen oft     Mitschülern durch die Sonderpädago-         nicht nach Hörstatus bzw. Kommuni­
hin und her gerissen, ob sie Tom z. B.       gin Frau Lewandowski und zwei Stun-         kationsform getrennt, sondern nach
bei einer Einzelarbeit den Stoff noch        den pro Woche im Klassenverband ge-         Leistung und Förderbedarf. In der
einmal erklären soll.                        meinsam von Herrn Smith, dem Eng-           größeren Gruppe werden neue The­
    Als Frau Lewandowski eintrifft           lischlehrer, und Frau Lewandowski un-       men frontal vermittelt, in der klei­
und vor Beginn der dritten Unter-            terrichtet werden.                          neren Gruppe werden Inhalte klein­
richtsstunde auf den Vertretungsplan             Die taube Schülerin Luise freut         schrittig erarbeitet, wobei mehr Ge­
schaut, erfährt sie, dass sie jetzt in der   sich jede Woche auf diese Stunden           legenheit für individuelles Arbeiten
Klasse 9f für ihren Kollegen einsprin-       bei Frau Lewandowski, da sie die di­        und Unterstützung gegeben ist.
gen und die Mathematikstunde allein          rekte Kommunikation in der kleinen               In den zwei Stunden, in denen die
übernehmen soll.                             Gruppe sehr schätzt. Außerdem inte­         drei tauben Schülerinnen und Schüler
    Obwohl Frau Lewandowski be­              ressiert sie sich sehr für die Amerika­     im Klassenverband unterrichtet wer­
reits seit einigen Monaten in der Klas­      nische Gebärdensprache (ASL). Frau          den, teilen sich Herr Smith und Frau
se als Sonderpädagogin arbeitet und          Lewandowski verknüpft diese mit             Lewandowski die Verantwortung
dieser gegenüber sehr positiv einge­         der englischen Schriftsprache und so        für die gesamte Klasse. Die Sonder­
stellt ist, hat sie einige Bedenken be­      hat Luise das Gefühl, besonders viel        pädagogin ist somit nicht nur für die
züglich der Vertretungsstunde: Zum           zu lernen. Zu Hause schaut sie sich         drei tauben Schülerinnen und Schü­
einen war sie bisher fast ausschließ­        viele Videos in ASL an. Sie träumt da­      ler zuständig, sondern auch für die
lich für die tauben Schülerinnen und         von, später an der Gallaudet Univer­        hörenden Mitschülerinnen und Mit­
Schüler der Klasse 9f zuständig und          sity zu studieren. Auch Tom und Jen­        schüler. Die Anwesenheit von zwei

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                                 (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)
ERZI E H UNG

                  Lehrkräften wird für einen binnendif­          Frau Lewandowski ist nicht si­        deren Gruppen.“ Nach einer Weile se-
                  ferenzierten Unterricht genutzt, was       cher, ob Tom mit der gestellten Auf­      hen Herr Smith und Frau Lewandow-
                  bedeutet, dass für die Schülerinnen        gabe unter- oder überfordert ist und      ski, dass Tom und Ali ihre Handys he-
                  und Schüler entsprechend ihren indi­       kann demnach nicht einschätzen,           rausgeholt haben.
                  viduellen Bedürfnissen unterschied­        ob er sich langweilt, sich nicht län­          Die Lehrkräfte vermuten, dass die
                  liche Lernangebote zur Verfügung           ger konzentrieren kann oder die Auf­      beiden Schüler ihre Handys zur Über­
                  stehen. Die Zusammenarbeit empfin­         gabe eventuell zu anspruchsvoll für       brückung der Sprachbarriere benut­
                  den beide Lehrkräfte als Bereicherung.     ihn ist. Sie gerät an dieser Stelle in    zen. Sie sind unsicher, wie sie reagie­
                  Sie glauben, durch die Teamarbeit so­      den Konflikt, ob sie sich auf das Ge­     ren sollen. Frau Lewandowski könn­
                  wohl für die hörenden als auch für die     spräch einlassen oder dieses freund­      te zu den beiden Schülern gehen, um
                  tauben Schülerinnen und Schüler ei­        lich abweisen soll. Möglicherwei­         das Gespräch zwischen Tom und Ali
                  nen besseren Unterricht anbieten zu        se verspürt Tom nur das Bedürfnis         zu übersetzen. Dann würde die Kom­
                  können. Frau Lewandowski schätzt           nach direkter Kommunikation, die          munikation jedoch indirekt erfolgen
                  es, dass Herr Smith sie in die Unter­      zwischen ihm und seinen hörenden          und eigentlich freuen sich beide Lehr­
                  richtsplanung mit einbezieht und sie       Gruppenmitgliedern aufgrund der           kräfte darüber, dass Tom und Ali ei­
274   DZ 100 15   nicht wie im Mathematik­unterricht         Sprachbarriere nicht möglich ist. In      nen Weg gefunden haben, um sich
                  nur für die methodische Adaption zu­       der vorliegenden Situation entschei­      direkt miteinander zu verständi­
                  ständig ist. Sie hat das Gefühl, dass      det sich Frau Lewandowski dafür,          gen. Außerdem waren die Gruppen­
                  Herr Smith ihre Rolle als Sonderpä­        kein Gespräch mit ihm aufzuneh­           ergebnisse der beiden bei Präsenta­
                  dagogin versteht, was bei dem Ma­          men, da alle anderen Gruppenmit­          tionen bisher immer gut. Das größ­
                  thematiklehrer nicht der Fall zu sein      glieder noch mit der Arbeit beschäf­      te Problem ist nach Meinung von
                  scheint. Dieser kam nach der letzten       tigt sind. Sie bittet Tom darum, be­      Herrn Smith, dass man nicht verfol­
                  Mathematikstunde auf sie zu und            reits Geschriebenes noch einmal zu        gen kann, was genau die Schüler im
                  sagte: „Ich dachte immer, Sie und die      kontrollieren bzw. auf Rechtschreib­      Internet machen. Allerdings sind bei­
                  Dolmetscherin Frau Böhm überneh­           fehler hin zu überprüfen.                 de in der 9. Klasse und somit alt ge­
                  men dieselben Aufgaben. Sie dolmet­                                                  nug, um das Internet selbstständig
                  schen doch sonst auch, oder?“               Eine halbe Stunde später arbeitet Tom    zu nutzen – zumindest sollte man
                                                              mit dem hörenden Schüler Ali zusam-      ihnen einen solchen Vertrauensvor­
                  Frau Lewandowski gestaltet die Frei-        men. Beide sollen eine kurze Präsen-     schub gewähren. Frau Lewandow­
                  arbeit im Englischunterricht so, dass       tation zum Thema „Eating habits in       ski ist es jedoch sehr wichtig, in Zu­
                  auch kleine Gruppenarbeiten möglich         Australia“ erstellen. Die beiden Lehr-   kunft ein Auge darauf zu haben, wie
                  sind, in denen die Schülerinnen und         kräfte, Herr Smith und Frau Lewan-       die Schüler miteinander arbeiten und
                  Schüler sich untereinander austau-          dowski, haben sich zurückgezogen.        möglicherweise andere Lösungen zu
                  schen können. Während einer Grup-           Tom denkt sich: „Okay, wir müssen        finden. In der vorliegenden Situation
                  penarbeit versucht der taube Schü-          das jetzt bald präsentieren. Ich habe    lassen sie Tom und Ali jedoch erst
                  ler Tom mehrfach, ein Gespräch mit          in dem Text gerade was Interessan-       einmal eigenständig und mithilfe ih­
                  Frau Lewandowski über das vergange-         tes gefunden. Ich schreibe das Ali       rer Handys weiterarbeiten.
                  ne Wochenende anzufangen. Er kann           mal per Whatsapp. Da kann ich auch
                  sich gerade einfach nicht auf seine         gleich ein passendes Bild posten.“ Ali   Nach der Gruppenarbeit hält der
                  Aufgabe konzentrieren und sehnt sich        schaut auf sein Handy und denkt sich:    Fachlehrer, Herr Smith, einen kurzen
                  nach einer unbeschwerten Unterhal-         „Wir schreiben die Sachen einfach per     Lehrervortrag über die Kultur der Ab-
                  tung, um seinen Kopf wieder frei zu be-     Whatsapp. Das geht total schnell.        origines. Frau Lewandowski soll die-
                  kommen. Da seine tauben Mitschüle-          Wenn man was nicht weiß, kann man        sen für die tauben Schülerinnen und
                  rinnen noch mit ihren Aufgaben be-          auch gleich noch was nachschlagen,       Schüler in Gebärdensprache über-
                  schäftigt sind, ist Frau Lewandowski        ohne dass die Lehrer gleich meckern,     setzen. Sie fühlt sich in der Situation
                  in diesem Moment die einzige Person,        weil man das Handy benutzt. Wir sind     unwohl und der Dolmetschaufgabe
                  mit der er sich direkt unterhalten kann.    dadurch genauso schnell wie die an-      nicht gewachsen.

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BI LDUNG

    Zwar hat Frau Lewandowski                      Die tauben Schülerinnen und          Aufgabenstellung noch einmal ge-
im Laufe ihres Studiums Gebärden­              Schüler werden in Englisch, wie be­      nau erklärt wurde, bietet die Sonder-
sprachkenntnisse erworben und kann             reits oben erwähnt, zwei Stunden pro     pädagogin Frau Lewandowski den
mit den tauben Schülerinnen und                Woche getrennt von der Klasse durch      tauben Schülerinnen und Schülern
Schülern gut kommunizieren, aller­             die Sonderpädagogin unterrichtet. Die    an: „Wenn ihr wollt, kann ich mir eure
dings fehlt ihr das Wissen und Kön­            mündliche Note hat der Englischleh­      fertigen Hausaufgaben gern ansehen.
nen, um fachlich komplexe Inhalte si­          rer Herr Smith gegeben, ohne die Ein­    Ihr könnt sie nächste Woche nach der
multan in DGS zu übertragen. Sie ist in        schätzung der Sonderpädagogin in         Stunde bei mir abgeben.“
dieser Situation unzufrieden mit sich          ausreichendem Maß mit einzubezie­            Auch wenn Tom Frau Lewan­
selbst und hat das Gefühl, ihre Auf­           hen. Frau Lewandowski ist mit der        dowskis Angebot durchaus schätzt,
gabe nicht ausreichend zu erfüllen.            Note nicht einverstanden, da Luise       bevorzugt er die Hausaufgabenkon­
Die Sonderpädagogin kann ihren ei­             bei ihr immer gut mitgearbeitet hat.     trolle durch Herrn Smith. Er will in
genen Erwartungen und Ansprüchen                   Die Sonderpädagogin muss sich        dieser Situation die gleiche Behand­
nicht genügen. Im Englischunterricht           entscheiden, ob sie das Problem          lung wie seine Mitschülerinnen bzw.
kommt erschwerend hinzu, dass ihr              gleich löst, während Luise dabei ist,    Mitschüler erfahren und nicht stän­
nicht klar ist, in welche Sprache sie          oder ob sie es auf später verschiebt.    dig eine Sonderrolle im Unterrichts­      DZ 100 15   275
das gesprochene Englisch von Herrn             Sie beschließt Luise zu bitten, in der   geschehen einnehmen. Ebenso möch­
Smith übersetzen soll. In diesem Mo­           nächsten Stunde noch einmal zu ihr       te er sich in Bezug auf seinen Leis­
ment muss sie abschätzen, ob es wich­          zu kommen. Sie teilt ihr mit, dass es    tungsstand mit seinen Klassenkame­
tiger ist, etwas über die Kultur der Ab­       ein Missverständnis bezüglich ihrer      radinnen und -kameraden verglei­
origines zu vermitteln oder die Eng­           Mitarbeitsnote gab und sie erst mit      chen können.
lischkompetenzen der tauben Schü­              Herrn Smith sprechen muss. So sorgt          Luise hingegen will Frau Lewan­
lerinnen und Schüler zu fördern.               sie dafür, dass dieser nicht bloßge­     dowskis Angebot gern annehmen, da
    Auch den tauben Schülerinnen               stellt wird. Nach der Stunde erklärt     sie weiß, dass diese selbst auch Eng­
und Schülern fällt diese Unsicherheit          sie ihm kurz, dass sie die Mitarbeit     lischlehrerin ist, und Luise sich von
auf. Jenny denkt sich: „Hm, übersetzt          der tauben Schülerinnen und Schüler      ihr wertvolle Hinweise zur Verbesse­
sie gerade den Inhalt oder fasst sie           besser einschätzen kann. Die münd­       rung ihrer Leistung erhofft, da sie die
ihn nur zusammen? Ich habe das Ge­             liche Mitarbeitsnote könne nicht auf     Gründe kennt, warum ihr das Eng­
fühl, Herr Smith erzählt viel mehr als         Basis der in Englisch gesprochenen       lisch-Lernen schwerfällt.
sie gebärdet. Mich interessiert das            Beiträge gegeben werden, da die
Thema, ich will das alles mitkriegen!“         Schülerinnen und Schüler in DGS          Nach der siebten Stunde endet der
Sie wünscht sich, den Unterrichts­             kommunizieren. Sie bittet ihn, die       Schultag für alle Schülerinnen und
stoff so detailliert und genau präsen­         Note zu ändern und fügt hinzu, dass      Schüler der Klasse 9f. Auch an den
tiert zu bekommen wie ihre hören­              in Zukunft die mündlichen Noten für      darauffolgenden Tagen werden Frau
den Mitschülerinnen und Mitschüler.            die tauben Schülerinnen und Schü­        Böhm und Frau Lewandowski in der
                                               ler von ihnen beiden gemeinsam be­       Klasse zum Einsatz kommen. Da die
Am Ende der Stunde teilt Herr Smith            schlossen werden sollten. Allgemein      beiden jedoch nicht alle Unterrichts-
den Schülerinnen und Schülern die              wünschen sich beide Lehrkräfte eine      stunden in der Woche abdecken kön-
Halbjahresnoten mit. Die taube Schü-           gemeinsame, regelmäßige Bespre­          nen, wechseln sowohl die Gesichter
lerin Luise versteht nicht, warum sie          chungszeit, sodass Absprachen nicht      der Dolmetscherinnen und Dolmet-
eine schlechtere Note als gedacht be-          zwischen Tür und Angel oder per          scher als auch die der Sonderpädago-
kommen hat und fragt die Sonder-               E-Mail erfolgen müssen.                  ginnen und -pädagogen mehrmals
pädagogin Frau Lewandowski nach                                                         in der Woche.
dem Grund. Als diese die Notenüber-            Als Hausaufgabe sollen die Schüle-
sicht sieht, stellt sie fest, dass Luise für   rinnen und Schüler eine Abenteuer­       Die Studien der Pädagogikstuden­
ihre mündliche Mitarbeit eine 4 be-            geschichte zum Thema „Aborigines“        tinnen und die persönlichen Erleb­
kommen hat.                                    schreiben. Nachdem der Klasse die        nisse der Dolmetschstudentinnen in

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                   der Sekundarstufe einer Regelschu­       diese größtenteils am Förderzentrum
                   le haben gezeigt, dass ein wichti­       angestellt. Durch ein kleineres Team
                   ger Faktor für das Gelingen der Ko­      von Sonderpädagoginnen und -päda­
                   operation ist, dass in der Vorberei­     gogen könnten eine stärkere Vertrau­
                   tung und während des inklusiven          ensbasis aufgebaut und bessere Vor­
                   Unterrichts ein gemeinsamer Aus­         aussetzungen für den regelmäßigen
                   tausch von Regelschullehrkräften         Austausch mit den Regelschullehr­
                   und Sonderpädagoginnen und -pä­          kräften geschaffen werden. Vermie­
                   dagogen sowie Dolmetscherinnen           den werden sollte hingegen, dass an
                   und Dolmetschern über Erwartungen        einer Schule ein große Anzahl an Son­
                   und Befürchtungen stattfindet. Da­       derpädagoginnen und -pädagogen
                   bei sollte ebenfalls eine gegenseitige   zum Einsatz kommt, und die Schüle­
                   Abklärung der jeweiligen Aufgaben-       rinnen und Schüler sowie die Regel­
                   und Zuständigkeitsbereiche erfol­        schullehrkräfte stets mit wechseln­
                   gen. Einem solchen Austausch muss        den Gesichtern konfrontiert sind.
276   DZ 100 15    auf jeden Fall eine größere Relevanz         Berücksichtigt werden sollte au­
                   beigemessen werden als das derzeit       ßerdem, dass Gebärdensprachdol­
                   der Fall ist und entsprechend müs­       metscherinnen und -dolmetscher in
                   sen zeitliche und räumliche Ressour­     diesem Setting als weitere erwachse­
                   cen für das gesamte Team zur Verfü­      ne Personen im Raum wahrgenom­
                   gung gestellt werden.                    men werden. Dies erfordert, dass sie
                       Für die Zufriedenheit aller betei­   ihr eigenes Rollenverständnis stets
                   ligten Akteurinnen und Akteure ist       reflektieren sollten und die Fähigkeit
                   dabei wichtig, dass zwischen ihnen       besitzen müssen, dieses an das vor­
                   gleichberechtigte Kooperationsfor­       liegende pädagogische Setting anzu­
                   men ausgehandelt werden. Insbe­          passen.
                   sondere sollten Sonderpädagogin­             Ein festes Team an Dolmetsche­
                   nen und -pädagogen mehr an der           rinnen und Dolmetschern ist eben­
                   Planung, Durchführung wie auch           falls erstrebenswert. In diesem Fall
                   Auswertung von Unterricht beteiligt      würden die Dolmetscherinnen und
                   werden. Um dem Anspruch von In­          Dolmetscher die bestehenden Abläu­

                                                                                                          i
                   klusion gerecht zu werden, sollte die    fe kennen und könnten sich dadurch
                   ausschließliche Zuständigkeit von        auf alle Beteiligten, ihre Sprachspezi­
                   Sonderpädagoginnen und -pädago­          fika und individuelle Handlungswei­
                   gen für Schülerinnen und Schüler mit     sen sowie das Setting einstellen. Zum           Ronja Dietrich, Lisa Fürsten-
                   Förderbedarf überdacht werden. In        anderen kann eine Vertrauensbasis               berg, Anna Grimm, Laura
                   den im Rahmen der Studie durchge­        zwischen allen Beteiligten geschaf­             Häußer, Josephine Meinhardt,
                   führten Interviews wurde von den         fen werden.                                     Susann Peters und Julia
                   beteiligten Sonderpädagoginnen und           Für die dauerhaft erfolgreiche              Ratajczak sind Studierende der
                  -pädagogen darüber hinaus geäußert,       Entwicklung einer inklusiven Schul­             Masterstudiengänge „Sonder-
                   dass eine bessere Verankerung in der     kultur ist überdies die Unterstützung           pädagogik mit dem Schwer-
                   Regelschule bzw. Einbindung ins Kol­     des Inklusionsgedankens im gesam­               punkt Gebärdensprach- und
                   legium erstrebenswert sei. Mögli­        ten Lehrerkollegium der Regelschule             Audiopädagogik“ bzw. „Gebär-
                   cherweise sollte über Festanstellun­     sowie bei allen beteiligten Sonderpä­           densprachdolmetschen“ an der
                   gen der Sonderpädagoginnen und           dagoginnen und -pädagogen und tä­               Humboldt-Universität zu Berlin.
                  -pädagogen an der jeweiligen Schule       tigen Dolmetscherinnen und Dolmet­
                   nachgedacht werden – aktuell sind        schern unabdingbar.                             E-Mail: ratajczj@hu-berlin.de

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