Tradition und Brauchtum im Lötschental Tradition and custom in the Lötschental
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Tradition für die Zukunft Folklore, Brauchtum, Tradition – als visu- lokaler Einzigartigkeit, entwickelte sich dieses elle und akustische Zeichen stellen sie eine Art besondere Kleid aus der europäischen Mode des Kurzsprache dar. Sie dienen der Orientierung Ancien Régime heraus und erfuhr inzwischen in einer uniformen Welt. Und wenn sie biswei- manchen Formen- und Bedeutungswandel. Bei- len einer andern Zeit zu entstammen scheinen, spiel religiöses Brauchtum: Bedingt durch den sind sie doch stets dem Hier und Jetzt verpflich- gesellschaftlichen Umbruch ist dieses grossen- tet. So sind zahlreiche Volksbräuche des Wallis teils aus der öffentlichen Sphäre verschwunden. in einem bäuerlich-katholischen Symbolsystem Doch dort, wo es überlebt, erfährt es eine Auf- entstanden. Trotzdem bestehen sie in einem wertung, indem ihm nun als lokales Kulturgut multikulturellen Umfeld fort und befriedigen eine neue Funktion zukommt. So stellen die Bedürfnisse einer heutigen Gesellschaft. Prozessionen an Fronleichnam an zahlreichen Brauch überlebt nur im Gebrauch! Entspre- Orten des Wallis nach wie vor Höhepunkte im chend unterliegt jede Tradition dem Zwang zur lokalen Festleben dar. Innovation. Beispiel Tracht: Heute ein Symbol «In das verlorene Paradies kehrt kein Mensch zurück. Aber nichts verbietet uns, 2 die unvergänglichen inneren Werte früherer Lebensformen auf einer neuen Stufe der technischen Entwicklung anzustreben. Wer die versteinerten Formen vergangener Zei- ten künstlich erhalten will, liebt die Vergangenheit nicht um ihrer lebendigen Wahrheit willen.» Arnold Niederer, 1914 – 1998, Schweizer Volkskundler
Tradition for the future Folklore, Custom and Tradition are the as an example: it is today a symbol of local visual and acoustic signs of a language. They uniqueness originating in the European Ancien give orientation in a uniform world. They are Régime's fashion and went down the centuries committed to the here and now, even if they through many form- and significance changes. seem to originate in the past. Many regional Consider the religious custom: partly through traditions in Valais stem from a rustic-catholic the radical changes in the society it has almost symbolsystem. They still exist in a multicultural disappeared; it now plays a new role as a cul- sphere and meet the needs of today's society. tural good. In many Valais villages the Corpus Custom survive only if used. Every tradition is Christi processions are the highlights of the lo- therefore forced to innovate. Take the costume cal celebrations. “There is no return to the lost paradise. Nothing though will forbid us to strive 3 for new steps of elevated technical development from the imperishable inner values of past life styles. One who artificially holds on to petrified forms of past times does not love the past for its lively sense of truth.” Arnold Niederer, 1914 – 1998, Swiss Folklorist
1 2 Den Umgang mit den Ressourcen regeln Die Tesseln 1 Alptesseln aus Kippel. Als Erinnerungszeichen mahnt Nicht jede Tradition ist geeignet, im geänderten Umfeld der Moderne zu die Tessel uns Heutige, die kollektiven Ressourcen ge- recht zu verteilen und nachhaltig zu nutzen. bestehen. So ist im Gleichschritt mit der bäuerlichen Lebensweise auch die Alptesseln from Kippel. The Tesseln remind us to share Tessel, dieses multifunktionale Kerbholz, aus dem Oberwalliser Alltag ver- the collective ressources in a fair way and to use them schwunden. sustainably. Bei den Tesseln (Tässlä) handelt es sich um Holzurkunden. Mit Kerben wur- 2 Alprechnung der Kummenalp, Ferden. Die Kontrolle den auf ihnen Rechte und Pflichten festgehalten – so beispielsweise die Alp erfolgt mithilfe von Holztesseln. Aufnahme um 1930 rechte, das heisst die Anzahl Vieh, die eine Familie im Sommer auf die Alp von Albert Nyfeler. treiben durfte. Ein anderes Beispiel ist die Bewässerung. Hier ging es darum, Statement of account for the Kummenalp, Ferden. The wooden Tesseln are used to control the bill. Photo by nicht nur die Reihenfolge bei der Nutzung des Wassers zu regeln, sondern Albert Nyfeler, 1930. auch die Nutzungsdauer der einzelnen Berechtigten festzuhalten: Eine volle Einkerbung auf dem Holzstück gewährte etwa vier Stunden Wässerzeit, eine 4 halbe Kerbe zwei Stunden. Oft wurde mit den Kerbhölzern auch die Rangordnung bei kollektiven Arbei- 4 ten festgelegt. So z.B. die Reihenfolge für das Hüten von Ziegen und Schafen, die Regelung der Nachtwache im Dorf, das Gemeinwerk, das Amt des Alp- vogts, des Fahnenträgers bei der Prozession oder des Kapellen-Sakristans.
3 Regulating the use of the resources 3 Die Faldumalp auf dem Territorium der Gemeinde The Tesseln Ferden. Im Lötschental sind Alpweiden in kollektivem In a changing modern world, not every tradition is suited to survive. To- Besitz, der Betrieb erfolgte jedoch in privater Einzel- alpung. Entsprechend besass jede Familie ihre eigene gether with the rustic way of life the Tesseln vanished from the high Valais' Hütte, sodass überall kleine Alpdörfchen entstanden. everyday life. The Faldumalp on the territory of the Ferden municipa- The Tesseln (Tässlä) are in wood carved documents. Rights and duties were lity. In the Lötschental alpine pastures are collectively inscribed on wood pieces by means of notches. The Alp rights for instance, owned, privately worked though. Every family had its own cabin and small alpine villages arose everywhere. fixing the number of cattle heads a family could take in summer to the Alp. Another example is the irrigation. The order and the duration of the irriga- 4 Kehrstock zur Regelung der Schafhut des Dörfchens tion for each legitimate landowner were duly consigned: a whole notch Wyssried, Gemeinde Blatten. Der mit 1889 datierte stood for four hours of water, half a notch for two hours. Holzstab zeigt die Familienzeichen der Haushalte. Die Reihenfolge der Zeichen bestimmt die Kehrord- The hierarchy in collective works was also registered on the carved wood nung des Hütedienstes. pieces: the order to tend goats and sheeps, to overtake the nightwatch in the Cane showing the sheep's tending regulation in the village, to carry on voluntary works, to bear the colours during the proces- 5 hamlet of Wyssried, municipality of Blatten. The 1889 dated wooden cane shows the households' family sion or to be the chapel ecclesiastic. arms. The order of the arms determine the sheeps' tending rotation.
Europäische Kultur im Bergdorf Der Alpenbarock Als Reaktion auf die Reformation gibt sich die katholische Erneuerungsbe- wegung bewusst ausschweifend. Die emotionale Kraft der barocken Bilder- sprache soll die Gläubigen für den katholischen Glauben zurückgewinnen. Die von Rom ausgehende Dynamik erreicht im 17. Jahrhundert über das tonangebende Goms das ganze Wallis. Es entstehen unzählige Zeichen des Glaubens, etwa in Form von Kirchen, Kapellen, Bittstöcken und Weg- kreuzen. Im Verbund mit einem aufblühenden Wallfahrts- und Prozessions wesen stehen sie für eine die bäuerliche Existenz durchdringende, religiöse Grundhaltung. 6 1
European Culture in alpine villages The Alp Baroque The catholic renovation movement reacts with excess to the Reformation. The emotion-loaded baroque metaphorical language shall bring the wor- shippers back to catholicism. The in Rome originating dynamics reaches in the 17th century the whole Valais, Goms setting the tone. Numerous signs of faith come into being, churches, chapels, calvaries and wayside crosses. Together with a flourishing development of pilgrimages and processions they all show a strong penetration of religion in the rustic life. 1 Barocker Hochaltar in der Sankt Martinskirche in Kippel. Der Altar stammt aus dem Jahr 1740 und il- lustriert das barocke Lebensgefühl mit seiner Lust an 7 starken Farben und üppigen Formen. Baroque main Altar in the Saint Martin Church in Kip- pel. The Altar, dating from the year 1740 illustrates the baroque's living spirit with its strong colours and voluptuous shapes.
1 2 1 Innenraum der Marienkapelle in Kühmad im Lötschen- 2 Strahlenkranzmadonna (Detail) in der Marienkapelle tal. Der Barockbau stammt aus dem Jahre 1655, die von Kühmad. In der Mitte des Hochaltars stehend, Altäre aus dem frühen 18. Jahrhundert. Von der Be- bildet die Muttergottes mit Kind das zentrale Gnaden- deutung der Kapelle als barocker Wallfahrtsort zeugen bild des Wallfahrtsortes. Kühmad war in früherer Zeit unter anderem zahlreiche noch erhaltene Votivbilder. Zielort zahlreicher Prozessionen. Inside of the Maria Chapel in Kühmad in the Lötschen- The crowned Madonna (detail) in the Maria Chapel in tal. The baroque building was constructed in 1655, Kühmad. On the main Altar the Madonna with child the altars in the early 18th century. The many well pre- builds the central picture of this place of pilgrimage. 8 served votive pictures show the chapel's significance Kühmad was once the destination of numerous pro- as baroque place of pilgrimage. cessions.
3 4 3 Theodulsfigur mit Glocke im Hochaltar der Pfarr- 4 Lorenz Justin Ritz (1796 – 1870): Votivbild von 1833 kirche von Kippel. Als Landespatron des Wallis und aus der Sankt Annakapelle «Auf der Furen» oberhalb Schutzpatron der Winzer erfreute sich der heilige Kippel. Votivbilder wurden von den Gläubigen in Theodul hierzulande ganz besonderer Beliebtheit. einer Notlage als Bitte oder nach einer Erhörung als Theodul's statue with bell in the main altar of the Dank an einem heiligen Ort – meist einer Wallfahrts- Kippel's parish church. Theodul, patron saint of Valais kapelle – hinterlegt. Beim vorliegenden Bild handelt and of the wine growers was very popular with the es sich vermutlich um den Dank für einen erhörten local population. Kinderwunsch. Lorenz Justin Ritz (1796 – 1870): Votive picture, dated 9 1833 in the Saint Anna Chapel “Auf der Furen” above Kippel. Worshippers posted votive pictures expressing a plea or a thank for being heard in holy places, often in a pilgrimage chapel. This picture probably expres- ses gratitude for a fulfilled desire for a child.
Die Welt auf den Kopf stellen Fasnacht Markenzeichen. Und als touristisches Souvenir Die dörfliche Ordnung rituell auf den Kopf zu stellen, ist seit je das Privileg werden sie zum Exportschlager. der Jugend – wenn auch nur einmal im Jahr, anlässlich der Fasnacht im Heute stellen die Schnitzer die Masken wieder Februar. Von der Vielfalt der früheren Fasnacht vermochten sich nur wenige vermehrt zu ihrem eigenen Vergnügen her, das Figuren in die Gegenwart zu retten, so die «Tschäggättä» im Lötschental mit heisst zum ausschliesslichen Zweck des Mas- ihren grossen, fratzenhaften Holzmasken. kenlaufens. Diese Rückkehr zu den Ursprüngen Unter dem Einfluss von Zeitgeschmack und Nachfrage haben sich die Mas- geht einher mit einem markanten Wandel des ken formal ständig verändert. Eine gewisse Konstanz verrät dagegen das Brauchs. So treten die «Tschäggättä» nun auch Material: Die Masken sind meist aus Arvenholz geschnitzt und der Pelz, nachts auf, was früher streng verboten war. Und besteht in der Regel aus Schaf- oder Ziegenfell. unter den Masken verstecken sich nicht mehr Als Inbegriff des Echten und Alpinen entwickeln sich die Lötschentaler nur ledige Jungmänner, sondern ganz einfach Holzmasken im Laufe des 20. Jahrhunderts zum kantonalen, ja nationalen alle, die Lust haben an diesem wilden Treiben. 10 1–3 «Tschäggättä» im Lötschental “Tschäggättä” in the Lötschental 1 2
Turn the world on its head Shrovetide The woodcarvers today create masks for their own It was always the privilege of the youth, at least once a year for the shro- pleasure and for the sole aim of the carnival's pro- vetide carnival in February, to disturb the village routine. cession. The custom changes. The “Tschäggättä” Only a few figures of the ancient carnival outlived till today, so the appear today at nighttime which, in the past, was “Tschäggättä” in the Lötschental with their big grotesque face wooden strictly forbidden. Under the masks hide not only masks. single young men but every one wishing to be part The prevailing taste and the demand let the masks often change.The ma- of the wild hustle. terial however stayed the same: the masks are still carved out of pine wood, the fur is usually of sheeps- or goatskin. For their genuineness and alpine character the Lötschental wood masks became in the 20th century a cantonal and national trademark. They now are export hits, as local souvenirs. 4 Maskenschnitzer 11 Woodcarver 2 3 4
Chiächlini Essen und Trinken gehören zur Fasnacht wie Verkleidung und Musik. Als besondere Köstlichkeit werden im Lötschental an der Fasnacht «Chiäch- lini» (Küchlein) gebacken. Dabei hütet jede Familie ihr eigenes Rezept. Nachfolgend sei eine Variante aus Wiler preisgegeben für zwei Kilo- gramm «Chiächlini»: 125 g Kochbutter leicht erwärmen und zum Schmelzen bringen. 2,5 dl Rahm, 300 g Zucker, 1 Beutel Vanillezucker, 2 dl Weisswein, 2 dl Kirsch, 2 dl Bergamotte, 1 Fläschchen Dr. Oetker Zitronen-Aroma beigeben. 10 Eier schlagen und 1 Prise Salz hinzugeben, mit Kochbuttermasse ver- mengen. 1 kg Mehl und Safran beimischen. 1 kg Mehl und 2 Beutel Back- pulver auf den Tisch streuen. Masse auf das Mehl legen und kneten, bis der Teig geschmeidig ist. Teig 2 Stunden ruhen lassen. Auswallen und in Frittieröl backen. Rezept von Andrea Ritler-Ebener, Wiler 12
Chiächlini Food belongs to carnival as much as disguise and music. A special treat are the cookies “Chiächlini” (small cakes) baked for the shrovetide car- nival in the Lötschental. Each family keeps its own recipe secret. Here is a recipe from the village of Wiler, for two kilos “Chiächlini”: Warm up 125 g butter, add 2.5 dl Cream, 300 g sugar, 1 pack vanilla sugar, 2 dl white wine, 2 dl Kirsch, 2 dl Bergamot, 1 small bottle lemon-flavour (Dr. Oet- ker). Beat 10 eggs, add a pinch of salt, mix it with the butter. Add 1 kilo flour and safran. Sprinkle 1 kg flour and 2 baking powder packets on your kitchen table. Put the mixture on the flour bed and knead it until workable. Let the dough rest for two hours. Cut out and bake in frying oil. Recipe from Andrea Ritler-Ebener, Wiler 13
Für Gott und die Welt Die Herrgottsgrenadiere Jeweils am zweiten Donnerstag nach Pfingsten feiert die katholische Kirche das Fest Fronleichnam. Höhepunkt des Tages ist die Prozession durchs Dorf. Mit den ritualisierten Bewegungsabläufen, dem Auftritt kostümierter Grup- pen und der akustischen Begleitung mit Musik und Chorgesängen kommt dieser feierliche Umgang einer Art Schauspiel gleich. Ein ganz besonderes Gepräge verleihen der Prozession im Lötschental die Herrgottsgrenadiere in ihren historischen Uniformen. For God and for all The Lord's Grenadiers On the second Thursday after Pentecost the catholic Church celebrates the Feast of Corpus Christi. Highlight of the day is the procession through the whole village. With the ritual gestures, the appearance of dressed up groups and the acoustic accompaniment of bands and choruses the event resemb- 14 les a theater play. In the Lötschental the Lord's Grenadiers in their historic costumes give the procession a special image. 1
Aufgabe der Grenadiere ist es, bei der Prozession durchs Dorf dem Allerheiligsten das Geleit zu geben. Am Nachmittag treten sie dann bei der Parade ein zweites Mal auf. Dabei schwenkt der Fähnrich unter den Klän- gen der Musikgesellschaft die Gemeindefahne. Kirchliches Brauchtum und weltliche Schauparade – wie geht das zusam- 1|2 Herrgottsgrenadiere in Kippel men? Dazu Konstantin Kalbermatten, Wachtmeister der Herrgottsgrenadie- und in Blatten re von Blatten: «Wir müssen das Religiöse und das Weltliche auseinander The Lord's Grenadiers in Kippel and in Blatten halten. Wenn wir in die Kirche einmarschieren und in der Prozession mitgehen, fühlen wir uns als Beschützer des Allerheiligsten. Anders verhält es sich am Nachmittag bei der Fahnenparade. Da präsentieren wir uns ger- ne dem Publikum und wollen ihm auch etwas bieten.» The Grenadiers' task is to accompany the Blessed Sacrament during the procession through the village. They make a second appearance in the afternoon, joining the parade. The colours-bearer, accompanied by the lo- cal music waves the banner of the municipality. How do religious custom and show parade go together? Konstantin Kalber- matten, Officer of the Blatten's Lord's Grenadiers: “We should keep the reli- 15 gious and the secular apart. When we accompany the procession and enter the church we feel as the Blessed Sacrament's protectors. In the afternoon, during the Parade, we are proud to present ourselves to the public and to put on a show.” 1 2
1 Ein Modekleid? Die Tracht auch gern. Doch ziehe ich sie nur für kirchliche Anlässe an und würde Die Tracht wird gemeinhin als etwas Zeitloses emp- damit kaum an einem Folkloreumzug mitmachen.» funden. Gleichwohl unterliegt auch sie den zeit- In einem ganz anderen Trachtenverständnis ist die 1922 in Blatten gebo- bedingten Einflüssen von Innovation und Wandel. rene Irene Henzen-Murmann aufgewachsen. Zu ihrer Zeit war die Tracht Im Lötschental hat sich die Tracht in jüngster Zeit das einzige Frauenkleid im Lötschental. Als sie sich 1946 ein neues Kleid zum reinen Kirchenkleid entwickelt. Als solches nach einem älteren Modell schneidern liess, stiess sie auf Ablehnung: wird sie heute auch von jüngeren Frauen getra- «Ich bin in Blatten die Erste gewesen, die wieder eine einteilige Tracht 16 gen. Zu ihnen gehört Domenica Volken-Ritler aus (Chleid) gehabt hat, sonst hat man ja zweiteilige Trachten (Schurz und Kippel, die an den dreimal jährlich stattfindenden Tschoop) gehabt. Das ‹Chleid› war total verschwunden und es brauchte Prozessionen jeweils in der Festtagstracht teil- Courage, zum ersten Mal wieder ein solches zu tragen.» Die Tracht ist nimmt: «Die Tracht ist schön, sie kleidet einen gut hier kein Sonderkleid, sondern ein Alltagsgewand, das dem Wandel des und sie ist wertvoll. Ich trage und zeige sie deshalb Zeitgeschmacks folgt.
1–3 Trachtenfrauen an der Fronleichnamsprozession in Blatten Women in costume du- ring the Corpus Christi procession in Blatten 1 2 3 A fashion dress? The costume sure. But I wear it only for religious events and would not like to be part of The costume is considered timeless. It is subject a folkloric parade.” though to innovation and changes throughout The in Blatten 1922 born Irene Henzen-Murmann was educated in a dif- the ages. ferent understanding of the costume. In her time the costume was the only In the Lötschental the costume recently became dress a woman could wear in the Lötschental. In 1946 she wanted to have a a sheer religious dress. It is worn as such even new dress tailored on the old pattern and was met with disapproval: “I was by the younger women. Domenica Volken-Rit- the first one in Blatten to wear a one piece costume (Chleid) again, everyone ler from Kippel, taking part in the processions else wore a two piece suit (Schurz and Tschoop). The ‘Chleid’ had vanished 17 in her feast costume three times a year: “The and I needed a lot of courage to wear it again.” Here is the costume not a costume is beautiful, it looks good on me and fancy dress but an everyday wear following the changes in the prevailing is pricy. I wear and show it with pride and plea- taste.
Ein alpiner Erfahrungsschatz Ein auf Erfahrung beruhendes und an der Auseinandersetzung mit der natürlichen Um- welt geschultes Wissen hat im Alpenraum oft sehr eigenständige kulturelle Muster entstehen lassen. Und im Austausch mit andern Welten und neuen Ideen gewonnene Güter und Prak- tiken wurden von der lokalen Bevölkerung im Laufe der Jahrhunderte umgeformt und haben «Eschlchüö» und «Eschlchalber» aus Blatten im so lokale Ausformungen erhalten. Lötschental. Die ausgekochten Fussgelenkknochen von Rindvieh wurden von den Kindern als Spielzeugtiere ge- nutzt. Die grossen Knochen stellten «Eschlchie» (Kühe) dar, die kleinern «Eschlchalber» (Kälber). In vorindustrieller Zeit An alpine treasure herrschte im Berggebiet eine Wirtschaft der knappen Güter. Wegwerfen war dieser Gesellschaft fremd, Sparzwang be- stimmte ihren Alltag. Dies galt auch für die Lebenswelt der Very original cultural models originating Kinder. in a practised knowledge based on experience and confrontation with the natural environment often arose in the Alps. In the course of the “Eschlchüö” and “Eschlchalber” of Blatten in the centuries the local population has remodeled Lötschental. The children used the cattle's boiled ankle bo- nes as toy animals. The big bones represented “Eschlchie” 18 goods and practises gained from the exchanges (cows), the small ones “Eschlchalber” (calves). In the pre- with the outside world and new ideas and given industrial era the mountain world lived in a scarce goods them a local shape. economy. Nothing was thrown away; saving was the key word, even in the chidren's world.
«Leibsärru» (Brotteigform) der Familie Josef Mur- Erste Strophe des Dreikönigsliedes, wie es jeweils mann aus Kippel, 1886. Mit der «Leibsärru» wurde der Teig in Ferden von den Sternsängern vorgetragen wird. Jeweils des Roggenbrots zu einem flachen, runden Laib geformt. am Vorabend des Dreikönigsfestes, also am 5. Januar, zie- Die kerbschnittverzierte Brotform aus Lärchenholz steht für hen die drei Weisen auf reich dekorierten Holzpferdchen den Kunstsinn der vorindustriellen Gesellschaft. Gleichzei- durchs Dorf und werden von einem Chor begleitet. Der tig symbolisiert sie die inneralpine Selbstversorgung mit Brauch heisst im Lötschental «Chinigrosslinun». Viehwirtschaft und Ackerbau. “Leibsärru” (Bread dough baking tin) belonging to First strophe of the Epiphany song performed by Josef Murmann's family of Kippel, 1886. The “Leibsärru” the carol singers in Ferden. On the Eve's of the Feast of was used to give the rye bread dough a flat, round shape. Epiphany (the 5th of January) the three Wise Men from the 19 The carved and decorated larch wood baking tin shows the East ride on rich decorated woodhorses through the village, pre-industrial society's artistic sense. It is also a symbol for accompanied by a chorus. This custom is named “Chinig- the alpine self-sufficiency thanks to stock farming and agri- rosslinun” in the Lötschental. culture.
Alpinismus als Kulturerbe Als Inbegriff natürlicher Schönheit ist das Bietschhorn längst zum fes- ten Bestandteil der regionalen Kulturgeschichte geworden. Dutzendfach beschrieben, hundertfach gemalt und tausendfach fotografiert, gehört die imposante Bergpyramide zum festen Repertoire alpiner Bergästhetik. All diese künstlerischen Erzeugnisse zeugen von einem Alpinismus, der dem Berg und der Bergbevölkerung mit Neugier, Einfühlungsvermögen und Res- 1 pekt begegnet. 1 Bietschhorn von der Lauchernalp (Albert Nyfeler, Öl auf Leinwand, 1962) View on the Bietschhorn from the Lauchernalp (Albert Nyfeler, Oil on canvas, 1962) Leslie Stephen, 1859 Erstbesteiger des Bietschhorns, sprach von den Alpen als Spielplatz Europas (The playground of Europe). Wie sieht dies 150 Jahre später der Lötschentaler Bergführer Pius Henzen? «Den meisten Leuten geht es sicher um das Bedürfnis, in der Natur zu sein, etwas, das sie in der Stadt nicht mehr haben; ich meine die Natur mit ihrer Wildheit, zum Beispiel bei einem Wetterumsturz. Da merkt man schnell, dass man der Natur ausge- 20 liefert ist, trotz all der Massnahmen, die man heute trifft.»
Alpinism, a cultural Heritage Perfect example of natural beauty, the Bietschhorn long time ago tur- ned into an essential element of the regional cultural history. Dozens of times described, hundreds of times painted and thousands of times photographed, the impressive pyramidal mountain belongs to the definite repertoire of al- pine aesthetics. These artistic creations all show an alpinism meeting the mountain and its population with curiosity, empathy and respect. 1 2 2 Bietschtaler Moment VI (Peter Eichwald, Farbholzschnitt, 2010) Bietschtaler Moment VI (Peter Eichwald, Wood engraving, coloured, 2010) Leslie Stephen, 1859 first climber of the Bietschhorn described the Alps as “The Playground of Europe”. How, 150 years later, does the Lötschentaler Mountain Guide Pius Henzen see it? “Nowadays the majority of the people feel the need to be in the nature; I mean the real one with its wild character as we experience during a sudden change in the weather for example; the nature they no longer encounter in the cities. Very quickly one understands how much he is at the mercy of nature despite all measures taken today.” 21
Basel Zürich Bern Luzern Interlaken Spiez Chur Besonderheiten | Peculiarities Lausanne Kandersteg Gotthard Lötschentaler Museum, Kippel Sion Lötschentaler Museum, Kippel Genève Brig Lugano Maskenkeller Wiler, Familie Rieder Heinrich Masks cellar in Wiler, Family Rieder Heinrich Milano Masken-Werkstatt Blatten, Familie Lehner Heinrich Masks workshop in Blatten, Family Lehner Heinrich Masken-Werkstatt Ried bei Blatten, Familie Siegen Moritz Masks workshop in Ried by Blatten, Family Siegen Moritz Stalldorf Kühmad mit Wallfahrtskapelle Cowsheds village of Kühmad and Pilgrimage Chapel Gemeinsames Maskenschnitzen, Ferden Masks carving in the community, Ferden St. Martinskirche, Kippel Saint Martin Church, Kippel 22 Quellenangaben | References www.loetschentalermuseum.ch
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Unser gemeinsames Erbe … Der Grosse Aletschgletscher und das welt- Die vorliegende Broschüre ist Teil einer Serie, berühmte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau welche zentrale Welterbe-Themen sowohl in repräsentieren das Herz des UNESCO Welterbes ihrer lokalen und regionalen als auch ihrer glo- Schweizer Alpen. Spektakuläre Hochgebirgs- balen Bedeutung beleuchtet. Die Verbindung landschaften stehen in dynamischer Symbiose von Wissen und Erlebnissen eröffnet einen neu- mit der umgebenden Kulturlandschaft. Von me- en Zugang zu den reichen Schätzen und Ge- diterran anmutenden Steppenlandschaften bis heimnissen des Welterbes und schafft Bewusst- zu Gletschern erstreckt sich das Gebiet über sein für unser gemeinsames Erbe. Es stellt sich alle Vegetationsstufen. Es ist ein hervorragen- die zentrale Frage: Was trage ich persönlich zur des Beispiel für die Entstehung der Gebirge und Förderung dieses Erbes bei und wie geben wir 24 Gletscher und den aktuellen Klimawandel. dieses Erbe der nächsten Generation weiter? Mehr Geheimnisse entdecken Sie unter www. myswissalps.ch
Our common Heritage … The Great Aletsch glacier and the three This brochure is part of a series, shedding light world-famous peaks Eiger, Mönch and Jungfrau on central World Heritage themes and their are the core of the UNESCO World Heritage local, regional and global significance. In con- Swiss Alps. Impressive high mountains and the necting knowledge and experience a new ac- surrounding cultural landscape have a dynamic cess is given to the treasures and secrets of the symbiotic relationship.The area stretches from World Heritage and awareness of our common the rocky steppes with a mediterranean charac- heritage is created. An important question ari- ter to the glaciers. It is a perfect example of the ses: How can I personally contribute to pro- mountain and glacier's formation and of the ac- mote this heritage and transmit it to the next tual climatic changes. generation? Discover more secrets under www. 25 myswissalps.ch.
Legenden | Legends Icons | Icons Themen | Themes Statement / Meinungen | Statement / Opinions Gebirge | Mountains Wissenswertes | Valuable information Klima | Climate Interview | Interview Gletscher | Glacier Wissenschaft | Science Wasser | Water Sagen / Mythen | Legend / Myth Tiere und Pflanzen | Fauna and Flora Über das Welterbe hinaus | Beyond the World Heritage Landwirtschaft | Agriculture Spiel und Spass | Games and Fun Siedlung | Settlement 26 Infopunkt | Information Point Kultur | Culture Schwelle | Threshold Tourismus | Tourism www.myswissalps.ch Verkehr | Traffic
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