Trendcity? Zürich! - IM HERZEN VON ZÜRICH ist der Blick von der Quaibrücke einer der schönsten, die Limmat fließt gemächlich, die Stadt pulsiert ...
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Trendcity? Zürich! IM HERZEN VON ZÜRICH ist der Blick von der Quaibrücke einer der schönsten, die Limmat fließt gemächlich, die Stadt pulsiert.
FEINSCHMECKER REISE Auf der Reise-Wunschliste für die Zukunft sollte diese Stadt ganz oben stehen: Mit ihrer bunten, innovativen Szene sorgt die Schweizer Gastro-Metropole jetzt auch international für Furore. Welche Restaurants sich jetzt besonders lohnen – hier sind die besten Adressen TEXT PATRICIA BRÖHM FOTOS CHRISTINE BENZ 12/2020 DER FEINSCHMECKER 47
MENÜZWANG GIBT ES NICHT bei Nenad Mlinarevic und Küchenchef Gino Miodragovic (r.) im Restaurent „Neue Taverne“ 48 DER FEINSCHMECKER 12/2020
KREATIV VEGETARISCH wird in Mlinarevics „Neuer Taverne“ gekocht: Rettich, Yuzu-Kürbiskern- Furikake (Gewürz- mischung) 12/2020 DER FEINSCHMECKER 49
DER REGIONALE BEZUG kommt auch beim Fischhaut- Cracker mit Dill- mayonnaise und Forellentatar mit Rogen zum Tragen NACHHALTIGER ANSATZ in der Küche von Fabian Fuchs (o.), reduziert das Interieur im „EquiTable“ 50 DER FEINSCHMECKER 12/2020
B Bürklimarkt, morgens 8 Uhr. Wer früh aufsteht, kann hier einen der besten Schweizer Köche bei der Inspirati- on erleben. Nenad Mlinarevic sieht mit seinem schwar- zen Outfit und dem tätowierten rechten Arm zwar eher wie ein Rockstar aus, aber er ist mit allen Bauern, die hier Selbstgezogenes verkaufen, per Du. Er weiß, wer im Sommer die frischesten Eierschwämmli (Pfifferlinge) führt und wo er die geschmacksintensiven Heidelbeeren vom Gotthard bekommt; er weiß, wer im Winter die bun- Hier boomt die Szene, junge Gastronomen mit Erfah- rung in der Topgastronomie realisieren unkomplizierte, produktfokussierte Konzepte, wie sie in London und New York das Bild prägen. Herzstück dieser Entwick- lung sind vor allem die früher verrufenen Kreise 4 und 5 jenseits der Langstraße, die sich vom Rotlichtviertel zur Hipstermeile wandelte. Zu den derzeit angesagtesten Ad- ressen zählen Markus Stöckles „Rosi“, ein zeitgemäßes bayerisches Wirtshaus, und das „Gül“, wo die junge Kö- NAH AM WASSER gebaut und dennoch ein Grund zur Freude: der Blick aus dem Hotel Storchen testen Urkarotten und die besten Randen (Rote Bete) an- chin Elif Oskan Klassiker der türkischen Küche neu in- bietet. Heute haben es ihm die hocharomatischen Cedrat- terpretiert. Aber auch die Vorreiter einer neohelvetischen Zitronen aus Sizilien angetan: „Die hobele ich hauch- Regionalküche nach nordischem Vorbild sind hier zu dünn und serviere sie auf unserer Lemon Tarte.“ Hause, allen voran Marius Frehners „Gamper“ und das „EquiTable“, das mit seinem Fokus auf nachhaltig er- Mlinarevics „Neue Taverne“ liegt nur ein paar Schritte zeugten Produkten aus Fair Trade Pionierarbeit leistete. entfernt, in einer kopfsteingepflasterten Seitengasse der Bahnhofstraße. Die berühmte Shoppingmeile, wo die Im schlichten Ecklokal, dem man die Vergangenheit als Immobilienpreise ins Unendliche tendieren, wäre der Quartierbeiz ebenfalls deutlich ansieht, steht Fabian letzte Ort, an dem man einen Außenposten der jungen Fuchs, ehemaliger Souschef und guter Freund von Mli- Schweizer Küche vermuten würde. Doch Zürichs Gastro- narevic, am Herd. Auch bei ihm geht es entspannt zu: szene ist derzeit mehr denn je für Überraschungen gut: Die lockigen Haare am Hinterkopf zum Dutt gebunden, Hinter der Fassade einer typischen Altstadtbeiz mit kocht der 33-Jährige mit Produkten aus der Region: „Im grün-weißer Markise schickt das junge Team abends die Idealfall vom Bauernhof direkt in die Pfanne.“ Gemüse innovativsten Gemüsegerichte der Stadt an die blanken spielt in seiner puristischen Küche eine wichtige Rolle, Holztische. Auch die Wandtäfelung und die historischen ein Biobauer pflanzt eigens für ihn zehn Sorten Gurken Fenster hat man belassen, das Neo-Gasthausambiente ist an. Das Entrecote vom Angus-Rind aus Ennetbürgen sehr entspannt: „Wir wollen keinen Menüzwang oder an- kommt kurz gebraten, damit die Qualität für sich spre- dere Fine-Dining-Attitüden“, sagt Mlinarevic. chen kann: „Die Rinder grasen auf Almen hoch über dem Vierwaldstättersee und ernähren sich von Alpen- Er serviert eingesalzene Kohlrabi, dazu Austernemul- kräutern.“ Dazu gibt es geschmorte Radieschen sowie sion, Austernkraut und Shiso. Das schmeckt knackig Bergkartoffeln aus dem Graubündner Albulatal, eine frisch, jodig nach Meer und verrät Mlinarevics Herkunft kräftige Rinderjus rundet das Gericht ab. aus der Spitzenküche. Der heute 39-Jährige hatte sich im „Park Hotel Vitznau“ am Vierwaldstättersee höchste Die überraschendste Entwicklung aber, das sieht auch Auszeichnungen erkocht, die er aufgab, um in seiner Hei- Fuchs so, spielt sich im etablierten Zentrum von Zürich matstadt eigene Projekte zu verfolgen. ab, rund um die Bahnhofstraße und in der Altstadt, wo 12/2020 DER FEINSCHMECKER 51
MEDITERRANE LEBENS- FREUDE spürt man im Ristorante „Ornellaia“, wo klassisch italienisch auf hohem Niveau gekocht wird EIN GROSSES GEHEIMNIS macht Antonio Colaianni (u.), Küchenchef im „Ornellaia“, um seine Version der Bouillabaisse 52 DER FEINSCHMECKER 12/2020
FINGERFOOD, im „1904 Lagonda“ passend serviert: Brik-Teig-Cornetto mit Rindertatar, Sauerrahm und Kaviar DER ZÜRISEE, lange Zeit nur Touristenfallen lauerten: „Dort entstehen Ein weiterer Neuzugang im Umfeld der unteren Bahn- wie ihn die neue, coole Konzepte, das hat einen Mega-Charme.“ hofstraße ist das „1904 Designed by Lagonda“. Im Zen- Einheimischen liebevoll nennen, Hier ballen sich neuerdings große Namen und unge- trum des großzügigen Raumes, der sich in Restaurant ist das eigentliche wöhnliche Projekte, hier wandelt sich die 430 000-Ein- und Lounge unterteilt und nebenbei als Brand Space fun- Highlight der Stadt wohner-Stadt zur kulinarischen Minimetropole interna- giert, steht eine schwarze Nobelkarosse der 1904 ge- tionalen Zuschnitts. Nicht zuletzt ein Beleg dafür, dass gründeten britischen Marke Lagonda, die zu Aston Mar- im weltoffenen Zürich genügend genussaffines Publikum tin gehört. Auch das Interior Design mit viel Arvenholz, mit potenter Ausgabefreudigkeit zu Hause ist, um eine einer Wand aus italienischem Marmor und einer knall- anspruchsvolle Gourmetszene zu unterhalten. roten Wendeltreppe stammt aus London und sieht nach viel Geld aus. „Wir wollen die Passionen Automobil und Auch der Schweizer Koch-Superstar Andreas Camina- Fine Dining verbinden“, sagt Küchenchef Thomas da eröffnete hier Anfang des Jahres eine Dependance Bissegger, der mit erst 33 Jahren eine große Aufgabe seiner erfolgreichen „IGNIV“-Lokale mit Menüs zum übernommen hat. „Unser Küchenstil ist puristisch-redu- Teilen. Und ein italienisches Gourmetrestaurant vom ziert und produktfokussiert, alles Unwichtige wird weg- Format des „Ornellaia“ findet man so im gesamten gelassen – genau wie bei Lagonda.“ Als unkompliziertes deutschsprachigen Raum nicht: Eine ehemalige Privat- Löffelgericht reicht er eine vor Umami strotzende bank verwandelte die Schweizer Stararchitektin Tilla Dashi mit vier verschiedenen Pilzen, Zitronengras, Ko- Theus in ein stimmungsvolles Lokal mit unverputzten rianderöl und mit Pfifferlingsragout gefüllten Dim-Sum. Steinmauern, einsehbarer Küche und dutzenden kleinen Lämpchen, die an der hohen Holzdecke schweben. Der Den Gastro-Coup des Jahres aber landete man im „Ho- Name des Ristorante mit der beeindruckenden Wein- tel Widder“, das sich hinter der Fassade einiger stim- karte kommt nicht von ungefähr, es ist eine Kooperation mungsvoll restaurierter Altstadthäuser verbirgt: Hier des toskanischen Kultweinguts und des Schweizer Wein- kocht seit Juni mit Stefan Heilemann eines der größten händlers Bindella. Seit September steht hier Antonio Talente der Stadt, er wechselte mit dem kompletten Team F OTOS: C H R I S T I A N S C H N U R / ZÜ R I C H TO U R I S M U S Colaianni am Herd, ein stadtbekannter Garant für gro- an den Rennweg. Für die beiden historischen Stuben, in ßen Geschmack und Verzicht auf Tellerakrobatik. Sein denen sich verwinkelter Altstadtcharme mit modernem Stil basiert auf klassisch italienischen Rezepten und Design mischt, kreiert der Harald-Wohlfahrt-Schüler an- französischem Savoir-faire, dazu mediterrane Lebens- sprechende Teller mit höchster Produktqualität, gekonn- freude. „Meine Küche soll Emotionen auslösen“, sagt der tem Einsatz feiner Säure und asiatischem Aromenhauch. 50-Jährige. So wie eines seiner Signature-Gerichte, die Bestes Beispiel: der Bauch vom Balfegó-Thunfisch, den intensiv duftende Bouillabaisse. Sie ist bestückt mit er mit Blumenkohl als Creme und Couscous von duften- Edelfischen, Garnelen, Tintenfisch und Gamberi di fos- der Thai-Salsa mit Minze und Koriander umspielen lässt, so (winzige Crevetten, die man mit Kopf und Schale das Ganze mit Partikeln vom Thunfischherz gewürzt. isst). Was ist das Geheimnis ihrer tiefgründigen Aroma- tik? „Ich setze sie mit Geflügelfond und -hälsen an, so „Zürich ist eine Stadt mit sehr hoher Ausgehkultur. Vie- wird sie eleganter, die Aromen sind besser eingebunden.“ le Leute gehen jeden Abend essen,“ lobt der gebürtige 12/2020 DER FEINSCHMECKER 53
EIN HÖHEPUNKT, nicht nur geografisch, ist ein Besuch bei Heiko Nieder im Hotel The Dolder Grand, der im „The Restaurant“ auf Weltklasseniveau kocht Schwabe seine Wahlheimat. Eine Stadt, die engagierten heranzuführen. Bezeichnend für Nieder sind nicht nur Köchen viele Chancen bietet. Das Widder gehört zur feines Säurespiel und überraschende Aromenkombina- kleinen, feinen Privathotelgruppe The Living Circle, die tionen, sondern auch herzhafte Elemente. Etwa der neuerdings mit zwei weiteren stilvollen Boutique-Adressen Krautsalatsaft, der den gedämpften Seehecht mit Speck von sich reden macht: Das historische Hotel Storchen, und grüner Peperoni durch seine vielschichtige Würze ebenfalls aufwendig renoviert, steht gleich um die Ecke in andere Sphären hebt. Und man muss sich erst mal und bietet, direkt an der Limmat, eine der schönsten Ter- trauen, in diesem edlen Restaurant mit silbernen Wän- rassen der Stadt; im Sommer kam noch das moderne den, bemalter Holzdecke und der geballten „Dolder- Alex Lake City direkt am See im Vorort Thalwil dazu. schen“ Kunstsammlung Spareribs auf die Karte zu schreiben. Natürlich nicht Barbecue-Style, sondern auf- Höhepunkt jeder Züricher Genusstour ist ein Besuch bei wendigst zubereitet kommt diese Sublimation eines Heiko Nieder, der im „The Restaurant“ schlicht Welt- Ibérico-Schweins, gekrönt von knackigem Lattich (Sa- klasse kocht. Über steile Straßen führt der Weg hinauf, lat), aromatisiert von Wasabi und Sesam, begleitet von wo The Dolder Grand, die von Sir Norman Foster gestal- unglaublich dichter Miso-Eigelb-Sauce auf den Tisch. tete moderne Inkarnation der traditionsreichen Hotel- ikone, im Wortsinn thront. Vor seinem Küchenfenster Und als ob das alles noch nicht genügte, setzt das Dol- F OTOS: FA B I A N H A E F E LI , P E T E R H E B E I S E N bietet sich dem gebürtigen Hamburger der reinste Post- der Grand mit Starpatissier Christian Hümbs nun auch kartenblick auf Stadt, See und, bei guter Fernsicht, aufs im süßen Bereich neue Maßstäbe. Wer allerdings jene beeindruckende Alpenpanorama. „Als ich hier anfing, Avantgarde-Desserts mit Gemüse und wenig Zucker war Zürich kulinarisch noch recht konservativ“, erinnert erwartet, die ihn bekannt machten, wird verblüfft. Er er sich. Zu Anfang saß vor allem das alte Geld bei ihm serviert in der noblen Lobby zu Pianoklängen Schwarz- zu Tisch, heute kommen viele jüngere Gäste, aus Zürich wälder Kirsch, Schweizer Rüeblitorte und eine sensati- und aller Welt. Den kulinarischen Wandel der Stadt trieb onelle Tarte au citron, deren intensiv-blumige Aromatik der 48-Jährige entscheidend voran, er scheute sich nicht, den Einsatz von Yuzu verrät. Seine Rückkehr zur klas- auch ein gesetzteres Publikum an moderne Kochtechni- sischen Patisserie will er mit einem eigenen Shop krönen ken und Produkte jenseits der klassischen Hochküche – und Zürich um ein weiteres Highlight bereichern. L 54 DER FEINSCHMECKER 12/2020 ADRESSEN, KARTEN UND BEWERTUNGEN ZUM HERAUSNEHMEN AUF SEITE 146
Die Vordenker unserer Zeit /7 pic Mit seit frühester Kindheit geschultem Gaumen, leiser Stimme und eisernem Willen erkämpfte sich die Autodidaktin in der männlich geprägten Haute Cuisine gegen alle Widerstände ihren Weg. Heute ist sie die Königin der zeitgemäßen französischen Küche – und Vorbild für Kolleginnen weltweit TEXT PATRICIA BRÖHM „NOTRE-DAME-DE-VALENCE“, so nannte ein französischer Kritiker sie einmal. Ein Beleg dafür, wie viel Respekt sich die zierliche Brünette, die immer ein wenig wirkt, als sei sie gerade einem Colette- Roman entstiegen, in der traditionell testosteron- gesteuerten französischen Spitzengastronomie erworben hat. 2007 erkochte sie den dritten Stern – als erste Frau in Frankreich seit 50 Jahren. Es war der Beginn eines einzigartigen Durchmarschs in der Welt der Hochleis- tungsküche, den sie sich mit leiser Stimme und eisernem Willen bahnte. Heute steht sie nicht nur für ihren ganz eigenen, feminin geprägten Küchenstil, sondern ist auch die einzige Frau, die zielstrebig an einem weltweiten Gourmetimperium arbeitet. „Ich habe die Küche damals nicht im Sturm erobert“, untertreibt sie ihre schwierigen Anfänge. Wer Anne- Sophie Pic in ihrer großen, ganz in Weiß gehaltenen Kü- che in Valence bei der Arbeit zusieht, der bekommt eine 58 DER FEINSCHMECKER 12/2020
SERIE: EUROPAS BESTE KÖCHE „Eine Frau kann sich durchsetzen, ohne zu schreien. Meine Mitarbeiter Vorstellung davon, wie schwer wissen, dass ich es war, sich durchzusetzen: Die sehr anspruchs- meisten Mitarbeiter überragen voll bin.“ die nur 1,58 Meter große Chefin ANNE-SOPHIE PIC um einen Kopf. Wie verschafft man sich Respekt bei einem Lehrling, zu dem man auf- schauen muss? „Eine Frau kann sich durchsetzen, ohne zu schreien“, sagt Anne-Sophie Pic. „Meine Mitarbeiter wissen, dass ich sehr anspruchsvoll bin.“ Hochkonzen- triert kontrolliert „La Cheffe“ jeden Teller, der ihre Kü- che verlässt, wischt noch einmal mit einem Tuch über den Rand, um mögliche Fingerabdrücke zu entfernen, dann erst nickt sie ihn ab. DOCH NICHT NUR TALENT und Ent- schlossenheit halfen auf ihrem Weg. Sondern auch die Geburtsurkunde. Pic – das ist ein Name wie Donnerhall im Mutterland der Haute Cuisine. Wer ihr Restaurant im südwestfranzösischen Valence besucht, bekommt das noch vor dem ersten Amuse-Bouche vor Augen geführt, anhand einer Ausstellung im Eingangsbereich. Schwarz- Weiß-Fotos aus dem Familienalbum erzählen die Ge- schichte einer Dynastie von Spitzenköchen, begründet 1889 von der Urgroßmutter Sophie. Schon Anne-Sophies Großvater und Vater erkochten drei Sterne. Als Kind lag ihr Schlafzimmer über der Küche, sie erinnert sich noch an den Duft von Windbeuteln mit Vanillecreme. Und an die Krebse aus dem nahe gelegenen Fluss, die im Res- taurant kiloweise verarbeitet wurden. „Immer, wenn ich vorbeikam, habe ich davon genascht. Den Geschmack der frischen Krebse habe ich noch heute auf der Zunge“, sagt sie. Doch obwohl ihr Geschmackssinn so früh eine erstklas- sige Schule durchlief, ist „La Pic“ Autodidaktin. Als jun- F OTO: LO U I S T E R A N / M A DA M E F I G A R O/ L A I F ge Frau drängte es sie nicht in die Küche. Sie besuchte die École de commerce in Paris, absolvierte Praktika bei Cartier in Tokio und LVMH in New York. Mit Mitte zwanzig aber holte sie die Macht der Gene ein. Nach dem frühen Tod ihres Vaters und dem Verlust des dritten Sterns beschloss sie, die Familienehre zu retten, koste es, was es wolle. Sie nahm dafür sogar den Bruch mit ihrem älteren Bruder in Kauf, der zunächst die Küche weiterführte, dem allerdings ihr innovativer Geist fehlte. 1997 verließ er das elterliche Haus und machte sich selbstständig. 12/2020 DER FEINSCHMECKER 59
NEBEN IHREM RESTAURANT „Maison Pic“ in Valence (u.), zu dem auch das Bistro „André“ (o.) gehört, führt Anne-Sophie Pic (u. r., Mitte) sechs Restaurants weltweit. Sie entstammt einer Dynastie von Spitzenköchen, darunter ihr Großvater André (u.) ES FOLGTEN HARTE JAHRE für die da- mals 28-Jährige. Ohne formale Kochausbildung musste sie sich zunächst im eigenen Haus Respekt verschaffen und ihre Ideen von guter Küche durchsetzen. Auch in der Branche erfuhr sie Gegenwind. Als sie sich um die Mit- gliedschaft bei den Maîtres Cuisiniers de France bemüh- te, hagelte es Protestbriefe gegen die Aufnahme einer Frau in die traditionsreiche Association. „Da waren sehr festgefahrene Vorstellungen, gegen die ich angehen musste“, sagt Madame heute, „sehr viel Borniertheit.“ Sie ist überzeugt, dass die schwierigen Anfänge ihr letzt- lich halfen: „Wäre alles einfach gewesen, hätte ich viel- leicht nicht so schnell ein so hohes Niveau erreicht.“ Sie erinnert sich genau an den Tag, als ihr zum ersten Mal ein Gericht gelang, das dem entsprach, wie sie sich ihre Küche der Zukunft vorstellte: „Es war ein großes Glücksgefühl. Ich wusste einfach intuitiv, ich bin auf dem richtigen Weg.“ Dieses Schlüsselerlebnis bescherte ihr ein Arrangement von Hummer und Foie gras, Arti- schocken, Nüssen und Quittengelee. Ein Spiel mit den Elementen süß und salzig, ein Jonglieren mit verschie- denen Texturen, wie es heute für ihre leichte und pro- duktbezogene Küche typisch ist: das Knackige der Nuss, das Zarte der Artischocke, der Schmelz der Foie gras, der Biss des Hummers. „An dieses Gericht werde ich mich mein Leben lang erinnern. Es war der Beginn mei- ner kulinarischen Emanzipation.“ DER WEG DER ANNE-SOPHIE PIC SIE WIRD AM 12. JULI 1969 im südfranzösi- schen Valence in eine Dynastie von Spitzen- köchen hineingeboren. Nach einem Betriebs- wirtschaftsstudium und dem plötzlichen Tod des Vaters übernimmt sie überraschend die Nachfolge und erkämpft sich als Autodidaktin gegen viele Widerstände ihren Weg. 2007 erkocht sie – als erste Frau in Frankreich seit 50 Jahren – drei Michelin-Sterne, viele nationale und internationale Auszeichnungen folgen. Mit ihrem Mann und dem 15-jährigen Sohn Nathan lebt sie in Valence, weltweit führt sie sieben Restaurants. 60 DER FEINSCHMECKER 12/2020
SUBTIL GEWÜRZT, „Die große perfekt ausbalanciert und fantasievoll sind Herausforderung die Gerichte von Anne- besteht darin, Sophie Pic: Kalbsbries mit gemischten Pilzen (l.), in der Küche Ravioli mit Tomate etwas zu wagen, blanc“, ein puristisch-mono- und Waldmeister sowie Seeigel in Eischnee dabei aber immer chromer Würfel ganz in Weiß (linke Seite, von oben) die Harmonie im aus Tahiti-Vanille- Creme, der im Inneren mit Kumquat und Auge zu behalten.“ Timut-Pfeffer explosive Aro- ANNE-SOPHIE PIC matik beweist. Nächtelang habe sie früher in der Küche gestanden, um TYPISCH PIC neue Gerichte zu entwickeln, erzählt sie. Manchmal än- DREI SIGNATURE-GERICHTE derte sie die Karte so oft, dass ihr Mann sie bremsen KALBSBRIES: Ungewöhnlich floral ihre Interpretation musste. David Sinapian, mit dem sie seit der gemein- des Kalbsbries: mit Miel de Callune, kraftvollem Heide- samen Ausbildungszeit verheiratet ist, bestärkte sie von honig aus den Pyrenäen, und Steinklee pochiert, ruht Anfang an, ihren eigenen Weg zu gehen, heute führt er es über Nacht in einer Hülle aus Bienenwachs, ein die Geschäfte in ihrem wachsenden Imperium. Gemein- Prozess, der das Aromenspektrum intensiviert und sam arbeiten die beiden seit Jahren daran, den Namen abrundet, bevor das Bries kurz angebraten und mit Pic in die Welt hinauszutragen und die 51-Jährige als ers- gemischten Pilzen serviert wird. ten weiblichen Global Chef zu etablieren. Neben dem Flaggschiff in Valence (zu dem auch eine BERLINGOTS: Eine Küche voller Emotionen: Die Kochschule und das Bistro „André“ zählt, benannt nach „Berlingots“, kleine, dreieckige Ravioli, deren ihrem Großvater) führt sie heute Restaurants in Paris, Form ein Lieblingsbonbon ihrer Kindheit inspirierte, Megève, London, Lausanne und Singapur, New York ist tauchen in all ihren Restaurants auf, in immer neuen in Planung. Mit ihrer geschäftlichen Expansion wachsen lokalen Varianten. In Lausanne etwa besteht die auch ihr Renommee und ihr Einfluss weltweit als eine cremig-flüssige Füllung aus den Fondue-Käsesorten der führenden Kräfte der modernen französischen Kü- Vacherin und Gruyère, die nötige Frische schenkt che. In einer Zeit, da internationale Rankings wie die ein vegetaler Fond aus Tomate, Verveine und Wald- Michelin-Guides oder die World’s 50 Best Restaurants meister. wegen des geringen Frauenanteils immer heftiger in der F OTOS: S E R G E C H A P U I S ( 3 ), M A I S O N P I C , J E A N - F R A N ÇO I S M A L L E T, V I N C E N T VA N D R I E S ( 2) Kritik stehen, taugt die zierliche Französin für junge SEEIGEL: Bildschön auch ihr Seeigel in luftigem Frauen rund um den Globus als Vorbild. Denn sie ist ein Eischnee mit einer Balance von hellen und dunklen Beleg dafür, dass man in der männlich dominierten Welt Aromen: Für Tiefgründigkeit sorgen geräucherte der Spitzenküche auch seinen Weg gehen kann, wenn japanische Sojabohnen und japanischer Nikka Whisky, man so leise und zurückhaltend auftritt wie sie – man für Frische Apfelgelee und Kapuzinerkresse. muss nur wissen, was man will. WIE STARK IHR INNERER Kompass ist, beweisen die für sie typischen Gerichte, die scheinbar voller aromatischer Widersprüche sind, aber am Gaumen HEUTE STEHT ANNE-SOPHIE PIC für in perfekter Balance aufgehen. Bestes Beispiel ist ihre eine perfekt ausbalancierte, subtil gewürzte, fantasie- „Auster Tarbouriech“, die auf einem Teller die Meeres- volle Küche, die nicht durch die Lehrzeit bei großen frucht mit den überraschenden Partnern Kaffee und Meistern geprägt, sondern Ausdruck ihrer eigenen Per- Whisky vereint: „Wir suchten nach einem Element, das sönlichkeit ist. Ausschlaggebend für ihren Stil ist das, sensorisch die Verbindung zwischen Auster und Kaffee was sie „ouverture d’esprit“ nennt – einen offenen Geist darstellt – der Whisky liefert diesen roten Faden.“ Es ist pflegen, neue Horizonte entdecken: „Die große Heraus- die Kreation einer Frau, die erfahren hat, dass es im Le- forderung besteht darin, in der Küche etwas zu wagen, ben nicht nur den einen, geradlinigen Weg gibt. So ge- dabei aber immer die Harmonie im Auge zu behalten.“ sehen, erzählen die Teller der Spitzenköchin immer auch Ihre Kreationen sind nie laut und offen provokant, son- ihre Lebensgeschichte. Oder, mit den Worten ihres gro- dern gehen auf eine subtile und doch selbstbewusste Art ßen Förderers Paul Bocuse: „Was ich an Anne-Sophies neue Wege. Zum Beispiel das Dessert „le mille-feuille Küche so schätze, ist ihre Wahrhaftigkeit.“ l ADRESSEN, KARTEN UND BEWERTUNGEN ZUM HERAUSNEHMEN AUF SEITE 146
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