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A S P E K T E Christian Zniva „Und das Wichtigste: Bleiben Sie gesund!“ Psychotherapeutische Begegnungen mit einem gesellschaftlichen Imperativ ffen gesagt sind es subjektive Regungen, systemischer Psychotherapeut bin ich es eher gewohnt O die den Anlass für folgende Ausführungen darstellen. Zunächst einmal regen mich undifferenzierte Äußerungen zu einem so komplexen Konstrukt wie der Gesundheit gehörig auf. Ist die erste Emotion verdampft, werden jedoch in der Folge viele Fragen in mir angeregt. Der Reflexionsmodus beginnt zu laufen: Was ist da bloß mich mit Krankheitskonstruktionen und -dekonstruk- tionen auseinanderzusetzen, also der anderen Seite von Gesundheit (vgl. Simon, 2001). Die Untersuchung des Erwartbaren stellt eine gewisse Herausforderung dar. Ich benötige Hilfe. Die Definition der Weltge- sundheitsorganisation leistet mir hier keine: „Gesund- heit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, mit Gesundheit gemeint? Woher glaubt da Einer zu geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur wissen, dass ein Zweiter momentan gesund ist? Ist das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (WHO, denn Gesundheit wirklich das Wichtigste? Geht es hier 2019). Unter dieser formulierten Utopie kann ich mir um einen Wunsch oder ist der Satz vielmehr Ausdruck nichts vorstellen. Die weitere Suche führt mich zu eines Befehls? Und was erlaubt sich da Einer, einem dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, der die prin- Zweiten Gesundheit zu wünschen oder gar zu befeh- zipielle Verborgenheit der Gesundheit konstatiert. len? Was sagt einer solcher Wunsch (oder Befehl) über Dennoch unternimmt er den Versuch einer Definition: die Sprecher*in und möglicherweise unsere Gesell- „Trotz aller Verborgenheit kommt sie in einer Art schaft aus? Und aus der Sicht des Psychotherapeuten: Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir vor wann begegnen mir Narrative der Bewahrung und Er- lauter Wohlgefühl unternehmensfreudig, erkennt- haltung von Gesundheit im therapeutischen Kontext? nisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapa- Welche Implikationen ergeben sich in diesen Fällen zen und Anstrengungen nicht spüren – das ist Ge- für das therapeutische Handeln? Der vorliegende Arti- sundheit.“ (Gadamer, 1993, S. 143). In einem sehr ähn- kel versteht sich als Beitrag zur Diskussion verschiede- lichen Sinne beschreibt das Flow-Konzept von Mihály ner Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen. Csíkszentmihályi das Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Fühlen, Wollen und Denken sind in GESUNDHEIT ALS GEHEIMNIS dem Moment im Einklang. Weder die Zeit noch wir selbst spielen eine Rolle und das Handeln geht ohne Die Beschäftigung mit der Frage, was Gesundheit ist, Anstrengung (vgl. Csíkszentmihályi, 2018). Gadamer verschafft mir recht schnell eine Grenzerfahrung. Als führt in weiterer Folge die Idee ein, Gesundheit als 14 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 3 / 1 9
Gleichgewichtszustand anzusehen. Eine Störung die- Unterscheidung in krank oder gesund. Krankheit defi- ses Gleichgewichts kann nur durch eine Gegengewich- niert er als den positiven Wert, der Anschlüsse im Sys- tung behoben werden (vgl. Gadamer, 1993, S. 145). Im tem, also Kommunikationen, ermöglicht. Gesundheit Versuch des Ausgleichens droht nach Gadamer jedoch sieht Luhmann als negativen Wert, der im Medizinsys- ein umgekehrter Gewichtsverlust. Ein zu intensives tem nicht anschlussfähig ist. Das Medizinsystem ope- Bemühen um Gesundheit kann so das ursprüngliche riert schließlich nur, wenn jemand krank ist. Die Ge- Ziel verfehlen. sundheit gibt nichts zu tun und weist nur auf das Richtungsweisend für die Untersuchung von Gesund- Fehlen von Krankheit hin. (vgl. Baraldi, C., Corsi, G. & heit sind die Schriften von Aaron Antonovsky, der die Esposito, E.,1997). So markiert das Kürzel „o. B.“ (ohne Idee des Kontinuums von Gesundheit und Krankheit Befund) in der Sprache der Medizin Gesundheit. hervorhebt. Dieser Vorschlag erweitert die Perspektive Martin Hafen vollzieht eine Weiterentwicklung des auf Gesundheit und Krankheit und ermöglicht den systemtheoretischen Blicks auf Gesundheit (vgl. Ha- Ausstieg aus der Dualität des „Entweder/Oder“ in ein fen, 2014). Er schlägt eine Doppelcodierung des Sys- „Sowohl Als Auch“. Antonovskys Schriften liefern tems vor, indem er die Unterscheidung „krank/ge- auch Vorschläge für die Förderung von Gesundheit. sund“ um die Leitdifferenz „Behandlung/Prävention“ Das Kohärenzgefühl stellt bei ihm einen zentralen Bei- ergänzt. Behandlung knüpft, wie bei Luhmann, auf der trag zur Salutogenese, also zur Entstehung von Ge- Seite der Krankheit an, Prävention hat seinen Aus- sundheit, dar. Kohärenz besteht aus den Komponenten gangspunkt auf der Seite der Gesundheit. Die Funkti- der Verstehbarkeit, der Bewältigbarkeit und der Sinn- on des Präventionssystems erfüllt sich durch die Ver- haftigkeit. Der Gesundheit zuträglich ist es demnach, meidung von Risikofaktoren und den Ausbau von wenn Menschen ihr Leben als verstehbar (Vergangen- Schutzfaktoren. Die Gesundheitsfürsorge erfüllt in heitsbezug), bewältigbar (Gegenwartsbezug) und sinn- dem Modell den Sinn, die Wahrscheinlichkeit für In- voll (Zukunftsbezug) erleben können (vgl. Antonov- dividuen zu erhöhen, an verschiedenen Funktionssys- sky, 1997). Bereits bei Friedrich Nietzsche lässt sich temen teilhaben zu können und dadurch sozial adres- übrigens die Idee des Kontinuums finden. Ihm wird siert zu werden. Gerade in den letzten Jahrzehnten er- das Zitat zugeschrieben: „Gesundheit ist dasjenige fährt das Präventionssystem ein massives Wachstum. Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ (Wiki- GESUNDHEIT ALS IDEAL pedia, 2019) Wo lässt sich nun Gesundheit in der Systemtheorie Bei Umfragen nach bedeutsamen Werten landet die von Niklas Luhmann verorten? Luhmann spricht von Gesundheit zumeist auf den oberen Rängen. Gesund- einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft heit wird angestrebt, Krankheit wird gefürchtet. Ge- (vgl. Luhmann, 1984). Soziale Systeme dienen der Lö- sundheit als Ideal gedacht bezieht sich sowohl auf kör- sung gesellschaftlicher Probleme. Sie beste- perliche als auch psychische Aspekte. Auf hen nach Luhmann nicht aus Menschen, der psychischen Dimension sind es Aspekte sondern operieren über Kommunikation in wie Wohlbefinden, Glück, Optimismus, binären Codes. Ein binärer Code fungiert Hoffnung, Erfolg und Sicherheit, die eine als Leitunterscheidung im jeweiligen sozia- gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Das len System. Beispiele für soziale Systeme beträchtliche Potential des Scheiterns, der sind die Wissenschaft (wahr/unwahr), die Melancholie, der Skepsis, der Angst und Politik (Macht/Ohnmacht) und die Wirt- der Ungewissheit wird im öffentlichen Dis- schaft (Zahlung/Nicht-Zahlung). So bewer- kurs meistens ausgeblendet (vgl. Retzer, tet das Wissenschaftssystem danach, ob et- MAG. CHRISTIAN 2012). Auf körperlicher Ebene gelten an- was wahr ist oder nicht, das Politiksystem ZNIVA ist Psychothe- dauernde Jugend, Schönheit, Leistungsfä- stellt die Frage, ob Macht vergrößert wer- rapeut (SF), Klinischer higkeit und Stärke als gesund und anstre- und Gesundheitspsy- den kann oder nicht und das System Wirt- benswert. Abgewertet werden das Alter, chologe, Supervisor schaft operiert im Medium des Geldes, das Lehrtherapeut mit Abweichungen vom Schönheitsideal und codiert ist in Zahlung oder Nicht-Zahlung. partieller Lehrbefug- Leistungseinbußen hinsichtlich der körper- Verschiedene soziale Systeme orientieren nis der ÖAGG-Fach- lichen Funktionalität. Der Tod, der im Prin- sich also an unterschiedlichen leitenden sektion Systemische zip die einzige Gewissheit darstellt, wird so Familientherapie, Differenzen. zum großen Tabuthema unserer Zeit. Die Systemische Praxis Nach Luhmann kann auch das Medizinsys- Linz und Institut für kollektive Ausblendung der letzten Le- tem als soziales System gedacht werden. Familien- und Jugend- bensphase führt gemeinsam mit der demo- Die Leitdifferenz des Medizinsystems ist die beratung der Stadt graphischen Entwicklung zu bedenkens- Linz S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 3 / 1 9 15
C H R I S T I A N Z N I V A werten Versorgungsengpässen, deren Konsequenzen Menschen, die von einer Erkrankung betroffen sind, noch nicht absehbar sind. weniger dominant ist als man sich es vielleicht erwar- Die starke Fokussierung auf körperliche und psychi- ten würde. Viel mehr Aufmerksamkeit bekommen spe- sche Ideale kann als Versuch verstanden werden, Iden- ziell in Zeiten schwerer Krankheit Aspekte des Wohl- tität zu generieren. In früheren Zeiten ermöglichten befindens, der Symptomkontrolle, der funktionellen stratifizierte Gesellschaftsordnungen und lebenslange Rehabilitation, der sozialen Teilhabe, der menschli- Aufenthaltsorte eindeutige Zugehörigkeiten zu Schich- chen Zuwendung und der Würde. Für Gesunde hinge- ten und Gruppierungen. So wurde Identität beispiels- gen markiert die Gesundheit den Idealzustand des weise über den Adel, das Bürgertum, die Bauernschaft Selbst und wird so zum Sehnsuchtsort schlechthin. oder den Geburtsort gestiftet. In einer globalisierten Welt kann Identität heute kaum mehr über diese sozi- GESUNDHEIT ALS PFLICHT alen Bezüge konstruiert werden. Zugehörigkeiten sind loser und wechseln im Laufe einer Lebensspanne häu- Im Sinne der Aufklärung befähigt Wissen, Menschen figer. Als Teilhaber an vielen sozialen Systemen sind mündig zu sein und Verantwortung für ihr Leben zu wir dadurch zwar mehrfach jedoch uneindeutiger ad- übernehmen. Die Lenkung des eigenen Lebens wird ressiert. nicht mehr von höheren Mächten erwartet, sondern Zusätzlich zu der Schwierigkeit der Beantwortung der liegt in der Hand eines jeden Einzelnen. So reizvoll Frage „Wer bin ich?“ besteht in der modernen Welt ein diese Idee des aufgeklärten Menschen ist, verbirgt sich Selbsterkennungsdruck im Sinne des Gebots „Erken- darin auch eine Gefahr. Wenn jeder seines eigenen ne, wer du bist!“. Speziell in wohlhabenden Gesell- Glückes Schmied ist, dann hat wohl auch jeder die Ver- antwortung, dieses Poten- tial zu nutzen und sich zu verwirklichen. Dies lässt Bei Umfragen nach bedeutsamen Werten wiederum den Individua- landet die Gesundheit zumeist auf den lisierungsdruck im Sinne eines „Sei du selbst!“ stei- oberen Rängen. Gesundheit wird angestrebt, gen. Krankheit wird gefürchtet. Zudem kann die Dieser Authentizitäts- zwang fordert das Indivi- starke Fokussierung auf körperliche und duum zu einer permanen- psychische Ideale als Versuch verstanden ten Produktion von kör- perlichen und psychi- werden, Identität zu generieren. schen Selbst-Idealen. Die Machbarkeit von Gesund- schaften, in denen die Grundbedürfnisse gestillt sind, heit wird zu einer gesellschaftlichen Leitidee. Gesunde stellen sich Individuen zunehmend dieser philosophi- Körper und Psychen können und müssen erschaffen schen Herausforderung. Der moderne Mensch ist da- werden. „Lebe gesund!“ wird zum gesellschaftlichen durch wohl mehr denn je auf der Suche nach dem Ich. Imperativ. Metaphorisch wird Gesundheit zum Pro- Begriffe wie Selbsterkenntnis, Selbstfindung, Selbst- dukt. Rohstoffe sind in diesem Bild der Körper und die wert, Selbstbewusstsein, Selbstverwirklichung, Selbst- Psyche. Als Arbeiter*in fungiert das Individuum, die bestimmtheit und Selbstwirksamkeit dominieren die Vorarbeiter*innen stellen die Gesundheitsexpert*in- gesellschaftliche Alltagssprache und werden von einer nen dar. Die Werkzeuge bestehen unter anderem aus Ich-Zentrierung begleitet. Bewegung, Ernährung, Nicht-Rauchen, Mentalem Die Suche nach dem Ich führt heute über den Ver- Training, Anti-Aging-Produkten, Impfungen und gleich mit den Anderen. Die Aufmerksamkeitsver- Skalpellen. Manuale finden sich im Gesundheitssys- schiebung von einem „Wer bin ich?“ hin zu einem „Wie tem, Erziehungssystem, Wirtschaftssystem, Politi- will ich gerne sein?“ ist somit vollzogen. Der Versuch schen System und im Wissenschaftssystem. Gesund- sich abzugrenzen, provoziert so paradoxerweise Kon- heitsfabriken sind zum Beispiel Fitnesszentren, Well- formität (vgl. Han, 2016). Körperliche und psychische nessressorts, Reformhäuser und Operationssäle. Das Gesundheitsideale fungieren in diesem Prozess als Be- Controlling erfolgt über Laborwerte, Waagen, Pulsuh- zugspunkte. Der Volksmund glaubt zu wissen, dass der ren, Blutdruckmessgeräte, Schrittzähler-Apps, Spiegel Gesunde tausende Wünsche hat, der Kranke nur einen und Selfies und vieles andere. Konkrete Beispiele für – wieder gesund zu werden. Es ist jedoch vielmehr zu den sich in unserer Gesellschaft entwickelnden Ge- beobachten, dass der Wunsch nach „Gesundheit“ bei sundheitsdruck sind Zigarettenpackungen mit ab- 16 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 3 / 1 9
schreckenden Warnfotos, Strafdrohungen für ein tiert sehen. So reicht es nicht mehr aus Gesundheit Nicht-Impfen, Ernährungsampeln und Versicherungs- wiederherzustellen, vielmehr soll zudem auch vorhan- boni für gesundes Verhalten. Die Idee der Machbarkeit dene Gesundheit bewahrt und gefördert werden. Auch von Gesundheit wird in den letzten Jahren auch in der das Psychotherapiegesetz weist im Rahmen der Be- systemischen Szene bedient. Im systemischen Ge- rufsumschreibung explizit auf die Aufgabe der Ge- sundheitscoaching werden Themen wie Sinnhaftig- sundheitsförderung hin (vgl. Rechtsinformation des keit, Achtsamkeit, Imaginationen und Lebensrhyth- Bundes, 2019). Zu einer näheren Analyse der Varian- men angesprochen, damit sich Klient*innen vollkom- ten, in denen die Förderung von Gesundheit im Kon- mener erfahren und die Fülle des Lebens annehmen text von Psychotherapie Thema wird, hilft eine Kate- können. Selbstregulations- und Selbstheilungskräfte gorisierung von Arnold Retzer. Er unterscheidet be- sollen aktiviert werden und zu einem vitaleren Le- züglich der Gesundheit vier Überzeugungsmuster (vgl. bensstil führen. Der innere Coach wird angesprochen Retzer, 2007, S. 117). Nach einer kurzen Darstellung und trainiert (vgl. Lauterbach, 2008). dieser Muster, sollen in der Folge Vorschläge für den Der Versuch, sich Körper und Psyche verfügbar zu ma- therapeutischen Umgang mit den jeweiligen Narrati- chen, ist der Gesundheit jedoch nicht immer zuträg- ven diskutiert werden. lich. Eine zu strikte Gesundheitsförderung birgt auch immer die Gefahr eines Resonanzverlustes (vgl. Rosa, „MEIN GESUNDHEITSZUSTAND IST EIN 2016). Rosa sieht die Subjekt-Objekt-Beziehung als ein PROBLEM, ABER ICH HABE EINFLUSS DARAUF“ schwingendes System. Resonanz bewirkt ein Klingen auf der Seite des Individuums und der Welt. Horizon- In Erzählungen von Klient*innen mit dem Überzeu- tale Resonanz meint die Beziehung zwischen Men- gungsmuster „Mein Gesundheitszustand ist ein Prob- schen, diagonale Resonanz die Beziehung zwischen lem, aber ich habe Einfluss darauf“ überwiegen Meta- Menschen und Dingen bzw. Tätigkeiten und vertikale phern des Einzelkämpfertums. Aspekte der Aktivität, Resonanz die Beziehung zwischen Menschen und der Leistung und Kontrolle bilden dominante Fokusse. In Natur, der Geschichte, der Kunst und der Religion. Die dieser Überzeugung soll und kann Gesundheit beein- Kompetenz Unverfügbarkeit zu ertragen, dient einem flusst werden. Die erlebte Einflussnahme auf Gesund- resonanten Verhältnis von Individuen zu Körper und heit wird als Triumph und Bestätigung erlebt. Häufig Psyche (vgl. Rosa, 2018). wollen diese Klient*innen Psychotherapie im Sinne Aus der Systemtheorie Luhmanns ist hinsichtlich Ge- der Selbstoptimierung nutzen. „Wie geht es mir? War- sundheit auch die Differenz Risiko/Gefahr interessant. um geht es mir heute nicht so gut? Was kann ich tun Von Gefahr spricht er, wenn ein potentieller Schaden damit es mir besser geht? Wer oder was kann mich da- als externe Verursachung beobachtet wird. Im Gegen- bei unterstützen?“ sind hier unter anderem offene satz dazu wird Risiko als Folge einer Entscheidung Fragen. konstruiert. Die zentrale Rolle nimmt wieder der Be- In der Anfangsphase bewährt sich in diesem Fall die obachter ein. Aus Luhmanns Sicht verwandelt die Idee therapeutische Würdigung des Einsatzes für die Ge- der Machbarkeit von Gesundheit demnach Gefahren sundheit. Dies kann beispielsweise über positive Kon- in Risken. Humoristisch formuliert er seine Sichtweise notationen gelingen. Auf eine zu enge Zieldefinition auf den modernen Menschen unter anderem folgen- und ein streng lösungsorientiertes Vorgehen verzichte dermaßen: „Man jagt sich Tag für Tag durch den Wald, ich zumeist, indem ich Klient*innen philosophische um gesund zu bleiben, und stürzt schließlich mit dem Gespräche mit offenem Ausgang anbiete. Mit dieser Flugzeug ab“ (Luhmann, 2003, S. 39). Einladung soll verhindert werden, dass Psychothera- pie zu einer Leistungsveranstaltung wird. Da es sich PSYCHOTHERAPEUTISCHE BEGEGNUNGEN auch häufig um Klient*innen handelt, die sehr schnell MIT DEM GESUNDHEITSIMPERATIV in ihrem Tun sind, kann die Idee der Entdeckung der Langsamkeit eine nützliche Unterschiedsbildung dar- Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich erscheinen, stellen. darüber nachzudenken, inwiefern die Erhaltung von Klient*innen werden in weiter Folge eingeladen, über Gesundheit im Kontext von Psychotherapie verhandelt den Preis ihres Engagements zu reflektieren. Ich er- wird. Der Einwand, dass es in einer Psychotherapie kundige mich nach den Auswirkungen der Gesund- doch viel mehr um Krankheiten, Symptome und Lei- heitsbemühungen auf die Klient*innen selbst und ihre den geht, ist berechtigt. Die zunehmende gesellschaft- Umwelten und schlage eine Kosten-Nutzen-Bilanz vor. liche Fokussierung auf die Gesundheitsfürsorge führt Entgegen dem Trend der Moderne sich selbst zu er- jedoch zu einer beträchtlichen Zuständigkeitserweite- kennen, ist es für diese Klient*innen oft hilfreich rung, mit der sich Psychotherapeut*innen konfron- wahrzunehmen, wer sie nicht sind (vgl. Retzer, 2012, S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 3 / 1 9 17
C H R I S T I A N Z N I V A S.294). Nützlich kann es auch sein, die Fokussierung In Rahmen des psychotherapeutischen Prozesses hin- auf das Selbst zu hinterfragen und interessante At- terfrage ich die Idee der Machbarkeit von Gesundheit. traktoren im Außen anzusprechen. Das was nicht zu beeinflussen ist, muss auch nicht Die Dekonstruktion des Helden- und Heldinnenmy- verantwortet werden. Dadurch kann es leichter fallen, thos soll in der Therapie einen Beitrag leisten, gelasse- sich im Sinne eines Befreiungsakts wieder mehr mit ner in gesundheitlichen Belangen zu agieren und so Themen abseits der Gesundheit zu beschäftigen. ein postheroisches Gesundheitsmanagement zu etab- Schuldgefühle ergeben sich bei diesen Klient*innen lieren. Sportbegeisterten Klient*innen erzähle ich ger- aufgrund ungeklärter Fragen. Psychotherapie kann in ne von der Dänemark-EM-Strategie: dem Zusammenhang helfen, Schuldfragen zu klären „Dänemarks Spieler der Fußballnationalmannschaft und sich der „Ver-antwort-ung“ zu stellen. Klient*in- befanden sich 1992 nach der verpassten Qualifikation nen können dann beispielsweise Verantwortung für ei- nen gewissen Lebenswandel (Er- nährung, keine Bewegung) über- Die Dekonstruktion des Helden- und nehmen, aber die Verantwortung für die Entstehung einer Erkran- Heldinnenmythos soll in der Therapie kung ablehnen. Zudem kann es einen Beitrag leisten, gelassener in Sinn machen, darauf hinzuweisen, dass das Ertragen von schlechtem gesundheitlichen Belangen zu agieren Gewissen erlernbar ist, sofern man sich nicht laufend bemüht, es zu und so ein postheroisches Gesundheits- verhindern. Therapeutische Ange- management zu etablieren. bote können auch in Ritualen zur Vergebung bestehen. Manchmal für die Europameisterschaft in Schweden bereits im mache ich jedoch die Erfahrung, dass der Anspruch Urlaub. Nachdem das qualifizierte jugoslawische Team auf Vergebung zum Problem in der Therapie wird. Hier aufgrund des Bürgerkriegs keine Nationalmannschaft empfiehlt sich aus meiner Erfahrung die Frage, ob ein entsenden konnte, rutschte Dänemark als nicht-quali- gutes Leben zwingend Vergebung braucht. fiziertes Team nach. Die Dänen brachen ihre Urlaubs- reisen ab und fuhren unvorbereitet und ohne Trai- „MEIN GESUNDHEITSZUSTAND IST ningsplan nach Schweden. Unter dem Motto: „Alles KEIN PROBLEM“ kann, nichts muss. Lasst uns dieses Turnier einfach genießen!“ starteten die Dänen in die Europameister- Um das Überzeugungsmuster „Mein Gesundheitszu- schaft. Der Rest ging in die Geschichtsbücher ein. Dä- stand ist kein Problem“ ranken sich Lebensgeschich- nemark gewann das Turnier und wurde erstmals Fuß- ten, die von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbe- balleuropameister.“ wusstsein handeln. Hinsichtlich dem vorherrschen- den Gesundheitsideal zeigt sich ein inkorrektes Ver- „MEIN GESUNDHEITSZUSTAND IST halten. Der Gesundheitszustand wird fatalistisch ak- EIN PROBLEM, ABER ICH HABE KEINEN zeptiert. Diese Klient*innen kommen selten auf eigene EINFLUSS DARAUF“ Initiative in Psychotherapie. Beiträge zur Gesundheits- fürsorge werden oft vom Umfeld eingefordert. Als Bei- Das Überzeugungsmuster „Mein Gesundheitszustand spiele seien hier Menschen mit zugeschriebenen ist ein Problem, aber ich habe keinen Einfluss darauf“ Suchtproblemen (Alkohol, Nikotin, Drogen) oder star- wird begleitet von Lebenserzählungen, in denen Auf- kem Übergewicht (Ernährungsgewohnheiten, wenig opferung, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Schuldge- Bewegung) genannt. fühle eine bedeutende Rolle spielen. Auch hier besteht Besonders wichtig erweist sich in diesen Therapien die Idee, dass die Gesundheit prinzipiell beeinflusst die ausführliche Klärung von Zuweisungskontext und werden kann und soll. Zugleich gibt es aber eine erleb- Auftrag. Die Neutralität speziell hinsichtlich der je- te Nicht-Einflussnahme auf die Gesundheit, die als weiligen Verhaltensweisen, die von medizinischen persönliches Scheitern gewertet wird. Solche Kli- Empfehlungen abweichen, ist im Rahmen der psycho- ent*innen erleben eine schwere Erkrankung als Versa- therapeutischen Begegnung geboten. Eine damit ver- gen und beschäftigen sich oft nach der Genesung im bundene Zurückhaltung in der Übernahme der An- Rahmen einer Psychotherapie, wie sie gesund bleiben waltschaft für die Gesundheit erscheint mir hier als und eine Wiedererkrankung verhindern können. Sie die zentrale therapeutische Herausforderung. Ebenso wollen alles „richtig“ machen und Fehler vermeiden. bewährt sich die Beleuchtung der Funktionalität des 18 S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 3 / 1 9
Gesundheitsverhaltens und die Anregung eines Dis- Kontext sein. Ich wünsche der systemischen Therapie kurses über Risken und Chancen von Stabilität und der Zukunft den Mut, dem verlockenden Ruf nach Ge- Veränderung. sundheitsexpertise nicht zu folgen und dieses Feld an- deren Berufsgruppen zu überlassen. Vielmehr fordern „MEIN GESUNDHEITSZUSTAND IST gerade die beschriebenen gesellschaftlichen Entwick- K/EIN PROBLEM, ABER ICH WEISS NICHT lungen von uns traditionell systemische Antworten OB ZU RECHT“ wie Nicht-Wissen, Skepsis, Neutralität, Erwartungs- enttäuschung und Respektlosigkeit. Diese können Das vierte Überzeugungsmuster „Meine Gesundheit ist zwar berufspolitisch riskant, therapeutisch hingegen k/ein Problem, aber ich weiß nicht ob zu Recht“ kann hochwirksam sein. bei Klient*innen beobachtet werden, die Ungewissheit in ihrem Leben schwer ertragen. Die Angst im Lebens- kontext wird zu einer Angst um den Körper, der oft LITERATUR sehr sensibel wahrgenommen wird. In der intensiven Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt. Suche nach der Ursache von körperlichen Beschwer- Baraldi, C., Corsi, G. & Esposito, E. (1997). GLU. Glossar zu Niklas den drückt sich das Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Luhmann. Theorie sozialer Systeme. Frankfurt: Suhrkamp. Sicherheit aus. Die Verantwortung für die Klärung der Csíkszentmihályi, M. (2018). Flow. Das Geheimnis des Glücks. Unsicherheit wird an den Gesundheitsexperten, zu- Stuttgart: Klett-Cotta. meist einer Ärzt*in, ausgelagert. Die konstruierte Fuchs, T. (2015). „Körper haben oder Leib sein“. Gesprächspsycho- therapie und Personenzentrierte Beratung (03/15). S. 147–153. Pflicht der Klient*innen besteht in der wiederholten Gadamer, H.-G. (1993). Über die Verborgenheit von Gesundheit. Konsultation von Expert*innen. Dieses Muster ist klas- Frankfurt: Suhrkamp. sisch bei Störungsbildern aus dem somatoformen oder Lauterbach, M. (2008). Einführung in das systemische Gesund- psychosomatischen Formenkreis. heitscoaching. Heidelberg: Carl-Auer. Im Rahmen einer Psychotherapie ist hier die Abwen- Hafen, M. (2014). Mythologie der Gesundheit. Zur Integration von dung von offenen Fragen rund um Körper und Psyche Salutogenese und Pathogenese. Heidelberg: Carl-Auer Systeme. Han, B.-C. (2016). Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, und die Hinwendung zur Welt die zentrale Unter- Kommunikation und Wahrnehmung heute. Frankfurt: S. Fischer. schiedsbildung. Auch Thomas Fuchs bezieht sich in Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt: Suhrkamp seiner Körpertheorie auf den Aspekt der Aufmerksam- Taschenbuch Wissenschaft. keitslenkung. Der Leib ist das stillschweigende Medi- Luhmann, N. (2003). Soziologie des Risikos. Berlin: De Gruyter. um unserer Beziehung zur Welt und ermöglicht, ohne Rechtsinformation des Bundes (2019, 13. August). Psychotherapie- gesetz. https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfra- dass wir ihn beachten, den Lebensvollzug. Der Körper ge=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010620. kommt erst durch eine Abweichung vom Erwarteten Retzer, A. (2007). Passagen. Systemische Erkundungen. Stuttgart: als „Körper“ in den Fokus und wird dadurch Beobach- Klett-Cotta. tungsgegenstand. Für Fuchs lautet das Motto speziell Retzer, A. (2012). Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen posi- im Feld der Psychosomatik „Vom Körper haben, zum tives Denken. Stuttgart: S. Fischer. Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Leib sein“. Die Kunst der leiblichen Lebensführung Berlin: Suhrkamp. sieht er in einer achtsamen Hinwendung zur Welt. Rosa, H. (2018). Unverfügbarkeit. Wien: Residenz. (vgl. Fuchs, 2015). Bezüglich dem „Entwe- Simon, F. B. (2001). Die andere Seite der Gesundheit. Heidelberg: der-Oder-Muster“ („Bin ich gesund oder krank?“) kann Carl-Auer. die Entwicklung eines „Sowohl Als Auchs“ nützlich WHO (2019, 14. August). Constitution Of The World Health sein. Diese Idee kann zum Beispiel über das Krank- Organization. https://www.who.int/governance/eb/who_consti- tution_en.pdf . heits-Gesundheits-Kontinuum (vgl. Antonovsky, 1997) Wikipedia (2019, 23. Juli). Gesundheit. https://de.wikipedia.org/ oder über die Tetralemma-Methode (vgl. Simon, 2001) wiki/Gesundheit . eingeführt werden. Angepasst auf Klient*innen, äuße- re ich in dem Zusammenhang auch hin und wieder meine Skepsis gegenüber dem Credo des österreichi- schen Wissenschaftskabaretts Science Busters „Wer nichts weiß, muss alles glauben!“. Fruchtbare Diskus- sionen werden in Therapien häufig durch die Umkeh- rung des Satzes in Form von „Wer nichts glaubt, muss alles wissen!“ angestoßen. Die Erhaltung von Gesundheit, wird vermutlich auch in den nächsten Jahrzehnten ein wiederkehrendes An- liegen von Klient*innen im psychotherapeutischen S Y S T E M I S C H E N O T I Z E N 0 3 / 1 9 19
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