Unsere Klasse (Eine Erzählung) Beata Ela Goworek, August 2008
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Unsere Klasse (Eine Erzählung) Beata Ela Goworek, August 2008 T heater, das ist Magie. An einer Aufführung teilzunehmen erlaubt uns, für die Zeit ihrer Dauer der Realität – den Sorgen und Nöten oftmals – zu entiehen und in eine andere Zeit und Welt zu tauchen. Sitzt man in den vorderen Reihen, hört man die Schauspieler atmen, man erlebt ihre Emotio- nen so hautnah, dass sie zu den eigenen werden. Und spätestens dann, wenn der Blick eines der Akteure den Zuschauenden trifft, als wäre er der einzige Mensch unterhalb der Bühne, als spräche er nur zu ihm, spätestens dann vergisst er die Welt außerhalb des Gebäudes und fängt zu träumen an. Theater verzaubert. Am vorletzten Abend meines Heimatbesuchs lud ich meine Freundin in das Stefan-Jaracz-Theater1 ein. Das Theatergebäude mit seinen von links und rechts zum Haupteingang hoch führenden Treppen und der architektonisch ansprechenden Vorder- front mit fünf hohen Türen, steht – für ein Theater ungewöhnlich – etwas zurückgenommen von der Erste-Mai-Straße da, vom alten Baumbestand geschützt, unaufdringlich in seinem Grau und vom Tumult des Stadtzen- trums zurückgezogen. Eben dem will man in seinen Räumen entiehen. Ein glücklicher Zufall wollte, dass gerade an diesem Abend eine Vor- stellung lief, die so sehr nach meinem Geschmack war: Es lebe der Ball! Maryla Rodowicz, eine der bekanntesten polnischen Sängerinnen, machte das gleichnamige Lied mit dem Walzerrhythmus so bekannt, dass – als die Vorstellung begann und die Melodie ertönte – ein jeder gutgelaunt mitsummte und sich vermutlich am liebsten dazu tanzend um sich herum gedreht hätte: Niech żyje bal, bo to życie to bal jest nad bale! (Es lebe der Ball, denn das Leben ist der Ball über alle Bälle!) . Und die Sinne tanzten… Die Schauspieler, die auch wunderbare Sänger und Tänzer waren, bo- ten einen Querschnitt über die bekanntesten musikalischen Stücke des 20. Jahrhunderts. Den Schwerpunkt bildeten die zwanziger Jahre, Tangos und Charleston mit der Atmosphäre verrauchter Bars, dann die Nachkriegszeit, Twist und Rock‘n Roll, eine Reihe Lieder aus der PRL-Ära, die ich als Pfad- nderin und im Schulchor der siebziger Jahre gelernt habe und den Text 1 Das 1925 von Deutschen errichtete Allensteiner Theater war ein Geschenk für die deutsche Bevöl- kerung aus Dankbarkeit für die gewonnene Volkszählung. Bis 1945 hieß es Treudanktheater, nach Kriegsende wurde es in Stefan-Jaracz-Theater umbenannt, nach dem gleichnamigen, 1945 verstor- benen Theater- und Filmschauspieler und Gründer des Ateneum-Theaters in Warschau.
heute noch teilweise auswendig kann, schließlich die Musik der Achtziger, der Solidarność-Epoche, Lieder voller Optimismus und Selbstbewusstsein, eine Art „Sich - dem - Schicksal - fügen - und - dennoch - glücklich - sein“, denn in der Luft lag bereits der Duft wahrer Freiheit. 1989 wurde sie mit der Grenzöffnung schließlich erreicht. Die Freiheit. Was brachte sie? Nach dem bunten Durcheinander, dem Schunkeln und Mitsingen, der lockeren Atmosphäre auf der Bühne, folgte plötzlich eine absolute Stille, die den Atem anhalten ließ, als wäre die Zeit eingefroren worden. Der Raum wurde bis zur Schwärze verdunkelt, nur ein Punkt auf den Brettern wurde – die Dunkelheit schneidend – angestrahlt, zu dem jetzt ein älterer, in einen schwarzen Anzug gekleidete Mann mit einem weißen Schal um den Hals die kleine Seitentreppe der Bühne hochstieg und sich auf eben diesen er- hellten Lichteck stellte. Nichts außer dem Knirschen seiner Schritte auf dem alten Bühnenholz war hörbar. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck und dem Blick in die Ferne gerichtet ng der Mann ohne Begleitung von Instrumenten zu singen an: Was ist mit unserer Klasse geschehen? Fragt Adam in Tel-Aviv, es ist schwer diesen Zeiten gerecht zu werden, generell ehrlich zu leben. Was ist mit unserer Klasse geschehen? Wojtek aus Schweden, aus dem Pornoklub schreibt: Dafür, was ich eh gerne tue, zahlen sie hier gut.2 Ein Schauer nach dem anderen durchzog meinen Körper, mein Atem stockte und glühendheiße Tränen ossen meine Wangen herunter. Ich war zutiefst ergriffen, so sehr, dass es mich regelrecht schüttelte. Unse- re Klasse…, ich sah sie alle vor mir, die Schüler; in Gedanken sah ich das alte Schwarzweißfoto, für das wir zu zwei Reihen geordnet hinter dem Schulgebäude aufgestellt wurden, Kinder in dunklen Schulunifor- men mit weißen Kragen, die Mädchen kniend vorne, die Jungen hinter uns, die Lehrerin in der Mitte dahinter mit ausgebreiteten Armen, wie die Flügel des beschützenden Erzengels Gabriel; ihre Hände auf den Schultern von Hubert und Bruno. Wir lächeln mit unseren Zahnlücken zu neunzehnt in die Kamera. Eine davon, die mit den damals leinenfar- benen, zum Pagenschnitt geformten Haaren und einem sorglosen Grin- sen saß jetzt, sechsunddreißig Jahre später, neben mir, ernst und nicht ahnend, was in mir vorging, obwohl unsere Arme aneinander gelehnt waren. „Unsere Klasse“, dachte ich, „wie viel zwei simple Worte doch beinhal- ten können?“. Das Possessivpronomen unsere macht mich auch nach fast vier Jahrzehnten zum Teil einer Gemeinschaft, die sich heute immer noch so nah ist wie damals, als wir Kinder waren. Und das, obwohl ich doch die meiste Zeit davon mehr als tausend Kilometer von dem Dorf, der Klasse 2 Der im Original polnischer Text des Liedes „Nasza klasa“ (Unsere Klasse), komponiert 1991 von Jacek Kaczmarski, wurde von der Verfasserin dieser Erzählung ins Deutsche übersetzt.
entfernt gelebt hatte. Es ist immer noch mein Dorf, es ist unsere Schule, die von Zosia, Marzena, Maria, Hubert, Stasiek, Gerard, Bruno3 …, es ist unsere Lehrerin. Ich war mir in diesem Moment sicherer denn je, dass diese Art von Zusammengehörigkeit ausschließlich in der Kindheit entstehen kann. Mit keiner anderen Klasse habe ich später ein „unsere“ so empfunden. Ich ahnte, was der Komponist dieses Stücks fühlte, als er es schrieb. Der Mann sang an dem verregneten Aprilabend, reglos auf der Bühne stehend, weiter: Piotr und Kaśka sind in Kanada, denn dort gibt es Perspektiven, Staszek lebt jetzt in den Staaten, Paweł hat sich an Paris gewöhnt, Gośka und Przemek schaffen‘s kaum - im Mai kommt schon das dritte Balg, Vergeblich klagen sie bei Ämtern, sie möchten auch ins Abendland. Marzenka gebar fünf Kinder noch lange bevor sie dreißig wurde. Sie lebte in solch einer Armut, dass sie sie nicht ernähren konnte und man ihr deshalb die Kinder vorübergehend weg nahm und in ein Heim einwies. Vielleicht vertrank ihr Mann das ganze Geld, vielleicht sie selbst, vielleicht trägt sie ein schweres Schicksal auf ihren so hageren Schultern. Wer weiß das schon. Die Kinder durften dann doch wieder heim, doch bezweie ich, dass ihr Lächeln jemals so unbeschwert ist, wie dies ihrer zierlichen, blondgelockten Mutter auf dem Klassenfoto. Dareks Vater, der nicht wirklich sein Vater war, trank entsetzlich. Er trank und rauchte. Eines Abends schlief er angetrunken mit brennender Zigaret- te ein und Augenblicke später brannten das Bett und er helllichterloh. Sein Leben wurde gerettet, doch es war nie wieder wie vorher; überall wurde er angestarrt, denn ihm fehlte ein Ohr und eine Gesichtshälfte war von Nar- ben entstellt. Jeden Tag nahm ich ein Butterbrot mehr mit zur Schule, um es Darek zu geben, denn es hieß, er sei ein armes Kind. Wir mochten uns. Auch noch nach dreißig Jahren, als wir uns wieder sahen. Lange sah er sich schwei- gend das von mir aufgehängte Klassenfoto an der Wand an, als ob es aus einem anderen Leben stammte, doch die Nostalgie hielt nicht mehr als ei- nen Moment lang an. Dareks Lächeln war das gleiche, wenn auch sonst kaum noch etwas an den dunkelhaarigen, immer fröhlichen Jungen erinnerte. Gerade verhei- ratet zog er mit seiner kleinen Familie weit weg von dem Ort, wo er auf- gewachsen war. Er nahm sein Leben in die Hand und schaffte es, den Gespenstern seiner Kindheit zu entkommen, indem er sich auch jeglicher Sentimentalität entledigte. Nun atmet er als beharrlicher Geschäftsmann die salzige Luft der polnischen Ostsee. Doch manchmal, gestand er, zieht es ihn doch heim… 3 Es handelt sich um erfundene Namen.
Im Lied hieß es weiter: Dafür ist Magda jetzt in Madrid und heiratet einen Spanier, Maciek verlor sein Leben im Dezember, als sie durch die Häuser gingen. Janusz, der stets Neid erzeugt, weil ihn jede Welle trägt ist Chirurg - heilt die Menschen, doch sein Bruder hatte sich erhängt. Als die Ausreisewelle nach Deutschland Anfang der Siebziger ausbrach, weil die Geschäfte immer leerer und das Leben immer mühseliger wurde, verließen bald auch Freunde nach und nach unser Dorf; Marias Familie gehörte zu den Ersten. Etwa zwei Jahre lang hatte sie mit ihren Eltern und dem viel jüngeren Bruder in einer winzigen Dachgeschosswohnung auf einem benachbarten Hof gewohnt, so dass wir uns angefreundet hatten. Maria war ziemlich dick, schüchtern und kränklich. Als wir etwa acht Jah- re alt waren, bekam sie an ihren Beinen entsetzliche, geschwürartige Pu- steln. Es sah abscheulich aus, dennoch besuchte ich sie und schon einige Tage darauf bekam ich selbst welche. Ich litt unsäglich, war untröstlich und ekelte mich sehr. Hinzu kam, dass die Behandlung dieser Pusteln Peni- zillinspritzen erforderte, und Injektionen riefen zu dieser Zeit eine regel- rechte Hysterie bei mir hervor. Ein doppeltes Trauma also. Marias kleiner Bruder Benno war damals höchstens drei und völlig naiv. Oft stand er am Zaun zwischen den Gütern, steckte seinen kleinen Kopf zwi- schen die Staketen und schaute neugierig auf unseren Hof. Einmal tat ich etwas, das ich später nie vergessen konnte und was mich bis heute über mich selbst entsetzen lässt – ich spuckte ihn an! Ich galt als ein freundli- ches, artiges, fröhliches und allgemein beliebtes Kind. Was mich zu dieser boshaften Tat veranlasste, weiß ich nicht. Doch jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere, schäme ich mich dafür. Ich sah Maria nach ihrer Ausreise nie wieder, Mitte der achtziger Jahre hörte ich nur, sie habe einen Türken geheiratet und lebte nun in einem türkischen Dorf in ärmlichsten, spartanischen Verhältnissen. Dort sollte sie ihren Sohn zur Welt bringen, damit er ein richtiger Türke werde. Zoa war ziemlich klein, hatte honigfarbenes Haar, hellblaue Augen und eine Menge Sommersprossen waren auf ihrem Gesicht verstreut. Sie starb schon mit einundzwanzig. Ein schrecklicher Unfall. Ein Feuer. Sie und ich saßen in der Schule einige Jahre in der gleichen Bank und waren eng befreundet. Auch unsere Eltern, obwohl Zosia – so nannten wir sie alle – mit ihren Eltern in einem benachbarten, etwa zwei Kilometer entfernten Dorf wohnten. Wir waren vielleicht im vierten Schuljahr, als sie mir – an einem hellen Wintertag auf dem Weg zu ihren Großeltern – diese unglaub- liche Geschichte erzählte: Jeder Hund, den sie jemals fotograerte, kam auf irgendeine Art um. Auch der letzte, ein Boxer, und sie zeigte mir ein Schwarzweißfoto von ihm. Zosia glaubte tatsächlich, dass da ein Zusam- menhang zwischen Fotograeren und Sterben ihrer Hunde bestand, ob- wohl sie eine sehr religiöse Person war. Wir erzählten uns alles, und damit
niemand außer uns gewisse Dinge erfuhr, erfand ich ein Alphabet, um mit ihr verschlüsselt kommunizieren zu können. Wir schrieben uns Zettel im Unterricht in unserer Geheimschrift – kleine Heimlichkeiten über Jungs, welcher uns geel oder wen wir gerade nicht mochten. Auch die Einträge in mein Tagebuch schrieb ich einige Monate lang in dieser Schrift. Später, nach Jahren, konnte ich sie selbst nicht mehr lesen, da ich das Alphabet vergessen hatte. In einem strengen und schneereichen Winter hatte Zosia ein Kitz gestrei- chelt, das ihr auf dem durch verschneite Felder führenden Nachhauseweg entgegen kam. Damals wussten wir noch nicht, dass an Tollwut erkrankte Tiere zahm werden, ihren natürlichen Instinkten nicht mehr gehorchen und vor Menschen nicht scheuen. Sie musste eine Reihe besonders schmerz- hafter Spritzen bekommen, die ihr in den Unterbauch injiziert wurden. Eini- ge Wochen lang konnte sie deshalb nicht zur Schule kommen. Später zeig- te sie uns allen in der Klasse stolz die Einstiche an ihrem Bauch. Nachdem ich die Schule verlassen hatte und nach Deutschland gegangen war, brach unser Kontakt ab. Sie heiratete, doch ihr Eheglück hielt nur ein halbes Jahr lang. Dann brannte es. Hubert ertrank. So ein absurder Tot – er war angetrunken und sprang an einem heißen Sommertag kopfüber in den Baggersee, hieß es. Sein erst siebenundzwanzig Jahre altes, jedoch schwaches Herz war es, das das nicht vertrug. Hubert war immer zu Scherzen aufgelegt; das hatte er wohl von seinem Vater, denn sowohl seine wie auch die tiefbraunen, lachenden Augen seines Vaters blitzten immer spitzbübisch. Einmal, während des Unterrichts mit unserem Schuldirektor – es war vermutlich Russisch –, ertönte draußen ein ohrenbetäubendes Dröhnen eines Flugzeugs unmittelbar über der Schule. Hubert sagte laut ohne nur einen Augenblick zu überlegen: „Der Krieg kommt“, und die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Hubert war irgendwie immer da, doch nur diese Episode blieb mir von ihm im Gedächtnis. Dies und dass er als einziger in der Klasse den Dialekt der Bauern sprach, die abseits des Dorfes zurückgezo- gen gelebt hatten. Ganz allein musste Hubert etwa drei Kilometer quer durch Felder und Wald zur Schule zurücklegen, bei Wind, Re- gen und Schnee, und das schon mit sieben. Wie viele deutschstäm- mige Familien emigrierte auch seine Ende der siebziger Jahre nach Deutschland. Eine eigene Familie zu gründen – dafür reichte ihm nicht die Zeit. Und der Mann sang: Ich fand die ganze Klasse wieder, verbannt, im Land, im Grab doch etwas ist jetzt anders: jeder schrappt am eigenen Schicksal Die ganze Klasse fand ich wieder – ausgewachsen, ausgereift Ich kratzte unsere Jugend auf, und es schmerzte nicht einmal.
Stasiek ist das jüngste Kind eines aus wer weiß woher zugezogenen Bau- ern, der Anfang der sechziger Jahre einen kleinen Hof im Dorf übernahm und mit dem die ansässigen Dorfbewohner recht wenig Kontakt pegten, wie auch mit den übrigen Fremden. Sein Schopf war rotblond, seine Gesichts- züge etwas russisch, und das Lernen el ihm nicht leicht. Als die meisten Schüler im zweiten Schuljahr die heilige Kommunion empfangen haben, ge- hörte Stasiu – so sein Kosename – nicht dazu, da er die dafür notwendige Prüfung, die aus dem Auswendigkönnen aller Gebete des Katechismus be- stand, nicht bewerkstelligt hatte. Im Jahr darauf legte sein Vater auf die Vor- bereitung besonderen Wert und ließ den Jungen um die Scheune mit dem Katechismus in den Händen laufen, die Gebete so lange wiederholend, bis er sie schließlich konnte. Bei einer dieser Lehrstunden war mein Vater dabei, der sich bis heute daran mit einem Lächeln erinnert. An einem meiner Dorfgänge, als der bleierne Aprilhimmel für einen Nachmit- tag aufriss und endlich auf den Frühling hoffen ließ, traf ich Stasiu wieder. Nach Vaters Tod übernahm er den Hof, müht sich tagein, tagaus darauf ab, und zieht eine Schar seiner rotblonden Kinder groß. Das Schicksal traf ihn hart, denn eines verlor er; mit schmerzerfüllten Stimme sprach er davon. Vol- ler Stolz aber stellte er mir seinen hoch gewachsenen Sohn vor – die näch- ste Generation. Doch wurde ich das Gefühl nicht los, als würde die Familie immer noch nicht vorbehaltlos zur Dorfgemeinschaft dazugehören. Eiskalter Wind blies uns ins Gesicht, als wir nach der Vorstellung – un- tergehakt, mit aufgestellten Kragen und dem schneidenden Wind die Stirn bietend – im trüben Licht der Laternen die Erster-Mai-Straße Richtung Stadtmitte gingen. Der Asphalt glänzte noch vom Regen und obwohl es April war, roch die Luft nach Schnee. In meinen Händen pochte es noch immer von dem minutenlangen Klat- schen, nachdem das Lied aufhört hatte. Der bis zum letzten Sitzplatz aus- gefüllte Saal blieb eine ganze Weile in der Stille wie erstarrt, als die Stim- me des Sängers verstummte, als müssten alle erst in die Gegenwart, die reelle Zeit zurückkehren. Dann brach es aus dem Publikum heraus – all die Emotionen: die Sehnsucht nach dem Vergangenen, der einzigartigen Sorglosigkeit, die nur Kindern eigen ist, die Trauer über den Verlust der Ju- gend, lieber Menschen vielleicht, die Dankbarkeit für eine Zeit, in der man sich der Träume und Fantasien noch nicht schämte, die Erinnerung daran, wie sich unerschütterliche und bedingungslose Freundschaft anfühlt. Nostalgie, Glück und Schmerz verwandelten sich in jubelnden Applaus. Ich wusste, meine Freundin dachte nicht über dieses Lied nach; Emo- tionen dieser Art lässt sie nicht an sich heran. Zu mühsam ist der Alltag für sie, für Poesie oder Romantik ist da kein Raum, zumal sie allein durchs Le- ben geht und jeder Schritt nach vorne von dem entgegenwehenden Strom wuchtiger Schicksalsschläge erschwert wird.
Nicht mehr Jungen, sondern Männer. Frauen, nicht mehr Mädchen Schnell vernarbt die Jugend sich, niemand ist dafür verantwortlich Alle tilgen ihre Schulden, alle folgen ihrem Ziel, alle sind gewiss normal, doch das ist nicht viel. Immer wieder sah ich mir – nach Hause zurückgekehrt – das alte Klas- senfoto an. Dann rahmte ich es und hängte so auf, dass mich die vertrau- ten Gesichter täglich an die Vollkommenheit der Kindheit erinnern. Was bewirkte die wahre Freiheit, die Öffnung der Grenzen in Richtung Westen vor knapp zwanzig Jahren? Nur wenige blieben vom Fernweh verschont und fristen heute meist ein unbefriedigendes Dasein. Viele ogen wie frei- gelassene Vögel in weite Länder und glaubten, nur fern ihrer Heimat ihr Glück nden zu können, mussten jedoch bald feststellen, dass Heimat durch nichts zu ersetzen ist. Jetzt sehnen sie sich nach ihr. Auch ich. Über viele Jahre ließ mich eine unerklärliche Last auf meiner Brust nicht frei durchatmen, mein Geist war wie gefesselt, bis ich schließlich einen Ort zum Leben fand mit unverbautem, freien Blick auf einen unendlichen Him- mel, wie einst… In der Welt verstreut leben wir wie vom Wind gesäte Samen; nicht alle hatten das Glück, Wurzeln schlagen zu können und zu wachsen, und wie verschieden doch die Früchte sind… Und nur einige gewannen die Er- kenntnis, dass es Wertvolleres gibt als Wohlstand und Ansehen, die wahre Freundschaft nämlich. Wir lassen eigene Triebe, eigene Blätter keimen, jedermann allein gewiss auch Wurzeln – in Verbannung, im Vaterland, im Grab seitwärts, hoch zur Sonne, ins Verderben, nach rechts, nach links, herab Wer denkt da noch daran - es ist schließlich ein und derselbe Baum … Mehr als ein halbes Jahr nach dem Abend im Allensteiner Theater klin- gelte mein Handy und Gerard sagte seinen Namen am anderen Ende, etwa 1100 Kilometer von mir entfernt. Ich bin nicht sicher, wie oft ich ihn in den letzten dreißig Jahren sah, nachdem ich mein Heimatdorf verlassen hatte. Mehr als zehnmal ist es nicht gewesen, und auch da sprachen wir jeweils nur kurz miteinander, wenn ich durchs Dorf kreuz und quer wan- delte, um in jeder Ecke wieder mal gewesen zu sein. Gerard ist einer der wenigen, die noch im gleichen Haus wohnen wie damals, als Kind. Er hei- ratete nicht. Die vielen Jahre veränderten unser Äußeres, bei jedem unse- rer Treffen sind unsere Gesichter vom Leben gezeichneter, unsere Haare silbriger durchzogen, doch am Telefon sprach ich ihn mit Gierus an, so, als wäre er immer noch sieben. Und nichts war selbstverständlicher als dies. Nur ein Wort von ihm reichte aus, um ihn an der Stimme zu erkennen, und schon im nächsten Augenblick war ich von einer wärmenden Vertrautheit umgeben. Wir sprachen miteinander, als lägen keine Tausend Kilometer zwischen uns, und auch keine drei Jahrzehnte. Nichts trennte uns. ♦
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