Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte - Karlheinz Freynik, Karl Maslo Leseprobe aus
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Leseprobe aus: Karlheinz Freynik, Karl Maslo Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Inhalt Leben ohne Einladung 11 Purzin 21 Back in the wild, wild West 30 Ein bisschen Vater 34 Wiesbaden 37 Intermezzo: Zu Besuch in Altenessen 41 Delkenheim 43 Aull an der Lahn oder Am Arsch der Welt 58 Berlin 79 Jede schöne Ku’damm-Fassade hat auch ein Hinten 86 Einmal Schweiz – nicht nur für Reiche 96 Schweiz – 2 .Teil 104 Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl 110 Zwischenzeit 119 «Wie es euch gefällt» 124 Das Jahr der Ratte 140 Alles Theater 151 Das unermesslich Traurige an der Provinz 175 Sylvester Stallone hat auch mit Sexfilmen angefangen 181 Global Player 188 Szene ist überall, wo ich bin 192 Süchtig will gelernt sein 202 DU BIST NICHT ALLEIN … 215 Back in Berlin: Ein Termin mit Lady Heroin 228 Die T-Frage: Therapie oder tot? 239 Wenn das Rote Kreuz keine Blutspende von einem will … 250 Ab in die Wüste! 256 Die Revolution fand in Stockholm statt 265 Shakespeare auf Butterfahrt 276 Die Heimkehr des verlorenen Sohns 290 Ab ins Kloster 293 Die Kapitulation 302 Epilog 309
Statt eines Personenregisters 313 Danksagungen 316 Quellen 317
Niemand lebt für sich allein, zumindest nicht bei uns im engen Mitteleuropa. Jeder Mensch wähnt sich im unübersichtlichen Ameisenhaufen der Gesellschaft als eine ganz besondere Ameise im Zusammenspiel mit unendlich vielen anderen besonderen Ameisen, deren Leben er begleitet, kreuzt, beeinflusst oder in ei- ner anderen Weise tangiert. Die in diesem Buch auftauchenden Mitbürger sind, soweit möglich, um ihr Einverständnis gebeten worden. Wo das nicht möglich war, haben wir die Personen an- onymisiert bzw. ihre footprints als Zeitdokument konserviert wie die in Zement gegossenen Namen auf dem Walk of Fame. In keinem Fall wollten die Autoren im Text genannte Personen diffamieren. Sie versichern vielmehr, dass alle Schilderungen aus Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert wurden. Zum Schutz sensibler Wegbegleiter haben wir dennoch eine fiktionale Ebene eingezogen, die auch jenen ungetrübte Le- sefreude bereiten soll, die ihre Schleifspuren, die sie im geschil- derten Leben hinterlassen haben, lieber für sich behalten.
« Sie nannten mich Heinemann, weil ich nicht Heini sein wollte – wie mein Vater. Wenn man nicht aus dem Ghetto kam, konnte man damals als Heinemann sogar Bundespräsident werden.»
Leben ohne Einladung Was soll man von einem Vater denken, der, wenn Gäste da sind, ein altes Gurkenglas vom Schrank holt und als Kontrapunkt zur Einladung den sauer eingelegten Bandwurm vorführt, der ihm irgendwann aus dem Darm gekrochen kam? Damit wir uns richtig verstehen: Mein Vater war ein Held! Gut, er hat nicht sehr viel dafür getan. Hat immer ein bisschen gefremdelt. Nicht so wie andere Väter, die alles daransetzen, ihre Söhne zu ihrem Ebenbild zu formen – doch das hätte ich sowieso nicht gewollt. Jeder Bierkrug hat einen Henkel, aber wie fasst man ein Neu- geborenes an, ohne dass es Schaden nimmt? Es hatte etwas un- beholfen Rührendes, wenn er mich zum Menschen bestimmten Frischling an sich presste und mit seinen Fünf-Tage-Bartstop- peln mein zartes Gesicht perforierte. Angesichts solcher Früherfahrungen hätte ich als ersten Be- rufswunsch später eigentlich «Fakir» angeben müssen. Trotzdem war mein Vater ein Held. Er hat sich Mamas Kopf mit Nadeln in den Arm malen lassen, weil er sie so lieb hatte. Als Nixe, da- mit sie nicht ertrinkt, wenn er mit ihr baden geht. Und er hatte immer Durst. Was der trinken konnte! Mama sagte immer, alle in der Zeche müssten das machen, wegen des Kohlenstaubs un- ter Tage. «Aus den Jungen wird ma wat, Gerdi», sagte er damals zu mei- ner Mutter, «sobald der weiß, wofür saine Beine da sind, nehm ich ihn mit zum Schrottsammeln!» Vielleicht tue ich ihm unrecht. Jedenfalls sagte er mal im Suff: «Wenn ich dich in ’nen Backofen gespritzt hätte, wär aus dir ’n schöner Stutenteig geworden!», was man auch dahingehend deuten kann, dass ihm ein Mädchen lieber gewesen wäre. 11
Meine Mutter hat sich zu alldem nicht geäußert. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Sie war mit dem Überleben und der Wäsche beschäftigt. Und sie hat viel geweint. Bei uns war immer die Bude voll. Unsere Nachbarn mochten Heini. Wenn einer ein Problem hatte, riefen sie ihn, und er ist sofort los. «Wenn er sich mal so um mich kümmern würde», stöhnte Mama dann. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, sie und ihre Essener Co- Leidensfrauen haben kein Mitleid verdient, und sie hätten es auch zurückgewiesen. Sie waren gleichermaßen verantwortlich und nicht verantwortlich für ihr beschissenes Schicksal. Sie hatten keinen Mut, sich scheiden zu lassen. Also passten sie sich an, bissen die Zähne zusammen und teilten ihren Frust in der Ge- meinschaftswaschküche der Siedlung. Dort wurde über die Män- ner geschimpft, dort wurde über sie geweint. Und meine Mutter immer mittendrin. Nicht mal fremdgegangen ist sie. Wir waren meines Wissens nicht sehr religiös, aber man weiß ja nie … «Der liebe Gott sieht alles.» Schäm dich, Heinemann! Was redest du für despektierlichen Mist, als ob du die ganze Abteilung nicht schon mit deinem The- rapeuten abgearbeitet hättest? Man liebt seine Familie! Darf ich fragen, warum? Weil die Maslos ein exemplarisches Stück Essener Urschlamm waren! Rau, herzlich, mit unkaputtbaren Überlebensgenen aus- gestattet, trinkfest, verlässlich, immer gut drauf und hilfsbereit. Ideale Nachbarn also. Wer in eine solche Kleinbürgeridylle hineingeboren wird, der beschwert sich nicht. Er lernt schnell und wird auf seine sozialen Traumziele vorbereitet: Bergmann, Schrott- oder Autohändler, Frühalkoholiker oder Kleinkrimineller. Zukunft ist kein Nachbar, der in der Hömannstraße wohnt. Zukunft beschäftigt andere. Hier zählt das Jetzt. Hier zählt Familie. Die einzige verlässliche Größe war die Hömannstraße 9 – 15 , und wehe dem, der es sich mit einem der Bewohner verscherzte. Den traf die ganze Macht des machtlosen Clans. Wunschkind? War ich ein Wunschkind? Keine Ahnung. Nicht ausgeschlossen, dass ich das Produkt einer ausgelassenen Wo- chenendfete war oder eines glücklichen Kantersiegs von Schalke. Vernünftig war es jedenfalls nicht, denn Deutschland lag noch in Trümmern, Gerda und Oma mussten für zwanzig Pfennig Plock- 12
wurst anstehen, was uns erwartete, war ungewiss, die Zukunft lag im Nebel, doch die wohnte – wie oben erwähnt – ja sowieso nicht hier. Aber hätte man für ein Kuckucksei so viele Umstände ge- macht? Allein Heinis grässliche Weihnachtsgesänge! Da war weniger Musikalität als Leidenschaft im Spiel. Und wenn Mama dazu ihr Anneliese-Rothenberger-Lächeln aufsetzte und dem Karpfen in der Nirosta-Spüle langsam die Luft wegblieb, badete der kleine Heinemann glückselig in dieser vollendeten Familienharmonie. «Wat’n süßes Frätzcken, der kleine Kerl», freute sich Oma, «aber Pipi macht er wie ’n Großer.» Darauf sagte Mama: «Das hat er von sain Papa.» Wenn Gerda träumte, dann war sie oft Zarah Leander und sang deren Lieder. «Wenn ich mir was wünschen dürfte». Also doch ein Wunschkind! Mein Geburtsjahr, 1951 , war das Jahr der Musik von Nat King Cole, Doris Day, Mario Lanza und Duke Ellington. In Essen hörte man das eher nicht. In den Plattenschränken in unserer Sied- lung standen überall dieselben Killersounds. Als ich geboren wurde, hörte die Hömannstraße dies: Lonny Kellner und RenÉ Carol Im Hafen von Adano Renée Franke und Heinz Erhardt Baby, es regnet doch Fred Rauch Der Herr Skilehrer Rita Paul Bobby backt einen Kuchen Renée Franke Winke, winke Heinz Erhardt Bobby Schick hat ’nen Tick Willy Schneider Wenn das Wasser im Rhein gold’ner Wein wär Nicht zu vergessen Dorle Rath mit «Barbara, Barbara, komm mit mir nach Afrika». Die ungekrönten Abräumer im Pott waren natürlich Friedel Hensch und die Cyprys. Sie trafen den Nerv der 13
Gegend mit kostbarsten Miniaturen der Liedkunst wie «Holdrio, liebes Echo», «Opapa», «Kinder ist das Leben schön» und später mit der zeitlosen Hymne folkloristischen Liedguts «Der Mond von Wanne-Eickel». Jeder hat die Stars, die er verdient. Schlager sind die Placebos des kleinen Mannes. Sie spenden Trost durch Vernebelung und versprechen Besserung für chro- nische Beschwerden, die das richtige Leben selten heilen kann. Wieso besteht für die Droge Schlager eigentlich noch keine Bei- packzettelpflicht? Wenn es eine Trostmedizin ohne Nebenwir- kungen und Rezept gibt, ist es die Relativität der Wahrheit! Jeder webt sie sich so, wie er sie braucht. Ich meine jetzt die berühmte Streitfrage: halb leer oder halb voll? Natürlich war die Hömannstr. 51 nicht gerade ein Start- platz in der ersten Reihe, andererseits kann so ein Pflaster auch ein Sprungbrett sein, eine Einladung zum Aussteigen, denn jede Ortsveränderung von dort ist ein Aufstieg. So oder so. Vielleicht sind meine Eltern deswegen achtzehnmal um- gezogen. Immer auf der Suche nach neuen Chancen, immer auch in dem erfolglosen Versuch, die schlechten Erinnerungen zurückzulassen. Die Hömannstraße war vielleicht nicht Versailles. Der Nabel der Welt war sie allemal. Vorn an der Straße ein langer, dreistöckiger Wohnriegel mit einem Außenklo pro Etage, Modell Zechensied- lung. Mit dem Schrottplatz gegenüber die perfekte Prekariats- romantik. Dahinter eine Reihe aneinandergelehnter Schuppen, in denen die Versorgungseinheiten untergebracht waren: Ge- meinschaftswaschküche, Werkstätten, Kartoffel-, Kohlen- und Getränkekiepen. Oben auf dem Dach, an der höchsten Stelle, die Taubenschläge. Dazwischen lag das Himmelreich. Der Hof war Marktplatz, gute Stube und Gemeinschaftsraum. Hier trafen sich die Frauen am Waschtag, tratschten über ihre kaputten Ehen und verziehen ihren Männern, wenn sie hörten, dass die Nachbarin noch viel mieser dran war als sie selbst. Es herrschte so etwas wie eine unausgesprochene Anwesenheits- pflicht. Wer nicht erschien, fing sich schnell die Unterstellung ein, auf den Briefträger oder den Scherenschleifer zu warten. Für uns Kinder war der Hof Leben an sich. Wir fühlten uns 14
wie die Brieftauben, um die man sich allerdings mehr Sorgen machte als um uns, wenn sie an einem Flugtag mal nicht recht- zeitig landeten. Dafür wurden sie schwer gefeiert, wenn sie ir- gendwann doch zurück nach Hause gefunden hatten. Auch im Gegensatz zu uns: Wenn wir zu spät kamen, gab’s was hinter die Löffel. Gelobt wurden wir bloß dann, wenn die Männer uns zum Kiosk schickten, um Bier zu holen und Overstolz. Nur zum Kondome kaufen haben sie uns nicht geschickt. Und weil sie zu faul waren, selbst loszugehen, gab’s eben keine. Außer wenn in der Drogerie eine neue junge Verkäuferin angefangen hatte. Dann liefen sie wegen der dummen Sprüche hin. «Willsu uns dat nich ma vorführ’n?» Alles heiße Luft und kalter Kaffee … Ich will das fairerweise auch nicht so hochkochen. Mein Va- ter Karl-Heinz, oder vielmehr Heini, war damals Mitte zwanzig, Gerda, seine Frau und meine Mama, zwei Jahre jünger. Als ich geboren wurde, war der Krieg sechs Jahre vorbei. Alle waren sehr auf Normalität bedacht. Das ganze Elend um uns herum, die Trümmer, Wiederaufbau – alles normal. Die Erwachsenen palaverten unentwegt. Beim Kartenspielen im Hof, in der Knei- pe. Meistens ging es um Schalke und Rot-Weiss Essen, manch- mal um Entscheidungen der Gewerkschaft oder Ankündigungen Die Hömannstraßen-Gang: Toxi, Fredy, Gusti und Heinemann
der Zechenleitung. Alles normal. Konnte man eh nix machen. Heini war übrigens nie unter Tage, auch wenn seine Frau das heute gerne behauptet. Die Verwandtschaftsverhältnisse schlummerten irgendwo in einem diffusen Nebel. Dass meine Mutter einen Bruder hatte, der im Krieg gefallen war, sollte ich erst mit vierzig erfahren. Ich fühlte mich als Kind zweier unreifer Kinder, die ihr Leben noch gar nicht kannten und die Welt wie eine Bildergeschichte von Wilhelm Busch betrachteten. Der einzige Voll-Mensch, der mit allem ausgestattet war, was ein Kind so respektiert, war Emma. Sie war meine Oma, Heinis Mutter. Sie rackerte für die Junggesellen in der Siedlung, wusch und bügelte ihre Klamotten und lief kilometerweit, wenn es bei Woolworth etwas billiger gab als im Laden um die Ecke. Sie war der Kummerkasten ihrer drei Kinder, die inzwischen alle ver- heiratet waren. Wenn jemand in Geldnot war, schenkte sie ihr Erspartes her und lief selbst auf schiefen Absätzen. Von Oma Emma und ihrer besten Freundin Tante Reni guckte ich mir das Talent ab, andere Leute zu parodieren. Wie schafften es die beiden, von ein paar Glas Wasser super lustig zu werden?, fragte ich mich mehr als einmal. Das Wasser war natürlich Kla- rer. Wenn die beiden beim Nachmittagsklön zwei Flaschen Korn drin hatten, konnten sie alle Nachbarn perfekt imitieren und ich kugelte mich vor Lachen am Boden. Ich lernte also früh, Menschen zu beobachten. Ihre Körper- haltung, auch ihre Macken konnte ich bald mühelos nachma- chen. Später in der Schule sollte ich mehr als einmal eine aufs Maul bekommen, weil meine Parodien von den Mitschülern ein- fach zu gut waren. Erste Erfahrungen zum Thema «Einsamkeit des Künstlers». Nicht wer schön ist, muss leiden, sondern wer Talent hat. Randy Newman brachte es später auf den Punkt mit «Oh, it’s lonely at the top». Von meiner Tante Emmi, nicht zu verwechseln mit Oma Emma, lernte ich, mir beim Scheißen im Busch nicht die Sandalen zu versauen. Seit Tante Emmi zu mir gesagt hatte, ich solle auf dem Außenklo aufpassen, dass ich nicht von einer Schlange in den Arsch gebissen werde, erschien mir das Gebüsch sicherer. Lustig fanden wir Kinder vor allem, wenn die Zuchttauben 16
Luzi, Fränzcken und Lili vom Dach auf die frisch aufgehängte Wäsche machten oder Frau Asches Hund in den Hof schiss. «Scheiße am Schuh bringt Glück», trösteten unsere Mütter uns, wenn wieder mal einer mitten in die Wonne getreten war. Daraufhin steppten wir Kinder ausdauernd in den Haufen. Was tut man nicht alles für ein bißchen Glück … Die Beschäftigung mit Fäkalien hatte einen festen Platz in un- serem Alltag. Bei uns wurde wenig Substanzielles geredet, dafür umso mehr gefurzt. Dafür brauchten wir keinen Anlass und auch keinen besonderen Speiseplan. Es war ein natürliches Lebenszei- chen: Ich furze, also bin ich! Wir betrieben es mit entwaffnendem Selbstverständnis. Wenn meine Familie religiös gewesen wäre, hätte sie selbst in der Kir- che geknallt. Meine erste bewusste Begegnung mit meinem Opa hatte ich mit vier oder fünf. Gerda fuhr mit mir zu ihrem Vater nach Bredeney, was das vornehmere Essen war, mit den Krupps und anderen Größen, ohne Schilder an der Klingel. Höchstens Initialen. Gerda fand ja immer, dort gehöre sie hin, weil sie was Besseres sei. Ihr Geburtsname war Gerda von Siegmund, vermutlich in direkter Linie eine Nachfahrin der Nibelungen. Verarmter Adel. Ritterge- schlecht. Jedenfalls blaues Blut. Später musste ich jedes Mal an sie denken, wenn ich in einer Bar eine Flasche Blue Curaçao sah. Immerhin war ihr Standesdünkel das Trittbrett in eine Phan- tasiewelt, aus der sie bis heute nicht mehr ausgestiegen ist. «Eine ganz andere Welt», seufzte sie, wenn sie sich daran er- innerte. Auch Bredeney war für sie eine andere Welt. Warum sie sich ausgerechnet für die meines Vaters entschieden hat, ist bis heute unklar. Wenn ich sie danach fragte, beließ sie es bei: «Weil er so witzig war.» Gerda hatte ihren Karl-Heinz im Circus kennengelernt. Auch das war eine ganz andere Welt, wie sie betonte. Heini arbeitete damals als Pferdepfleger und Bereiter. Übrigens, so wie Bredeney war alles außerhalb von Essen für meine Mutter eine ganz andere Welt. Gerda lebt bis heute in vielen unterschiedlichen Welten, und ich hoffe, dass sie sich dar aus ein Förmchen Glück hat backen können. Als ich sie damals fragte, welche Welt denn wohl für mich zuständig sei, antwortete sie: «Immer die, in der dein Bettchen steht.» 17
Jetzt waren wir also in Opas Welt, und der kam mit einer Flasche Wodka und zwei Schnapsgläsern ins Wohnzimmer und sagte: «Wenn aus unserem kleinen Heinemann mal ein großer Heinemann werden soll, muss er lernen, dass man im Leben was vertragen muss. Hau weg, mein Junge, das erste Glas ist das schlimmste.» Mir blieb die Luft weg, und ich hustete mir die Lunge fransig. Opa goss mir gleich noch einen Wodka ein. «Auf einem Bein kann keiner nicht steh’n.» Meine Mutter beschloss, sich später nicht mehr an diesen Nachmittag zu erinnern. Alkohol war ein mächtiger Kommunikator! Was Plato und Aristoteles in der Antike waren, das war für die Bewohner unse- rer Siedlung die Dortmunder Actien-Brauerei. Die andere kultu- relle Säule – oder wie Opa sagen würde, «das zweite Bein» – des Ruhrgebiets ist der Fußball. Eine Allianz, die so verlässlich ist wie Ebbe und Flut. In Essen sind damals alle Jungs mit Helmut Rahn zur Schule ge- gangen. So auch Heini. Der Rechtsaußen von Rot-Weiss hat nicht Gerda und Heinemann besuchen Opa in Bredeney
nur Deutschland in Bern zum Weltmeisterschaft geschossen, er hat auch den Pott zum Rodeo Drive des Proletariats gemacht. Zwischen Schalke und Dortmund zählte weniger, was einer sag- te, sondern vielmehr, was er in den Füßen hatte. Hochgerechnet waren knapp zwanzigtausend Essener Väter mit «dem Boss» in einer Klasse. Heute gibt es so große Klassen nicht mehr. Mein Vater hat nie Fußball gespielt. Wenn ich dreckig nach Hause kam und Mama mir mit dem Waschlappen übers Gesicht fuhr, rieb ich mich an Papas speckiger Schlosserhose, bis ich wieder so dreckig war, wie er. Er strich mir dann über die Locken und lachte. Heini hatte einen Tempo-Dreiradwagen, doch keinen Führer- schein. Damit fuhr er morgens weg und kam abends ziemlich dreckig wieder. Ich glaube, er sammelte Schrott, kann aber auch sein, dass er für die Zeche fuhr. Jemand hat mal gesagt, Heini mache «in Obst und Gemüse», aber damit war wohl et- was gemeint, das weder mit Birnen noch mit Salat zu tun hat. Irgendwann kaufte er sich dann einen Matador. Und einen Füh- rerschein gleich dazu. Damit war er ein Geschäftsmann ohne Geschäft. Obwohl er, wie gesagt, nie unter Tage gearbeitet hat, sah er oft aus wie die Bergleute, die in der Siedlung wohnten. Auch wenn die Männer sich extensiv duschten, nach einer ge- wissen Zeit ließ sich der Ruß nicht mehr ausschwemmen. Sie sahen aus wie sizilianische Mafiosi, die ihre Schmauchspuren im Gesicht wie Ehrenzeichen tragen. Find ich auch viel besser als Kerben im Revolvergriff, muss ich ganz ehrlich sagen. Schmutz war irgendwie männlich. Ich war gern dreckig. Dann fühlte ich mich größer, und es war die wirkungsvollste Art, nicht mit einem Mädchen verwechselt zu werden. Was war das Drachenblut, das Siegfried unverwundbar ge- macht hat, anderes als Dreck? Er hat sich nach dem Bad im Blut schließlich nie mehr gewaschen. Nur genützt hat ihm das letztlich auch nichts … Mein Lebenspraktikum, mein außerschulisches Lernrefugium war unser Hof. Hier brachte mir Heini das Zocken bei. Wir Kin- der wurden nicht nur geliebt, wir wurden auch gebraucht. Als Alkohol- und Nikotinbeschaffer waren wir täglich unterwegs, 19
auch wenn wir lieber Fußball gespielt hätten. Das war aber nur möglich, wenn keine Wäsche im Hof hing. Da quasi jeden Tag Waschtag war, hing auch jeden Tag Wäsche auf der Leine – außer sonntags. Doch da hatten wir unser gutes weißes Nyltest- Hemd an, und in dem durften wir nicht Fußball spielen. Dafür lernte ich früh, den Pferdewagen zu lenken. Mit acht konnte ich alleine Auto fahren. Und ich entdeckte die Kunst von Lügen und Verdrängung. Eines Tages fuhren meine Mutter und ich mit der Bahn in den Knast, um meinen Vater zu besuchen. Ich weiß heute nicht mehr, warum er saß, sicherlich eine Bagatelle. Gerda flüsterte mir zu, ich müsse mich jünger machen, damit ich zum Babytarif und damit kostenlos Bahn fahren konnte. «Babytarif», wenn ich das schon hörte! Wie jeder Junge war ich froh, dass ich fünf geworden war, obwohl sich die ersten vier Jahre dahinhinge- schleppt hatten wie ein ganzes Schneckenleben. Und nach so viel Stress sollte ich verleugnen, worauf ich so stolz war? Da kam der Schaffner. «Wie alt ist denn das Kind?» Ich beeilte mich, die Pflichtlüge gewissenhaft hinter mich zu bringen: «Ich bin vier … Aber wenn du gleich weg bist, bin ich wieder fünf!» Langweilig war unser Leben nicht. Wer bekam damals schon einfach so ein Fahrrad geschenkt? Die Jungs aus der Nachbar- schaft kriegten auch alle eins. Keiner hatte Geburtstag, Weih- nachten war auch nicht. Wie Beutestücke luden unsere Väter die Räder von Heinis Matador. Unter großem Bohei brachten sie uns im Hof das Radfahren bei. Ich war stolz wie Oskar, weil ich der Erste war, der ohne Stützräder fahren konnte. Langweilig war es wirklich nie, jedenfalls nicht für mich. Manchmal durfte ich bei Tante Inge schlafen. In ihrem Bett. Tante Inge war sechzehn. Erst seifte sie mich in einer alten Zinkwanne fast rituell ab, dann ging es zu ihr unter die Decke, wo ich mit ihren Nippeln Hupe spielen durfte. Sie hat derweil meinen Pil- lermann zwischen ihren Finger gerieben.
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