Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte - Karlheinz Freynik, Karl Maslo Leseprobe aus

 
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Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte - Karlheinz Freynik, Karl Maslo Leseprobe aus
Leseprobe aus:

            Karlheinz Freynik, Karl Maslo

Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte

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               Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Inhalt

Leben ohne Einladung 11
Purzin 21
Back in the wild, wild West 30
Ein bisschen Vater 34
Wiesbaden 37
Intermezzo: Zu Besuch in Altenessen 41
Delkenheim 43
Aull an der Lahn oder Am Arsch der Welt 58
Berlin 79
Jede schöne Ku’damm-Fassade hat auch ein Hinten 86
Einmal Schweiz – nicht nur für Reiche 96
Schweiz – 2 .Teil 104
Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl 110
Zwischenzeit 119
«Wie es euch gefällt» 124
Das Jahr der Ratte 140
Alles Theater 151
Das unermesslich Traurige an der Provinz 175
Sylvester Stallone hat auch mit Sexfilmen angefangen 181
Global Player 188
Szene ist überall, wo ich bin 192
Süchtig will gelernt sein 202
DU BIST NICHT ALLEIN … 215
Back in Berlin: Ein Termin mit Lady Heroin 228
Die T-Frage: Therapie oder tot? 239
Wenn das Rote Kreuz keine Blutspende von einem will … 250
Ab in die Wüste! 256
Die Revolution fand in Stockholm statt 265
Shakespeare auf Butterfahrt 276
Die Heimkehr des verlorenen Sohns 290
Ab ins Kloster 293
Die Kapitulation 302
Epilog 309
Statt eines Personenregisters 313
Danksagungen 316
Quellen 317
Niemand lebt für sich allein, zumindest nicht bei uns im engen
Mitteleuropa. Jeder Mensch wähnt sich im unübersichtlichen
Ameisenhaufen der Gesellschaft als eine ganz besondere Ameise
im Zusammenspiel mit unendlich vielen anderen besonderen
Ameisen, deren Leben er begleitet, kreuzt, beeinflusst oder in ei-
ner anderen Weise tangiert. Die in diesem Buch auftauchenden
Mitbürger sind, soweit möglich, um ihr Einverständnis gebeten
worden. Wo das nicht möglich war, haben wir die Personen an-
onymisiert bzw. ihre footprints als Zeitdokument konserviert
wie die in Zement gegossenen Namen auf dem Walk of Fame.
In keinem Fall wollten die Autoren im Text genannte Personen
diffamieren. Sie versichern vielmehr, dass alle Schilderungen
aus Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert
wurden. Zum Schutz sensibler Wegbegleiter haben wir dennoch
eine fiktionale Ebene eingezogen, die auch jenen ungetrübte Le-
sefreude bereiten soll, die ihre Schleifspuren, die sie im geschil-
derten Leben hinterlassen haben, lieber für sich behalten.
« Sie nannten mich Heinemann, weil ich nicht Heini
sein wollte – wie mein Vater. Wenn man nicht aus dem
Ghetto kam, konnte man damals als Heinemann sogar
Bundespräsident werden.»
Leben
         ohne
      Einladung

Was soll man von einem Vater denken, der, wenn Gäste da sind,
ein altes Gurkenglas vom Schrank holt und als Kontrapunkt zur
Einladung den sauer eingelegten Bandwurm vorführt, der ihm
irgendwann aus dem Darm gekrochen kam?
   Damit wir uns richtig verstehen: Mein Vater war ein Held!
Gut, er hat nicht sehr viel dafür getan. Hat immer ein bisschen
gefremdelt. Nicht so wie andere Väter, die alles daransetzen, ihre
Söhne zu ihrem Ebenbild zu formen – doch das hätte ich sowieso
nicht gewollt.
   Jeder Bierkrug hat einen Henkel, aber wie fasst man ein Neu-
geborenes an, ohne dass es Schaden nimmt? Es hatte etwas un-
beholfen Rührendes, wenn er mich zum Menschen bestimmten
Frischling an sich presste und mit seinen Fünf-Tage-Bartstop-
peln mein zartes Gesicht perforierte.
   Angesichts solcher Früherfahrungen hätte ich als ersten Be-
rufswunsch später eigentlich «Fakir» angeben müssen. Trotzdem
war mein Vater ein Held. Er hat sich Mamas Kopf mit Nadeln
in den Arm malen lassen, weil er sie so lieb hatte. Als Nixe, da-
mit sie nicht ertrinkt, wenn er mit ihr baden geht. Und er hatte
immer Durst. Was der trinken konnte! Mama sagte immer, alle
in der Zeche müssten das machen, wegen des Kohlenstaubs un-
ter Tage.
   «Aus den Jungen wird ma wat, Gerdi», sagte er damals zu mei-
ner Mutter, «sobald der weiß, wofür saine Beine da sind, nehm
ich ihn mit zum Schrottsammeln!» Vielleicht tue ich ihm unrecht.
Jedenfalls sagte er mal im Suff: «Wenn ich dich in ’nen Backofen
gespritzt hätte, wär aus dir ’n schöner Stutenteig geworden!»,
was man auch dahingehend deuten kann, dass ihm ein Mädchen
lieber gewesen wäre.

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Meine Mutter hat sich zu alldem nicht geäußert. Jedenfalls
nicht in meiner Gegenwart. Sie war mit dem Überleben und der
Wäsche beschäftigt. Und sie hat viel geweint. Bei uns war immer
die Bude voll. Unsere Nachbarn mochten Heini. Wenn einer ein
Problem hatte, riefen sie ihn, und er ist sofort los. «Wenn er sich
mal so um mich kümmern würde», stöhnte Mama dann.
   Aus heutiger Sicht würde ich sagen, sie und ihre Essener Co-
Leidensfrauen haben kein Mitleid verdient, und sie hätten es auch
zurückgewiesen. Sie waren gleichermaßen verantwortlich und
nicht verantwortlich für ihr beschissenes Schicksal. Sie hatten
keinen Mut, sich scheiden zu lassen. Also passten sie sich an,
bissen die Zähne zusammen und teilten ihren Frust in der Ge-
meinschaftswaschküche der Siedlung. Dort wurde über die Män-
ner geschimpft, dort wurde über sie geweint. Und meine Mutter
immer mittendrin. Nicht mal fremdgegangen ist sie. Wir waren
meines Wissens nicht sehr religiös, aber man weiß ja nie … «Der
liebe Gott sieht alles.»
   Schäm dich, Heinemann! Was redest du für despektierlichen
Mist, als ob du die ganze Abteilung nicht schon mit deinem The-
rapeuten abgearbeitet hättest? Man liebt seine Familie!
   Darf ich fragen, warum?
   Weil die Maslos ein exemplarisches Stück Essener Urschlamm
waren! Rau, herzlich, mit unkaputtbaren Überlebensgenen aus-
gestattet, trinkfest, verlässlich, immer gut drauf und hilfsbereit.
Ideale Nachbarn also.
   Wer in eine solche Kleinbürgeridylle hineingeboren wird, der
beschwert sich nicht. Er lernt schnell und wird auf seine sozialen
Traumziele vorbereitet: Bergmann, Schrott- oder Autohändler,
Frühalkoholiker oder Kleinkrimineller. Zukunft ist kein Nachbar,
der in der Hömannstraße wohnt. Zukunft beschäftigt andere.
Hier zählt das Jetzt. Hier zählt Familie.
   Die einzige verlässliche Größe war die Hömannstraße 9 – 15 ,
und wehe dem, der es sich mit einem der Bewohner verscherzte.
Den traf die ganze Macht des machtlosen Clans.
   Wunschkind? War ich ein Wunschkind? Keine Ahnung. Nicht
ausgeschlossen, dass ich das Produkt einer ausgelassenen Wo-
chenendfete war oder eines glücklichen Kantersiegs von Schalke.
Vernünftig war es jedenfalls nicht, denn Deutschland lag noch in
Trümmern, Gerda und Oma mussten für zwanzig Pfennig Plock-

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wurst anstehen, was uns erwartete, war ungewiss, die Zukunft
lag im Nebel, doch die wohnte – wie oben erwähnt – ja sowieso
nicht hier.
   Aber hätte man für ein Kuckucksei so viele Umstände ge-
macht?
   Allein Heinis grässliche Weihnachtsgesänge! Da war weniger
Musikalität als Leidenschaft im Spiel. Und wenn Mama dazu ihr
Anneliese-Rothenberger-Lächeln aufsetzte und dem Karpfen in
der Nirosta-Spüle langsam die Luft wegblieb, badete der kleine
Heinemann glückselig in dieser vollendeten Familienharmonie.
   «Wat’n süßes Frätzcken, der kleine Kerl», freute sich Oma,
«aber Pipi macht er wie ’n Großer.»
   Darauf sagte Mama: «Das hat er von sain Papa.»
   Wenn Gerda träumte, dann war sie oft Zarah Leander und sang
deren Lieder. «Wenn ich mir was wünschen dürfte». Also doch
ein Wunschkind!

Mein Geburtsjahr, 1951 , war das Jahr der Musik von Nat King
Cole, Doris Day, Mario Lanza und Duke Ellington. In Essen hörte
man das eher nicht. In den Plattenschränken in unserer Sied-
lung standen überall dieselben Killersounds. Als ich geboren
wurde, hörte die Hömannstraße dies:

           Lonny Kellner und
                  RenÉ Carol         Im Hafen von Adano
            Renée Franke und
               Heinz Erhardt         Baby, es regnet doch
                  Fred Rauch         Der Herr Skilehrer
                    Rita Paul        Bobby backt einen Kuchen
                Renée Franke         Winke, winke
               Heinz Erhardt         Bobby Schick hat ’nen Tick
             Willy Schneider         Wenn das Wasser im Rhein
                                     gold’ner Wein wär

Nicht zu vergessen Dorle Rath mit «Barbara, Barbara, komm
mit mir nach Afrika». Die ungekrönten Abräumer im Pott waren
natürlich Friedel Hensch und die Cyprys. Sie trafen den Nerv der

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Gegend mit kostbarsten Miniaturen der Liedkunst wie «Holdrio,
liebes Echo», «Opapa», «Kinder ist das Leben schön» und später
mit der zeitlosen Hymne folkloristischen Liedguts «Der Mond
von Wanne-Eickel».
   Jeder hat die Stars, die er verdient.
   Schlager sind die Placebos des kleinen Mannes. Sie spenden
Trost durch Vernebelung und versprechen Besserung für chro-
nische Beschwerden, die das richtige Leben selten heilen kann.
Wieso besteht für die Droge Schlager eigentlich noch keine Bei-
packzettelpflicht? Wenn es eine Trostmedizin ohne Nebenwir-
kungen und Rezept gibt, ist es die Relativität der Wahrheit! Jeder
webt sie sich so, wie er sie braucht.
   Ich meine jetzt die berühmte Streitfrage: halb leer oder halb
voll? Natürlich war die Hömannstr. 51 nicht gerade ein Start-
platz in der ersten Reihe, andererseits kann so ein Pflaster
auch ein Sprungbrett sein, eine Einladung zum Aussteigen,
denn jede Ortsveränderung von dort ist ein Aufstieg. So oder
so. Vielleicht sind meine Eltern deswegen achtzehnmal um-
gezogen. Immer auf der Suche nach neuen Chancen, immer
auch in dem erfolglosen Versuch, die schlechten Erinnerungen
zurückzulassen.

Die Hömannstraße war vielleicht nicht Versailles. Der Nabel der
Welt war sie allemal. Vorn an der Straße ein langer, dreistöckiger
Wohnriegel mit einem Außenklo pro Etage, Modell Zechensied-
lung. Mit dem Schrottplatz gegenüber die perfekte Prekariats-
romantik. Dahinter eine Reihe aneinandergelehnter Schuppen,
in denen die Versorgungseinheiten untergebracht waren: Ge-
meinschaftswaschküche, Werkstätten, Kartoffel-, Kohlen- und
Getränkekiepen. Oben auf dem Dach, an der höchsten Stelle, die
Taubenschläge. Dazwischen lag das Himmelreich.
   Der Hof war Marktplatz, gute Stube und Gemeinschaftsraum.
Hier trafen sich die Frauen am Waschtag, tratschten über ihre
kaputten Ehen und verziehen ihren Männern, wenn sie hörten,
dass die Nachbarin noch viel mieser dran war als sie selbst. Es
herrschte so etwas wie eine unausgesprochene Anwesenheits-
pflicht. Wer nicht erschien, fing sich schnell die Unterstellung
ein, auf den Briefträger oder den Scherenschleifer zu warten.
   Für uns Kinder war der Hof Leben an sich. Wir fühlten uns

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wie die Brieftauben, um die man sich allerdings mehr Sorgen
machte als um uns, wenn sie an einem Flugtag mal nicht recht-
zeitig landeten. Dafür wurden sie schwer gefeiert, wenn sie ir-
gendwann doch zurück nach Hause gefunden hatten. Auch im
Gegensatz zu uns: Wenn wir zu spät kamen, gab’s was hinter
die Löffel. Gelobt wurden wir bloß dann, wenn die Männer uns
zum Kiosk schickten, um Bier zu holen und Overstolz. Nur zum
Kondome kaufen haben sie uns nicht geschickt. Und weil sie zu
faul waren, selbst loszugehen, gab’s eben keine. Außer wenn
in der Drogerie eine neue junge Verkäuferin angefangen hatte.
Dann liefen sie wegen der dummen Sprüche hin. «Willsu uns dat
nich ma vorführ’n?»
   Alles heiße Luft und kalter Kaffee …
   Ich will das fairerweise auch nicht so hochkochen. Mein Va-
ter Karl-Heinz, oder vielmehr Heini, war damals Mitte zwanzig,
Gerda, seine Frau und meine Mama, zwei Jahre jünger. Als ich
geboren wurde, war der Krieg sechs Jahre vorbei. Alle waren
sehr auf Normalität bedacht. Das ganze Elend um uns herum,
die Trümmer, Wiederaufbau – alles normal. Die Erwachsenen
palaverten unentwegt. Beim Kartenspielen im Hof, in der Knei-
pe. Meistens ging es um Schalke und Rot-Weiss Essen, manch-
mal um Entscheidungen der Gewerkschaft oder Ankündigungen

              Die Hömannstraßen-Gang: Toxi, Fredy,
                     Gusti und Heinemann
der Zechenleitung. Alles normal. Konnte man eh nix machen.
Heini war übrigens nie unter Tage, auch wenn seine Frau das
heute gerne behauptet.
   Die Verwandtschaftsverhältnisse schlummerten irgendwo in
einem diffusen Nebel. Dass meine Mutter einen Bruder hatte,
der im Krieg gefallen war, sollte ich erst mit vierzig erfahren. Ich
fühlte mich als Kind zweier unreifer Kinder, die ihr Leben noch
gar nicht kannten und die Welt wie eine Bildergeschichte von
Wilhelm Busch betrachteten.
   Der einzige Voll-Mensch, der mit allem ausgestattet war, was
ein Kind so respektiert, war Emma. Sie war meine Oma, Heinis
Mutter. Sie rackerte für die Junggesellen in der Siedlung, wusch
und bügelte ihre Klamotten und lief kilometerweit, wenn es bei
Woolworth etwas billiger gab als im Laden um die Ecke. Sie war
der Kummerkasten ihrer drei Kinder, die inzwischen alle ver-
heiratet waren. Wenn jemand in Geldnot war, schenkte sie ihr
Erspartes her und lief selbst auf schiefen Absätzen.
   Von Oma Emma und ihrer besten Freundin Tante Reni guckte
ich mir das Talent ab, andere Leute zu parodieren. Wie schafften
es die beiden, von ein paar Glas Wasser super lustig zu werden?,
fragte ich mich mehr als einmal. Das Wasser war natürlich Kla-
rer. Wenn die beiden beim Nachmittagsklön zwei Flaschen Korn
drin hatten, konnten sie alle Nachbarn perfekt imitieren und ich
kugelte mich vor Lachen am Boden.
   Ich lernte also früh, Menschen zu beobachten. Ihre Körper-
haltung, auch ihre Macken konnte ich bald mühelos nachma-
chen. Später in der Schule sollte ich mehr als einmal eine aufs
Maul bekommen, weil meine Parodien von den Mitschülern ein-
fach zu gut waren. Erste Erfahrungen zum Thema «Einsamkeit
des Künstlers». Nicht wer schön ist, muss leiden, sondern wer
Talent hat. Randy Newman brachte es später auf den Punkt mit
«Oh, it’s lonely at the top».

Von meiner Tante Emmi, nicht zu verwechseln mit Oma Emma,
lernte ich, mir beim Scheißen im Busch nicht die Sandalen zu
versauen. Seit Tante Emmi zu mir gesagt hatte, ich solle auf dem
Außenklo aufpassen, dass ich nicht von einer Schlange in den
Arsch gebissen werde, erschien mir das Gebüsch sicherer.
   Lustig fanden wir Kinder vor allem, wenn die Zuchttauben

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Luzi, Fränzcken und Lili vom Dach auf die frisch aufgehängte
Wäsche machten oder Frau Asches Hund in den Hof schiss.
   «Scheiße am Schuh bringt Glück», trösteten unsere Mütter
uns, wenn wieder mal einer mitten in die Wonne getreten war.
Daraufhin steppten wir Kinder ausdauernd in den Haufen. Was
tut man nicht alles für ein bißchen Glück …
   Die Beschäftigung mit Fäkalien hatte einen festen Platz in un-
serem Alltag. Bei uns wurde wenig Substanzielles geredet, dafür
umso mehr gefurzt. Dafür brauchten wir keinen Anlass und auch
keinen besonderen Speiseplan. Es war ein natürliches Lebenszei-
chen: Ich furze, also bin ich!
   Wir betrieben es mit entwaffnendem Selbstverständnis. Wenn
meine Familie religiös gewesen wäre, hätte sie selbst in der Kir-
che geknallt.

Meine erste bewusste Begegnung mit meinem Opa hatte ich mit
vier oder fünf. Gerda fuhr mit mir zu ihrem Vater nach Bredeney,
was das vornehmere Essen war, mit den Krupps und anderen
Größen, ohne Schilder an der Klingel. Höchstens Initialen. Gerda
fand ja immer, dort gehöre sie hin, weil sie was Besseres sei. Ihr
Geburtsname war Gerda von Siegmund, vermutlich in direkter
Linie eine Nachfahrin der Nibelungen. Verarmter Adel. Ritterge-
schlecht. Jedenfalls blaues Blut. Später musste ich jedes Mal an
sie denken, wenn ich in einer Bar eine Flasche Blue Curaçao sah.
   Immerhin war ihr Standesdünkel das Trittbrett in eine Phan-
tasiewelt, aus der sie bis heute nicht mehr ausgestiegen ist.
«Eine ganz andere Welt», seufzte sie, wenn sie sich daran er-
innerte. Auch Bredeney war für sie eine andere Welt. Warum
sie sich ausgerechnet für die meines Vaters entschieden hat, ist
bis heute unklar. Wenn ich sie danach fragte, beließ sie es bei:
«Weil er so witzig war.» Gerda hatte ihren Karl-Heinz im Circus
kennengelernt. Auch das war eine ganz andere Welt, wie sie
betonte. Heini arbeitete damals als Pferdepfleger und Bereiter.
   Übrigens, so wie Bredeney war alles außerhalb von Essen
für meine Mutter eine ganz andere Welt. Gerda lebt bis heute in
vielen unterschiedlichen Welten, und ich hoffe, dass sie sich dar­
aus ein Förmchen Glück hat backen können. Als ich sie damals
fragte, welche Welt denn wohl für mich zuständig sei, antwortete
sie: «Immer die, in der dein Bettchen steht.»

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Jetzt waren wir also in Opas Welt, und der kam mit einer
Flasche Wodka und zwei Schnapsgläsern ins Wohnzimmer und
sagte: «Wenn aus unserem kleinen Heinemann mal ein großer
Heinemann werden soll, muss er lernen, dass man im Leben
was vertragen muss. Hau weg, mein Junge, das erste Glas ist
das schlimmste.»
   Mir blieb die Luft weg, und ich hustete mir die Lunge fransig.
   Opa goss mir gleich noch einen Wodka ein. «Auf einem Bein
kann keiner nicht steh’n.»
   Meine Mutter beschloss, sich später nicht mehr an diesen
Nachmittag zu erinnern.
   Alkohol war ein mächtiger Kommunikator! Was Plato und
Aristoteles in der Antike waren, das war für die Bewohner unse-
rer Siedlung die Dortmunder Actien-Brauerei. Die andere kultu-
relle Säule – oder wie Opa sagen würde, «das zweite Bein» – des
Ruhrgebiets ist der Fußball. Eine Allianz, die so verlässlich ist
wie Ebbe und Flut.

In Essen sind damals alle Jungs mit Helmut Rahn zur Schule ge-
gangen. So auch Heini. Der Rechtsaußen von Rot-Weiss hat nicht

                 Gerda und Heinemann besuchen
                        Opa in Bredeney
nur Deutschland in Bern zum Weltmeisterschaft geschossen, er
hat auch den Pott zum Rodeo Drive des Proletariats gemacht.
Zwischen Schalke und Dortmund zählte weniger, was einer sag-
te, sondern vielmehr, was er in den Füßen hatte. Hochgerechnet
waren knapp zwanzigtausend Essener Väter mit «dem Boss» in
einer Klasse. Heute gibt es so große Klassen nicht mehr.
    Mein Vater hat nie Fußball gespielt. Wenn ich dreckig nach
Hause kam und Mama mir mit dem Waschlappen übers Gesicht
fuhr, rieb ich mich an Papas speckiger Schlosserhose, bis ich
wieder so dreckig war, wie er. Er strich mir dann über die Locken
und lachte.

Heini hatte einen Tempo-Dreiradwagen, doch keinen Führer-
schein. Damit fuhr er morgens weg und kam abends ziemlich
dreckig wieder. Ich glaube, er sammelte Schrott, kann aber
auch sein, dass er für die Zeche fuhr. Jemand hat mal gesagt,
Heini mache «in Obst und Gemüse», aber damit war wohl et-
was gemeint, das weder mit Birnen noch mit Salat zu tun hat.
Irgendwann kaufte er sich dann einen Matador. Und einen Füh-
rerschein gleich dazu. Damit war er ein Geschäftsmann ohne
Geschäft. Obwohl er, wie gesagt, nie unter Tage gearbeitet hat,
sah er oft aus wie die Bergleute, die in der Siedlung wohnten.
Auch wenn die Männer sich extensiv duschten, nach einer ge-
wissen Zeit ließ sich der Ruß nicht mehr ausschwemmen. Sie
sahen aus wie sizilianische Mafiosi, die ihre Schmauchspuren im
Gesicht wie Ehrenzeichen tragen. Find ich auch viel besser als
Kerben im Revolvergriff, muss ich ganz ehrlich sagen.
   Schmutz war irgendwie männlich. Ich war gern dreckig. Dann
fühlte ich mich größer, und es war die wirkungsvollste Art, nicht
mit einem Mädchen verwechselt zu werden.
   Was war das Drachenblut, das Siegfried unverwundbar ge-
macht hat, anderes als Dreck? Er hat sich nach dem Bad im
Blut schließlich nie mehr gewaschen. Nur genützt hat ihm das
letztlich auch nichts …

Mein Lebenspraktikum, mein außerschulisches Lernrefugium
war unser Hof. Hier brachte mir Heini das Zocken bei. Wir Kin-
der wurden nicht nur geliebt, wir wurden auch gebraucht. Als
Alkohol- und Nikotinbeschaffer waren wir täglich unterwegs,

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auch wenn wir lieber Fußball gespielt hätten. Das war aber
nur möglich, wenn keine Wäsche im Hof hing. Da quasi jeden
Tag Waschtag war, hing auch jeden Tag Wäsche auf der Leine –
außer sonntags. Doch da hatten wir unser gutes weißes Nyltest-
Hemd an, und in dem durften wir nicht Fußball spielen. Dafür
lernte ich früh, den Pferdewagen zu lenken. Mit acht konnte ich
alleine Auto fahren. Und ich entdeckte die Kunst von Lügen und
Verdrängung.
   Eines Tages fuhren meine Mutter und ich mit der Bahn in
den Knast, um meinen Vater zu besuchen. Ich weiß heute nicht
mehr, warum er saß, sicherlich eine Bagatelle. Gerda flüsterte
mir zu, ich müsse mich jünger machen, damit ich zum Babytarif
und damit kostenlos Bahn fahren konnte. «Babytarif», wenn ich
das schon hörte! Wie jeder Junge war ich froh, dass ich fünf
geworden war, obwohl sich die ersten vier Jahre dahinhinge-
schleppt hatten wie ein ganzes Schneckenleben. Und nach so
viel Stress sollte ich verleugnen, worauf ich so stolz war?
   Da kam der Schaffner. «Wie alt ist denn das Kind?»
   Ich beeilte mich, die Pflichtlüge gewissenhaft hinter mich zu
bringen: «Ich bin vier … Aber wenn du gleich weg bist, bin ich
wieder fünf!»

Langweilig war unser Leben nicht. Wer bekam damals schon
einfach so ein Fahrrad geschenkt? Die Jungs aus der Nachbar-
schaft kriegten auch alle eins. Keiner hatte Geburtstag, Weih-
nachten war auch nicht. Wie Beutestücke luden unsere Väter die
Räder von Heinis Matador. Unter großem Bohei brachten sie uns
im Hof das Radfahren bei. Ich war stolz wie Oskar, weil ich der
Erste war, der ohne Stützräder fahren konnte.
   Langweilig war es wirklich nie, jedenfalls nicht für mich.
Manchmal durfte ich bei Tante Inge schlafen. In ihrem Bett. Tante
Inge war sechzehn. Erst seifte sie mich in einer alten Zinkwanne
fast rituell ab, dann ging es zu ihr unter die Decke, wo ich mit
ihren Nippeln Hupe spielen durfte. Sie hat derweil meinen Pil-
lermann zwischen ihren Finger gerieben.
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