Urbane Produktion und temporäre räumliche Nähe in Produktionsprozessen Urban manufacturing and temporary spatial proximity in production processes

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Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2020; 78(1): 1–16

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Anna Butzin*, Kerstin Meyer

Urbane Produktion und temporäre räumliche
Nähe in Produktionsprozessen
Urban manufacturing and temporary spatial
proximity in production processes
https://doi.org/10.2478/rara-2019-0061
Eingegangen: 09. Januar 2019; Angenommen: 22. Oktober 2019

Kurzfassung: In diesem Beitrag wird argumentiert, dass temporäre räumliche Nähe zwischen Wirtschaftsakteuren
neben der Wissensgenerierung ebenfalls einen produktionsbedingten Zweck verfolgen kann. Dabei werden mate-
rielle Konsumgüter aufgrund neuer technologischer Entwicklungen und Trends durch temporäre räumliche Nähe
zwischen Endkunden und Produzenten erzeugt und in diesem Beitrag am Beispiel der urbanen Produktion disku-
tiert. Der temporäre Austausch hat das Ziel, ein den individuellen Wünschen der jeweiligen Kunden entsprechen-
des materielles Gut in Echtzeit zu erstellen. Ziel dieses Beitrags ist es, produktionsbedingte temporäre räumliche
Nähe zu analysieren aufzuzeigen, wie sie Produktionsstandorte und Produktionsstätten sowie die Beziehung zu
Kunden prägt. Anhand einer Literaturanalyse und Fallstudien wird produktionsbedingte temporäre räumliche Nähe
in Großunternehmen, Manufakturen, Makerspaces und sogenannten Festivals untersucht. Die Ergebnisse zeigen,
dass Kunden intensiv in den Produktionsprozess eingebunden sind. Veränderungen der Produktionsweise und Pro-
duktionsstätte sind die Konsequenz, da es um die Herstellung von Einzelstücken geht. Zusätzlich verändern sich
aber auch die Produktionsstandorte, die aufgrund größerer Marktnähe in stark frequentierte Einzelhandelslagen
oder Wohngebiete rücken. Produktionsbedingte temporäre räumliche Nähe zwischen Produzenten und Kunden und
damit verbundene innerstädtische Produktion wird die massenhafte Herstellung von Konsumgütern nicht ablösen.
Sie ist jedoch ein wichtiger Faktor, der die der Wahl von Geschäftsmodellen und Unternehmensstandorten ange-
sichts des gegenwärtigen Trends der Individualisierung von Konsumgütern beeinflusst.

Schlüsselwörter: Koproduktion; temporäre räumliche Nähe; urbane Produktion

Abstract: This article argues that temporary spatial proximity between economic agents can also have a production-
related purpose besides knowledge generation. At the same time, due to new technological developments and
trends, consumer goods are generated by temporary spatial proximity between end customers and producers. The
purpose of the temporary exchange is to create material goods meeting the individual demands of the respective
customer in real time. The aim of this paper is to analyse production-related temporary spatial proximity of urban
manufacturing to show how production sites and locations as well as the relationship with customers are altered.
Based on a literature analysis and case studies, production-related temporary spatial proximity in large companies,
factories, makerspaces and festivals is examined. The results show that customers are intensively involved in the
production process. Changes in the production method and location are the consequence, since it is about the
production of individual pieces. In addition, production locations change, as they need to be in retail locations or
housing areas, i.e. close to the market where the end consumers are. Production-oriented temporal spatial proximity

*Corresponding author: Dr. Anna Butzin, Institut Arbeit und Technik, Munscheidstraße 14, 45886 Gelsenkirchen, Deutschland,
E-Mail: butzin@iat.eu
Kerstin Meyer, Institut Arbeit und Technik, Munscheidstraße 14, 45886 Gelsenkirchen, Deutschland

  Open Access. © 2020 Anna Butzin, Kerstin Meyer, published by Sciendo.                 This work is licensed under the Creative
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2      Anna Butzin, Kerstin Meyer

between producers and consumers and associated inner-city production will not replace mass production of consu-
mer goods. However, it is an important factor influencing the choice of business models and business locations for
entrepreneurs given the current trend in the individualisation of consumer goods.

Keywords: Co-production; Temporary spatial proximity; Urban manufacturing

1 Einführung                                                     Kunden werden zu Koproduzentinnen und -produzenten
                                                                 und Produktionsstandorte entstehen in Kundennähe.
Eingebettet in die Debatte zur Relevanz verschiede-              Des Weiteren ist sie Ausdruck zweier aktueller Entwick-
ner Proximitätsdimensionen und deren Dynamiken                   lungen, der zunehmenden Individualisierung von Mas-
(Boschma 2005; Balland/Boschma/Frenken 2015) wird                senware und der derzeitigen Maker- und Do-it-yourself-
temporäre räumliche Nähe in der gegenwärtigen Lite-              Bewegung. Eingebunden in diese beiden mit hohem
ratur als eine den Wissensaustausch zwischen Wirt-               Veränderungspotenzial einhergehenden Entwicklungen
schaftsakteuren erleichternde Näheform diskutiert                (vgl. Brandt/Butzin/Gärtner et al. 2017), ist produkti-
(Bathelt/Henn 2014; Growe 2018a). Messen, Geschäfts-             onsbedingte temporäre räumliche Nähe ein prägender
reisen, Projekttreffen und Kundenbesuche ergänzen                Faktor der Ausgestaltung bzw. Wahl von Geschäftsmo-
virtuellen Wissensaustausch und Projektarbeit über die           dellen, z. B. in Einzelhandel und Handwerk, und Unter-
Distanz (Bathelt 2017; Growe 2018b). Dadurch ermög-              nehmensstandorten.
licht temporäre räumliche Nähe Verbindungen zwischen                  Ziel dieses Beitrags ist es, die bisher wenig erforschte
an verschiedenen Orten lokalisierten Produktions- und            produktionsbedingte temporäre räumliche Nähe zu ana-
Innovationssystemen (Bathelt/Henn 2014). Dem Fokus               lysieren und anhand von Fallstudien aufzuzeigen, wie
des Wissensaustausches folgend, steht in den vor-                sie Produktionsstandorte und Produktionsstätten sowie
handenen Forschungsarbeiten temporäre Nähe in wis-               die Beziehung zu Kundinnen und Kunden prägt. Durch
sensintensiven und serviceorientierten Branchen im               die Analyse werden gleichzeitig räumliche Auswirkungen
Fokus, die durch die Mobilität von Arbeitskräften ermög-         der Maker- und Do-it-yourself-Bewegung und der Indi-
licht wird (Lampel/Meyer 2008; Growe 2018b).                     vidualisierung von Massenware betrachtet. Die Fallstu-
     Diesem Beitrag liegt die Beobachtung zugrunde,              dien wurden im Rahmen der beiden Forschungsprojekte
dass temporäre räumliche Nähe zwischen Produzen-                 „Produktion zurück ins Quartier? Neue Arbeitsorte in der
ten und Kunden ebenfalls einen produktionsbedingten              gemischten Stadt“ und „ProUrban – Urbane Produktion
Zweck verfolgen kann. Dabei werden materielle Kon-               – zurück in die Stadt?!“ erhoben, an denen die Autorin-
sumgüter aufgrund neuer technologischer Entwicklun-              nen beteiligt waren.
gen und Trends durch temporäre räumliche Nähe zwi-                    Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Im Überblick
schen Endkunden und Produzenten mithilfe teils mobiler           über den Forschungsstand (Kapitel 2) wird produktions-
Produktionsmittel (Maschinen, Anlagen, Minifabriken)             bedingte temporäre räumliche Nähe anhand der Pro-
erzeugt. Der temporäre Austausch hat das Ziel, ein den           duktionsstandorte, der Produktionsstätten und der Kun-
Wünschen der jeweiligen Kundinnen und Kunden ent-                deneinbindung diskutiert. Die darauffolgende Auswahl
sprechendes materielles Gut bereits während des Aus-             (Kapitel 3) und Analyse (Kapitel 4) der Fallstudien glie-
tausches in Echtzeit zu erstellen. Im Gegensatz zum              dert sich in Großunternehmen, Manufakturen, Maker-
reinen Wissens- und Informationsgewinn sind der Pro-             spaces und Festivals. Kapitel 5 fasst die Ergebnisse
duktionsprozess und die damit verbundene Koproduk-               zusammen und im Fazit (Kapitel 6) wird die Produktion
tion Zweck der temporären räumlichen Nähe. Auf diese             in die Diskussion um temporäre räumliche Nähe einge-
Weise entstehen individualisierte Konsumgüter wie                bettet.
Bekleidung, handwerkliche Produkte, Kosmetikartikel,
Lebensmittel oder Produkte aus dem 3D-Drucker.
     Produktionsbedingte temporäre räumliche Nähe                2 Forschungsstand
unterscheidet sich von temporärer räumlicher Nähe, die
dem reinen Wissensaustausch dient. Mit ihr einherge-             In der von Bathelt und Henn (2014) entwickelten Typolo-
hende Produktionsprozesse unterschiedlichen Speziali-            gie des Wissenstransfers über die Distanz erfährt tempo-
sierungs- und Wertschöpfungsgrades werden als Erleb-             räre räumliche Nähe eine herausgehobene Bedeutung.
nis (Pine/Gilmore 1998) ausgestaltet, Kundinnen und              Temporäre räumliche Nähe ermöglicht die Kombination

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Urbane Produktion und temporäre räumliche Nähe in Produktionsprozessen             3

temporärer (z. B. Messen) und permanenter Kontexte              Personal, Kapitalgeber, Öffentlichkeit etc.) bedeutsam
(z. B. Betriebe von Kundinnen/Kunden), in denen Wis-            sind. Den sich ändernden Nachfragebedingungen wird
senstransfer stattfindet. Produktionsbedingte temporäre         dabei in diversen Geschäftsmodellen begegnet, wobei
räumliche Nähe ist von den in der Typologie diskutierten        der gemeinsame Nenner unter dem Begriff „Individuali-
temporären Treffen von Fachgruppen und Geschäftsrei-            sierung“ zu fassen ist. So gibt es durch eine verstärkte
senden den Produzenten-Nutzer-Treffen ähnlich. Der              Ausrichtung auf neue Technologien und Digitalisierung
direkte Austausch zwischen technischen Expertinnen/             gekennzeichnete Geschäftsmodelle (vgl. Ematinger
Experten und Kundinnen/Kunden (face-to-face) zur                2018), die Kundenwünschen durch Einzelstückproduk-
Aufrechterhaltung der Produktion steht im Vordergrund,          tion begegnen, aber auch solche, die sich auf Hand-
wobei die in das Treffen eingebundenen Akteure über             werkskunst und manuelle Produktionen (rück)besinnen.
komplementäres Wissen verfügen. Das Wissen wird                 Auf Produktion ausgerichtete Geschäftsmodelle werden
in den verschiedenen Phasen eines Produktionspro-               um Dienstleistungsangebote erweitert (Welzbacher/Pirk/
zesses, bestehend aus Entwicklung, Materialauswahl,             Ostheimer et al. 2015: 21) und damit neue Geschäftsfel-
Fertigung und Zusammenfügen von Komponenten, ein-               der erschlossen (Moritsch 2016: 29). Aber nicht nur pro-
gebunden. Diese Treffen finden in der Regel in den Pro-         duzierende Unternehmen übernehmen Dienstleistungen
duktionsstätten der Unternehmen statt, sodass es sich           zur Distribution und den Aufbau eigener Verkaufsstellen
um temporäre Treffen an fixen Orten anstatt an temporä-         und entwickeln sich dadurch zu direkten Konkurrenten
ren Orten wie Messen oder Festivals handelt. Die Räum-          ihrer Einzelhandelskunden, welche weiterhin gleichzei-
lichkeiten dienen als zusätzliche Informationsquelle            tig beliefert werden. Auch Handelsunternehmen struktu-
(face the place), da Einsicht in verfügbare Ressourcen,         rieren sich neu, z. B. mit „Kontraktproduktion (Contract
Atmosphäre, Arbeitsphilosophie etc. genommen werden             Manufacturing) von Handelsmarken bis zur Übernahme
kann (Growe 2018b mit Verweis auf Urry 2007; Flögel/            der Produktion“ (Zentes 2012: 90), wodurch neue Wert-
Zademach 2017). Der Ursprung der in der Wirtschafts-            schöpfungsstufen erschlossen werden.
geographie geführten Diskussion um Wissensprozesse,
Interaktionen und räumliche Näheformen liegt in der             Neue Produktionsstandorte
Erforschung eben jenes produktionsrelevanten Wissens,           Standorte produktionsbedingter temporärer räumlicher
wenn auch mit einem Schwerpunkt auf Produzenten- und            Nähe werden durch den gegenwärtigen Trend der Do-it-
Zuliefererbeziehungen (Pavitt 1984; Lundvall 1992). Der         yourself- und Maker-Kultur begünstigt, denn „Machen ist
derzeitige Schwerpunkt der Diskussion bezieht sich eher         in“ (vgl. Drotschmann 2010; Wolf/McQuitty 2011; Hirsh-
auf Wissensprozesse an temporären Orten, verbunden              berg/Dougherty/Kadanoff 2016). Der derzeit deutlichste
mit der Frage, welchen Einfluss sie auf das Entstehen           Ausdruck des Trends sind von neuen Technologien
neuer Märkte haben (Bathelt/Henn 2014; Henn/Bathelt             geprägte Orte wie FabLabs oder Makerspaces. Dort
2015; Schüßler/Grabher/Müller-Seitz 2015). Wissens-             können Technikbegeisterte eigene Ideen oder Projekte
austausch im Rahmen produktionsbedingter temporärer             mithilfe von vor Ort vorhandenen Maschinen austüfteln,
räumlicher Nähe findet zwischen Produzentinnen/Pro-             in die Anwendung bringen und bedarfsgerecht produ-
duzenten und Kundinnen/Kunden statt. Torre und Rallet           zieren (Fox 2013; Meier/Wirth 2013; Hirshberg/Doug-
(2005: 54) schreiben, dass Face-to-face-Interaktionen           herty/Kadanoff 2016; Schmidt/Ibert/Kuebart et al. 2016;
den Austausch komplementären Wissens unterschiedli-             Cohen/Jones/Smith et al. 2017). Eine ebenfalls starke
cher Akteure sowie die Lösung von im Innovationspro-            Do-it-yourself-Ausrichtung haben Kundenworkshops in
zess etwaig aufkommenden Konflikten erleichtern. Im             Baumärkten.1 Durch Individualisierung von Massenware
Folgenden wird produktionsbedingte temporäre räumli-            rückt Produktion aber auch stärker in die Einzelhan-
che Nähe anhand folgender Merkmale analysiert: neue             delsstandorte: In IKEA-Häusern, zum Beispiel, stehen
Produktionsstandorte, inspirierende und offene Produk-          von Fachkräften zu bedienende Stickmaschinen bereit,
tionsstätten sowie Kundeneinbindung, Koproduktion und           durch die von Kundinnen und Kunden erworbene Texti-
Prosumption.                                                    lien wie Handtücher individuell bestickt werden können,2
     Diese Merkmale kennzeichnen den Wandel der                 oder es werden Schuhe des Herstellers Keens in Schuh-
Geschäftsmodelle der jeweiligen Unternehmen. Nach
Bieger und Reinhold (2011: 32) ist ein Geschäftsmodell die
„Grundlogik, wie eine Organisation Werte schafft“, wobei        1 Vgl. https://www.hornbach.de/cms/de/de/mein_hornbach/mein_
monetäre und nicht monetäre Werte für die Anspruchs-            markt/veranstaltungen/veranstaltungen_listing.html (11.09.2019).
gruppen des Unternehmens (Kunden, Lieferanten,                  2 Vgl. https://www.ikea.com/de/de/stores/kamen/ (11.09.2019).

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4       Anna Butzin, Kerstin Meyer

geschäften gefertigt, indem dort eine kleine Fabrik                und Freizeit für bereits stark nachgefragte, Mischnut-
errichtet wird.3                                                   zungen erlaubende Standorte. Zudem ist die Stadtver-
     Aus räumlicher Perspektive wird dieser Trend unter            träglichkeit der Produktion eine Herausforderung für
der Bezeichnung „Urbane Produktion“ analysiert, wobei              die klassische, stadtplanerische Funktionstrennung von
das Augenmerk auf produzierenden Unternehmen und                   Wohnen, Arbeiten und Erholen, da sie Produktion starr
auf professionellem bzw. organisiertem Do-it-yourself              und Durchmischung verhindernd wirken lässt (Erbstößer
in Makerspaces und auf Maker-Festivals liegt. Urbane               2016).
Produktion ist die „[…] Herstellung und Verarbeitung von
materiellen Gütern in dicht besiedelten Gebieten, die              Inspirierende, offene Produktionsstätten
häufig in unmittelbarer Nähe zum Wohnort der Unter-                Räumlichkeiten, in denen produktionsbedingte tem-
nehmerinnen und Unternehmer, Mitarbeiterinnen und                  poräre räumliche Nähe stattfindet, sollen Informatio-
Mitarbeiter und/oder der Kundinnen und Kunden ent-                 nen preisgeben und Offenheit vermitteln. Zusätzlich
stehen“ (Brandt/Butzin/Gärtner et al. 2017: 27). Urban             zu geschultem Personal schaffen sie eine Atmosphäre
produzierende Unternehmen sind neben den genannten                 für Interaktionen, durch die es Kundinnen und Kunden
Makerspaces und FabLabs beispielsweise Manufaktu-                  gelingt, ihre neue, aktivere Rolle auszufüllen. Der durch
ren, die sich auf die handwerkliche Herstellung meist              face-the-place hervorgerufene Effekt ist also bereits
hochwertiger Produkte spezialisiert haben, traditionelle           Teil des Produktionsprozesses. Kundinnen und Kunden
Handwerksunternehmen und Lebensmittelbetriebe.                     sollen Inspiration finden und in kurzer Zeit ihre Vorstel-
Meist handelt es sich um kleine und mittlere Unterneh-             lungen über das zu produzierende Gut konkretisieren,
men. Die oben geschilderten Beispiele (IKEA, Keens)                zu diesem Zwecke gegebenenfalls mit intuitiv nutzbarer
verdeutlichen aber, dass Produktion in Endkundennähe               Technik und Maschinen umgehen und den Prozess als
auch von großen Unternehmen betrieben wird. Neue                   ein positives Erlebnis in Erinnerung behalten (face-the-
Technologien (3D-Druck, Lasercutter), emissionsarme                moment; vgl. Growe 2018b mit Verweis auf Urry 2007).
Produktionsverfahren und die Herstellung von Kleinse-              Damit dies gelingt, sind Räumlichkeiten, in denen Pro-
rien oder Einzelstücken ermöglichen neue, kleinflächige            dukte verkauft werden, als Bühne zu verstehen, wodurch
Produktionsstandorte. Durch die Kundennähe sind                    der funktionale Kaufzweck in den Hintergrund rückt.
Unternehmen in der Lage, „Produkte kurzfristig zu desi-            Produkte werden emotionalisiert und der Einkauf zum
gnen, zu konfigurieren, herzustellen, aufzubereiten und            „Erlebniskauf“ (Pine/Gilmore 2000). Zur Differenzierung
zu recyceln“ (Scheelhaase/Zinke 2016: 43).                         beschreiben andere Autoren den Produktionsprozess als
     Urbane Produktion erfolgt kleinteilig und stadtver-           Kundenreise (Lemon/Verhoef 2016; Følstad/Kvale 2018)
träglich auf dezentralen Produktionsstandorten, deren              oder als Kundeninteraktion, während derer Interaktionen
Attraktivität zukünftig noch weiter steigen könnte. Denn           in sechs unterschiedliche Phasen gegliedert sind: Kom-
auch die Digitalisierung der Arbeitswelt bzw. der mit              munikation, Exploration, Konfiguration, Wartezeit und
Industrie 4.0 einhergehende Produktionswandel bieten               Lieferung, After-Sales und Feedback, Wiederkauf. Drei
Potenziale für innerstädtische Standorte von Branchen,             dieser Phasen können durch temporäre räumliche Nähe
die auf kleiner Fläche kundennah und individualisiert              in realen Verkaufsumgebungen stattfinden (Reichwald/
produzieren (Mühl/Busch/Fromhold-Eisebith et al. 2019).            Piller 2009: 273). Dazu gehören Exploration (exploring),
Läpple (2013) bezeichnet urbane Produktion als neue,               das heißt, durch Prototypen oder Beispiele sollen Kun-
städtische Ökonomie und plädiert in seinem Essay „Pro-             dinnen und Kunden eine Einschätzung darüber gewin-
duktion zurück in die Stadt?“ dafür, Stadtökonomien                nen, wie das gewünschte Produkt aussehen könnte;
durch urbane Produktion und lokale Wertschöpfungsket-              Konfiguration, das heißt die aktive Einbindung in den
ten robuster gegenüber Schwankungen des Weltmarkts                 Herstellungsprozess; Wartezeit und Lieferung, das ist
zu machen. Innerstädtische Einzelhandelslagen, urbane              die Zeit, in der das Produkt maschinell hergestellt wird,
Wohnquartiere und Mischgebiete sind das Umfeld der                 Kunden aber noch im Geschäft sind. Die Kundenreise
Produktionsstätten, wohingegen großflächige Gewerbe-               wird insbesondere in der Literatur zum Customer Expe-
gebiete aufgrund fehlender Kundennähe eher ungeeig-                rience Management als mehrdimensionale Erfahrung
net sind. Damit ist urbane Produktion eine zusätzliche             (sensorische, intellektuelle, relationale und emotionale;
Nutzungskonkurrenz neben Wohnen, Dienstleistungen                  vgl. Drengner/Jahn 2012) betrachtet, die durch die Aus-
                                                                   gestaltung der Räumlichkeiten angeregt werden soll
3 Vgl. https://gearjunkie.com/keen-robot-builds-uneek-shoes        (Verhoef/Lemon/Parasuraman et al. 2009). Damit hat
(11.09.2019).                                                      die Produktionsstätte, wenn auch in kleinerem Umfang,

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Urbane Produktion und temporäre räumliche Nähe in Produktionsprozessen             5

Ähnlichkeit mit „Brand Lands“ (Mikunda 2006). Dies sind        mend gewünschten Individualisierung von (Massen)
Orte, an denen rund um etablierte Marken oder Produkte         ware Rechnung zu tragen. Produktionsprozesse erhal-
Erlebniswelten für Konsumentinnen und Konsumenten,             ten dadurch eine dienstleistungsorientierte Ausrichtung.
wie z. B. die Autostadt in Wolfsburg oder Maggi-Koch-          Temporäre räumliche Nähe als Instrument, Zugang zum
studios, mit dem Ziel der Kundenbindung geschaffen             Wissen der Kundinnen und Kunden zu erhalten, ist dabei
werden.                                                        ein wichtiger Erfolgsfaktor.
      Die Offenheit von Produktionsstätten beschreiben              Die Generierung von Wissen durch Kundenintegra-
Schmidt, Ibert, Kuebert et al. (2016) am Beispiel von          tion ist in der wirtschaftsgeographischen Literatur insbe-
Open Creative Labs. Darunter sind Co-working Spaces,           sondere Forschungsobjekt in interaktiven, das heißt von
Startup Factories, FabLabs, Hacker Spaces oder offene          verschiedenen Akteuren entwickelten, Innovationspro-
Werkstätten zu verstehen. Open Creative Labs haben             zessen. Eine für die Kundenintegration in Produktions-
demnach mehrere Dimensionen: Zeitlichkeit, sozia-              prozessen wichtige Unterscheidung ist die Steuerbarkeit
les Kuratieren, analoge und virtuelle Räumlichkeiten,          des Innovationsprozesses, je nach Art der Kundeninte-
freie Wissensteilung, Nutzer- und Problemorientie-             gration (vgl. Grabher/Ibert/Flohr 2008: 264 ff.). Geht es
rung, Unvollständigkeit und Übergangsorte. Zeitlichkeit        um beratende und partizipierende Kundenintegration, im
bedeutet, dass eine permanente Struktur an einer festen        Rahmen derer Kundinnen und Kunden ihr Erfahrungs-
Adresse etabliert ist, die temporär genutzt werden             wissen bezogen auf die Nutzung des Produkts oder
kann. Sozial kuratierte Offenheit lässt prinzipiell jeder      Prototypen mitteilen, behält das produzierende Unter-
und jedem die Möglichkeit, die Räumlichkeiten unter            nehmen die Entscheidungshoheit über die Richtung
bestimmten Regeln zu nutzen. Die Arbeitsumgebung ist           der Innovations(weiter)entwicklung. Hier wird Kunden-
offen gestaltet und soll den Austausch und das Teilen          wissen innerhalb eines eng definierten Bezugsrahmens
von Wissen fördern. Die Nutzer- und Problemorientie-           nachgefragt und trägt inkrementell zur Verbesserung
rung fokussiert auf das individuelle Erarbeiten und Kon-       des Produkts aus Nutzersicht bei. Weitaus offener ist
trollieren moderner Fabrikationsabläufe. Unvollständig-        die Integration von Wissen aus Anwender- und Interes-
keit beschreibt, dass sich diese Räumlichkeiten immer          sencommunities, die von Grabher, Ibert und Flohr (2008:
wieder wandeln, sich ihren Kundinnen/Kunden und                262 mit Referenz zu Kunz/Mangold 2004) als „hybrid
Besucherinnen/Besuchern anpassen und sich erweitern            communities“ bezeichnet werden. In „hybrid communi-
können. Open Creative Labs sind Übergangsorte, weil            ties“, wie sie etwa in der Softwareentwicklung zu finden
Mittel und Zweck neu zusammengebracht werden und               sind (z. B. Linux), verschmilzt die Experten- und Laien-
einen Karrierewechsel in einen neuen Beruf, z. B. auf-         rolle. Der Verlauf des Innovationsprozesses ist für einen
grund neu erlernter Gewerke und Methoden, bedingen             alleinigen Akteur weniger steuerbar und das Spekt-
können. Einige dieser Punkte finden sich in den nach-          rum des eingebrachten Wissens weitaus breiter (z. B.
folgenden Beispielen wieder und sind Voraussetzung für         technisches, gestalterisches, anwendungsbezogenes
die im Folgenden beschriebene Kundenintegration.               Wissen).
                                                                    Für die Analyse von Produktionsprozessen eignet
Kundenintegration, Koproduktion und Prosumption                sich die Einteilung von Kundeneinbindung anhand der
Veränderte Kundenbeziehungen und Kundenintegration             Begriffe Ko-Kreation, Koproduktion und Prosumption
erfordern einen interaktiven und offenen Produktions-          (Toffler 1981; Humphreys/Grayson 2008; Xie/Bagozzi/
prozess (Huba/McConnell 2006; Nadeau 2006; Reich-              Troye 2008; Wolf/McQuitty 2011; Fox 2013), die durch-
wald/Piller 2009; Thallmaier 2015). „Die Kernidee einer        aus als Analogie zur Kundenintegration in Innovati-
solchen Kundenintegration in die Wertschöpfung ist,            onsprozesse im Sinne von Grabher, Ibert und Flohr
dass durch den Einbezug von Abnehmern bzw. Nutzern             (2008) interpretiert werden kann. Ko-Kreation erfordert
in ehemals vom Herstellerunternehmen dominierte                geringere Kundeneinbindung und bezieht sich auf die
Aktivitäten ein Wissenstransfer zwischen den Akteuren          Nutzung des Produkts nach dem Kauf, denn nur durch
stattfindet, der bei einer klassischen Abwicklung der          Nutzung, z. B. die Anwendung eines Handys, entfal-
Leistungserstellung nicht möglich ist“ (Reichwald/Piller       tet sich der Wert des Produkts. Es kann vom Kunden
2009: 42). Letztere zielt auf durchschnittliche Kunden-        inkrementell weiterentwickelt werden, indem Kunden-
bedürfnisse ab und birgt das Risiko, heterogene Kun-           wissen und -erfahrungen, z. B. in Form von Verbesse-
denwünsche nicht befriedigen zu können (Reichwald/             rungsvorschlägen, Fehlermeldungen und Anregungen,
Piller 2009: 135). Kundeneinbindung ist folglich von           an den Produzenten berichtet werden. Bei Koproduk-
zentraler Bedeutung für Unternehmen, um der zuneh-             tion hingegen werden vormals vom Unternehmen voll-

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zogene Stufen im Produktionsprozess von Kundinnen                teten Fallstudiendesign (Yin 2003), durch das Quartier,
und Kunden übernommen. Dazu zählt der Zusammen-                  Standort und Produktionsunternehmen als zu untersu-
bau von Möbelteilen nach deren Erwerb, also etwa die             chende Einheiten betrachtet wurden. Die Auswahl der
Endproduktion im Falle vieler IKEA-Möbel, aber auch              Fallstudien erfolgte nach der obigen Definition urbaner
die Kundenintegration in den Produktionsprozess, bevor           Produktion im Hinblick auf den Standort in unmittelbarer
das Produkt erworben wird (Keen). Das Repertoire ein-            Nähe zu Wohnorten in einem mehrstufigen Prozess. Aus
gebrachten Kundenwissens ist breiter, da es sich auf             25 Steckbriefen von in Frage kommenden Fallstudien
unterschiedliche Stufen im Produktionsprozess bezie-             (Typ der urbanen Produktion, Traditionsunternehmen
hen kann. Es kann kundenindividuelle Präferenzen                 vs. Neugründung, Räumlichkeit, Fläche, Beschäftigte,
beinhalten genauso wie Wissen um den Zusammenbau                 Quartierstyp, Art der Nutzungsmischung, Organisations-
von Möbeln. Der Produktionsprozess muss daher durch              form, Kundeneinbindung), ermittelt durch eine Medien-
bedienbare Maschinen, handhabbare Materialien oder               analyse, Expertengespräche in Planungsämtern und
verständliche Bauanleitungen entsprechend angepasst              Organisationen der Wirtschaftsförderung sowie eine
sein. Prosumption hingegen ist eine Produktionsform,             Onlinerecherche, wurden in einer als Projektbeirat fun-
bei der Konsumentinnen und Konsumenten Produkte für              gierenden Fokusgruppe, der Expertinnen und Experten
den eigenen Konsum herstellen, indem sie (Roh)materi-            aus Ministerien, Kommunen und Wirtschaftsförderung
alien und Komponenten einer Wertschöpfung zuführen,              angehörten, Fallstudien zur näheren Untersuchung
von der sie profitieren (Xie/Bagozzi/Troye 2008; Wolf/           ausgewählt. Auswahlkriterium dabei war die Diversität
McQuitty 2011). Das Wissen bezieht sich auf alle Produk-         der einzelnen Unternehmen sowie der Fokus auf Fall-
tionsstufen, wodurch der gesamte Produktionsprozess              beispiele aus dem deutschsprachigen Raum mit einem
durch den Bedarf bzw. die Nachfrage der Kundinnen                Schwerpunkt auf Nordrhein-Westfalen. Zwei der Fallstu-
und Kunden gesteuert ist. Prosumption findet vor allem           dien stammen aufgrund ihrer besonderen Produktions-
in den Bereichen Energie- und Lebensmittelversorgung             weise in Minifabriken aus dem US-amerikanischen bzw.
statt, aber auch in der Eigenproduktion von Kleidung,            asiatischen Raum. Von den so selektierten Fällen sind
Möbeln und Ersatzteilen. Sie wird durch das Eröffnen             neun Gegenstand dieser Analyse. Die Unternehmen
von Makerspaces begünstigt, da Konsumentinnen und                wurden angefragt und anhand leitfadengestützter Inter-
Konsumenten Produkte dort für ihren Eigenbedarf her-             views bei einem Besuch mit Führung durch die Produk-
stellen können. Auch hier können „hybrid communities“            tionsstätte befragt. Zwei Fallstudien konnten aufgrund
entstehen, in denen aus dem primären Wunsch der                  ihres Standorts in den USA bzw. Asien nicht besucht,
Eigenproduktion eine unternehmerische Produktion                 sondern ausschließlich durch eine Recherche analysiert
folgen kann (Brinks/Ibert 2015).                                 werden.
     Im Folgenden werden neue Produktionsstand-                       In einem weiteren vom Bundesforschungsminis-
orte und Produktionsstätten sowie Kundenintegration,             terium geförderten Projekt mit dem Titel „ProUrban –
Koproduktion und Prosumption empirisch anhand von                Urbane Produktion – zurück in die Stadt?!“, das eben-
Fallstudien analysiert. Die Analyse mündet in eine ver-          falls vom Institut Arbeit und Technik durchgeführt wird,
gleichende Diskussion der Frage nach den damit ver-              ist ein temporärer Ort entstanden, der Austausch von
bundenen, neuen Geschäftsmodellen.                               Produzentinnen/Produzenten und Konsumentinnen/
                                                                 Konsumenten ermöglicht. Darauf aufbauend ist von Die
                                                                 Urbanisten e.V. das „You do – Festival der Urbanen Pro-
                                                                 duktion“ im Jahr 2018 ins Leben gerufen worden. Beide
3 Methodik und Auswahl der                                       Aktionen fließen als Fallstudien in diese Untersuchung
Fallstudien                                                      mit ein. Sie wurden mittels teilnehmender Beobachtung
                                                                 und Expertengesprächen analysiert.
Ausgangslage für die Untersuchung von Fallstudien zu                  Die ausgewählten Fallstudien sind in Großunter-
urbaner Produktion war ein vom Ministerium für Heimat,           nehmen, Manufakturen, Makerspaces, FabLabs und
Kommunales, Bau und Gleichstellung Nordrhein-Westfa-             Festivals unterteilt, die im Folgenden vorgestellt werden.
len in Auftrag gegebenes Forschungsgutachten mit dem             Die Einteilung in diese vier Gruppen erfolgte aufgrund
Titel „Produktion zurück ins Quartier? Neue Arbeitsorte          verschiedener Merkmale, die produktionsbedingte
in der gemischten Stadt“, welches vom Institut Arbeit und        temporäre räumliche Nähe in den jeweiligen Gruppen
Technik (IAT) und dem Büro Stadtraumkonzept bearbei-             besitzt, und aufgrund der unterschiedlichen, mit den
tet wurde. Das Forschungsdesign folgte einem eingebet-           Fällen verbundenen Geschäftsmodelle. Beispielsweise

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Urbane Produktion und temporäre räumliche Nähe in Produktionsprozessen             7

ist produktionsbedingte temporäre räumliche Nähe der              selbst als Textil-Hommage, denn dort werden Stoffe und
Großunternehmen durch neue technische Möglichkeiten               T-Shirts weiterverarbeitet und aufgewertet (upcycling).
und Industrie 4.0 geprägt, während die der Manufaktu-             Die Schmuckschmiede wurde von einer Goldschmie-
ren einen stärkeren handwerklichen bzw. Do-it-yourself-           din gegründet, die ein ehemaliges Ladenlokal zu einer
Anteil haben.                                                     Werkstatt mit Verkaufsfläche umgewandelt hat.

Großunternehmen                                                   Offene Werkstätten, FabLabs und Makerspaces
Die von großen Unternehmen betriebene Produktion                  In vielen Städten und Regionen entstehen Maker-
in innerstädtischen Lagen und die damit verbundene                spaces, FabLabs und offene Werkstätten. Dort werden
temporäre räumliche Nähe zu Kundinnen/Kunden wird                 Menschen zum Selbermachen und Reparieren von Pro-
anhand der drei Fallbeispiele Adidas Store-Factory,               dukten inspiriert. Häufig werden diese Orte durch die
Hewlett Packard Fitstation und der Keen Smallest Shoe             öffentliche Hand, Stiftungen oder Privatwirtschaft sub-
Factory vorgestellt. Davon ist die Adidas Store-Factory           ventioniert. Im Folgenden wird der Makerspace „Halle 1“
besucht und durch Interviews und eine Kundenreise (vgl.           in Gelsenkirchen und die FabLabs „Das Labor e.V.“ in
Kundenintegration und neue Geschäftsmodelle weiter                Bochum sowie die „Dezentrale – Gemeinschaftslabor für
unten) analysiert worden. Es handelte sich dabei um ein           Zukunftsfragen“ in Dortmund analysiert. Die Halle 1 in
drei Monate laufendes Pilotprojekt, das unter anderem             Gelsenkirchen ist an die Westfälische Hochschule ange-
vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert wurde.4                gliedert und in deren Räumlichkeiten untergebracht. Das
Die Fallbeispiele Fitstation von Hewlett Packard (im              Projekt besteht seit 2018 und wurde vom Ministerium für
Jahr 2018 Pilotprojekt auf dem US-Markt) und die Smal-            Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des
lest Shoe Factory von Keen (im Jahr 2018 Werbetour                Landes Nordrhein-Westfalen mit 1,6 Mio. Euro subven-
durch die USA und Asien) basieren auf Internetrecher-             tioniert (o.V. 2018b: 12). Das Labor e.V. in Bochum ist
chen. In der Adidas Store-Factory werden zusammen                 2014 entstanden und ehrenamtlich organisiert. Über-
mit Kundinnen und Kunden individualisierte Wollpullo-             wiegend finden offene Treffen, Workshops, Vorträge
ver hergestellt und vor Ort innerhalb weniger Stunden             und Informationsveranstaltungen statt. Die „Dezentrale
maschinell gestrickt. Die Fitstation von Hewlett Packard          – Gemeinschaftslabor für Zukunftsfragen“ in Dortmund
ist im Rahmen ihrer Pilotierung in Sportgeschäften auf-           existiert seit 2013 und wird durch das Fraunhofer-Institut
gebaut und produziert maßgenaue Einlegesohlen. Die                für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT
Smallest Shoe Factory von Keen besteht aus zwei klei-             mit Sitz in Oberhausen betrieben.
neren Robotern, die in Geschäften und teilweise auch
in Schaufenstern ein Schuhmodell von Keen innerhalb               Festivals
weniger Minuten herstellen.                                       Im Rahmen des Forschungsprojekts „ProUrban“ des
                                                                  Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
Manufakturen                                                      entstand im Herbst 2017 eine zweimonatige Zwischen-
Manufakturen sind kleine, inhabergeführte Geschäfte, in           nutzung eines Kirchengebäudes im Bochumer Stadtteil
denen hochwertige Produkte in Kleinserien oder Einzel-            Langendreer-Alter Bahnhof. Diese temporäre Bespie-
stücken handwerklich hergestellt werden. Der Konsum               lung stand unter dem Motto „Festival der Urbanen Pro-
der Produkte wird insbesondere durch Nachfrage nach               duktion – Langendreer selbermachen“. Die ehemalige
fairen, ökologischen, qualitativ und ästhetisch hochwerti-        und zehn Jahre ungenutzte Lutherkirche wurde zum
gen Produkten, die lokal hergestellt werden, angetrieben          „LutherLAB“. Ein ähnliches Konzept verfolgte das „You
(Läpple 2013). Als Fallstudien sind die Marmeladenma-             do – Festival der Urbanen Produktion“ im Frühjahr 2018
nufaktur in Münster, die Textilwerkstatt Liebesgruß und           in Dortmund. Unternehmen, Selbstständige und Hobby-
die Schmuckschmiede (beide in Wuppertal) untersucht               Maker gaben ihr Wissen auf Workshops und im Rahmen
worden. Die Marmeladenmanufaktur ist als Feinkost-                gemeinsamer Produktentwicklungen an Interessierte
marke eingetragen, da die handgefertigte Marmelade                weiter. Hergestellt wurden unter anderem Upcycling-
hochpreisig ist und sich deutlich von der üblichen Mas-           Produkte wie Bier, Marmelade, Austernpilze, Samen-
senware abgrenzen soll. Liebesgruß beschreibt sich                bomben, Lampenschirme aus Restholz, Hocker aus
                                                                  Sperrmüll, Aquaponikanlagen, das heißt Kreislaufanla-
4 Vgl.    https://www.digitale-technologien.de/DT/Redaktion/DE/
                                                                  gen zur Fischproduktion und Pflanzenzucht, oder solche
Kurzmeldungen/Aktuelles/2017/2017-04-18_ssw_meldung_              zur Produktion von Schmuck und Palettenmöbeln oder
zukunft%20poroduktion.html (12.09.2019).                          Prototypen aus dem 3D-Drucker. Ziel dabei war, eine

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8        Anna Butzin, Kerstin Meyer

erhöhte Wertschätzung gegenüber materiellen Produk-                  hochwertigen Produkte sind die Manufakturen auf eine
ten zu schaffen, Know-how zu vermitteln und Menschen                 höhere Kaufkraft ihrer Kundinnen und Kunden angewie-
zum Nachahmen und Selbermachen einzuladen.                           sen. Repräsentative Räumlichkeiten mit Laufkundschaft
                                                                     sind wichtig. Die Manufakturen setzen aber gleichzeitig
                                                                     darauf, dass Kundinnen und Kunden für die Qualität der
                                                                     Produkte längere Wege in Kauf nehmen und gezielt dort
4 Analyse                                                            einkaufen. Auch Onlinehandel ist ein wichtiger Vertriebs-
                                                                     kanal. Die Manufakturen weisen intensive Verflech-
Neue Produktionsstandorte
                                                                     tungen zu anderen Unternehmen im Stadtquartier auf,
In den Fallbeispielen der Großunternehmen sollen
                                                                     z. B. durch die gegenseitige Nutzung oder Ausstellung
Endkunden entweder in den Produktionsprozess inte-
                                                                     der Produkte oder den Aufbau lokaler Wertschöpfungs-
griert werden, erforderliche Daten liefern oder zu nut-
                                                                     ketten. Im Vergleich zu den Großunternehmen befin-
zende Materialien individuell auswählen. Um die dafür
                                                                     den sich die Manufakturen in etwas kostengünstige-
erforderliche Kunden- bzw. Marktnähe zu erreichen
                                                                     ren Lagen. Dies hat zum einen damit zu tun, dass sie
und Laufkundschaft anzusprechen, werden stark fre-
                                                                     inhabergeführt sind und keinem finanzstarken Konzern
quentierte (Einzelhandels-)Standorte für die Produktion
                                                                     angehören. Zum anderen erfordern die Ansprüche an die
bevorzugt. Die neue Standortwahl ist Ausdruck der ver-
                                                                     Geschäftsräume recht große Flächen, die in 1a-Lagen
änderten Geschäftsmodelle, in denen Interaktion mit
                                                                     mit den angebotenen Produkten nicht bezahlbar wären.
Kundinnen und Kunden – und damit ein entscheidender
                                                                     Die Geschäftsräume müssen sowohl die Ausstellung
Dienstleistungs­charakter – maßgeblich für die Ausge-
                                                                     der Ware ermöglichen, das heißt, es muss mindestens
staltung der Produktionsprozesse ist. Diese Erweiterung
                                                                     ein repräsentativer vorderer Bereich mit Schaufenster
der Wertschöpfung durch Kundeninteraktion ist an her-
                                                                     vorhanden sein, als auch die Produktion und die Lage-
kömmlichen Produktionsstandorten von Konsumgütern,
                                                                     rung der Rohstoffe. Zusätzlich – darauf wird weiter unten
das heißt an großflächigen, in der Peripherie gelegenen
                                                                     eingegangen – bieten alle der analysierten Manufaktu-
Produktionsanlagen in Osteuropa oder Asien, nicht reali-
                                                                     ren Kundenworkshops an, wodurch ebenfalls weitere
sierbar. Daher bezog die Adidas Store-Factory temporär
                                                                     Fläche für Arbeitsplätze benötigt wird. Gleichwohl sind
Geschäftsräume im zentral gelegenen Shoppingcen-
                                                                     die Manufakturstandorte durch hohe Nutzungskonkur-
ter Bikini-Berlin.5 Die Fitstation und die Smallest Shoe
                                                                     renz gekennzeichnet. Insbesondere die Akteure aus den
Factory sollten im Sporthandel installiert werden (Car-
                                                                     Segmenten Wohnen und Gastronomie, die ebenfalls als
ballo 2018; o.V. 2018a). Auch die Produktionstechnik wird
                                                                     Nutzer der Räumlichkeiten in Frage kommen, sind in der
an die neuen Standorte angepasst, indem sie nicht nur
                                                                     Regel finanzstärker und können Mietpreissteigerungen
kleiner und sauberer wird, sondern auch Flexibilität (z. B.
                                                                     besser ausgleichen. So laufen die Manufakturen Gefahr,
hinsichtlich Farben und Formen) ermöglicht, durch die
                                                                     durch die zum Teil von ihnen mitgestaltete Aufwertung
individuellen Kundenwünschen begegnet werden kann.
                                                                     des Stadtquartiers und den derzeit hohen Druck auf
Faktisch dürfen seitens der Produktionstechnik keine
                                                                     dem Wohnungsmarkt von ihren Standorten verdrängt zu
besonderen Standortansprüche, wie etwa eine erschüt-
                                                                     werden.
terungsfreie Umgebung, große ebenerdige Flächen oder
                                                                           Der Makerspace Labor e.V. ist in einem Mischgebiet
die Genehmigung erhöhter Lärmemissionen, gestellt
                                                                     in einem Souterrain im Innenhof einer Blockrandbebau-
werden, um bei der Standortwahl in den gefragten Ein-
                                                                     ung im Zentrum Bochums untergebracht. Zusätzlich
zelhandelslagen größte Flexibilität zu haben. Folglich
                                                                     finden zwei monatliche Repair Cafés in Ladenlokalen
sind die Produktionsprozesse durch emissionsarme
                                                                     anderer Initiativen statt. Die „Dezentrale“ in Dortmund
Technologien und nur wenige Quadratmeter in Anspruch
                                                                     liegt im Innenhof einer Blockrandbebauung eines Wohn-
nehmende Minifabriken gekennzeichnet.
                                                                     gebiets. Die umliegenden Häuser dienen überwie-
     Die Manufakturen liegen in gefragten Stadtquar-
                                                                     gend dem Wohnen, vereinzelt sind sie Bürostandort.
tieren, das heißt in Quartieren, die überwiegend durch
                                                                     Im Gegensatz dazu befindet sich die Halle 1 direkt auf
eine gründerzeitliche Baustruktur, eine junge, urbane
                                                                     dem Campus der Westfälischen Hochschule am Stadt-
Szene und Mischnutzungen (Wohnen, Gastronomie,
                                                                     rand Gelsenkirchens. Da von den Einrichtungen keine
Dienstleistungen) gekennzeichnet sind. Aufgrund ihrer
                                                                     Emissionen ausgehen und der Publikumsverkehr gering
                                                                     ist, gibt es keine Nutzungskonflikte. In mittel- bis lang-
5 Vgl. https://www.bikiniberlin.de/de/journal/adidas_knit_for_you_   fristiger Sicht sind die Räumlichkeiten der „Dezentrale“
im_bikini_berlin/ (12.09.2019).                                      allerdings zu klein und eine Erweiterung am aktuellen

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                                                                                           Heruntergeladen am | 21.11.19 09:25
Urbane Produktion und temporäre räumliche Nähe in Produktionsprozessen             9

Standort nur begrenzt möglich. Es gibt derzeit die Über-        nicht für temporäre Nutzung verfügbar waren. Trotzdem
legung, aus einer Erdgeschosswohnung im Vorderhaus              waren die Betreiber mit der Standortwahl zufrieden, im
ein Ladenlokal zu machen. Die offenen Werkstätten sind          LutherLAB hat sich im Anschluss an das Festival ein
in der Kundenakquise nicht auf Laufkundschaft angewie-          Verein gegründet, der die Kirche durch weitere, zum Teil
sen, wie die Unternehmen der beiden anderen Fallstudi-          produktive Nutzungen bespielt und weitere kurzfristige
engruppen. Sie bedienen eine technikaffine Zielgruppe,          Festivals plant.
die durch den Online-Auftritt und andere Werbemaß-
nahmen von der technischen Ausstattung angespro-                Inspirierende, offene Produktionsstätten
chen wird und die Werkstätten besucht. Die Offenheit            Die Store-Factory als Einrichtung der Großunternehmen
der Werkstätten wird also nicht über die Lage, sondern          ist ausdrücklich darauf ausgerichtet, Laufkundschaft
durch Werbung, die Produktionsstätte und Kommunika-             anzusprechen und einen spontanen Kundenbesuch zu
tion vor Ort vermittelt. Die Standortwahl erfolgt anhand        ermöglichen. Dies wird neben dem Standort in einem
der Präferenzen der jeweiligen Betreiber und der ihnen          Einkaufszentrum auch durch die einem Bekleidungs-
zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und ist ent-             geschäft ähnelnde Raum- und Schaufenstergestaltung
sprechend unterschiedlich. Der Makerspace Labor e.V.            unterstrichen. Zum Beispiel können Musterpullover
liegt zentral und ist gut erreichbar, da die Mitglieder des     mit unterschiedlichen Farben und Schnitten im Vorfeld
Vereins vom Stadtrand und den umliegenden Stadtteilen           besichtigt werden. Auch die Fitstation und die Smallest
nach Bochum einpendeln. Die „Dezentrale“ residiert im           Shoe Factory befinden sich in Sportgeschäften, in denen
Hinterhaus des Hauses, in dem der Betreiber wohnt, und          Prototypen der Einlegesohlen und der Sandalen ausge-
die Halle 1 ist in den Räumlichkeiten der Universität, die      stellt sind. In der Store-Factory ist zusätzlich eine große
sie initiiert hat, untergebracht.                               Foto-Collage gestaltet, auf der prominente Berliner Influ-
     In beiden Festival-Fällen handelt es sich um zwi-          encer und Kunstschaffende bei der Produktion des Pul-
schen- sowie umgenutzte Räumlichkeiten in zentraler             lovers zu sehen sind. Die gesamten Räumlichkeiten der
Lage der jeweiligen Quartiere. Im LutherLAB wurde               Store-Factory sind auf eine hippe, sportbegeisterte Ziel-
eine Kirche im Bochumer Stadtteil Langendreer-Alter             gruppe ausgerichtet: Boden und Wände sind schwarz,
Bahnhof genutzt. Bei der Dortmunder „Werkhalle“                 im Hintergrund läuft elektronische Musik, in einer Lounge
handelt es sich um ein ehemaliges Werksgebäude                  gibt es Bio-Limonade. Die Smallest Shoe Factory ist
der Hoesch Stahl AG im Unionviertel Dortmund. Beide             durch ihre geringe Größe sehr mobil, sodass sie nicht
Orte sind in ihre Quartiere eingebettet und gut zu Fuß,         nur im Sporthandel, sondern auch bereits als Blickfang
mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Nahverkehr zu             in Schaufenstern und auf einem Design-/Kunstfestival
erreichen. Die Standorte in zentraler Lage innerhalb der        sowie in einer Hochschule für Design installiert wurde
Quartiere wurden von den Organisatoren gewählt, da              (Carballo 2018). Die Fitstation befindet sich in einer ver-
diese für die Quartiersbewohnerinnen/-bewohner in der           gleichsweise funktionalen Umgebung, in der Testen und
Vergangenheit wichtige Orte der Zusammenkunft und               Maßnehmen im Vordergrund stehen, damit ein ange-
des Austausches waren, im Fall des Werksgebäudes                passtes Produkt, je nach individueller Gangart, entsteht.
sogar mit Produktionsgeschichte. Durch die Symbolik                  Die Räumlichkeiten aller Fallstudien sind so gestal-
der Orte sollte die Quartiersbevölkerung angesprochen           tet, dass die Produktionsmaschinen und Produktionspro-
werden, damit nicht nur im Quartier ansässige Betriebe,         zesse von der Kundschaft beobachtet werden können
sondern auch die Nachbarschaft produktiv tätig werden           und transparent sind. Die Produktionsmaschinen sind
konnte. Das äußere Erscheinungsbild beider Gebäude              gut sichtbar in die Verkaufsumgebung integriert bzw. im
erweckt allerdings kaum Offenheit. Das Kirchengebäude           Fall der Smallest Shoe Factory der Mittelpunkt des Ein-
ist nach innen gewandt und es gibt keine Schaufenster           kaufserlebnisses. In der Store-Factory sind die Strick-
und Sichtbeziehungen nach außen. Lediglich die offene           maschinen hinter einer Glaswand aufgebaut. Dieser
Tür und Licht im Innenraum laden Vorbeigehende zum              Bereich darf aus Sicherheitsgründen allerdings nur von
Eintreten ein. Die Werkhalle ist durch ein kleines Laden-       Fachpersonal betreten werden. Durch die prominente
lokal mit einem Schaufenster erreichbar und somit auch          Platzierung der Produktionsanlagen wird Endkunden
nicht direkt einsehbar. Für beide Festivals war zusätzli-       vermittelt, dass sie Teil des Produktionsprozesses sind,
che Öffentlichkeitsarbeit notwendig, um viele Menschen          dieser leise, sauber und fair ist, kurze Wege ermöglicht
anzusprechen. Die Aufbereitung der Räumlichkeiten               und Lagerhaltung erübrigt. Diese Aufwertung der Pro-
für die Zwischennutzungen ging mit hohem Arbeitsauf-            duktionsprozesse wird durch die zielgerichtete Nähe
wand einher, da beide Gebäude bisher leerstanden und            zur Kunst- und Designszene im Falle der Store-Factory

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                                                                                          Heruntergeladen am | 21.11.19 09:25
10       Anna Butzin, Kerstin Meyer

und der Smallest Shoe Factory unterstrichen, durch die            als Spenden verbucht. Für Laien besteht die Möglichkeit,
Produktion zusätzlich mit einem ästhetischen Narrativ in          zu bestimmten Zeitpunkten an Einführungsworkshops
Verbindung gebracht werden soll.                                  teilzunehmen oder einen Termin mit dem jeweiligen
     Die Aufteilung der Geschäftsräume der untersuch-             Fachpersonal zu vereinbaren. Zwar bezeichnen sich die
ten Manufakturen in Produktion und Ausstellung verbin-            untersuchten Werkstätten als offen, da die Maschinen
det den Herstellungsprozess und das Endprodukt für                von jeder interessierten Person nach einer Einführung
Kundinnen und Kunden unmittelbar und transparent.                 genutzt werden können. Im Vergleich zur Offenheit der
Rohmaterialien wie Früchte, Stoffe, Drähte oder Steine            Produktionsstätten von Großunternehmen und Manu-
können gesehen und haptisch wahrgenommen werden.                  fakturen zielen die Makerspaces aber nicht darauf ab,
Die für die Produktion genutzten Maschinen sind im                eine allgemein interessierte Laufkundschaft bzw. End-
Vergleich zu denen der oben beschriebenen Großun-                 kunden spontan anzusprechen. Nutzende haben in der
ternehmen bekannte Gebrauchsgegenstände wie Näh-                  Regel bereits im Vorfeld des Besuchs ein bestimmtes
maschinen, Küchengeräte oder Bohrmaschinen, da die                Projekt bzw. eine Problemlösung konzipiert, die dann
handwerklichen Tätigkeiten im Vordergrund stehen.                 vor Ort umgesetzt und materialisiert wird. Technikaffi-
     Produktionsprozesse in den Manufakturen bestehen             nität ist hierfür eine notwendige Voraussetzung. Auch
weniger aus neuen, sauberen Technologien und teilneh-             die Inspirationsquellen unterscheiden sich. Sie basieren
mender Beobachtung seitens der Kundschaft. Sie sind               weniger auf Prototypen und bereits vorhandenen Pro-
durch traditionelle handwerkliche Tätigkeiten, aktive Ein-        dukten, sondern auf dem Austausch und den Projekt-
bindung der Kundinnen und Kunden in Form von Work-                bzw. Lösungsvorschlägen, zum Teil auch Exponaten der
shops (siehe Kundenintegration) und die deutlich sicht-           anderen Nutzenden des Makerspaces. Der Austausch
bare Verarbeitung von Rohmaterialien gekennzeichnet,              wird durch Begegnungsmöglichkeiten, wie z. B. Gemein-
was je nach Handwerk auch Überschuss, Abfall und                  schaftsküchen, unterstützt.
Staubentwicklung mit sich bringt. Die Ausstellungsflä-                 Begegnungsräume wurden auch auf den Festivals
chen hingegen sind ästhetisch und modern, um die hohe             angeboten. Interessierte, also Bewohnerinnen und
Produktqualität zu unterstreichen. In den Räumlichkeiten          Bewohner des Quartiers oder der Stadt, die den Haupt-
der Manufakturen vermischen sich so die Anforderungen             teil der Nutzerinnen und Nutzer stellten, konnten die
einer traditionellen Werkstatt mit denen des gehobenen            Festival-Räumlichkeiten spontan betreten und an Work-
Einzelhandels. Diese Kombination ist charakteristisch             shops zum Unkostenbeitrag teilnehmen oder zusehen.
für die untersuchten Produktionsstätten und ein deutli-           Weiterhin bestand die Möglichkeit, sich zu Workshops
cher Unterschied zu den Großunternehmen, in denen                 mit begrenzter Teilnehmerzahl anzumelden. Außerdem
die neuartigen Produktionsprozesse vordergründig sind.            nutzten Unternehmen die Räumlichkeiten während der
Die Gemeinsamkeit beruht auf dem offen einsehbaren                Öffnungszeiten als Verkaufs- und Ausstellungfläche.
und erlebbaren Produktionsprozess, der unmittelbar mit            Auch während der Workshops mit Teilnahmebegren-
einem Endprodukt verknüpft ist.                                   zungen standen die Türen für andere Besucherinnen
     Die angemieteten Räumlichkeiten des Makerspace               und Besucher offen, die sich von der geschäftigen
„Dezentrale“ umfassen rund 60 qm. Das Labor e.V.                  Atmosphäre, den Maschinen und den Workshops ins-
erstreckt sich auf einer Fläche von rund 100 qm. Die Halle        pirieren ließen, Wissen erwarben und selbst neue Ideen
1 nutzt etwa 300 qm. Im Erdgeschoss befinden sich die             entwickelten. Den Organisatoren ging es mit dem Do-it-
Produktionsarbeitsplätze und Maschinen, während auf               yourself-Charakter der Festivals zum einen darum, zum
einer Empore Arbeitsplätze und die 3D-Drucker unterge-            nachhaltigen Umgang mit Materialen und Rohstoffen,
bracht sind. Die vorhandene technische Grundausstat-              z. B. durch Upcycling, anzuregen. Zum anderen verfolg-
tung umfasst in allen drei Firmen 3D-Drucker, Scanner,            ten die Festivals den Zweck, einen Ort des temporären
Lasercutter, Lötstation und Computer-Terminals mit                Austauschs im Quartier zu schaffen, an dem die Bewoh-
entsprechender Open-Source- sowie kommerzieller                   nerschaft durch gemeinsames Werken und Entwickeln
Software. Mitglieder können sich in allen Räumen frei             soziale Netzwerke stärken kann. Aus diesem Grund
bewegen, nachdem sie einen Haftungsausschluss unter-              dienten die bereitgestellten Ausstellungsflächen, ähnlich
schrieben haben. Viele Maschinen dürfen nach einer                wie in den Produktionsstätten von Großunternehmen
Einführung kostenlos verwendet werden. Die Maschi-                und Manufakturen, zwar der Inspiration, allerdings trat
nen, bei denen Kosten durch Abnutzung entstehen, sind             der Verkaufszweck im Vergleich dazu deutlich in den
gegen Gebühren nutzbar. Zum Befragungszeitpunkt                   Hintergrund.
variierten die Gebühren noch stark und wurden häufig

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                                                                                         Heruntergeladen am | 21.11.19 09:25
Urbane Produktion und temporäre räumliche Nähe in Produktionsprozessen              11

Kundenintegration und neue Geschäftsmodelle                     ligen Geschäftsmodelle und ein wichtiges Instrument
In der Store-Factory (Fallstudiengruppe Großunterneh-           der Kundenintegration und Kundenbindung. Dazu sind
men) erfolgt Kundeninteraktion nach dem Prinzip einer           ausreichend Arbeitsplätze in den Geschäftsräumen
etwa einstündigen Kundenreise, an die die maschinelle           vorhanden. In mehrstündigen Workshops werden Pro-
Produktion des Pullovers anschließt. Die Reise beginnt          dukte unter Anleitung von Teilnehmenden gegen Gebühr
mit der Vergabe eines QR-Codes, mit dem spätere                 selber hergestellt. Daneben besteht auch die Möglich-
Produktionsstufen gespeichert werden können. In                 keit des Direktverkaufs vor Ort. Spontane Koproduktion
einem „Creator-Space“ können Kundinnen und Kunden               ist nicht möglich, da die Workshops nur nach vorheriger
technikgestützt eigene Muster kreieren und mittels              Anmeldung, zu bestimmten Zeiten und bei einer ausrei-
3D-Bodyscan werden die Körpermaße genommen. An                  chenden Zahl an Interessentinnen und Interessenten
einer „Work Bench“ wählen Kundinnen und Kunden an               stattfinden. Mit derartigen Workshops erfährt die im Ein-
Computern die endgültige Farbe, Länge und das Muster            zelhandel übliche Selbstbedienung eine Weiterentwick-
des Pullovers und versenden den Produktionsauftrag. In          lung hin zu Eigenproduktion, da Kundinnen und Kunden
diesen Produktionsschritten ist der Wissensaustausch            ihre Produkte im Rahmen vorgegebener Produktions-
zwischen Kundinnen/Kunden und Produzentinnen/                   mittel gestalten und herstellen. Während Kundinnen und
Produzenten hoch. Kundinnen und Kunden geben ihre               Kunden in den beschriebenen Produktionsprozessen
Vorlieben preis, während das Produktionsunternehmen             der Großunternehmen eine aktive Rolle in der Vorberei-
durch die gesammelten Daten in Echtzeit lernen kann,            tung der Produktion haben, die Produktion aber maschi-
welche Farben, Formen und Materialien von Endkun-               nell stattfindet, leisten sie in den Manufakturen den
den präferiert werden. Gleichzeitig werden die Kundin-          entscheidenden Beitrag im Herstellungsprozess selbst.
nen und Kunden auf der Reise kontinuierlich von Ver-            Die Anleitung zur Eigenproduktion und das Vermitteln
kaufspersonal begleitet und mittels Wissenstransfer in          von handwerklichen Fähigkeiten in den Workshops ist
die einzelnen Arbeitsschritte eingewiesen. Die Fitstation       eine angebotserweiternde Dienstleistung der Manufak-
von Hewlett Packard erfasst individuelle Kundenmaße             turen. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Möglichkeit,
durch eine Ganganalyse elektronisch und übermittelt             das Produktspektrum durch Ideen, die von Kundinnen
sie an einen 3D-Drucker, der die Sohlen druckt. In der          und Kunden auf den Workshops kommuniziert werden,
Smallest Shoe Factory sind Kundinnen und Kunden                 zu verbessern oder zu erweitern. Die Lerneffekte im
zwar nicht direkt in den Produktionsprozess eingebun-           Rahmen der Produktionsstufe der Fertigung sind daher
den, sie können aber im Vorfeld den Schuh konfigurieren         gegenseitig.
und bei der nur sechs Minuten andauernden Produktion                 In FabLabs liegt der Schwerpunkt vor allem auf
zusehen. Kundenintegration in den Fallbeispielen erfolgt        dezentraler Fertigung mittels des genannten Technik-
mit dem Ziel, die individuellen Maße der Kundinnen und          equipments. Die „Dezentrale“ bietet unterschiedliche
Kunden zu nehmen und diese ihre geschmacklichen                 ‚Labs‘ für Interessierte an. So befasst sich das e:Lab
Vorlieben zum Ausdruck bringen zu lassen (Mass Custo-           – Bürgerlabor für Energieinnovationen mit neuartigen
mization). Die Produktion vor Ort erlaubt eine sehr kurze       Konzepten zur Energieerzeugung, -speicherung, -ver-
Markteintrittszeit im Vergleich zu online konfigurierbaren      teilung und -nutzung. Und im BioLab geht es um das
Massenprodukten, wie z. B. Turnschuhen. Kundinnen               Potenzial biologischer Prozesse in Lebensmittelproduk-
und Kunden können ihr Produkt sofort im Anschluss mit-          tion, Materialentwicklung und Abfallnutzung. Während
nehmen und erhalten dadurch eine direkte ‚Belohnung‘            der Öffnungszeiten bieten Mitarbeiterinnen und Mitar-
für ihren Zeitaufwand während der Vorbereitung des              beiter der „Dezentrale“ Unterstützung bei Projektreali-
Produktionsprozesses. Darüber hinaus gelingt es, die            sierungen. Zusätzlich finden regelmäßig Workshops zu
Produkte durch die intensive Einbindung der Kundinnen           unterschiedlichen Themen statt. Ziel der „Dezentrale“
und Kunden zu emotionalisieren, da sie nun mit einem            ist es, ein Umfeld zu bieten, in dem sich Ideen zu wirt-
(positiven) Erlebnis und persönlichen Entscheidungen            schaftlich verwertbaren Produkten entwickeln können.
in Verbindung stehen. Dass beteiligte Kundinnen und             Auch die Halle 1 möchte Ausgründungen im wirtschaft-
Kunden gleichzeitig ihre Daten preisgeben und unent-            lichen Bereich fördern und wurde gezielt zur Prototy-
geltliche Arbeit leisten, rückt dabei in den Hintergrund.       pen-Entwicklung an der Hochschule angesiedelt. Die
     In den drei Manufakturen (Marmeladenmanufak-               Do-it-yourself-Kultur des Personals vor Ort ist dabei aus-
tur, Textilwerkstatt Liebesgruß und Schmuckschmiede)            schlaggebend. Zusätzlich werden gemeinsam mit weite-
sind Kundenworkshops eine zentrale Säule der jewei-             ren Einrichtungen und Initiativen Kurse für Schüler/innen

                           Bereitgestellt von | Westfälische Hochschule Zentrum für Informationstechnik und Medien - Bibliothek
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