Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Parlament
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Verfassungsgerichtshof III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 1 von 92 Tätigkeitsbericht 2020 www.parlament.gv.at
Inhalt III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 3 von 92 Vorwort 5 I 2020 in Zahlen 6 II Personalia 10 1. Das Kollegium des Verfassungsgerichtshofes 13 1.1. Änderungen in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes 13 1.2. Ständige Referentinnen und Referenten 13 1.3. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes 14 1.4. Kurt Heller zum Gedenken 17 2. Das nichtrichterliche Personal 18 2.1. Personalstand 18 2.2. Frauenförderung sowie Aus- und Fortbildung im Verfassungsgerichtshof 18 III Judizielles 20 1. 2020 im Überblick 22 2. Allgemeine Übersicht und Kurzbilanz 24 3. Der Weg zur Entscheidung 26 4. Rückblick auf die wichtigsten Erkenntnisse des Jahres 2020 28 5. Beschwerdeverfahren in Asylangelegenheiten 38 6. Sachentscheidungen gemäß Art. 140 B-VG in Leitsätzen 40 7. Judikaturdokumentation 45 IV Veranstaltungen und internationale Kontakte 46 1. Kalendarium 2020 48 2. Veranstaltungen zum 100-jährigen Jubiläum des B-VG und des Verfassungsgerichtshofes 50 3. Internationaler Austausch 51 V Im Gespräch … … mit Univ.-Prof. Dr. Gabriele Kucsko-Stadlmayer 54 VI 100 Jahre Verfassungsgerichtshof 60 1. Veranstaltungsreihe „100 Jahre Verfassungsgerichtshof“ 62 2. „Unsere Verfassung als Magazin“ 64 3. Matinée „Verfassung der Kultur – Kultur der Verfassung“ 65 4. Symposion der jungen Wissenschaft: „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zukunft – Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit“ 66 4.1. Patrick Segalla: Die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und seiner Mitglieder 67 4.2. Anna Katharina Struth: Organstreitigkeiten 75 VII Statistik 84 www.parlament.gv.at
Vorwort III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 5 von 92 Das Jahr 2020 war für den Verfassungsgerichtshof ein besonderes Jahr. Es begann mit personellen Veränderungen. Nach monatelangen Vakanzen im Präsidium war das Richterkollegium im Frühjahr 2020 endlich wieder vollzählig. Der Berichtszeitraum stand aber auch ganz im Zeichen des 100-jährigen Jubiläums der Bundesverfassung und damit auch der Errichtung des Verfassungsgerichtshofes im Jahr 1920. Aus diesem Anlass waren zahlreiche Veranstaltungen und Aktivitäten geplant, ein guter Teil davon konnte auch durchgeführt werden. Eine Veranstaltungs- reihe mit exzellenten Vorträgen begann im Jänner und wurde am 1. Oktober mit einem Symposium junger Wissenschafterinnen und Wissenschafter abgeschlossen. Die Vorträge werden gesondert publiziert. Die Covid-19-Pandemie hat auch im Verfassungsgerichtshof einige Anpassungen in der Arbeitsweise erforderlich gemacht und bedauerlicherweise mehrere Vorhaben zum 100. Jubiläum ganz oder teilweise verhindert. Trotz der Einschränkungen ist es dem Verfassungsgerichtshof gelungen, durch entsprechende Sicherheitskonzepte den Sessionsbetrieb nahezu unverändert aufrecht zu erhalten und die eingehenden Rechtssachen in gewohnter Qualität und kurzer Verfahrensdauer zu erledigen. So lag die Zahl der neu eingegangenen Anträge und Beschwerden sowie erledigter Akten jeweils bei rund 6.000 Fällen, wobei der Anteil an Asylrechtssachen rund 49 % des Gesamtanfalls ausmachte. Die Verfahrensdauer betrug durchschnittlich knapp unter vier Monate. Auch inhaltlich hatte sich der Verfassungsgerichtshof in diesem Jahr mit zahlreichen Anträgen und Beschwerden gegen die rechtlichen Rahmenbedingungen der Pandemie- bekämpfung auseinanderzusetzen. Seine ersten grundsätzlichen Entscheidungen traf er bereits im Juli, wobei der Gerichtshof in Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung Individualanträge auch gegen Verordnungen für zulässig erachtet hat, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung schon außer Kraft getreten waren. Die rechtlichen Grundlagen für diverse Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden den Verfassungsgerichtshof auch weiterhin beschäftigen. Dieser Bereich führt auch zu einem stark vermehrten Anfall der Arbeit beim Bürgerservice des Gerichtshofes. Der im Jubiläumsjahr geplante Schwerpunkt für Schulen mit dem Projekt „Verfassung macht Schule“ konnte mit ersten Besuchen von Mitgliedern an Schulen und Führungen von Schülerinnen und Schülern durch das Gerichtsgebäude begonnen werden. Eine in diesem Zusammenhang geplante Wanderausstellung „Verfassungsgerichtshof auf Tour“ in Containern musste auf das Frühjahr 2021 verschoben werden. Der Tätigkeitsbericht 2020 präsentiert sich ebenfalls etwas verändert – möge mit diesem neuen Aussehen auch ein übersichtlicher und vollständiger Überblick über die Aktivitäten des Verfassungsgerichtshofes gelingen! Univ.-Prof. Dr. Verena Madner Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes Präsident des Verfassungsgerichtshofes 5 www.parlament.gv.at
I 6 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 115 Tage 1 Jahr durchschnittliche Verfahrensdauer www.parlament.gv.at
2020 in Zahlen III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 7 von 92 Der VfGH kann vor allem befasst werden mit • Beschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte • Anträgen auf Gesetzes-, Verordnungs- und Staatsvertragsprüfung (seit 2015 auch auf Antrag von Parteien eines Verfahrens vor einem ordentlichen Gericht) • Klagen, die gegen eine der Gebietskörperschaften gerichtet sind • Wahlanfechtungen • seit 2015 auch mit Streitigkeiten betreffend Einsetzung und Tätigkeit von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen 106 88 Wahlsachen nach Art. 141 B-VG 5.811 Klagen nach Art. 137 B-VG neue Rechtssachen 4 U-Ausschuss- Verfahren nach Art. 138b B-VG 62 % Asyl 60,4 % 39 % (2.873) Verordnungs- Gesetzesprüfungs- prüfungsverfahren verfahren (608) (392) 0,6 % 4.590 1.006 Staatsvertrags- Beschwerdeverfahren Normenkontrollverfahren prüfungsverfahren nach Art. 144 B-VG nach Art. 139, 140, 140a B-VG (6) 167 Gerichtsanträge, 15 von Amts wegen, 691 Individualanträge, 131 Parteianträge, 2 sonstige www.parlament.gv.at
2015 –2020 8 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 6 Jahre U-Ausschuss-Kompetenz 6 Jahre Parteiantrag auf Normenkontrolle Im Zuge der Einführung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse als Minderheitsrecht in die Bundesverfassung wurde dem Verfassungsgerichtshof vor sechs Jahren eine Reihe von Zuständigkeiten zur Entscheidung über Streitigkeiten betreffend die Einsetzung und die Tätigkeit von Untersuchungsaus- schüssen auf Antrag des Ausschusses, eines Viertels seiner Mitglieder oder eines informationspflichtigen Organs sowie des BMJ übertragen. Ebenfalls 2015 wurde der Kreis der Antragslegitimierten in Gesetzes-, Verordnungs- und Staatsvertragsprüfungsverfahren um die Partei(en) eines Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten erweitert („Parteiantrag auf Normenkontrolle“). Die Bilanz sieht folgendermaßen aus: Untersuchungsauschuss-Verfahren Parteianträge auf Gesetzes-/Verordnungsprüfung Bisher wurden insgesamt 18 Anträge bzw. Beschwerden Bisher wurden insgesamt 1.218 Anträge** gestellt; in rund wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten an den 15 Verfahren kam es zur – zumindest teilweisen – Aufhebung Verfassungsgerichtshof herangetragen. der angefochtenen Bestimmung(en), rund 200 Anträge wurden als unbegründet abgewiesen. Die Behandlung von rund 2015 315 Anträgen wurde abgelehnt; als unzulässig zurückge- Hypo: 10 [5 Sachentscheidungen zu Fragen der wiesen wurden rund 440 Parteianträge. Vorlagepflicht, 1 Einstellung, 4 Zurückweisungen (Persönlichkeitsrechte)] 2018 Eurofighter: 1 [Sachentscheidung (Vorlagepflicht)] BVT: 3 [1 Sachentscheidung (Vorlagepflicht), 300 2 Zurückweisungen (Persönlichkeitsrechte)] 250 2020 200 Ibiza-Video: 4 [3 Sachentscheidungen (Untersuchungsgegenstand, Vorlagepflicht, 150 Verlangen nach Ladung*), 1 Einstellung] 100 50 0 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Parteianträge 2015–2020 Gesetzesprüfungsverfahren Verordnungsprüfungsverfahren Wiederverlautbarungsprüfungsverfahren Staatsvertragsprüfungsverfahren * Das zuletzt angesprochene Erkenntnis erging im Jänner 2021. ** Einschließlich Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Stellung eines Parteiantrages. 8 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 9 von 92 14 Mitglieder 28,57 % 71,43 % Frauen Männer 6 Ersatz- mitglieder 50 % 50 % Frauen Männer 119 Bedienstete 68 % 32 % Frauen (81) Männer (38) € 17,259 Millionen Haushalt 2020 979.000 7,8 Millionen total visits der Website 2020 Seitenaufrufe der Website 2020 2020 in Zahlen Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 9 www.parlament.gv.at
Personalia III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 11 von 92 www.parlament.gv.at
12 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 19.2.2020 24.4.2020 Angelobung des Präsidenten des Verfassungs- Angelobung der Vizepräsidentin des gerichtshofes Christoph Grabenwarter Verfassungsgerichtshofes Verena Madner durch Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in durch Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in Anwesenheit von Bundeskanzler Sebastian Kurz und Anwesenheit von Präsidenten Christoph Grabenwarter Vizekanzler Werner Kogler sowie der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes 12 www.parlament.gv.at
II.1. III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 13 von 92 Das Kollegium des Verfassungsgerichtshofes Der Verfassungsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten, der Vizepräsidentin, zwölf weiteren Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern, die über Vorschlag der Bundesregierung, des Nationalrates oder des Bundesrates vom Bundes- präsidenten ernannt werden. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes scheiden mit Ablauf des Jahres aus dem Amt, in dem sie das 70. Lebensjahr vollendet haben. Sie genießen die Garantien der richter- lichen Unabhängigkeit. Unterstützend sind 119 (nichtrichter- liche) Bedienstete im Verfassungs- gerichtshof tätig. II.1.1. II.1.2. Änderungen in der Zusammensetzung Ständige Referentinnen des Verfassungsgerichtshofes und Referenten Das Jahr 2020 war vor allem an der Spitze des Verfassungs- Die ständigen Referentinnen und Referenten werden vom gerichtshofes von Veränderungen geprägt. Der Bundespräsi- Plenum des Verfassungsgerichtshofes aus dessen Mitte dent hat über Vorschlag der Bundesregierung jeweils auf drei Jahre gewählt. Eine Wiederwahl ist zulässig. • am 19. Februar 2020 den vormaligen Vizepräsidenten Dem Verfassungsgerichtshof standen in der ersten Jahreshälfte Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter, der dem des Berichtsjahres zwölf, danach 13 ständige Referentinnen Verfassungsgerichtshof seit 2005 als Mitglied angehört, und Referenten, darunter auch die Vizepräsidentin, zur Ver- zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes und fügung. 2020 wurden Dr. Michael Holoubek, Vizepräsidentin Dr. Verena Madner, Dr. Claudia Kahr, Dr. Helmuth Hörtenhuber, • mit Wirksamkeit vom 22. April 2020 Univ.-Prof. Dr. Verena Dr. Georg Lienbacher und Dr. Christoph Herbst zu ständigen Madner zur Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes Referentinnen bzw. Referenten (wieder-)gewählt. ernannt. Zum Ende des Berichtsjahres schied wegen Erreichens der Altersgrenze Hofrätin Dr. Lilian Hofmeister, Richterin am Handelsgericht Wien i.R., als Ersatzmitglied aus. Dr. Hofmeister gehörte dem Verfassungsgerichtshof über 20 Jahre als Ersatzmitglied an. Personalia Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 13 www.parlament.gv.at
II.1.3. 14 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes Mitglieder DDr. Christoph Grabenwarter Dr. Verena Madner Dr. Claudia Kahr geboren 1966 in Bruck an der Mur geboren 1965 in Linz geboren 1955 in Graz Universitätsprofessor, WU Wien Universitätsprofessorin, WU Wien Sektionschefin im Bundesministerium für Mitglied seit 2005, Vizepräsident Feb- Vizepräsidentin seit 2020, zur ständigen Verkehr, Innovation und Technologie i.R. ruar 2018 bis Februar 2020, wiederholt Referentin gewählt, nominiert von der Mitglied seit 1999, wiederholt zur stän- zum ständigen Referenten gewählt, Bundesregierung digen Referentin gewählt, nominiert Präsident seit Februar 2020, nominiert von der Bundesregierung von der Bundesregierung Dr. Wolfgang Brandstetter Dr. Johannes Schnizer Dr. Helmut Hörtenhuber geboren 1957 in Haag geboren 1959 in Graz geboren 1959 in Linz Universitätsprofessor, WU Wien Parlamentsrat a.D. Landtagsdirektor a.D., Honorarprofessor Mitglied seit 2018, zum ständigen Mitglied seit 2010, wiederholt zum Mitglied seit 2008, wiederholt zum Referenten gewählt, nominiert von ständigen Referenten gewählt, ständigen Referenten gewählt, der Bundesregierung nominiert von der Bundesregierung nominiert von der Bundesregierung 14 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 15 von 92 Dr. Markus Achatz Dr. Christoph Herbst Dr. Georg Lienbacher geboren 1960 in Graz geboren 1960 in Wien geboren 1961 in Hallein Universitätsprofessor, JKU Linz, Rechtsanwalt Universitätsprofessor, WU Wien Wirtschaftstreuhänder Mitglied seit 2011, wiederholt zum Mitglied seit 2011, wiederholt zum Mitglied seit 2013, wiederholt zum ständigen Referenten gewählt, ständigen Referenten gewählt, ständigen Referenten gewählt, nominiert vom Bundesrat nominiert von der Bundesregierung nominiert vom Nationalrat Dr. Michael Holoubek Dr. Sieglinde Gahleitner Dr. Andreas Hauer geboren 1962 in Wien geboren 1965 in St. Veit im Mühlkreis geboren 1965 in Ybbs an der Donau Universitätsprofessor, WU Wien Rechtsanwältin, Honorarprofessorin Universitätsprofessor, JKU Linz Mitglied seit 2011, wiederholt zum Mitglied seit 2010, wiederholt zur Mitglied seit 2018, zum ständigen ständigen Referenten gewählt, ständigen Referentin gewählt, Referenten gewählt, nominiert vom nominiert vom Nationalrat nominiert vom Bundesrat Nationalrat Dr. Ingrid Siess-Scherz Dr. Michael Rami geboren 1965 in Wien geboren 1968 in Wien Parlamentsrätin a.D. Rechtsanwalt Mitglied seit 2012, wiederholt Mitglied seit 2018, zum ständigen zur ständigen Referentin gewählt, Referenten gewählt, nominiert nominiert von der Bundesregierung vom Bundesrat Personalia Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 15 www.parlament.gv.at
Ersatzmitglieder 16 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Dr. Lilian Hofmeister Dr. Robert Schick Mag. Werner Suppan geboren 1950 in Wien geboren 1959 in Wien geboren 1963 in Klagenfurt Richterin am Handelsgericht Wien i.R., Senatspräsident des Verwaltungs- Rechtsanwalt Hofrätin gerichtshofes, Honorarprofessor Ersatzmitglied seit 2017, Ersatzmitglied seit 1998, Ersatzmitglied seit 1999, nominiert nominiert vom Bundesrat nominiert von der Bundesregierung vom Nationalrat Dr. Nikolaus Bachler Dr. Angela Julcher MMag. Dr. Barbara geboren 1967 in Graz geboren 1973 in Wien Leitl-Staudinger Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes Hofrätin des Verwaltungsgerichtshofes, geboren 1974 in Linz Ersatzmitglied seit 2009, nominiert von Honorarprofessorin Universitätsprofessorin, JKU Linz der Bundesregierung Ersatzmitglied seit 2015, nominiert vom Ersatzmitglied seit 2011, nominiert Nationalrat von der Bundesregierung Detaillierte Werdegänge der Mitglieder und Ersatzmitglieder sind auf der Website des Verfassungsgerichtshofes abrufbar: https://www.vfgh.gv.at/verfassungsgerichtshof/verfassungsrichter/mitglieder.de.html https://www.vfgh.gv.at/verfassungsgerichtshof/verfassungsrichter/ersatzmitglieder.de.html 16 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 17 von 92 II.1.4. Kurt Heller zum Gedenken Das frühere Mitglied des Verfassungs- Bis 2002 war Heller Mitglied der gerichtshofes Rechtsanwalt Dr. Kurt österreichischen Delegation bei der Heller ist am 1. April 2020 nach langer Kommission für internationale Schieds- schwerer Krankheit im 81. Lebensjahr gerichtsbarkeit bei der Internationalen verstorben. Die Mitglieder und Bediens- Handelskammer in Paris. Als Mitglied teten des Gerichtshofes erinnern sich der Mentor Group mit Sitz in Boston an Heller als einen hervorragenden setzte er sich über Jahrzehnte für Juristen, der dem Haus über 30 Jahre den intensiven Gedankenaustausch lang, von 1979 bis 2009, angehört hat. zwischen amerikanischen und euro- päischen Juristen ein. Ab 2003 war Kurt Heller war eine außergewöhnliche Kurt Heller ständiger Referent des Richterpersönlichkeit, die sich durch Verfassungsgerichtshofes, bis er 2009 Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft mit Erreichen der Altersgrenze aus auszeichnete. Er hat maßgeblichen dem Kollegium ausschied. Anteil an der Entwicklung der rechts- staatlichen und menschenrechtlichen Kurt Heller ist Autor von über 70 wis- Standards im Asylrecht gehabt, die der senschaftlichen Publikationen. Zum Verfassungsgerichtshof bis heute seiner 90-jährigen Bestehen des Verfassungs- Judikatur zugrunde legt. Kurt Heller gerichtshofes im Jahr 2010 veröffent- bleibt dem Gerichtshof als ein großer lichte er ein Handbuch über den Verfas- Jurist und Humanist in Erinnerung, sungsgerichtshof. Bereits 1999 erschien der in allen Fällen stets die einzelne ein Band über die Rechtsgeschichte beschwerdeführende Partei und ihr Venedigs, jener Stadt, der seine große Schicksal im Blick behielt. Leidenschaft neben der Juristerei galt. Kurt Heller kam am 16. August 1939 Kurt Heller gehörte zu einer Generation in Wien als Sohn des gleichnamigen von Verfassungsrichtern, die den Wandel späteren Amtsführenden Stadtrates der Rechtsprechung des Verfassungs- und Präsidenten des Österreichischen gerichtshofes im Bereich der Grund- Olympischen Komitees zur Welt. 1961 rechte seit den 1980er-Jahren geprägt wurde er an der Universität Wien zum haben. Heller hatte darüber hinaus Dr. jur. promoviert, 1968 legte er die entscheidenden Anteil an der Verar- Rechtsanwaltsprüfung ab. Er war beitung der verfassungsrechtlichen Gründungspartner der renommierten Konsequenzen des Beitritts Österreichs Anwaltssozietät Heller, Löber, Bahn & zur Europäischen Union und prägte Partner, nach Zusammenschlüssen bis die Rechtsprechung insbesondere im 2002 Partner von Freshfields Bruckhaus Wirtschaftsrecht, zuletzt aber vor allem Deringer. im Bereich des Asylrechts, dem er sich bis zu seinem Ausscheiden aus dem Heller spezialisierte sich auf öffentliches Gerichtshof als ständiger Referent Recht, Schiedsgerichtsbarkeit, interna- widmete. Besondere Verdienste erwarb tionales Privatrecht und internationales sich Heller mit seinen Bemühungen um Vertragsrecht. Bereits im Jahr 1979 die internationalen Kontakte des Verfas- wurde er auf Vorschlag des Bundesrates sungsgerichtshofes zu den Höchst- Mitglied des Verfassungsgerichtshofes. gerichten anderer Staaten, insbesondere Er gehörte dem Exekutivausschuss der zum US-Supreme Court. International Academy of Estate and Trust Law (San Francisco) an, deren Prä- sident er 1997 und 1998 war. Ab 2001 war er Honorarprofessor an der Uni- versität Linz mit einer Lehrbefugnis für vergleichendes öffentliches Recht und internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Personalia Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 17 www.parlament.gv.at
II.2. 18 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Das nichtrichterliche Personal II.2.1. II.2.2. Personalstand Frauenförderung sowie Aus- und Dem Verfassungsgerichtshof standen im Berichtsjahr mit Fortbildung im Verfassungsgerichtshof Inkrafttreten des Bundesfinanzgesetzes 2020 insgesamt 105 Planstellen für nichtrichterliche Bedienstete zur Verfügung. Das Frauenförderungsgebot des § 11 Bundes-Gleichbehand- lungsgesetz wurde auch 2020 wieder erfüllt: Von den 119 im Von den 59 Bediensteten der Verwendungs- bzw. Entloh- Verfassungsgerichtshof Beschäftigten waren 81 Frauen. Der nungsgruppe A / A1 bzw. a / v1 waren zum Ende des Berichts- Frauenanteil bei den Bediensteten im Verfassungsgerichtshof jahres 40 als verfassungsrechtliche Mitarbeiterinnen und liegt sohin bei 68 % und ist damit deutlich höher als im ge- Mitarbeiter bei den ständigen Referentinnen und Referenten samten öffentlichen Dienst, der laut dem im September 2020 tätig. Das am Interesse einer funktionierenden Verfassungs- präsentierten Gleichbehandlungsbericht des Bundes Ende 2019 gerichtsbarkeit ausgerichtete und dem europäischen Standard bei 42,5 % gelegen ist; auf der Ebene der Führungskräfte entsprechende Ziel, den als ständige Referentinnen und betrug der Frauenanteil im Verfassungsgerichtshof 50 %. Referenten tätigen Mitgliedern je drei wissenschaftliche MItarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen, Bei Neuaufnahmen sowie im Rahmen einer konsequenten konnte daher zur Gänze erreicht werden. Aus- und Weiterbildung legt der Verfassungsgerichtshof höchsten Wert auf Qualifikation. Dazu kamen sechs Landesbedienstete, welche die Länder Niederösterreich, Oberösterreich und Tirol dem Verfassungs- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfahren jede Unterstüt- gerichtshof dankenswerterweise zu Ausbildungszwecken für zung bei berufsbegleitender Fortbildung und der Absolvierung mehrere Monate unentgeltlich abgeordnet hatten, wobei die von Grundausbildungslehrgängen sowie Praktika bei anderen jeweiligen Planstellen im Land gebunden geblieben sind. Der Institutionen im In- und Ausland (z. B. dem Europäischen Verfassungsgerichtshof hofft, dass diese – auf dem Entgegen- Gerichtshof für Menschenrechte und der Europäischen Kom- kommen und den Möglichkeiten der entsendenden Länder, mission). Der Verfassungsgerichtshof sieht es insbesondere aber auch anderer Bundesdienststellen beruhende – Praxis, als seine Aufgabe, die bei ihm tätigen wissenschaftlichen die für alle Beteiligten Vorteile bringt, in Hinkunft fortgesetzt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu hochqualifizierten juristi- bzw. wieder aufgenommen wird. schen Nachwuchskräften auszubilden. Darüber hinaus hat er 2020 sechs jungen Juristinnen und Juristen die Möglichkeit Die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Mitarbeiterinnen und zur Absolvierung eines Praktikums am Verfassungsgerichts- Mitarbeiter besteht vor allem in der Unterstützung der Vize- hof geboten. Auch Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von präsidentin und der ständigen Referentinnen und Referenten Berufstätigkeit und Familie fördern, wie beispielsweise die bei der Vorverfahrensführung und der Ausarbeitung von Möglichkeit zur Teilzeit- bzw. Telearbeit, sind weitgehend Entscheidungen (Vorprüfung der formalen Voraussetzungen, umgesetzt. So waren 2020 acht Frauen in Teilzeit beschäftigt Judikatur- und Literaturrecherche, Vorbereitung von Beratungs- und – pandemiebedingt – 105 Telearbeitsplätze eingerichtet. vorentwürfen). Daneben führen sie das Protokoll bei den Ver- handlungen und Beratungen des Verfassungsgerichtshofes. Im Rahmen der Bildungsreihe EloqVENT hatten die Bediensteten, wenngleich in etwas abgewandelter Form und nach Maßgabe der im Sommer 2020 gegebenen Rahmenbedingungen, die Möglichkeit zum Besuch der Ausstellung „Herbert Brandl – Exposed to Painting. Die letzten zwanzig Jahre“ im Belvedere 21. 18 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 19 von 92 Personalia Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 19 www.parlament.gv.at
III 20 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument www.parlament.gv.at
Judizielles III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 21 von 92 www.parlament.gv.at
III.1. 22 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 2020 im Februar / März Überblick VfGH 3.3.2020, UA 1/2020 „Ibiza-Untersuchungsausschuss I“: Geschäftsordnungsaus- schuss hat Untersuchungsgegenstand in unzulässiger Weise eingeschränkt VfGH 3.3.2020, V 89/2019 ua. „Islam. (IGGÖ)“ in Schulzeugnissen: VfGH weist Anträge zurück VfGH 10.3.2020, G 163/2019 Mindeststrafe im Fremdenpolizeigesetz 2005 verfassungswidrig VfGH 10.3.2020, G 228 – 233/2019 Zurückweisung von Individualanträgen gesetzlich anerkannter Kirchen auf Aufhebung des Karfreitags als gesetzlichen Feier- tag mangels rechtlicher Betroffenheit Juni /Juli VfGH 17.6.2020, W I 4/2020 Aufhebung der Gemeinderatswahl Kottingbrunn – keine rechtmäßige Zustellung eines Verbesserungsauftrags durch Einwurf in den Briefkasten des Vertreters der anfechtungs- werbenden Wählergruppe anstelle einer RSb-Zustellung VfGH 17.6.2020, G 227/2019 Ablehnung der Behandlung eines Individualantrags betreffend das Verbot des Inverkehrsetzens von Kunststofftragetaschen VfGH 26.6.2020, G 298/2019 Unsachlichkeit der Legaldefinition des Familienangehörigen im Asylgesetz 2005 mangels Möglichkeit der Ableitung des Schutzstatus des gesetzlichen Vertreters auf ein mj. Kind trotz Eltern-Kind-ähnlichem Verhältnis VfGH 14.7.2020, G 202/2020 ua. COVID-19: Entschädigungsregelung iZm Betretungsverbot für Betriebsstätten unbedenklich VfGH 14.7.2020, V 411/2020 COVID-19: Betretungsverbot für Betriebsstätten wegen Verletzung der Dokumentationspflicht gesetzwidrig VfGH 14.7.2020, V 363/2020 COVID-19: Betretungsverbot für öffentliche Orte auf Grund der COVID-19-Verordnung BGBl. II 98/2019 wegen fehlender gesetzlicher Deckung gesetzwidrig 22 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 23 von 92 September / Oktober November/ Dezember VfGH 28.9.2020, E 1262/2020 VfGH 25.11.2020, W I 9/2020 Verpflichtung zum außerordentlichen Zivildienst setzt Anfechtung der Wahl des Gemeindevorstandes (Stadtrates) Ermittlung der Erforderlichkeit voraus der Stadtgemeinde Mödling unbegründet: Ausschluss der Wählbarkeit von EU-Bürgern in den Gemeindevorstand durch VfGH 30.9.2020, G 144/2020 NÖ Gemeindeordnung verstößt weder gegen die Bundesver- Zurückweisung des unter dem Schlagwort „Klimaklage“ fassung noch gegen Unionsrecht bekannt gewordenen Individualantrags auf Aufhebung von die Luftfahrt gegenüber anderen Verkehrsmitteln VfGH 2.12.2020, UA 3/2020 begünstigenden Steuervorschriften mangels Eingriffs in Pflicht zur Vorlage des „Ibiza-Videos“ in unabgedeckter Form die Rechtssphäre der Antragsteller VfGH 10.12.2020, V 436/2020 VfGH 1.10.2020, G 259/2019 COVID-19: Maskenpflicht in Schulen und Klassenteilung Verfassungswidrigkeit der Legaldefinition des Stmk. Landes- gesetzwidrig straßenverwaltungsgesetzes betreffend öffentliche Interes- sentenwege VfGH 10.12.2020, V 512/2020 COVID-19: Tiroler Verbot, den eigenen Wohnsitz – ausgenom- VfGH 1.10.2020, V 392/2020 men aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürf- COVID-19: Betretungsverbot für selbständige Waschstraßen nissen – zu verlassen, in Ermangelung einer gesetzlichen gesetzwidrig Deckung gesetzwidrig VfGH 1.10.2020, V 428/2020 VfGH 11.12.2020, G 4/2020 COVID-19: Verbot von Veranstaltungen mit mehr als zehn „Kopftuchverbot“ in Volksschulen verfassungswidrig Personen gesetzwidrig VfGH 11.12.2020, G 139/2020 VfGH 1.10.2020, V 429/2020 sowie Verbot der Sterbehilfe verfassungswidrig VfGH 1.10.2020, V 405/2020 COVID-19: Betretungsverbot für Gaststätten gesetzwidrig VfGH 10.12.2020, E 2281/2020 Ausdruck „plemplem“ in Interview-Analyse von Meinungs- VfGH 1.10.2020, V 463/2020 äußerungsfreiheit gedeckt; Entscheidung, mit der das COVID-19: Maskenpflicht an öffentlichen Orten in geschlos- Bundesverwaltungsgericht eine Verletzung des Objektivitäts- senen Räumen und 1-m-Abstand wegen Verletzung der gebots durch den ORF festgestellt hat, aufgehoben Dokumentationspflicht gesetzwidrig VfGH 6.10.2020, G 166/2020 Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen des Vbg. Gemeinde- gesetzes und des Vbg. Landes-Volksabstimmungsgesetzes be- treffend die Verbindlichkeit einer Gemeindevolksabstimmung gegen den Willen des Gemeinderats; Unzulässigkeit des Eingriffs in das repräsentativ-demokratische System der Gemeindeselbstverwaltung VfGH 7.10.2020, G 164/2020 Verstoß der Beugehaft nach VVG gegen BVG persönliche Freiheit iVm dem Determinierungsgebot mangels Festlegung einer Höchstgrenze für die Gesamtdauer der Beugehaft VfGH 8.10.2020, W I 6/2020 Stattgabe der Anfechtung der Wahl des Gemeindevorstandes der Gemeinde Kottingbrunn mangels Verteilung der Anzahl der geschäftsführenden Stadträte „nach dem Verhältnis der Parteisummen“ gemäß der NÖ Gemeindeordnung Judizielles Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 23 www.parlament.gv.at
III.2. 24 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Allgemeine Übersicht und Kurzbilanz Der Verfassungsgerichtshof ist im Jahr 2020 zu sechs Sessionen, davon vier in der Dauer von jeweils drei Wochen zusammengetreten. Insgesamt fanden rund 90 vier- bis fünfstündige Sitzungen zur Beratung und Entscheidung von Rechtssachen im Plenum oder in Kleiner Besetzung statt. Den Beratungen lagen die Entwürfe zugunde, die von den ständigen Referentinnen und Referenten zwischen den Sessionen vorbe- reitet wurden. Jedes mit der Aktenbearbeitung betraute Mitglied hat im Durchschnitt etwa 460 Erledigungen vorbereitet. Das Geschäftsjahr 2020 weist folgende Bewegungsbilanz auf: 5.811 neu anhängig gewordene Verfahren 1.609 Verfahren aus dem Vorjahr 6.004 abgeschlossene Verfahren Die insgesamt 6.004 Erledigungen des Verfassungsgerichtshofes im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 31.12.2020 lassen sich untergliedern in: 9 % Stattgaben (562) 1 % Abweisungen (51) 13 % Zurückweisungen (751) 3 % sonstige Erledigungen Einstellungen, Streichungen (156) 44 % negative* Entscheidungen betr. Anträge auf Verfahrenshilfe 30 % Ablehnungen (2.658) (1.826) * Ab- oder Zurückweisungen von Verfahrenshilfeanträgen. Insgesamt wurden im Berichtsjahr rund 2.060 Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe (in unterschiedlichem Umfang) gestellt. 24 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 25 von 92 Ein hoher Prozentsatz entfiel – wie schon in den Vorjahren – 5.811 6.004 auf Verfahren nach dem Asylgesetz 2005. Betrachtet man 6.000 den Gesamtzugang an Fällen im Jahr 2020, so ist festzustellen, 1.221 1.142 5.000 dass Beschwerden in Asylrechtsangelegenheiten rund 49 % des Neuanfalls ausmachten. 4.000 4.590 4.862 Insgesamt standen im Jahr 2020 in Asylrechtsangelegenheiten 3.000 2.873 neu anhängig gewordene Verfahren sowie 1.609 2.000 1.416 1.019 Verfahren aus dem Vorjahr 155 (insgesamt somit 3.892 Fälle) 234 1.000 1.454 1.182 3.251 abgeschlossenen Verfahren gegenüber. 1.019 2.873 3.251 641 0 Offene Verfahren Zugang Erledigt Offen aus dem Vorjahr 2020 2020 Ende 2020 Verfahren nach anderen Artikeln des B-VG Verfahren nach Art. 144 B-VG (kleinerer Wert – Asylanteil) Verfahrensdauer /Anzahl der Erledigungen 300 6.004 7.000 Anzahl der Erledigungen 250 6.000 5.000 Die durchschnittliche Verfahrensdauer 200 115 (bemessen vom Eingang der Rechtssache Ø Dauer in 4.000 bis zur Abfertigung der Entscheidung) 150 Tagen betrug im Berichtsjahr 115 Tage, somit 3.000 weniger als vier Monate; Asylrechts- 100 2.000 sachen, bei denen die Erledigungsdauer im Durchschnitt 108 Tage betrug, wurden 50 1.000 bei dieser Berechnung nicht berücksichtigt (vgl. auch S. 90). 0 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Geschäftsanfall und Erledigungen 6.004 6.000 Erledigungen 5.000 5.811 Zugang 4.000 3.000 2.000 Zugang 1.416 Erledigungen 1.000 Offene Fälle Offene Fälle am Jahresende 0 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Judizielles Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 25 www.parlament.gv.at
III.3. 26 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Der Weg zur Entscheidung 1 Am Beginn jedes verfassungsgericht- lichen Verfahrens steht ein „verfahrens- kostenlose Beigebung eines Rechts- anwaltes/einer Rechtsanwältin zu Die Einleitung einleitender Schriftsatz“, der – je nach Verfahrensart – als „Beschwerde“ beantragen (Verfahrenshilfe). eines Verfahrens (Art. 144 B-VG), „Antrag“ (insbeson- dere Art. 138 bis 140a B-VG), „Klage“ Jeder Antrag erhält eine Aktenzahl und wird vom Präsidenten einem ständigen (Art. 137 B-VG), „Wahlanfechtung“ Referenten oder einer ständigen Refe- (Art. 141 B-VG) oder „Anklage“ (Art. 142 rentin zur Entscheidungsvorbereitung und 143 B-VG) bezeichnet wird. zugewiesen. Bei der Zuweisung ist der Präsident an keine Vorgaben gebunden; Von wenigen Ausnahmen (zugunsten in der Praxis hat sich jedoch eine Auf- der Gebietskörperschaften und deren teilung nach Sachgebieten (also z.B. Organe sowie im Wahlverfahren) ab- Gewerberecht, Grundverkehrsrecht, gesehen, ist jeder Antrag durch einen Steuerrecht, Sozialversicherungsrecht, bevollmächtigten Rechtsanwalt/eine Zivilrecht, Wahlrecht) unter Berücksich- bevollmächtigte Rechtsanwältin einzu- tigung der besonderen Erfahrungen bringen (Anwaltszwang). Bei geringen der ständigen Referenten/Referentinnen Einkommens- und Vermögensverhält- und deren gleichmäßige Auslastung nissen besteht die Möglichkeit, die bewährt. 2 Das Vorverfahren und die Entscheidungsvorbereitung Nach Zuteilung einer Rechtssache wird Erachtet der Referent/die Referentin regierung – und allfälliger Beteiligter ein, das Vorliegen der Prozessvoraussetzun- eine Eingabe (Antrag, Beschwerde, Klage lässt sich die Akten vorlegen und ver- gen, wie etwa die Zuständigkeit des Ver- etc.) von vornherein für unzulässig oder anlasst allfällige weitere für die Klärung fassungsgerichtshofes, die Rechtzeitig- weist sie einen unbehebbaren Mangel des Sachverhalts erforderliche Schritte keit einer Beschwerde oder die Befugnis auf, bereitet er/sie einen Entwurf auf (z.B. Beischaffung von Dokumenten, Ab- zur Antragstellung, sowie die Einhaltung Zurückweisung vor; hält er/sie eine Be- verlangen weiterer Äußerungen, Zeugen- der gesetzlichen Formerfordernisse über- schwerde offenkundig für eine weitere einvernahmen). prüft. Eingaben, die den Formerforder- Behandlung mangels Aussicht auf Erfolg nissen nicht entsprechen, werden oder Klärung einer verfassungsrechtli- Anschließend wird – nach Aufarbeitung – wenn der Mangel behebbar ist (z.B. chen Frage nicht geeignet, bereitet er/sie der für die Entscheidung maßgeblichen Nichteinbringung durch einen Rechts- einen auf Ablehnung der Beschwerde- Judikatur und Literatur – ein Erledi- anwalt oder Fehlen des angefochtenen behandlung lautenden Entwurf vor gungsentwurf ausgearbeitet. Dieser Erkenntnisses) – dem Einbringer zur Ver- (Art. 144 Abs. 2 B-VG). Andernfalls holt wird mit allen wesentlichen Akten- besserung innerhalb einer bestimmten der Referent/die Referentin Äußerungen stücken allen Mitgliedern übermittelt. Frist zurückgestellt. der Gegenpartei – das ist etwa im Be- schwerdeverfahren nach Art. 144 B-VG Hält der Referent/die Referentin eine Ist ein Antrag auf Bewilligung der Verfah- die Behörde, die im zugrunde liegenden Verhandlung für geboten oder zumin- renshilfe oder – in Beschwerdesachen – Verwaltungsverfahren entschieden hat, dest zweckmäßig, informiert er/sie auf Gewährung vorläufigen Rechtsschut- sowie das Verwaltungsgericht, das die darüber den Präsidenten. zes (aufschiebende Wirkung) gestellt, so angefochtene Entscheidung erlassen wird in aller Regel in diesem Stadium des hat; im Gesetzesprüfungsverfahren die Verfahrens darüber entschieden. Bundes- oder die zuständige Landes- 26 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 27 von 92 3 Die Erkenntnisse des Verfassungsge- richtshofes werden zwar grundsätzlich blatt zur Wiener Zeitung bekannt zu machen. In der Ladung werden den Die öffentliche nach einer öffentlichen mündlichen Verhandlung gefällt; der Gerichtshof Parteien häufig Fragen gestellt, deren Erörterung der Verfassungsgerichtshof Verhandlung kann aber in bestimmten Fällen von deren Durchführung absehen. Im All- für erforderlich hält. gemeinen findet eine öffentliche münd- Die Verhandlung beginnt mit dem liche Verhandlung daher nur zwecks Vortrag des Referenten/der Referentin, weiterer Klärung des Sachverhaltes oder der/die einen Überblick über den Sach- Erörterung noch offener rechtlicher verhalt, die Rechtslage und die Stand- Fragen oder wegen der Bedeutung des punkte der Parteien gibt. Nach dem Falles statt. Öffentliche mündliche Ver- Vortrag kommen die Parteien zu Wort. handlungen werden vom Präsidenten Im Anschluss daran stellen die Mitglie- angeordnet. der allenfalls (weitere) Fragen. Sobald der Fall ausreichend erörtert ist, schließt Zur Verhandlung werden die Parteien der Präsident die Verhandlung und gibt des Verfahrens geladen; außerdem ist bekannt, ob die Entscheidung verkündet sie durch Anschlag an der Amtstafel oder ob sie schriftlich ergehen wird. und durch Veröffentlichung im Amts- 4 Beratung und Entscheidung Die Beratung ist nicht öffentlich; sie be- Die schriftliche Ausfertigung der Ent- ginnt mit dem Vortrag des Erledigungs- scheidung wird unter Berücksichtigung entwurfes durch den Referenten / die des Beratungsergebnisses in der Regel Referentin. Daran schließt eine Dis- vom Referenten / von der Referentin, kussion an, die mitunter – zum Zweck allenfalls von einem anderen Mitglied weiterer Klärung oder zur Vorbereitung besorgt; die Übereinstimmung mit von Alternativen – unterbrochen wird. den gefassten Beschlüssen wird von Ist der Fall hinreichend erörtert, wird dem/der Vorsitzenden überprüft. über den Antrag des Referenten/der Entscheidungen von besonderer Referentin – allenfalls in Teilschritten – Tragweite werden öfters mündlich abgestimmt. verkündet. Judizielles Verfassungsgerichtshof Österreich – Tätigkeitsbericht 2020 27 www.parlament.gv.at
III.4. 28 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Rückblick auf die wichtigsten Erkenntnisse des Jahres 2020 COVID-19 Beginnend mit der am 26. Jänner VfGH 14.7.2020, G 202/2020 ua. Auswirkungen des Betretungsverbotes 2020 kundgemachten Verordnung Betretungsverbot für auf die betroffenen Unternehmen bzw. des (damaligen) Bundesministers Betriebsstätten (Entschädigung) im Allgemeinen von Folgen der COVID- für Arbeit, Soziales, Gesundheit und 19-Pandemie abzufedern. So hatten Konsumentenschutz betreffend anzeige- Das COVID-19-Maßnahmengesetz bzw. haben betroffene Unternehmen pflichtige übertragbare Krankheiten sieht für Unternehmen, die von einem insbesondere Anspruch auf Beihilfen 2020, BGBl. II 15/2020, ergingen im Betretungsverbot für Betriebsstätten bei Kurzarbeit und auf andere finanzielle Berichtsjahr zahlreiche Gesetze und betroffen sind, keinen Anspruch auf Unterstützungsleistungen. Verordnungen, die dazu dienten, der Entschädigung vor. Dagegen hatten Verbreitung von COVID-19 oder den mehrere Unternehmen den VfGH Im Hinblick auf diese Hilfsmaßnahmen wirtschaftlichen Folgen dieser Pande- angerufen; sie stellten den Antrag, die stellte das Betretungsverbot keinen mie entgegenzuwirken. Diese Rechts- COVID-19-Verordnung BGBl. II 96/2020 unverhältnismäßigen Eingriff in das vorschriften bzw. die auf Grund dieser als gesetzwidrig aufzuheben. Grundrecht auf Unversehrtheit des Ei- Vorschriften erlassenen Entscheidun- gentums dar. Ein Anspruch auf Entschä- gen waren wiederholt Gegenstand von Das Fehlen eines Anspruchs auf Ent- digung für alle vom Betretungsverbot Verfahren vor dem VfGH. Insgesamt schädigung verstößt jedoch, so der erfassten Unternehmen kann aus dem langten im Berichtsjahr 184 Anträge VfGH, weder gegen das Grundrecht auf Grundrecht nicht abgeleitet werden. iSd § 15 Abs. 1 VfGG ein, die sich gegen Unversehrtheit des Eigentums noch Weiters stellte der VfGH fest, dass die COVID-19-Maßnahmen richteten. 133 gegen den Gleichheitsgrundsatz: Zwar bereits erwähnten Hilfsmaßnahmen dieser Anträge konnten im selben Jahr kommt ein Betretungsverbot für wie Kurzarbeit und andere finanzielle erledigt werden; in 23 Fällen erwies Betriebsstätten in seiner Wirkung für Unterstützungen den Betrieben gleich- sich der Antrag insofern als erfolgreich, die betroffenen Unternehmen einem heitskonform und nach sachlichen als die angefochtene Verordnung für Betriebsverbot gleich und bildet inso- Kriterien gewährt werden müssen. gesetzwidrig erkannt bzw. die an- fern einen erheblichen Eingriff in das gefochtene verwaltungsgerichtliche Eigentumsgrundrecht. Dieses Betre- Es verstößt auch nicht gegen den Entscheidung aufgehoben wurde. tungsverbot war und ist allerdings in Gleichheitsgrundsatz, dass das COVID- Soweit sich Anträge gegen gesetzliche ein umfangreiches Maßnahmen- und 19-Maßnahmengesetz im Fall eines Bestimmungen richteten, wurden sie Rettungspaket eingebettet. Dieses Betretungsverbotes keinen Entschä- zurück- bzw. abgewiesen. zielt darauf ab, die wirtschaftlichen digungsanspruch vorsieht, während 28 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 29 von 92 das Epidemiegesetz 1950 für den Fall VfGH 14.7.2020, V 411/2020 märkte. Sonstige Geschäfte durften aber der Schließung eines Betriebes einen Betretungsverbot für Betriebs- nur betreten werden, wenn der Kunden- Anspruch auf Vergütung des Verdienst- VWlWWHQ 'RNXPHQWDWLRQVSÁLFKW bereich im Inneren 400 m2 nicht über- entganges gewährt. steigt (§ 2 Abs. 4 idF BGBl. II 151/2020). Nach § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz Mit 30. April 2020 trat diese Regelung Diese Regelungen sind schon deshalb konnte der zuständige Bundesminister außer Kraft. nicht miteinander vergleichbar, weil der durch Verordnung (auch) das Betreten Gesetzgeber mit dem Epidemiegesetz von Betriebsstätten oder von bestimm- Mehrere Handelsunternehmen, darunter 1950 lediglich die Schließung einzelner ten Betriebsstätten zum Zweck des ein Grazer Unternehmen, das an 49 Stand- Betriebe vor Augen hatte, nicht aber Erwerbs von Waren und Dienstleistun- orten in Österreich tätig ist und vor allem großräumige Betriebsschließungen, gen untersagen, soweit dies zur Verhin- mit Schuhen handelt, hatten beantragt, wie sie sich aus dem COVID-19-Maß- derung der Verbreitung von COVID-19 diese Beschränkung aufzuheben. nahmengesetz ergaben. erforderlich ist. In Weiterentwicklung seiner Rechtspre- Der VfGH ging im Übrigen davon aus, Gestützt auf diese Ermächtigung chung zur Zulässigkeit von Individual- dass dem Gesetzgeber bei der Bekämp- wurde myit der COVID-19-Verordnung anträgen stellte der VfGH fest, dass der fung der wirtschaftlichen Folgen BGBl. II 96/2020 unter anderem das zugrunde liegende (Individual-)Antrag der COVID-19-Pandemie ein weiter Betreten des Kundenbereichs von zulässig ist, obwohl die angefochte- rechtspolitischer Gestaltungsspiel- Betriebsstätten des Handels untersagt nen Bestimmungen zum Zeitpunkt raum zukommt. Wenn der Gesetzgeber (§ 1). Dieses Betretungsverbot bedeutete seiner Entscheidung bereits außer Kraft die Entscheidung getroffen hat, das Be- im Ergebnis, dass die betroffenen getreten waren. Das rechtliche Interesse tretungsverbot in ein eigenes Rettungs- Betriebsstätten geschlossen werden der Antragsteller, eine verbindliche Ent- paket einzubetten, das im Wesentlichen mussten. Ausgenommen von diesem Ver- scheidung über die Gesetzmäßigkeit die gleiche Zielrichtung wie Ansprüche bot waren zunächst lediglich sogenannte dieser Bestimmungen zu erwirken, reicht auf Vergütung des Verdienstentganges systemrelevante Betriebe wie öffentliche nämlich über den relativ kurzen Zeit- nach dem Epidemiegesetz 1950 hat, so Apotheken, der Lebensmittelhandel oder raum hinaus, in dem die angefochtenen ist ihm vom Standpunkt des Gleichheits- Tankstellen (§ 2). Mit 14. April 2020 wur- Bestimmungen in Kraft gestanden sind. grundsatzes nicht entgegenzutreten. den weitere Betriebsstätten des Handels ausgenommen, so etwa Bau- und Garten- Judizielles Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 29 www.parlament.gv.at
30 von 92 III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument Der VfGH hatte aus dem Blickwinkel des VfGH 14.7.2020, V 363/2020 Die Entscheidung, ob bzw. welche Maß- verfassungsrechtlichen Bestimmtheits- Betretungsverbot für nahmen per Verordnung gegen COVID-19 gebots für Gesetze keine verfassungs- öffentliche Orte getroffen werden, überträgt das Gesetz rechtlichen Bedenken gegen die gesetz- zwar den zuständigen Behörden. Bei liche Verordnungsermächtigung in § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz sah dieser Entscheidung sind die Behörden § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz. vor, dass beim Auftreten von COVID-19 jedoch an die Grundrechte gebunden, durch Verordnung das Betreten von insbesondere an das Recht auf persön- Hingegen erkannte der VfGH Teile des bestimmten Orten untersagt werden liche Freizügigkeit. Einschränkungen § 2 Abs. 4 (insbesondere die Voraus- kann, „soweit dies zur Verhinderung der dieses Rechtes sind nur dann zulässig, setzung „wenn der Kundenbereich im Verbreitung von COVID-19 erforderlich wenn sie einem legitimen öffentlichen Inneren maximal 400 m2 beträgt“) der ist“. Darüber hinaus konnte geregelt Interesse (wie dem Gesundheitsschutz) Verordnung, wie sie vom 14. April 2020 bis werden, unter welchen bestimmten dienen und verhältnismäßig sind. 30. April 2020 gegolten hat, für gesetz- Voraussetzungen oder Auflagen jene widrig, und zwar aus folgenden Gründen: Orte doch betreten werden dürfen. Der VfGH entschied, dass die Bestim- mungen der §§ 1, 2, 4 und 6 der Ver- Der – in diesem Fall zuständige – Auf Grund des § 2 COVID-19-Maßnah- ordnung BGBl. II 98/2020 gesetzwidrig Gesundheitsminister muss zum einen mengesetz erging die COVID-19-Ver- waren, weil die Grenzen überschritten nachvollziehbar machen, auf Basis ordnung BGBl. II 98/2020, mit der das wurden, die dem zuständigen Bundes- welcher Informationen er die gesetz- Betreten öffentlicher Orte allgemein minister durch § 2 COVID-19-Maß- lich vorgegebene Abwägung zwischen für verboten erklärt wurde (§ 1). § 2 nahmengesetz gesetzt sind. Mit der dem öffentlichen Interesse und den dieser Verordnung enthielt mehrere Verordnung wurde nicht bloß das grundrechtlich geschützten Interessen Ausnahmen von diesem Verbot: etwa Betreten bestimmter, eingeschränk- der Betroffenen getroffen hat. Aus dem das Betreten öffentlicher Orte im Freien ter Orte untersagt. Die Ausnahmen Verordnungsakt war aber nicht ersicht- alleine, mit Personen, die im gemein- in § 2 der Verordnung ändern nichts lich, welche Umstände im Hinblick auf samen Haushalt leben, oder mit Haus- daran, dass § 1 der Verordnung „der welche Entwicklungen von COVID-19 tieren, wobei zu anderen Personen ein Sache nach als Grundsatz von einem den Gesundheitsminister bei seiner Abstand von mindestens einem Meter allgemeinen Ausgangsverbot ausgeht“. Entscheidung geleitet hatten. Eine ent- einzuhalten war (Z 5). Ein derart umfassendes Verbot war aber sprechende Dokumentation ist jedoch vom COVID-19-Maßnahmengesetz ausschlaggebend dafür, dass der VfGH Gegen die Verordnung hatte ein Univer- nicht gedeckt. Dieses Gesetz bot keine beurteilen kann, ob die Verordnung den sitätsassistent einer Wiener Universität Grundlage dafür, eine Verpflichtung zu gesetzlichen Vorgaben entspricht. mit Wohnsitz in Niederösterreich einen schaffen, an einem bestimmten Ort, Die angefochtene Regelung bedeutete (Individual-)Antrag nach Art. 139 B-VG insbesondere in der eigenen Wohnung, zudem eine Ungleichbehandlung von eingebracht. Die Verordnung trat mit zu bleiben. Geschäften mit mehr als 400 m2 gegen- 30. April 2020 außer Kraft. Auch in über vergleichbaren Betriebsstätten, diesem Fall ging der VfGH von der Der VfGH schloss nicht aus, dass bei insbesondere von Bau- und Garten- Zulässigkeit des Antrags aus. Vorliegen besonderer Umstände unter märkten. Diese waren ohne Rücksicht entsprechenden zeitlichen, persön- auf die Größe ihres Kundenbereiches Gegen § 2 COVID-19-Maßnahmen- lichen und sachlichen Einschränkun- vom Betretungsverbot ausgenommen. gesetz bestehen, so der VfGH, keine gen nicht auch ein Ausgangsverbot Eine sachliche Rechtfertigung für diese verfassungsrechtlichen Bedenken, gerechtfertigt sein könnte, wenn sich Ungleichbehandlung war für den VfGH weil diese Regelung eine hinreichend eine solche Maßnahme angesichts nicht erkennbar. Da die gesetzwidrige bestimmte gesetzliche Grundlage ihrer besonderen Eingriffsintensität Bestimmung mit Ablauf des 30. April für allfällige – durch Verordnung zu als verhältnismäßig erweist. Jedenfalls 2020 außer Kraft getreten war, stellte erlassende – Betretungsverbote bietet bedürfte eine derart weitreichende, der VfGH lediglich fest, dass diese und damit dem verfassungsrechtlichen weil dieses Recht im Grundsatz aufhe- Bestimmung gesetzwidrig war. Legalitätsprinzip entspricht. bende Einschränkung der Freizügigkeit 30 www.parlament.gv.at
III-452 der Beilagen XXVII. GP - Bericht - 02 Hauptdokument 31 von 92 aber einer konkreten und entsprechend VfGH 11.12.2020, G 139/2019 die für ihn ein selbstbestimmtes Leben Verbot näher bestimmten Grundlage im Gesetz. in persönlicher Integrität und Identität und damit in Würde nicht mehr ge- Da die angefochtenen Bestimmungen bereits mit Ablauf des 30. April 2020 der Sterbehilfe währleistet. außer Kraft getreten waren, stellte Lässt die Rechtsordnung zu, dass ein Be- der VfGH lediglich fest, dass diese Be- Mehrere Betroffene, darunter zwei troffener sein Leben mit Hilfe eines Drit- stimmungen gesetzwidrig waren. Er Schwerkranke, hatten beim VfGH den ten in Würde nach seiner freien Selbst- sprach darüber hinaus aus, dass diese Antrag gestellt, sowohl § 77 („Tötung bestimmung zu dem von ihm gewählten Bestimmungen (etwa in laufenden auf Verlangen“) als auch § 78 StGB Zeitpunkt beenden kann, kann dies dazu Verwaltungsstrafverfahren) nicht mehr („Mitwirkung am Selbstmord“) als führen, dass dadurch dem Betroffenen anzuwenden sind. verfassungswidrig aufzuheben. ein längeres Leben ermöglicht wird und er sich nicht veranlasst sieht, sein Leben Der VfGH entschied, dass die Wort- vorzeitig in einer menschenunwürdigen folge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ Form zu beenden. Der Betroffene kann in § 78 StGB verfassungswidrig ist. also dadurch Lebenszeit gewinnen, weil Die Aufhebung tritt mit Ablauf des er die Selbsttötung auch erst zu einem 31. Dezember 2021 in Kraft. späteren Zeitpunkt und mit Hilfe eines Dritten vornehmen kann. Aus mehreren grundrechtlichen Gewähr- leistungen, insbesondere aus dem Indem § 78 zweiter Tatbestand StGB Recht auf Privatleben, dem Recht auf die Hilfe eines Dritten beim Suizid aus- Leben und dem Gleichheitsgrundsatz, nahmslos verbietet, wird es dem Einzel- ist das verfassungsgesetzlich gewähr- nen im Ergebnis verwehrt, über sein leistete Recht des Einzelnen auf freie Sterben in Würde zu bestimmen. Selbstbestimmung ableitbar. Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung um- Bei der verfassungsrechtlichen Be- fasst das Recht auf die Gestaltung des urteilung des § 78 zweiter Tatbestand Lebens ebenso wie das Recht auf ein StGB geht es nicht um eine Abwägung menschenwürdiges Sterben. Das Recht zwischen dem Schutz des Lebens des auf freie Selbstbestimmung umfasst Suizidwilligen und dessen Selbstbestim- auch das Recht des Suizidwilligen, mungsrecht. Steht unzweifelhaft fest, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten dass die Selbsttötung auf einer freien in Anspruch zu nehmen. Selbstbestimmung gründet, so hat der Gesetzgeber dies zu respektieren. Das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten kann einen besonders Da die Selbsttötung irreversibel ist, intensiven Eingriff in das Recht des muss die entsprechende freie Selbst- Einzelnen auf freie Selbstbestimmung bestimmung der zur Selbsttötung darstellen. Da § 78 zweiter Tatbestand entschlossenen Person tatsächlich StGB die Selbsttötung mit Hilfe eines auf einer nicht bloß vorübergehenden, Dritten ausnahmslos verbietet, kann sondern dauerhaften Entscheidung be- diese Bestimmung unter Umständen ruhen. Sowohl der Schutz des Lebens als den Einzelnen zu einer menschen- auch das Recht auf freie Selbstbestim- unwürdigen Form der Selbsttötung mung verpflichten den Gesetzgeber, die veranlassen, wenn er sich kraft freien Hilfe eines Dritten bei der Selbsttötung Entschlusses in einer Situation befindet, zuzulassen, sofern der Entschluss auf Judizielles Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020 31 www.parlament.gv.at
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