Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...

Die Seite wird erstellt Horst-Peter Friedrich
 
WEITER LESEN
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
Verfassungsgerichtshof
Tätigkeitsbericht
2020
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
Inhalt

         Vorwort                                                                                       5

    I    2020 in Zahlen                                                                                6

    II   Personalia                                                                                   10

         1. Das Kollegium des Verfassungsgerichtshofes                                                13
            1.1. Änderungen in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes		                     13
            1.2. Ständige Referentinnen und Referenten                                                13
            1.3. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes			                  14
            1.4. Kurt Heller zum Gedenken                                                             17
         2. Das nichtrichterliche Personal                                                            18
            2.1. Personalstand 		                                                                     18
            2.2. Frauenförderung sowie Aus- und Fortbildung im Verfassungsgerichtshof                 18

   III   Judizielles                                                                                  20

         1.   2020 im Überblick                                                                       22
         2.   Allgemeine Übersicht und Kurzbilanz                                                     24
         3.   Der Weg zur Entscheidung                                                                26
         4.   Rückblick auf die wichtigsten Erkenntnisse des Jahres 2020                              28
         5.   Beschwerdeverfahren in Asylangelegenheiten                                              38
         6.   Sachentscheidungen gemäß Art. 140 B-VG in Leitsätzen                                    40
         7.   Judikaturdokumentation                                                                  45

   IV    Veranstaltungen und internationale Kontakte                                                  46

         1. Kalendarium 2020                                                                          48
         2. Veranstaltungen zum 100-jährigen Jubiläum des B-VG und des Verfassungsgerichtshofes       50
         3. Internationaler Austausch                                                                 51

    V    Im Gespräch …
         … mit Univ.-Prof. Dr. Gabriele Kucsko-Stadlmayer                                             54

   VI    100 Jahre Verfassungsgerichtshof                                                             60

         1. Veranstaltungsreihe „100 Jahre Verfassungsgerichtshof“                                    62
         2. „Unsere Verfassung als Magazin“                                                           64
         3. Matinée „Verfassung der Kultur – Kultur der Verfassung“                                   65
         4. Symposion der jungen Wissenschaft: „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zukunft –
             Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit“                                                  66
             4.1. Patrick Segalla: Die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und seiner Mitglieder   67
             4.2. Anna Katharina Struth: Organstreitigkeiten                                          75

   VII   Statistik                                                                                    84
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
Vorwort

          Das Jahr 2020 war für den Verfassungsgerichtshof ein besonderes Jahr. Es begann
          mit personellen Veränderungen. Nach monatelangen Vakanzen im Präsidium war
          das Richterkollegium im Frühjahr 2020 endlich wieder vollzählig.

          Der Berichtszeitraum stand aber auch ganz im Zeichen des 100-jährigen Jubiläums
          der Bundesverfassung und damit auch der Errichtung des Verfassungsgerichtshofes
          im Jahr 1920. Aus diesem Anlass waren zahlreiche Veranstaltungen und Aktivitäten
          geplant, ein guter Teil davon konnte auch durchgeführt werden. Eine Veranstaltungs­-
          reihe mit exzellenten Vorträgen begann im Jänner und wurde am 1. Oktober mit
          einem Symposium junger Wissenschafterinnen und Wissenschafter abgeschlossen.
          Die Vorträge werden gesondert publiziert.

          Die Covid-19-Pandemie hat auch im Verfassungsgerichtshof einige Anpassungen in
          der Arbeitsweise erforderlich gemacht und bedauerlicherweise mehrere Vorhaben
          zum 100. Jubiläum ganz oder teilweise verhindert. Trotz der Einschränkungen ist es
          dem Verfassungsgerichtshof gelungen, durch entsprechende Sicherheitskonzepte
          den Sessionsbetrieb nahezu unverändert aufrecht zu erhalten und die eingehenden
          Rechtssachen in gewohnter Qualität und kurzer Verfahrensdauer zu erledigen. So lag die
          Zahl der neu eingegangenen Anträge und Beschwerden sowie erledigter Akten jeweils
          bei rund 6.000 Fällen, wobei der Anteil an Asylrechtssachen rund 49 % des Gesamtanfalls
          ausmachte. Die Verfahrensdauer betrug durchschnittlich knapp unter vier Monate.

          Auch inhaltlich hatte sich der Verfassungsgerichtshof in diesem Jahr mit zahlreichen
          Anträgen und Beschwerden gegen die rechtlichen Rahmenbedingungen der Pandemie-
          bekämpfung auseinanderzusetzen. Seine ersten grundsätzlichen Entscheidungen traf er
          bereits im Juli, wobei der Gerichtshof in Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung
          Individualanträge auch gegen Verordnungen für zulässig erachtet hat, die zum Zeitpunkt
          seiner Entscheidung schon außer Kraft getreten waren. Die rechtlichen Grundlagen für
          diverse Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden den Verfassungsgerichtshof
          auch weiterhin beschäftigen. Dieser Bereich führt auch zu einem stark vermehrten Anfall
          der Arbeit beim Bürgerservice des Gerichtshofes.

          Der im Jubiläumsjahr geplante Schwerpunkt für Schulen mit dem Projekt „Verfassung
          macht Schule“ konnte mit ersten Besuchen von Mitgliedern an Schulen und Führungen
          von Schülerinnen und Schülern durch das Gerichtsgebäude begonnen werden. Eine in
          diesem Zusammenhang geplante Wanderausstellung „Verfassungsgerichtshof auf Tour“
          in Containern musste auf das Frühjahr 2021 verschoben werden.

          Der Tätigkeitsbericht 2020 präsentiert sich ebenfalls etwas verändert – möge mit
          diesem neuen Aussehen auch ein übersichtlicher und vollständiger Überblick über
          die Aktivitäten des Verfassungsgerichtshofes gelingen!

          Univ.-Prof. Dr. Verena Madner                   Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter
          Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes    Präsident des Verfassungsgerichtshofes

                                                                                                    5
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
I

115 Tage                            1 Jahr
durchschnittliche Verfahrensdauer
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
2020 in Zahlen
Der VfGH kann vor allem befasst werden mit

• Beschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte
• Anträgen auf Gesetzes-, Verordnungs- und Staatsvertragsprüfung (seit 2015
  auch auf Antrag von Parteien eines Verfahrens vor einem ordentlichen Gericht)
• Klagen, die gegen eine der Gebietskörperschaften gerichtet sind
• Wahlanfechtungen
• seit 2015 auch mit Streitigkeiten betreffend Einsetzung und Tätigkeit von
  parlamentarischen Untersuchungsausschüssen

               106                                                                               88
      Wahlsachen
nach Art. 141 B-VG
                                             5.811                                               Klagen
                                                                                                 nach Art. 137 B-VG

                                       neue Rechtssachen

                                                                                                 4
                                                                                                 U-Ausschuss-
                                                                                                 Verfahren
                                                                                                 nach Art. 138b B-VG

  62 %
   Asyl                                                              60,4 %                          39 %
(2.873)                                                        Verordnungs-                          Gesetzesprüfungs-
                                                          prüfungsverfahren                          verfahren
                                                                       (608)                         (392)

                                                                                                 0,6 %
 4.590                                                           1.006                           Staatsvertrags-
 Beschwerdeverfahren                                             Normenkontrollverfahren         prüfungsverfahren
 nach Art. 144 B-VG                                              nach Art. 139, 140, 140a B-VG   (6)
                                                                   167 Gerichtsanträge,
                                                                    15 von Amts wegen,
                                                                   691 Individualanträge,
                                                                   131 Parteianträge,
                                                                     2 sonstige
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
2015–2020
6 Jahre U-Ausschuss-Kompetenz
6 Jahre Parteiantrag auf Normenkontrolle

Im Zuge der Einführung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse als Minderheitsrecht in die
Bundesverfassung wurde dem Verfassungsgerichtshof vor sechs Jahren eine Reihe von Zuständigkeiten
zur Entscheidung über Streitigkeiten betreffend die Einsetzung und die Tätigkeit von Untersuchungsaus-
schüssen auf Antrag des Ausschusses, eines Viertels seiner Mitglieder oder eines informationspflichtigen
Organs sowie des BMJ übertragen.

Ebenfalls 2015 wurde der Kreis der Antragslegitimierten in Gesetzes-, Verordnungs- und
Staatsvertragsprüfungsverfahren um die Partei(en) eines Verfahrens vor den ordentlichen
Gerichten erweitert („Parteiantrag auf Normenkontrolle“).

Die Bilanz sieht folgendermaßen aus:

Untersuchungsauschuss-Verfahren                                              Parteianträge auf Gesetzes-/Verordnungsprüfung

Bisher wurden insgesamt 18 Anträge bzw. Beschwerden                          Bisher wurden insgesamt 1.218 Anträge** gestellt; in rund
wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten an den                           15 Verfahren kam es zur – zumindest teilweisen – Aufhebung
Verfassungsgerichtshof herangetragen.                                        der angefochtenen Bestimmung(en), rund 200 Anträge wurden
                                                                             als unbegründet abgewiesen. Die Behandlung von rund
2015                                                                         315 Anträgen wurde abgelehnt; als unzulässig zurückge­
Hypo: 10 [5 Sachentscheidungen zu Fragen der                                 wiesen wurden rund 440 Parteianträge.
Vorlagepflicht, 1 Einstellung, 4 Zurückweisungen
(Persönlichkeitsrechte)]

2018
Eurofighter: 1 [Sachentscheidung (Vorlagepflicht)]
BVT: 3 [1 Sachentscheidung (Vorlagepflicht),                                 300

2 Zurückweisungen (Persönlichkeitsrechte)]
                                                                             250

2020
                                                                             200
Ibiza-Video: 4 [3 Sachentscheidungen
(Untersuchungsgegenstand, Vorlagepflicht,
                                                                             150
Verlangen nach Ladung*), 1 Einstellung]

                                                                             100

                                                                             50

                                                                              0
                                                                                   2015     2016      2017     2018      2019   2020

                                                                                   Parteianträge 2015–2020
                                                                                       Gesetzesprüfungsverfahren
                                                                                       Verordnungsprüfungsverfahren
                                                                                       Wiederverlautbarungsprüfungsverfahren
                                                                                       Staatsvertragsprüfungsverfahren

* Das zuletzt angesprochene Erkenntnis erging im Jänner 2021.
** Einschließlich Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Stellung
   eines Parteiantrages.

8
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
14
Mitglieder

                      28,57 %           71,43 %
                      Frauen            Männer

6
Ersatz-
mitglieder

                      50 %          50 %
                      Frauen        Männer

119
Bedienstete

                      68 %                                                                32 %
                      Frauen (81)                                                         Männer (38)

€ 17,259 Millionen
Haushalt 2020

979.000                                 7,8 Millionen
total visits der Website 2020           Seitenaufrufe der Website 2020

2020 in Zahlen                          Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                 9
Verfassungsgerichtshof Tätigkeitsbericht 2020 - Der Österreichische ...
II
Personalia
19.2.2020                                             24.4.2020
Angelobung des Präsidenten des Verfassungs­           Angelobung der Vizepräsidentin des
gerichtshofes Christoph Grabenwarter                  Verfassungsgerichtshofes Verena Madner
durch Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in   durch Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in
Anwesenheit von Bundeskanzler Sebastian Kurz und      Anwesenheit von Präsidenten Christoph Grabenwarter
Vizekanzler Werner Kogler sowie der Mitglieder des
Verfassungsgerichtshofes

12
II.1.
Das Kollegium des Verfassungsgerichtshofes

Der Verfassungsgerichtshof besteht aus
dem Präsidenten, der Vizepräsidentin,
zwölf weiteren Mitgliedern und sechs
Ersatzmitgliedern, die über Vorschlag
der Bundes­regierung, des Nationalrates
oder des Bundesrates vom Bundes­
präsidenten ernannt werden. Die
Mitglieder und Ersatzmitglieder des
Verfassungsgerichts­hofes scheiden mit
Ablauf des Jahres aus dem Amt, in dem
sie das 70. Lebensjahr vollendet haben.
Sie genießen die Garantien der richter-
lichen Unabhängigkeit.

Unterstützend sind 119 (nichtrichter-
liche) Bedienstete im Verfassungs­
gerichtshof tätig.

II.1.1.                                                                     II.1.2.
Änderungen in der Zusammensetzung                                           Ständige Referentinnen
des Verfassungsgerichtshofes                                                und Referenten

Das Jahr 2020 war vor allem an der Spitze des Verfassungs­                  Die ständigen Referentinnen und Referenten werden vom
gerichtshofes von Veränderungen geprägt. Der Bundespräsi-                   Plenum des Verfassungsgerichtshofes aus dessen Mitte
dent hat über Vorschlag der Bundesregierung                                 jeweils auf drei Jahre gewählt. Eine Wiederwahl ist zulässig.

• am 19. Februar 2020 den vormaligen Vizepräsidenten                        Dem Verfassungsgerichtshof standen in der ersten Jahreshälfte
  Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter, der dem                          des Berichtsjahres zwölf, danach 13 ständige Referentinnen
  Verfassungsgerichtshof seit 2005 als Mitglied angehört,                   und Referenten, darunter auch die Vizepräsidentin, zur Ver-
  zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes und                          fügung. 2020 wurden Dr. Michael Holoubek, Vizepräsidentin
                                                                            Dr. Verena Madner, Dr. Claudia Kahr, Dr. Helmuth Hörtenhuber,
• mit Wirksamkeit vom 22. April 2020 Univ.-Prof. Dr. Verena                 Dr. Georg Lienbacher und Dr. Christoph Herbst zu ständigen
  Madner zur Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes                   Referentinnen bzw. Referenten (wieder-)gewählt.
  ernannt.

Zum Ende des Berichtsjahres schied wegen Erreichens
der Alters­grenze Hofrätin Dr. Lilian Hofmeister, Richterin
am Handels­gericht Wien i.R., als Ersatzmitglied aus.
Dr. Hofmeister gehörte dem Verfassungsgerichtshof
über 20 Jahre als Ersatzmitglied an.

Personalia                                     Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                              13
II.1.3.
Die Mitglieder und Ersatzmitglieder
des Verfassungsgerichtshofes

Mitglieder

DDr. Christoph Grabenwarter              Dr. Verena Madner                          Dr. Claudia Kahr
geboren 1966 in Bruck an der Mur         geboren 1965 in Linz                       geboren 1955 in Graz
Universitätsprofessor, WU Wien           Universitätsprofessorin, WU Wien           Sektionschefin im Bundesministerium für
Mitglied seit 2005, Vizepräsident Feb-   Vizepräsidentin seit 2020, zur ständigen   Verkehr, Innovation und Technologie i.R.
ruar 2018 bis Februar 2020, wiederholt   Referentin gewählt, nominiert von der      Mitglied seit 1999, wiederholt zur stän-
zum ständigen Referenten gewählt,        Bundesregierung                            digen Referentin gewählt, nominiert
Präsident seit Februar 2020, nominiert                                              von der Bundesregierung
von der Bundesregierung

Dr. Wolfgang Brandstetter                Dr. Johannes Schnizer                      Dr. Helmut Hörtenhuber
geboren 1957 in Haag                     geboren 1959 in Graz                       geboren 1959 in Linz
Universitätsprofessor, WU Wien           Parlamentsrat a.D.                         Landtagsdirektor a.D., Honorarprofessor
Mitglied seit 2018, zum ständigen        Mitglied seit 2010, wiederholt zum         Mitglied seit 2008, wiederholt zum
Referenten gewählt, nominiert von        ständigen Referenten gewählt,              ständigen Referenten gewählt,
der Bundesregierung                      nominiert von der Bundesregierung          nominiert von der Bundesregierung

14
Dr. Markus Achatz                    Dr. Christoph Herbst                              Dr. Georg Lienbacher
geboren 1960 in Graz                 geboren 1960 in Wien                              geboren 1961 in Hallein
Universitätsprofessor, JKU Linz,     Rechtsanwalt                                      Universitätsprofessor, WU Wien
Wirtschaftstreuhänder                Mitglied seit 2011, wiederholt zum                Mitglied seit 2011, wiederholt zum
Mitglied seit 2013, wiederholt zum   ständigen Referenten gewählt,                     ständigen Referenten gewählt,
ständigen Referenten gewählt,        nominiert vom Bundesrat                           nominiert von der Bundesregierung
nominiert vom Nationalrat

Dr. Michael Holoubek                 Dr. Sieglinde Gahleitner                          Dr. Andreas Hauer
geboren 1962 in Wien                 geboren 1965 in St. Veit im Mühlkreis             geboren 1965 in Ybbs an der Donau
Universitätsprofessor, WU Wien       Rechtsanwältin, Honorarprofessorin                Universitätsprofessor, JKU Linz
Mitglied seit 2011, wiederholt zum   Mitglied seit 2010, wiederholt zur                Mitglied seit 2018, zum ständigen
ständigen Referenten gewählt,        stän­digen Referentin gewählt,                    Referenten gewählt, nominiert vom
nominiert vom Nationalrat            nominiert vom Bundesrat                           Nationalrat

Dr. Ingrid Siess-Scherz              Dr. Michael Rami
geboren 1965 in Wien                 geboren 1968 in Wien
Parlamentsrätin a.D.                 Rechtsanwalt
Mitglied seit 2012, wiederholt       Mitglied seit 2018, zum ständigen
zur ständigen Referentin gewählt,    Referenten gewählt, nominiert
nominiert von der Bundesregierung    vom Bundesrat

Personalia                           Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                        15
Ersatzmitglieder

Dr. Lilian Hofmeister                      Dr. Robert Schick                          Mag. Werner Suppan
geboren 1950 in Wien                       geboren 1959 in Wien                       geboren 1963 in Klagenfurt
Richterin am Handelsgericht Wien i.R.,     Senatspräsident des Verwaltungs­           Rechtsanwalt
Hofrätin                                   gerichtshofes, Honorarprofessor            Ersatzmitglied seit 2017,
Ersatzmitglied seit 1998,                  Ersatzmitglied seit 1999, nominiert        nominiert vom Bundesrat
nominiert von der Bundesregierung          vom Nationalrat

Dr. Nikolaus Bachler                       Dr. Angela Julcher                         MMag. Dr. Barbara
geboren 1967 in Graz                       geboren 1973 in Wien                       Leitl-Staudinger
Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes        Hofrätin des Verwaltungsgerichtshofes,     geboren 1974 in Linz
Ersatzmitglied seit 2009, nominiert von    Honorarprofessorin                         Universitäts­professorin, JKU Linz
der Bundesregierung                        Ersatzmitglied seit 2015, nominiert vom    Ersatzmitglied seit 2011, nominiert
                                           Nationalrat                                von der Bundesregierung

Detaillierte Werdegänge der Mitglieder und Ersatzmitglieder sind auf der Website des Verfassungsgerichtshofes abrufbar:
https://www.vfgh.gv.at/verfassungsgerichtshof/verfassungsrichter/mitglieder.de.html
https://www.vfgh.gv.at/verfassungsgerichtshof/verfassungsrichter/ersatzmitglieder.de.html

16
II.1.4.
             Kurt Heller
             zum Gedenken
             Das frühere Mitglied des Verfassungs-             Bis 2002 war Heller Mitglied der
             gerichtshofes Rechtsanwalt Dr. Kurt               österreichischen Delegation bei der
             Heller ist am 1. April 2020 nach langer           Kommission für internationale Schieds-
             schwerer Krankheit im 81. Lebensjahr              gerichtsbarkeit bei der Internationalen
             verstorben. Die Mitglieder und Bedien­s­-         Handelskammer in Paris. Als Mitglied
             teten des Gerichtshofes erinnern sich             der Mentor Group mit Sitz in Boston
             an Heller als einen hervorragenden                setzte er sich über Jahrzehnte für
             Juristen, der dem Haus über 30 Jahre              den intensiven Gedankenaustausch
             lang, von 1979 bis 2009, angehört hat.            zwischen amerikanischen und euro­
                                                               päischen Juristen ein. Ab 2003 war
             Kurt Heller war eine außergewöhnliche             Kurt Heller ständiger Referent des
             Richterpersönlichkeit, die sich durch             Verfassungsgerichtshofes, bis er 2009
             Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft              mit Erreichen der Altersgrenze aus
             auszeichnete. Er hat maßgeblichen                 dem Kollegium ausschied.
             Anteil an der Entwicklung der rechts-
             staatlichen und menschenrechtlichen               Kurt Heller ist Autor von über 70 wis­
             Standards im Asylrecht gehabt, die der            sen­schaftlichen Publikationen. Zum
             Verfassungsgerichtshof bis heute seiner           90-jährigen Bestehen des Verfassungs-
             Judikatur zugrunde legt. Kurt Heller              gerichtshofes im Jahr 2010 veröffent-
             bleibt dem Gerichtshof als ein großer             lichte er ein Handbuch über den Verfas-
             Jurist und Humanist in Erinnerung,                sungsgerichtshof. Bereits 1999 erschien
             der in allen Fällen stets die einzelne            ein Band über die Rechtsgeschichte
             beschwerdeführende Partei und ihr                 Venedigs, jener Stadt, der seine große
             Schicksal im Blick behielt.                       Leidenschaft neben der Juristerei galt.

             Kurt Heller kam am 16. August 1939                Kurt Heller gehörte zu einer Generation
             in Wien als Sohn des gleichnamigen                von Verfassungsrichtern, die den Wandel
             späteren Amtsführenden Stadtrates                 der Rechtsprechung des Verfassungs­
             und Präsidenten des Österreichischen              gerichtshofes im Bereich der Grund-
             Olympischen Komitees zur Welt. 1961               rechte seit den 1980er-Jahren geprägt
             wurde er an der Universität Wien zum              haben. Heller hatte darüber hinaus
             Dr. jur. promoviert, 1968 legte er die            entscheidenden Anteil an der Verar­
             Rechtsanwaltsprüfung ab. Er war                   beitung der verfassungsrechtlichen
             Gründ­ungspartner der renommierten                Konsequenzen des Beitritts Österreichs
             Anwaltssozietät Heller, Löber, Bahn &             zur Europäischen Union und prägte
             Partner, nach Zusammenschlüssen bis               die Rechtsprechung insbesondere im
             2002 Partner von Freshfields Bruckhaus            Wirtschaftsrecht, zuletzt aber vor allem
             Deringer.                                         im Bereich des Asylrechts, dem er sich
                                                               bis zu seinem Ausscheiden aus dem
             Heller spezialisierte sich auf öffentliches       Gerichtshof als ständiger Referent
             Recht, Schiedsgerichtsbarkeit, interna-           widmete. Besondere Verdienste erwarb
             tionales Privatrecht und internationales          sich Heller mit seinen Bemühungen um
             Vertragsrecht. Bereits im Jahr 1979               die internationalen Kontakte des Verfas-
             wurde er auf Vorschlag des Bundesrates            sungsgerichtshofes zu den Höchst-­
             Mitglied des Verfassungsgerichtshofes.            gerichten anderer Staaten, insbesondere
             Er gehörte dem Exekutivausschuss der              zum US-Supreme Court.
             International Academy of Estate and
             Trust Law (San Francisco) an, deren Prä-
             sident er 1997 und 1998 war. Ab 2001
             war er Honorarprofessor an der Uni-
             versität Linz mit einer Lehrbefugnis für
             vergleichendes öffentliches Recht und
             internationale Schiedsgerichtsbarkeit.

Personalia   Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                         17
II.2.
Das nichtrichterliche Personal

II.2.1.                                                             II.2.2.
Personalstand                                                       Frauenförderung sowie Aus- und
Dem Verfassungsgerichtshof standen im Berichtsjahr mit              Fortbildung im Verfassungsgerichtshof
Inkrafttreten des Bundesfinanzgesetzes 2020 insgesamt 105
Planstellen für nichtrichterliche Bedienstete zur Verfügung.        Das Frauenförderungsgebot des § 11 Bundes-Gleichbehand-
                                                                    lungsgesetz wurde auch 2020 wieder erfüllt: Von den 119 im
Von den 59 Bediensteten der Verwendungs- bzw. Entloh-               Verfassungsgerichtshof Beschäftigten waren 81 Frauen. Der
nungsgruppe A / A1 bzw. a / v1 waren zum Ende des Berichts-         Frauenanteil bei den Bediensteten im Verfassungsgerichtshof
jahres 40 als verfassungsrechtliche Mitarbeiterinnen und            liegt sohin bei 68 % und ist damit deutlich höher als im ge-
Mitarbeiter bei den ständigen Referentinnen und Referenten          samten öffentlichen Dienst, der laut dem im September 2020
tätig. Das am Interesse einer funktionierenden Verfassungs­         präsentierten Gleichbehandlungsbericht des Bundes Ende 2019
gerichtsbarkeit ausgerichtete und dem europäischen Standard         bei 42,5 % gelegen ist; auf der Ebene der Führungskräfte
entsprechende Ziel, den als ständige Referentinnen und              betrug der Frauenanteil im Verfassungsgerichtshof 50 %.
Referenten tätigen Mitgliedern je drei wissenschaftliche
MItarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen,         Bei Neuaufnahmen sowie im Rahmen einer konsequenten
konnte daher zur Gänze erreicht werden.                             Aus- und Weiterbildung legt der Verfassungsgerichtshof
                                                                    höchsten Wert auf Qualifikation.
Dazu kamen sechs Landesbedienstete, welche die Länder
Niederösterreich, Oberösterreich und Tirol dem Verfassungs-         Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfahren jede Unterstüt-
gerichtshof dankenswerterweise zu Ausbildungszwecken für            zung bei berufsbegleitender Fortbildung und der Absolvierung
mehrere Monate unentgeltlich abgeordnet hatten, wobei die           von Grundausbildungslehrgängen sowie Praktika bei anderen
jeweiligen Planstellen im Land gebunden geblieben sind. Der         Institutionen im In- und Ausland (z. B. dem Europäischen
Verfassungsgerichtshof hofft, dass diese – auf dem Entgegen-        Gerichts­hof für Menschenrechte und der Europäischen Kom-
kommen und den Möglichkeiten der entsendenden Länder,               mission). Der Verfassungsgerichtshof sieht es insbesondere
aber auch anderer Bundesdienststellen beruhende – Praxis,           als seine Aufgabe, die bei ihm tätigen wissenschaftlichen
die für alle Beteiligten Vorteile bringt, in Hinkunft fortgesetzt   Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu hochqualifizierten juristi-
bzw. wieder aufgenommen wird.                                       schen Nachwuchskräften auszubilden. Darüber hinaus hat
                                                                    er 2020 sechs jungen Juristinnen und Juristen die Möglichkeit
Die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Mitarbeiterinnen und         zur Absolvierung eines Praktikums am Verfassungsgerichts-
Mitarbeiter besteht vor allem in der Unterstützung der Vize-        hof geboten. Auch Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von
präsidentin und der ständigen Referentinnen und Referenten          Berufstätigkeit und Familie fördern, wie beispielsweise die
bei der Vorverfahrensführung und der Ausarbeitung von               Möglichkeit zur Teilzeit- bzw. Telearbeit, sind weitgehend
Entscheidungen (Vorprüfung der formalen Voraussetzungen,            umgesetzt. So waren 2020 acht Frauen in Teilzeit beschäftigt
Judikatur- und Literaturrecherche, Vorbereitung von Beratungs-      und – pandemiebedingt – 105 Telearbeitsplätze eingerichtet.
vorentwürfen). Daneben führen sie das Protokoll bei den Ver-
handlungen und Beratungen des Verfassungsgerichtshofes.             Im Rahmen der Bildungsreihe EloqVENT hatten die Bediensteten,
                                                                    wenngleich in etwas abgewandelter Form und nach Maßgabe
                                                                    der im Sommer 2020 gegebenen Rahmenbedingungen, die
                                                                    Möglichkeit zum Besuch der Ausstellung „Herbert Brandl –
                                                                    Exposed to Painting. Die letzten zwanzig Jahre“ im Belvedere 21.

18
Personalia   Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020   19
III
Judizielles
III.1.
2020 im     Februar / März
Überblick   VfGH 3.3.2020, UA 1/2020
            „Ibiza-Untersuchungsausschuss I“: Geschäftsordnungsaus-
            schuss hat Untersuchungsgegenstand in unzulässiger Weise
            eingeschränkt

            VfGH 3.3.2020, V 89/2019 ua.
            „Islam. (IGGÖ)“ in Schulzeugnissen: VfGH weist Anträge zurück

            VfGH 10.3.2020, G 163/2019
            Mindeststrafe im Fremdenpolizeigesetz 2005 verfassungswidrig

            VfGH 10.3.2020, G 228 – 233/2019
            Zurückweisung von Individualanträgen gesetzlich anerkannter
            Kirchen auf Aufhebung des Karfreitags als gesetzlichen Feier-
            tag mangels rechtlicher Betroffenheit

            Juni /Juli
            VfGH 17.6.2020, W I 4/2020
            Aufhebung der Gemeinderatswahl Kottingbrunn – keine
            rechtmäßige Zustellung eines Verbesserungsauftrags durch
            Einwurf in den Briefkasten des Vertreters der anfechtungs­
            werbenden Wählergruppe anstelle einer RSb-Zustellung

            VfGH 17.6.2020, G 227/2019
            Ablehnung der Behandlung eines Individualantrags betreffend
            das Verbot des Inverkehrsetzens von Kunststofftragetaschen

            VfGH 26.6.2020, G 298/2019
            Unsachlichkeit der Legaldefinition des Familienangehörigen
            im Asylgesetz 2005 mangels Möglichkeit der Ableitung des
            Schutzstatus des gesetzlichen Vertreters auf ein mj. Kind
            trotz Eltern-Kind-ähnlichem Verhältnis

            VfGH 14.7.2020, G 202/2020 ua.
            COVID-19: Entschädigungsregelung iZm Betretungsverbot
            für Betriebsstätten unbedenklich

            VfGH 14.7.2020, V 411/2020
            COVID-19: Betretungsverbot für Betriebsstätten wegen
            Verletzung der Dokumentationspflicht gesetzwidrig

            VfGH 14.7.2020, V 363/2020
            COVID-19: Betretungsverbot für öffentliche Orte auf Grund
            der COVID-19-Verordnung BGBl. II 98/2019 wegen fehlender
            gesetzlicher Deckung gesetzwidrig

22
September / Oktober                                                      November/ Dezember
VfGH 28.9.2020, E 1262/2020                                              VfGH 25.11.2020, W I 9/2020
Verpflichtung zum außerordentlichen Zivildienst setzt                    Anfechtung der Wahl des Gemeindevorstandes (Stadtrates)
Ermittlung der Erforderlichkeit voraus                                   der Stadtgemeinde Mödling unbegründet: Ausschluss der
                                                                         Wählbarkeit von EU-Bürgern in den Gemeindevorstand durch
VfGH 30.9.2020, G 144/2020                                               NÖ Gemeindeordnung verstößt weder gegen die Bundesver-
Zurückweisung des unter dem Schlagwort „Klimaklage“                      fassung noch gegen Unionsrecht
bekannt gewordenen Individualantrags auf Aufhebung
von die Luftfahrt gegenüber anderen Verkehrsmitteln                      VfGH 2.12.2020, UA 3/2020
begünstigenden Steuervorschriften mangels Eingriffs in                   Pflicht zur Vorlage des „Ibiza-Videos“ in unabgedeckter Form
die Rechtssphäre der Antragsteller
                                                                         VfGH 10.12.2020, V 436/2020
VfGH 1.10.2020, G 259/2019                                               COVID-19: Maskenpflicht in Schulen und Klassenteilung
Verfassungswidrigkeit der Legaldefinition des Stmk. Landes­              gesetzwidrig
straßenverwaltungsgesetzes betreffend öffentliche Interes-
sentenwege                                                               VfGH 10.12.2020, V 512/2020
                                                                         COVID-19: Tiroler Verbot, den eigenen Wohnsitz – ausgenom-
VfGH 1.10.2020, V 392/2020                                               men aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürf-
COVID-19: Betretungsverbot für selbständige Waschstraßen                 nissen – zu verlassen, in Ermangelung einer gesetzlichen
gesetzwidrig                                                             Deckung gesetzwidrig

VfGH 1.10.2020, V 428/2020                                               VfGH 11.12.2020, G 4/2020
COVID-19: Verbot von Veranstaltungen mit mehr als zehn                   „Kopftuchverbot“ in Volksschulen verfassungswidrig
Personen gesetzwidrig
                                                                         VfGH 11.12.2020, G 139/2020
VfGH 1.10.2020, V 429/2020 sowie                                         Verbot der Sterbehilfe verfassungswidrig
VfGH 1.10.2020, V 405/2020
COVID-19: Betretungsverbot für Gaststätten gesetzwidrig                  VfGH 10.12.2020, E 2281/2020
                                                                         Ausdruck „plemplem“ in Interview-Analyse von Meinungs­
VfGH 1.10.2020, V 463/2020                                               äußerungsfreiheit gedeckt; Entscheidung, mit der das
COVID-19: Maskenpflicht an öffentlichen Orten in geschlos-               Bundesverwaltungsgericht eine Verletzung des Objektivitäts­
senen Räumen und 1-m-Abstand wegen Verletzung der                        gebots durch den ORF festgestellt hat, aufgehoben
Dokumentationspflicht gesetzwidrig

VfGH 6.10.2020, G 166/2020
Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen des Vbg. Gemeinde-
gesetzes und des Vbg. Landes-Volksabstimmungsgesetzes be-
treffend die Verbindlichkeit einer Gemeindevolksabstimmung
gegen den Willen des Gemeinderats; Unzulässigkeit des
Eingriffs in das repräsentativ-demokratische System der
Gemeindeselbstverwaltung

VfGH 7.10.2020, G 164/2020
Verstoß der Beugehaft nach VVG gegen BVG persönliche
Freiheit iVm dem Determinierungsgebot mangels Festlegung
einer Höchstgrenze für die Gesamtdauer der Beugehaft

VfGH 8.10.2020, W I 6/2020
Stattgabe der Anfechtung der Wahl des Gemeindevorstandes
der Gemeinde Kottingbrunn mangels Verteilung der Anzahl
der geschäftsführenden Stadträte „nach dem Verhältnis
der Parteisummen“ gemäß der NÖ Gemeindeordnung

Judizielles                                 Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                             23
III.2.
 Allgemeine Übersicht
 und Kurzbilanz
 Der Verfassungsgerichtshof ist im Jahr 2020 zu sechs Sessionen, davon vier in der
 Dauer von jeweils drei Wochen zusammengetreten. Insgesamt fanden rund 90 vier-
 bis fünfstündige Sitzungen zur Beratung und Entscheidung von Rechtssachen im
 Plenum oder in Kleiner Besetzung statt. Den Beratungen lagen die Entwürfe zugunde,
 die von den ständigen Referentinnen und Referenten zwischen den Sessionen vorbe-
 reitet wurden. Jedes mit der Aktenbearbeitung betraute Mitglied hat im Durchschnitt
 etwa 460 Erledigungen vorbereitet.

 Das Geschäftsjahr 2020 weist folgende Bewegungsbilanz auf:
 5.811 neu anhängig gewordene Verfahren
 1.609 Verfahren aus dem Vorjahr
 6.004 abgeschlossene Verfahren

 Die insgesamt 6.004 Erledigungen des
 Verfassungsgerichtshofes im Zeitraum
 vom 1.1.2020 bis 31.12.2020 lassen sich
 untergliedern in:                                                                            9 % Stattgaben
                                                                                              (562)
                                                                                                               1 % Abweisungen
                                                                                                               (51)

                                                                                                                          13 % Zurückweisungen
                                                                                                                          (751)

                                                                                                                                 3 % sonstige Erledigungen
                                                                                                                                 Einstellungen, Streichungen
                                                                                                                                 (156)

                44 %
                negative*
                Entscheidungen
                betr. Anträge auf
                Verfahrenshilfe                                                                                     30 % Ablehnungen
                (2.658)                                                                                             (1.826)

* Ab- oder Zurückweisungen von Verfahrenshilfeanträgen. Insgesamt wurden im Berichtsjahr
  rund 2.060 Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe (in unterschiedlichem Umfang) gestellt.

 24
Ein hoher Prozentsatz entfiel – wie schon in den Vorjahren –                                                                            5.811                             6.004
auf Verfahren nach dem Asylgesetz 2005. Betrachtet man                                     6.000

den Gesamtzugang an Fällen im Jahr 2020, so ist festzustellen,                                                                          1.221                              1.142
                                                                                           5.000
dass Beschwerden in Asylrechtsangelegenheiten rund 49 %
des Neuanfalls ausmachten.                                                                 4.000                                        4.590                              4.862

Insgesamt standen im Jahr 2020 in Asylrechtsangelegenheiten                                3.000
2.873 neu anhängig gewordene Verfahren sowie                                                             1.609
                                                                                           2.000                                                                                                             1.416
1.019 Verfahren aus dem Vorjahr                                                                            155
		(insgesamt somit 3.892 Fälle)                                                                                                                                                                                234
                                                                                           1.000         1.454
                                                                                                                                                                                                             1.182
3.251 abgeschlossenen Verfahren gegenüber.
                                                                                                         1.019                              2.873                          3.251                                  641
                                                                                                  0

                                                                                                      Offene Verfahren                 Zugang                            Erledigt                          Offen
                                                                                                      aus dem Vorjahr                  2020                              2020                              Ende 2020

                                                                                                  Verfahren nach anderen Artikeln des B-VG
                                                                                                  Verfahren nach Art. 144 B-VG (kleinerer Wert – Asylanteil)

Verfahrensdauer /Anzahl
der Erledigungen                                                     300                                                                                                              6.004                                     7.000
                                                                                                                                                                   Anzahl der Erledigungen
                                                                     250                                                                                                                                                        6.000

                                                                                                                                                                                                                                5.000
Die durchschnittliche Verfahrensdauer                                200
                                                                                                                                                                                                          115
(bemessen vom Eingang der Rechtssache
                                                                                                                                                                                                    Ø Dauer in                  4.000
bis zur Abfertigung der Entscheidung)                                150
                                                                                                                                                                                                        Tagen
betrug im Berichtsjahr 115 Tage, somit                                                                                                                                                                                          3.000
weniger als vier Monate; Asylrechts­                                 100
                                                                                                                                                                                                                                2.000
sachen, bei denen die Erledigungsdauer
im Durchschnitt 108 Tage betrug, wurden                               50
                                                                                                                                                                                                                                1.000
bei dieser Berechnung nicht berücksichtigt
(vgl. auch S. 90).                                                       0                                                                                                                                                         0
                                                                             2000
                                                                                    2001
                                                                                           2002
                                                                                                  2003
                                                                                                         2004
                                                                                                                2005
                                                                                                                       2006
                                                                                                                              2007
                                                                                                                                     2008
                                                                                                                                            2009
                                                                                                                                                   2010
                                                                                                                                                          2011
                                                                                                                                                                 2012
                                                                                                                                                                        2013
                                                                                                                                                                               2014
                                                                                                                                                                                      2015
                                                                                                                                                                                             2016
                                                                                                                                                                                                    2017
                                                                                                                                                                                                           2018
                                                                                                                                                                                                                  2019
                                                                                                                                                                                                                         2020

Geschäftsanfall und Erledigungen
                                                                                                                                              6.004
6.000
                                                                                                                                              Erledigungen

5.000                                                                                                                                         5.811
                                                                                                                                              Zugang
4.000

3.000

2.000                                                                                                                                                                                                Zugang
                                                                                                                                               1.416                                                 Erledigungen
1.000                                                                                                                                          Offene Fälle                                          Offene Fälle am
                                                                                                                                                                                                     Jahresende
     0
         2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014    2015       2016          2017          2018          2019          2020

Judizielles                                         Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                                                                                                               25
III.3.
Der Weg zur Entscheidung
1                                            Am Beginn jedes verfassungsgericht-
                                             lichen Verfahrens steht ein „verfahrens-
                                                                                          kostenlose Beigebung eines Rechts­
                                                                                          anwaltes/einer Rechtsanwältin zu
Die Einleitung                               einleitender Schriftsatz“, der – je nach
                                             Verfahrensart – als „Beschwerde“
                                                                                          beantragen (Verfahrenshilfe).

eines Verfahrens                             (Art. 144 B-VG), „Antrag“ (insbeson-
                                             dere Art. 138 bis 140a B-VG), „Klage“
                                                                                          Jeder Antrag erhält eine Aktenzahl und
                                                                                          wird vom Präsidenten einem ständigen
                                             (Art. 137 B-VG), „Wahlanfechtung“            Referenten oder einer ständigen Refe-
                                             (Art. 141 B-VG) oder „Anklage“ (Art. 142     rentin zur Entscheidungsvorbereitung
                                             und 143 B-VG) bezeichnet wird.               zugewiesen. Bei der Zuweisung ist der
                                                                                          Präsident an keine Vorgaben gebunden;
                                             Von wenigen Ausnahmen (zugunsten             in der Praxis hat sich jedoch eine Auf-
                                             der Gebietskörperschaften und deren          teilung nach Sachgebieten (also z.B.
                                             Organe sowie im Wahlverfahren) ab-           Gewerberecht, Grundverkehrsrecht,
                                             gesehen, ist jeder Antrag durch einen        Steuerrecht, Sozialversicherungsrecht,
                                             bevollmächtigten Rechtsanwalt/eine           Zivilrecht, Wahlrecht) unter Berücksich-
                                             bevollmächtigte Rechtsanwältin einzu-        tigung der besonderen Erfahrungen
                                             bringen (Anwaltszwang). Bei geringen         der ständigen Referenten/Referentinnen
                                             Einkommens- und Vermögensverhält-            und deren gleichmäßige Auslastung
                                             nissen besteht die Möglichkeit, die          bewährt.

2
Das Vorverfahren und die
Entscheidungsvorbereitung
Nach Zuteilung einer Rechtssache wird        Erachtet der Referent/die Referentin         regierung – und allfälliger Beteiligter ein,
das Vorliegen der Prozessvoraussetzun-       eine Eingabe (Antrag, Beschwerde, Klage      lässt sich die Akten vorlegen und ver-
gen, wie etwa die Zuständigkeit des Ver-     etc.) von vornherein für unzulässig oder     anlasst allfällige weitere für die Klärung
fassungsgerichtshofes, die Rechtzeitig-      weist sie einen unbehebbaren Mangel          des Sachverhalts erforderliche Schritte
keit einer Beschwerde oder die Befugnis      auf, bereitet er/sie einen Entwurf auf       (z.B. Beischaffung von Dokumenten, Ab-
zur Antragstellung, sowie die Einhaltung     Zurückweisung vor; hält er/sie eine Be-      verlangen weiterer Äußerungen, Zeugen-
der gesetzlichen Formerfordernisse über-     schwerde offenkundig für eine weitere        einvernahmen).
prüft. Eingaben, die den Formerforder-       Behandlung mangels Aussicht auf Erfolg
nissen nicht entsprechen, werden             oder Klärung einer verfassungsrechtli-       Anschließend wird – nach Aufarbeitung
– wenn der Mangel behebbar ist (z.B.         chen Frage nicht geeignet, bereitet er/sie   der für die Entscheidung maßgeblichen
Nichteinbringung durch einen Rechts-         einen auf Ablehnung der Beschwerde-          Judikatur und Literatur – ein Erledi-
anwalt oder Fehlen des angefochtenen         behandlung lautenden Entwurf vor             gungsentwurf ausgearbeitet. Dieser
Erkenntnisses) – dem Einbringer zur Ver-     (Art. 144 Abs. 2 B-VG). Andernfalls holt     wird mit allen wesentlichen Akten-
besserung innerhalb einer bestimmten         der Referent/die Referentin Äußerungen       stücken allen Mitgliedern übermittelt.
Frist zurückgestellt.                        der Gegenpartei – das ist etwa im Be-
                                             schwerdeverfahren nach Art. 144 B-VG         Hält der Referent/die Referentin eine
Ist ein Antrag auf Bewilligung der Verfah-   die Behörde, die im zugrunde liegenden       Verhandlung für geboten oder zumin-
renshilfe oder – in Beschwerdesachen –       Verwaltungsverfahren entschieden hat,        dest zweckmäßig, informiert er/sie
auf Gewährung vorläufigen Rechtsschut-       sowie das Verwaltungsgericht, das die        darüber den Präsidenten.
zes (aufschiebende Wirkung) gestellt, so     angefochtene Entscheidung erlassen
wird in aller Regel in diesem Stadium des    hat; im Gesetzesprüfungsverfahren die
Verfahrens darüber entschieden.              Bundes- oder die zuständige Landes-

26
3                                             Die Erkenntnisse des Verfassungsge-
                                              richtshofes werden zwar grundsätzlich
                                                                                                           blatt zur Wiener Zeitung bekannt zu
                                                                                                           machen. In der Ladung werden den
Die öffentliche                               nach einer öffentlichen mündlichen
                                              Verhandlung gefällt; der Gerichtshof
                                                                                                           Parteien häufig Fragen gestellt, deren
                                                                                                           Erörterung der Verfassungsgerichtshof
Verhandlung                                   kann aber in bestimmten Fällen von
                                              deren Durchführung absehen. Im All-
                                                                                                           für erforderlich hält.

                                              gemeinen findet eine öffentliche münd-                       Die Verhandlung beginnt mit dem
                                              liche Verhandlung daher nur zwecks                           Vortrag des Referenten/der Referentin,
                                              weiterer Klärung des Sachverhaltes oder                      der/die einen Überblick über den Sach-
                                              Erörterung noch offener rechtlicher                          verhalt, die Rechtslage und die Stand-
                                              Fragen oder wegen der Bedeutung des                          punkte der Parteien gibt. Nach dem
                                              Falles statt. Öffentliche mündliche Ver-                     Vortrag kommen die Parteien zu Wort.
                                              handlungen werden vom Präsidenten                            Im Anschluss daran stellen die Mitglie-
                                              angeordnet.                                                  der allenfalls (weitere) Fragen. Sobald
                                                                                                           der Fall ausreichend erörtert ist, schließt
                                              Zur Verhandlung werden die Parteien                          der Präsident die Verhandlung und gibt
                                              des Verfahrens geladen; außerdem ist                         bekannt, ob die Entscheidung verkündet
                                              sie durch Anschlag an der Amtstafel                          oder ob sie schriftlich ergehen wird.
                                              und durch Veröffentlichung im Amts-

 4
 Beratung und
 Entscheidung
 Die Beratung ist nicht öffentlich; sie be-   Die schriftliche Ausfertigung der Ent-
 ginnt mit dem Vortrag des Erledigungs-       scheidung wird unter Berücksichtigung
 entwurfes durch den Referenten / die         des Beratungsergebnisses in der Regel
 Referentin. Daran schließt eine Dis-         vom Referenten / von der Referentin,
 kussion an, die mitunter – zum Zweck         allenfalls von einem anderen Mitglied
 weiterer Klärung oder zur Vorbereitung       besorgt; die Übereinstimmung mit
 von Alternativen – unterbrochen wird.        den gefassten Beschlüssen wird von
 Ist der Fall hinreichend erörtert, wird      dem/der Vorsitzenden überprüft.
 über den Antrag des Referenten/der           Entscheidungen von besonderer
 Referentin – allenfalls in Teilschritten –   Tragweite werden öfters mündlich
 abgestimmt.                                  verkündet.

 Judizielles                                  Verfassungsgerichtshof Österreich – Tätigkeitsbericht 2020                                           27
III.4.
Rückblick auf die wichtigsten
Erkenntnisse des Jahres 2020

COVID-19
Beginnend mit der am 26. Jänner             VfGH 14.7.2020, G 202/2020 ua.            Auswirkungen des Betretungsverbotes
2020 kundgemachten Verordnung               Betretungsverbot für                      auf die betroffenen Unternehmen bzw.
des (damaligen) Bundesministers             Betriebs­stätten (Entschädigung)          im Allgemeinen von Folgen der COVID-
für Arbeit, Soziales, Gesundheit und                                                  19-Pandemie abzufedern. So hatten
Konsumentenschutz betreffend anzeige­       Das COVID-19-Maßnahmengesetz              bzw. haben betroffene Unternehmen
pflichtige übertragbare Krankheiten         sieht für Unternehmen, die von einem      insbesondere Anspruch auf Beihilfen
2020, BGBl. II 15/2020, ergingen im         Betretungsverbot für Betriebsstätten      bei Kurzarbeit und auf andere finanzielle
Berichtsjahr zahlreiche Gesetze und         betroffen sind, keinen Anspruch auf       Unterstützungsleistungen.
Verordnungen, die dazu dienten, der         Entschädigung vor. Dagegen hatten
Verbreitung von COVID-19 oder den           mehrere Unternehmen den VfGH              Im Hinblick auf diese Hilfsmaßnahmen
wirtschaftlichen Folgen dieser Pande-       angerufen; sie stellten den Antrag, die   stellte das Betretungsverbot keinen
mie entgegenzuwirken. Diese Rechts-         COVID-19-Verordnung BGBl. II 96/2020      unverhältnismäßigen Eingriff in das
vorschriften bzw. die auf Grund dieser      als gesetzwidrig aufzuheben.              Grundrecht auf Unversehrtheit des Ei-
Vorschriften erlassenen Entscheidun-                                                  gentums dar. Ein Anspruch auf Entschä-
gen waren wiederholt Gegenstand von         Das Fehlen eines Anspruchs auf Ent-       digung für alle vom Betretungsverbot
Verfahren vor dem VfGH. Insgesamt           schädigung verstößt jedoch, so der        erfassten Unternehmen kann aus dem
langten im Berichtsjahr 184 Anträge         VfGH, weder gegen das Grundrecht auf      Grundrecht nicht abgeleitet werden.
iSd § 15 Abs. 1 VfGG ein, die sich gegen    Unversehrtheit des Eigentums noch         Weiters stellte der VfGH fest, dass die
COVID-19-Maßnahmen richteten. 133           gegen den Gleichheitsgrundsatz: Zwar      bereits erwähnten Hilfsmaßnahmen
dieser Anträge konnten im selben Jahr       kommt ein Betretungsverbot für            wie Kurzarbeit und andere finanzielle
erledigt werden; in 23 Fällen erwies        Betriebsstätten in seiner Wirkung für     Unterstützungen den Betrieben gleich-
sich der Antrag insofern als erfolgreich,   die betroffenen Unternehmen einem         heitskonform und nach sachlichen
als die angefochtene Verordnung für         Betriebsverbot gleich und bildet inso-    Kriterien gewährt werden müssen.
gesetzwidrig erkannt bzw. die an-           fern einen erheblichen Eingriff in das
gefochtene verwaltungsgerichtliche          Eigentumsgrundrecht. Dieses Betre-        Es verstößt auch nicht gegen den
Entscheidung aufgehoben wurde.              tungsverbot war und ist allerdings in     Gleichheitsgrundsatz, dass das COVID-
Soweit sich Anträge gegen gesetzliche       ein umfangreiches Maßnahmen- und          19-Maßnahmengesetz im Fall eines
Bestimmungen richteten, wurden sie          Rettungspaket eingebettet. Dieses         Betretungsverbotes keinen Entschä-
zurück- bzw. abgewiesen.                    zielt darauf ab, die wirtschaftlichen     digungsanspruch vorsieht, während

28
das Epidemiegesetz 1950 für den Fall       VfGH 14.7.2020, V 411/2020                        märkte. Sonstige Geschäfte durften aber
der Schließung eines Betriebes einen       Betretungsverbot für Betriebs-                    nur betreten werden, wenn der Kunden-
Anspruch auf Vergütung des Verdienst-      stätten (Dokumentationspflicht)                   bereich im Inneren 400 m2 nicht über-
entganges gewährt.                                                                           steigt ­(§ 2 Abs. 4 idF BGBl. II 151/2020).
                                           Nach § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz                 Mit 30. April 2020 trat diese Regelung
Diese Regelungen sind schon deshalb        konnte der zuständige Bundesminister              außer Kraft.
nicht miteinander vergleichbar, weil der   durch Verordnung (auch) das Betreten
Gesetzgeber mit dem Epidemiegesetz         von Betriebsstätten oder von bestimm-             Mehrere Handelsunternehmen, darunter
1950 lediglich die Schließung einzelner    ten Betriebsstätten zum Zweck des                 ein Grazer Unternehmen, das an 49 Stan­d­
Betriebe vor Augen hatte, nicht aber       Erwerbs von Waren und Dienstleistun-              orten in Österreich tätig ist und vor allem
großräumige Betriebsschließungen,          gen untersagen, soweit dies zur Verhin-           mit Schuhen handelt, hatten beantragt,
wie sie sich aus dem COVID-19-Maß-         derung der Verbreitung von COVID-19               diese Beschränkung aufzuheben.
nahmengesetz ergaben.                      erforderlich ist.
                                                                                             In Weiterentwicklung seiner Rechtspre-
Der VfGH ging im Übrigen davon aus,        Gestützt auf diese Ermächtigung                   chung zur Zulässigkeit von Individual-
dass dem Gesetzgeber bei der Bekämp-­      wurde myit der COVID-19-Verordnung                anträgen stellte der VfGH fest, dass der
f­ung der wirtschaftlichen Folgen          BGBl. II 96/2020 unter anderem das                zugrunde liegende (Individual-)Antrag
der COVID-19-Pandemie ein weiter           Betreten des Kundenbereichs von                   zulässig ist, obwohl die angefochte-
rechtspolitischer Gestaltungsspiel-        Betriebs­stätten des Handels untersagt            nen Bestimmungen zum Zeitpunkt
raum zukommt. Wenn der Gesetzgeber         (§ 1). Dieses Betretungsverbot bedeutete          seiner Entscheidung bereits außer Kraft
die Entscheidung getroffen hat, das Be-    im Ergebnis, dass die betroffenen                 getreten waren. Das rechtliche Interesse
tretungsverbot in ein eigenes Rettungs-    Betriebsstätten geschlossen werden                der Antragsteller, eine verbindliche Ent-
paket einzubetten, das im Wesentlichen     mussten. Ausgenommen von diesem Ver-              scheidung über die Gesetzmäßigkeit
die gleiche Zielrichtung wie Ansprüche     bot waren zunächst lediglich sogenannte           dieser Bestimmungen zu erwirken, reicht
auf Vergütung des Verdienstentganges       systemrelevante Betriebe wie öffentliche          nämlich über den relativ kurzen Zeit­-
nach dem Epidemiegesetz 1950 hat, so       Apotheken, der Lebensmittelhandel oder            raum hinaus, in dem die angefochtenen
ist ihm vom Standpunkt des Gleichheits-    Tankstellen (§ 2). Mit 14. April 2020 wur-        Bestimmungen in Kraft gestanden sind.
grundsatzes nicht entgegenzutreten.        den weitere Betriebsstätten des Handels
                                           ausgenommen, so etwa Bau- und Garten-

Judizielles                                Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                            29
Der VfGH hatte aus dem Blickwinkel des       VfGH 14.7.2020, V 363/2020                 Die Entscheidung, ob bzw. welche Maß-
verfassungsrechtlichen Bestimmtheits-        Betretungsverbot für                       nahmen per Verordnung gegen COVID-19
gebots für Gesetze keine verfassungs-        öffentliche Orte                           getroffen werden, überträgt das Gesetz
rechtlichen Bedenken gegen die gesetz-                                                  zwar den zuständigen Behörden. Bei
liche Verordnungsermächtigung in             § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz sah           dieser Entscheidung sind die Behörden
§ 1 COVID-19-Maßnahmengesetz.                vor, dass beim Auftreten von COVID-19      jedoch an die Grundrechte gebunden,
                                             durch Verordnung das Betreten von          insbe­sondere an das Recht auf persön-
Hingegen erkannte der VfGH Teile des         bestimmten Orten untersagt werden          liche Freizügigkeit. Einschränkungen
§ 2 Abs. 4 (insbesondere die Voraus-         kann, „soweit dies zur Verhinderung der    dieses Rechtes sind nur dann zulässig,
setzung „wenn der Kundenbereich im           Verbreitung von COVID-19 erforderlich      wenn sie einem legitimen öffentlichen
Inneren maximal 400 m2 beträgt“) der         ist“. Darüber hinaus konnte geregelt       Interesse (wie dem Gesundheitsschutz)
Verordnung, wie sie vom 14. April 2020 bis   werden, unter welchen bestimmten           dienen und verhältnismäßig sind.
30. April 2020 gegolten hat, für gesetz-     Voraussetzungen oder Auflagen jene
widrig, und zwar aus folgenden Gründen:      Orte doch betreten werden dürfen.          Der VfGH entschied, dass die Bestim-
                                                                                        mungen der §§ 1, 2, 4 und 6 der Ver-
Der – in diesem Fall zuständige –            Auf Grund des § 2 COVID-19-Maßnah-         ordnung BGBl. II 98/2020 gesetzwidrig
Gesundheitsminister muss zum einen           mengesetz erging die COVID-19-Ver-         waren, weil die Grenzen überschritten
nachvollziehbar machen, auf Basis            ordnung BGBl. II 98/2020, mit der das      wurden, die dem zuständigen Bundes-
welcher Informationen er die gesetz-         Betreten öffentlicher Orte allgemein       minister durch § 2 COVID-19-Maß-
lich vorgegebene Abwägung zwischen           für verboten erklärt wurde (§ 1). § 2      nahmengesetz gesetzt sind. Mit der
dem öffentlichen Interesse und den           dieser Verordnung enthielt mehrere         Verordnung wurde nicht bloß das
grundrechtlich geschützten Interessen        Ausnahmen von diesem Verbot: etwa          Betreten bestimmter, eingeschränk-
der Betroffenen getroffen hat. Aus dem       das Betreten öffentlicher Orte im Freien   ter Orte untersagt. Die Ausnahmen
Verordnungsakt war aber nicht ersicht-       alleine, mit Personen, die im gemein-      in § 2 der Verordnung ändern nichts
lich, welche Umstände im Hinblick auf        samen Haushalt leben, oder mit Haus-       daran, dass § 1 der Verordnung „der
welche Entwicklungen von COVID-19            tieren, wobei zu anderen Personen ein      Sache nach als Grundsatz von einem
den Gesundheitsminister bei seiner           Abstand von mindestens einem Meter         allgemeinen Ausgangsverbot ausgeht“.
Entscheidung geleitet hatten. Eine ent-      einzuhalten war (Z 5).                     Ein derart umfassendes Verbot war aber
sprechende Dokumentation ist jedoch                                                     vom COVID-19-Maßnahmengesetz
ausschlaggebend dafür, dass der VfGH         Gegen die Verordnung hatte ein Univer-     nicht gedeckt. Dieses Gesetz bot keine
beurteilen kann, ob die Verordnung den       sitätsassistent einer Wiener Universität   Grundlage dafür, eine Verpflichtung zu
gesetzlichen Vorgaben entspricht.            mit Wohnsitz in Niederösterreich einen     schaffen, an einem bestimmten Ort,
Die angefochtene Regelung bedeutete          (Individual-)Antrag nach Art. 139 B-VG     insbesondere in der eigenen Wohnung,
zudem eine Ungleichbehandlung von            eingebracht. Die Verordnung trat mit       zu bleiben.
Geschäften mit mehr als 400 m2 gegen-        30. April 2020 außer Kraft. Auch in
über vergleichbaren Betriebsstätten,         diesem Fall ging der VfGH von der          Der VfGH schloss nicht aus, dass bei
insbesondere von Bau- und Garten-            Zulässigkeit des Antrags aus.              Vorliegen besonderer Umstände unter
märkten. Diese waren ohne Rücksicht                                                     entsprechenden zeitlichen, persön-
auf die Größe ihres Kundenbereiches          Gegen § 2 COVID-19-Maßnahmen­              lichen und sachlichen Einschränkun-
vom Betretungsverbot ausgenommen.            gesetz bestehen, so der VfGH, keine        gen nicht auch ein Ausgangsverbot
Eine sachliche Rechtfertigung für diese      verfassungsrechtlichen Bedenken,           gerechtfertigt sein könnte, wenn sich
Ungleichbehandlung war für den VfGH          weil diese Regelung eine hinreichend       eine solche Maßnahme angesichts
nicht erkennbar. Da die gesetzwidrige        bestimmte gesetzliche Grundlage            ihrer besonderen Eingriffsintensität
Bestimmung mit Ablauf des 30. April          für allfällige – durch Verordnung zu       als verhältnismäßig erweist. Jedenfalls
2020 außer Kraft getreten war, stellte       erlassende – Betretungsverbote bietet      bedürfte eine derart weitreichende,
der VfGH lediglich fest, dass diese          und damit dem verfassungsrechtlichen       weil dieses Recht im Grundsatz aufhe-
Bestimmung gesetzwidrig war.                 Legalitätsprinzip entspricht.              bende Einschränkung der Freizügigkeit

30
aber einer konkreten und entsprechend     VfGH 11.12.2020, G 139/2019                       die für ihn ein selbstbestimmtes Leben

                                          Verbot
näher bestimmten Grundlage im Gesetz.                                                       in persönlicher Integrität und Identität
                                                                                            und damit in Würde nicht mehr ge-
Da die angefochtenen Bestimmungen
bereits mit Ablauf des 30. April 2020     der Sterbehilfe                                   währleistet.

außer Kraft getreten waren, stellte                                                         Lässt die Rechtsordnung zu, dass ein Be-
der VfGH lediglich fest, dass diese Be-   Mehrere Betroffene, darunter zwei                 troffener sein Leben mit Hilfe eines Drit-
stimmungen gesetzwidrig waren. Er         Schwerkranke, hatten beim VfGH den                ten in Würde nach seiner freien Selbst-
sprach darüber hinaus aus, dass diese     Antrag gestellt, sowohl § 77 („Tötung             bestimmung zu dem von ihm gewählten
Bestimmungen (etwa in laufenden           auf Verlangen“) als auch § 78 StGB                Zeitpunkt beenden kann, kann dies dazu
Verwaltungsstrafverfahren) nicht mehr     („Mitwirkung am Selbstmord“) als                  führen, dass dadurch dem Betroffenen
anzuwenden sind.                          verfassungswidrig aufzuheben.                     ein längeres Leben ermöglicht wird und
                                                                                            er sich nicht veranlasst sieht, sein Leben
                                          Der VfGH entschied, dass die Wort-                vorzeitig in einer menschenunwürdigen
                                          folge „oder ihm dazu Hilfe leistet“               Form zu beenden. Der Betroffene kann
                                          in § 78 StGB verfassungswidrig ist.               also dadurch Lebenszeit gewinnen, weil
                                          Die Aufhebung tritt mit Ablauf des                er die Selbsttötung auch erst zu einem
                                          31. Dezember 2021 in Kraft.                       späteren Zeitpunkt und mit Hilfe eines
                                                                                            Dritten vornehmen kann.
                                          Aus mehreren grundrechtlichen Gewähr­
                                          leistungen, insbesondere aus dem                  Indem § 78 zweiter Tatbestand StGB
                                          Recht auf Privatleben, dem Recht auf              die Hilfe eines Dritten beim Suizid aus-
                                          Leben und dem Gleichheitsgrundsatz,               nahmslos verbietet, wird es dem Einzel-
                                          ist das verfassungsgesetzlich gewähr-             nen im Ergebnis verwehrt, über sein
                                          leistete Recht des Einzelnen auf freie            Sterben in Würde zu bestimmen.
                                          Selbstbestimmung ableitbar. Dieses
                                          Recht auf freie Selbstbestimmung um-              Bei der verfassungsrechtlichen Be-
                                          fasst das Recht auf die Gestaltung des            urteilung des § 78 zweiter Tatbestand
                                          Lebens ebenso wie das Recht auf ein               StGB geht es nicht um eine Abwägung
                                          menschen­würdiges Sterben. Das Recht              zwischen dem Schutz des Lebens des
                                          auf freie Selbstbestimmung umfasst                Suizidwilligen und dessen Selbstbestim-
                                          auch das Recht des Suizidwilligen,                mungsrecht. Steht unzweifelhaft fest,
                                          die Hilfe eines dazu bereiten Dritten             dass die Selbsttötung auf einer freien
                                          in Anspruch zu nehmen.                            Selbstbestimmung gründet, so hat
                                                                                            der Gesetzgeber dies zu respektieren.
                                          Das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe
                                          eines Dritten kann einen besonders                Da die Selbsttötung irreversibel ist,
                                          intensiven Eingriff in das Recht des              muss die entsprechende freie Selbst-
                                          Einzelnen auf freie Selbstbestimmung              bestimmung der zur Selbsttötung
                                          darstellen. Da § 78 zweiter Tatbestand            entschlossenen Person tatsächlich
                                          StGB die Selbsttötung mit Hilfe eines             auf einer nicht bloß vorübergehenden,
                                          Dritten ausnahmslos verbietet, kann               sondern dauerhaften Entscheidung be-
                                          diese Bestimmung unter Umständen                  ruhen. Sowohl der Schutz des Lebens als
                                          den Einzelnen zu einer menschen-                  auch das Recht auf freie Selbstbestim-
                                          unwürdigen Form der Selbsttötung                  mung verpflichten den Gesetzgeber, die
                                          veranlassen, wenn er sich kraft freien            Hilfe eines Dritten bei der Selbsttötung
                                          Entschlusses in einer Situation befindet,         zuzulassen, sofern der Entschluss auf

Judizielles                               Verfassungsgerichtshof – Tätigkeitsbericht 2020                                           31
einer freien Selbstbestimmung beruht,        Es steht zu dem sowohl in der verfas-      Der VfGH übersieht nicht, dass die
diesem also ein aufgeklärter und infor-      sungsrechtlich begründeten Behand-         freie Selbstbestimmung auch durch
mierter Willensentschluss zugrunde liegt.    lungshoheit als auch in § 49a Abs. 2       vielfältige soziale und ökonomische
                                             Ärztegesetz 1998 (hinsichtlich der Ein-    Umstände beeinflusst wird. Dem-
Dabei hat der Gesetzgeber auch zu be-        haltung der Patientenverfügung) zum        entsprechend hat der Gesetzgeber
rücksichtigen, dass der helfende Dritte      Ausdruck kommenden Stellenwert der         Maßnahmen zur Verhinderung von
eine hinreichende Grundlage dafür hat,       freien Selbstbestimmung im Wider-          Missbrauch vorzusehen, damit die be-
dass der Suizidwillige tatsächlich eine      spruch, dass § 78 zweiter Tatbestand       troffene Person ihre Entscheidung zur
auf freier Selbstbestimmung gegrün-          StGB jegliche Hilfe bei der Selbsttötung   Selbsttötung nicht unter dem Einfluss
dete Entscheidung zur Selbsttötung           verbietet.                                 Dritter fasst.
gefasst hat.
                                             Wenn einerseits der Patient darüber        Im Zusammenhang mit dem Recht
Aus grundrechtlicher Perspektive macht       entscheiden kann, ob sein Leben durch      auf Selbstbestimmung in Verbindung
es – so der VfGH – im Grundsatz keinen       eine medizinische Behandlung gerettet      mit der Selbsttötung darf keinesfalls
Unterschied, ob der Patient im Rahmen        oder verlängert wird, und andererseits     übersehen werden, dass angesichts der
seiner Behandlungshoheit bzw. im             durch § 49a Ärztegesetz 1998 unter         realen gesellschaftlichen Verhältnisse
Rahmen der Patientenverfügung in             den dort festgelegten Voraussetzun-        die tatsächlichen Lebensbedingungen,
Ausübung seines Selbstbestimmungs-           gen sogar das vorzeitige Ableben eines     die zu einer solchen Entscheidung
rechtes lebensverlängernde oder lebens-      Patienten im Rahmen einer medizini-        führen, nicht gleich sind.
erhaltende medizinische Maßnahmen            schen Behandlung in Kauf genommen
ablehnt oder ob ein Suizident unter Inan-    wird, ist es nicht gerechtfertigt, dem     Bei einem solchen Entschluss können
spruchnahme eines Dritten in Ausübung        Sterbewilligen die Hilfe durch einen       auch Umstände eine entscheidende
seines Selbstbestimmungsrechtes sein         Dritten in welcher Art und Form auch       Rolle spielen, die nicht ausschließlich
Leben beenden will, um ein Sterben in        immer im Zusammenhang mit der              in der Sphäre bzw. Disposition des
der vom Suizidwilligen angestrebten          Selbsttötung zu versagen und derart        Sterbewilligen liegen, wie seine Familien­­
Würde zu ermöglichen. Entscheidend ist       das Recht auf Selbstbestimmung aus-        verhältnisse, die Einkommens- und
vielmehr in jedem Fall, dass die jeweilige   nahmslos zu verneinen.                     Vermögensverhältnisse, die Pflegebe-
Entschei­dung auf der Grundlage einer                                                   dingungen, die Hilfsbedürftigkeit,
freien Selbstbestimmung getroffen wird.                                                 der eingeschränkte Aktivitätsspiel-

32
Sie können auch lesen