Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs

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Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Es gibt nur eine Menschheit,
                                                                                                                   und damit auch nur eine Religion. (Ajja)

Verschiedene Wege zur Wahrheit
von Dr. Johannes Heinrichs

Eine historisch überholte Fehde                   Gotteswahn, dt. 2007) der meint, mit sehr be-        ten Gegensätze von Wissenschaft und Glaube
                                                  grenzten wissenschaftlichen Methoden Inhalte         weiterbestehen? Wir dürfen dabei nicht verges-
In der Abschlussrede eines 19-jährigen Abitu-     des religiösen Glaubens ad absurdum führen zu        sen, dass der Kapitalismus (mein Thema in der
rienten heißt es: „So können wir vielleicht die   können? Fehlt nicht auf beiden Seiten gleicher-      vorigen Ausgabe der „Lebensträume“) sich alle
Überreichung der Reifezeugnisse so deuten,        maßen der Sinn für eine ganzheitliche Vernunft?      technisch-wissenschaftlichen Fortschritte als
dass wir die Zeichen der Zeit verstanden hätten   Für eine Vernunft, die wissenschaftlich und gläu-    sein eigenes Verdienst zuschreibt. Die Identifi-
und gerüstet wären, an der Bewältigung der        big zugleich sein könnte?                            zierung beider geht so weit, dass viele Men-
Aufgaben unserer Zeit mitzuarbeiten: an einer                                                          schen sich einen technisch-zivilisatorischen
Technik, die nicht das Goldene Kalb der                                                                Fortschritt der Menschheit ohne das kapitalisti-
Menschheit ist, an einer Naturwissenschaft, die   Gegensätze von                                       sche System nicht einmal denken können. Karl
sich ihrer Grenzen bewusst ist, an einer Reli-                                                         Marx hat zu dieser Identifizierung beider sogar
gion, die weitherzig genug ist, die Leistungen
                                                  Kapitalismus bedingt?                                beigetragen, als er im Manifest der Kommunis-
des Menschen anzuerkennen. Denn was war                                                                tischen Partei von 1848 die kapitalistische Bour-
schädlicher in der Geschichte und was überflüs-   Dies ist in der Tat die Position des zitierten Ab-   goisie als die fortschrittlichste Klasse rühmte,
siger als das seit Galilei bestehende Katz-und-   iturienten. Ich selbst war dieser „Klugschwät-       welche die Weltgeschichte bisher gesehen ha-
Maus-Spiel zwischen Religion und Naturwis-        zer“, und zwar anno 1962! Aber dies ist heute,       be:
senschaft?“                                       um gleich frei heraus zu sprechen, noch immer
                                                  meine Position – wenngleich in verwandelter          „Die Bourgoisie hat in ihrer kaum hundertjähri-
Nehmen wir für einen Moment die Begriffe „Re-     Form. Denn dazwischen liegen nicht nur auf           gen Klassenherrschaft massenhaftere und ko-
ligion“ und „Glaube“ als gleichbedeutend, dann    meiner Seite Jahrzehnte ununterbrochener             lossalere Produktionskräfte geschaffen als alle
ist diese Aussage zentral und aktuell für unser   philosophisch-theologischer sowie sozialwis-         vergangenen Generationen zusammen. Unter-
Thema.                                            senschaftlicher Studien und ebenso viele Jahr-       jochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwen-
                                                  zehnte spiritueller Übungen, Erfahrungen und         dung der Chemie auf Industrie und Ackerbau,
    Erweisen sich Glaube und Wissenschaft         Entscheidungen. Nicht gerade minder rasant           Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Te-
     nicht gleichermaßen als unvernünftig,        hat die Welt sich seitdem verändert. Der „Fort-      legraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile,
     wenn sie sich gegenseitig befehden?          schrittstaumel“,den der Abiturient damals schon      Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem
                                                  so benannte und beinahe überwunden glaubte,          Boden hervorgestampfte Bevölkerungen –
Richard Dawkins
                                                  hat sich nach dem Wegfall der atomaren Bedro-        welch früheres Jahrhundert ahnte, dass solche
                                                  hung eher noch gesteigert. Er wurde vielleicht       Produktionskräfte im Schoß der menschlichen
                                                  erst jetzt, durch die Weltwirtschaftskrise seit      Arbeit schlummerten?“
                                                  Herbst 2008, „nachhaltig“ gebremst.
                                                                                                       Nur der Schluss des Zitierten lässt durchblicken,
                                                                                                       dass der vom Fortschritt Begeisterte nicht dem
                                                                                                       Kapital , sondern der menschlichen Arbeit diese
                                                                                                       ungeheuren Kräfte zuschrieb. Oder will dieser
                                                                                                       größte Kritiker des Kapitalismus sagen, dass
                                                                                                       wenigstens im Anfang die kapitalistische Orga-
                                                                                                       nisation der menschlichen Arbeit diese ge-
                                                                                                       schichtlich einmalige Effizienz schuf?
                                                  Marx/ Engels
Zum Beispiel auf der einen Seite ein fundamen-                                                         Lassen wir diese Frage hier offen. Inzwischen
talistisches Bibelverständnis, das die Evolu-     Hängt es mit diesem wissenschaftlich-tech-           haben wir eine zweite, elektrische, und eine
tionstheorie nicht zu integrieren vermag? Auf     nisch geleiteten, doch vom Standpunkt einer          noch in vollem Gang befindliche dritte industriel-
der anderen Seite ein Wissenschaftsfundamen-      ganzheitlichen Vernunft ziemlich unvernünftigen      le Revolution, die elektronische, erlebt, über die
talismus von der Art eines Richard Dawkins (Der   Fortschrittstaumel zusammen, dass auch die al-       wir immer noch allen Grund zu staunen haben.

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Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Versuche erst, dein "Ich" zu erkennen.
 Danach kannst du über die Welt nachdenken. (Ajja)

G.W.F. Hegel                                         durchaus die „Erstmittel“ der Industrie. Kurz, ich   Esoterischen, wie bei den Vorgenannten das,
                                                     sehe in dem anhaltenden technologischen Fort-        was die Fach-Leute zurückschrecken lässt, son-
                                                     schrittstaumel unter kapitalistischem Vorzei-        dern einmal die autobiografische Enthüllung,
                                                     chen vielfältige Gründe, warum Wissenschaft          wie wenig sich große Teile des bestallten Er-
                                                     keineswegs mit ganzheitlicher Vernunft zu-           kenntnisbeamtentums um Wahrheit scheren,
                                                     sammenfällt.                                         wenn es um andere Vorteile geht; ferner einfach
                                                                                                          der Anspruch eines aufs Ganze dringenden An-
                                                                                                          satzes, der vor keiner Frage nach dem Warum
                                                                                                          zurückschreckt wie bei der üblichen, akade-
                                                                                                          misch dressierten wissenschaftlichen Vernunft
                                                                                                          – die eigentlich, nach dem Sprachgebrauch
                                                                                                          Kants und Hegels gar keine Vernunft mehr ist,
                                                                                                          sondern nur noch der berechnende Verstand.

                                                                                                          Immanuel Kant
                                                     Wilhelm Reich/ Viktor Schauberger
Untergrabung einer
ganzheitlichen Vernunft
Zurück zu der Frage: Hängt die noch immer vor-
handene Kluft von Glauben und Wissenschaft
nicht zum guten Teil mit diesem ungebrochenen
Fortschrittstaumel zusammen, von dessen
„Nachhaltigkeit“ sich der Abiturient von 1962
wirklich noch keine Vorstellung machen konnte?
Ich denke, dass dies in der Tat der Fall ist, und
                                                     Fritz Albert Popp/ Rupert Sheldrake
zwar um so mehr, als der technisch-wissen-
schaftliche Fortschritt durch das kapitalistische
Vorzeichen verfremdet, das heißt seinen eige-        Herrschaftszüge
nen Trägern entfremdet war: Er war nicht eine
Sache des sich kollektiv und gemeinsam selbst
                                                     der Wissenschaft
entfaltenden Menschen, sondern blieb eine              Zeigt nicht deshalb die Wissenschaft so
Klassenveranstaltung: Die meisten Beteiligten           viele Herrschafts-Züge, durch die z.B.
dienten diesem Fortschritt „in der Furcht des          zahlreiche Projekte einer ganzheitlichen
                                                                                                          Verstand und Vernunft
Herrn“ (G.W. F. Hegel, im berühmten Abschnitt          Vernunft abgewiesen, unterdrückt und               bei Kant
„Herr und Knecht“ seiner Phänomenologie des                  lächerlich gemacht werden?
Geistes), wobei die Herren nicht, wie im Frühka-                                                          Kant definiert in seiner Kritik der reinen Vernunft
pitalismus persönlich identifizierbar zu bleiben     Nehmen wir – alles im Bereich der Naturwis-
brauchen. Es genügt die Herrschaft immer an-         senschaft – die Dramen um NiklasTesla und sei-       • den Verstand als Vermögen der begrenzten
onymer werdender Systemzwänge. Diese                 ne Erfindungen, um Wilhelm Reich und Viktor          Begriffe,
Selbstentfremdung betrifft nicht allein die aus-     Schauberger, um Fritz-Albert Popp und um Ru-
führenden Techniker, sondern gleichermaßen           pert Sheldrake und manche andere als Beispie-        • Vernunft aber als Vermögen der „Einheit der
die an den wissenschaftlichen Grundlagen Ar-         le – um von der ältesten menschlichen Wissen-        Verstandesregeln unter Prinzipien“ (B 359-363)
beitenden, die Wissenschaftler.                      schaft, jenerVerbindung aus Langzeiterfahrung,       sowie das Vermögen der regulierenden, unbe-
                                                     mathematisch-astronomischer Berechnung und           dingten Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterb-
  Unter solchen Verhältnissen ist an die             logischer Kombinatorik menschlicher Archety-         lichkeit (B 671ff).
     Kultivierung einer ganzheitlichen               pen hier schamvoll zu schweigen, weil dies ein
   wissenschaftlichen Vernunft kaum zu               großes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte für       Vernunft ist das menschliche „Vernehmungs-
denken. Jeder hat vielmehr seine Rolle als           sich ist, mit viel Licht und Schatten.               vermögen“ (vgl. Kluge: Etymologisches Wörter-
Rädchen in einem Wissenschaftssystem zu                                                                   buch), das sich durch unbegrenzte Offenheit
      spielen, das unter finanziellen,               Ich zähle zu jenen gegenwärtigen Namen auch          auszeichnet, obwohl es aus dem ganz punk-
     wirtschaftlichen Zwängen steht.                 den zweifellos genialen Physiker, Chemiker und       tuellen Vermögen zur Selbstreflexion hervor-
                                                     Mathematiker Peter Plichta, an dessen ersten         geht, das den Menschen auszeichnet. Philoso-
In den Naturwissenschaften sind es direkt die        beiden Bänden „Das Primzahlkreuz“ (1991) ich         phie verstehe ich von daher als die methodisch
Mechanismen der Wissenschaftsförderung               redigierend beteiligt sein durfte. Hier ist nicht    disziplinierte Entfaltung dieses Reflexionsver-
durch Drittmittel bzw. (in den USA vor allem)        einmal irgendeine Nähe zum Spirituellen, gar         mögens. Der Besitz dieses sich selbst spiegeln-

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Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Wir kommen aus dem Licht und werden auch wieder zum
                                                                                                          Licht zurückkehren. Das ist der Prozess. Das ist der Weg. (Ajja)

den Spiegels aller Dinge (als Bewusstseinsge-               Anderseits geriet sie zu einem halb mystischen          nächst die politische „Bewegung“ auf seiner
halte) ist es, was die Philosophie vor allen ob-            Geraune, dem die (freilich noch nicht abgeklär-         Seite hatte – merkwürdigerweise, ja sehr merk-
jektgerichteten Naturwissenschaften auszeich-               te) begriffliche Klarheit und Strenge der deut-         würdigerweise sogar den Zeitgeist noch nach
net. Wer meint, Philosophie könne diesen nur                schen Idealisten im Gefolge Kants, also vor al-         dem Zweiten Weltkrieg.
die Schleppe nachtragen wie einst der Theolo-               lem Fichte, Schelling und Hegel, fehlte. Ich
gie, hat nicht begriffen (selbst wenn er sich zur           schreibe dies als Verfasser einer philosophi-            Karl Jaspers
philosophischen Zunft zählt), dass sie ein ganz             schen Semiotik (Sinnprozesslehre), zu welcher
eigenes Licht trägt, eine ganz eigentümliche                auch der Sinnprozess Mystik gehört. Doch wen-
und unverwechselbare Erkenntnisquelle hat. Ihr              de ich mich energisch gegen die Verwechslung
ist aufgegeben, die Hüterin einer ganzheitlichen            und Verwischung der Ebenen von Wissenschaft,
Vernunft zu sein.                                           Kunst und Mystik.

Die Lage der Geistes-                                       Der endgültige Zusammen-
wissenschaften                                              bruch des ganzheitlichen
                                                            deutschen Idealismus
In den Geisteswissenschaften gestaltet sich die
Lage noch dramatischer als in den Naturwis-                 Vom „Zusammenbruch des deutschen Idea-
senschaften. Die Sprachwissenschaften, die                  lismus“ hatte man schon bald nach Hegels Tod
Psychologie und die Sozial- oder Handlungswis-              (1831) gesprochen, als noch der Hegelianismus
senschaften mussten sich sicherlich von ihrer               „rechter“ (religiös-konvervativer) wie „linker“
Mutterdisziplin, der Philosophie, emanzipieren              (atheistischer und sozialistischer) Prägung das
und mit ihren jeweiligen empirischen Methoden               gesamte europäische Geistesleben intellektuell
je für sich ausbilden. Doch bei dieser Differen-            beherrschte. De facto herrschte jedoch gar nicht
zierung ging weitgehend die Integration in ge-              mehr der Intellekt, sondern die immer schneller         Begriffswirrwarr am
meinsamen, begrifflich-logischen Grundlagen                 marschierende industrielle Revolution einer-            Beispiel „Diskurstheorie“
verloren – was früher einmal in der „Philosophi-            seits und die sich gegen den philosophisch-
schen Fakultät“ gewährleistet sein sollte. Die              freien Geist (mochte dieser noch so frisch und          Die Folge dieser geistesgeschichtlichen Ent-
Emanzipation geschah vor noch nicht einmal                  fromm sein) stemmende kirchlich-politische              wicklung: Der Begriffswirrwarr, der heute in den
100 Jahren.                                                 Restauration anderseits.                                Geisteswissenschaften herrscht, ist für einen
                                                                                                                    Naturwissenschaftler gar nicht vorstellbar.
    Statt dass um so intensiver an einer                    Durch diese unheilige Allianz wurde der philoso-        Wenn man diesbezüglich Zuflucht etwa bei dem
       erneuerten Logik der Reflexion                       phisch-geisteswissenschaftliche Geist in                tonangebenden Kopf seit der 68-er Bewegung
(dies die Bedeutung von „transzendentaler                   Deutschland und Europa im fortschreitenden              sucht, bei Jürgen Habermas, wird man bitter
 Logik“ im Sinne Kants) gearbeitet wurde,                   19. Jahrhundert zermalmt! Den deutschen Ide-            enttäuscht werden. (Vgl. dazu meinen „Offenen
     entgleiste gerade in Deutschland,                      alisten wäre eine Entgegensetzung von Glaube            Brief an Jürgen Habermas“, im Anfang meines
 dem unbestrittenen Zentrum der neueren                     und Vernunft völlig fremd gewesen. Ihr mehr             Buches Handlungen, auch im Internet unter die-
          europäischen Philosophie,                         oder minder gemeinsames Bestreben war es                sen Stichworten.)
  die streng begriffliche Arbeit und wurde                  gewesen, das Vernunft-, d.h. Logosgemäße im
    einerseits zum bloßen Historisieren,                    überlieferten religiösen (vorzugsweise christ-               Es nimmt nicht Wunder, dass nach
       somit die Philosophie zur bloß                       lichen) Glauben zu erkennen und vom bloß „po-           Orientierung suchende Menschen sich eher
      philologischen Beschäftigung mit                      sitiv Religiösen“, geschweige denn Abergläubi-           – von den jüngsten, die Augen öffnenden
            ihren früheren Texten.                          schen, zu sondern.                                      Vorfällen abgesehen - in Richtung Ratzinger
                                                                                                                       und traditionellem religiösem Glauben
                                                            Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus                flüchten als in Richtung philosophische
                                                            wurde jedoch erst perfekt durch die Auflösung                            Aufklärung.
                                                            der akademischen Philosophie in Philosophie-
                                                            geschichte einerseits und anderseits der Auf-           Denn in ihren gegenwärtigen akademischen
                                                            fassung von Philosophie in Halbpoesie und               Vertretern bietet diese so genannte philosophi-
                                                            Halbmystik, wie sie sich vor allem beim führen-         sche Aufklärung bloß dünne, abgestandene
                                                            den Philosophen der Weimarer Republik, bei              Luft, nicht die frische und klare Brise ganzheit-
                                                            Martin Heidegger, ereignete. Dagegen fallen             licher Vernunft. Man hantiert z.B. mit einem dop-
                                                            andere große und achtsame Namen wie Ernst               pelten Begriff von Diskurs: einmal in dem um-
                                                            Cassirer, Paul Tillich, Karl Jaspers in dieser Hin-     fassenden Sinn des französischen und engli-
Johann Gottlieb Fichte/ Friedrich Wilhelm Josef Schelling   sicht kaum ins Gewicht, zumal Heidegger zu-             schen discours(e): Rede überhaupt. Dann aber

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Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Entferne die Dualität von "gut und schlecht",
 und der Verstand wird friedvoll sein. (Sri Brahmam)

in dem normativen und anspruchsvollen Sinn                    so liegen die Chancen für eine                  und auf neue Weise Glaube und Liebe
von Diskurs als rationaler Argumentation. Bei-             ganzheitliche Vernunft im derzeitigen            gegen das Denken ausspielt, verfehlt ihre
des ist wahrhaftig nicht dasselbe. Doch vom                 pseudo-geisteswissenschaftlichen                eigentliche Aufgabe für das Wassermann-
letzteren leiht man sich das wissenschaftliche                   „Diskurs“ etwa bei Null.                   Zeitalter, das (auch) ein Denk-Zeitalter ist.
Ansehen, vom ersteren den modischen, mondä-
nen Sound. Das Ganze nennt man Diskurstheo-            M. E. ist das diskursive (argumentative) Niveau      Mit einer neuerlichen Entgegensetzung von
rie, gar Diskursethik, z.B. des Politischen.           der derzeitigen Mainstream-Philosophie so nie-       Glaube und Liebe gegen die große Aufgabe des
                                                       drig wie seit Jahrhunderten nicht. Peter Sloter-     Menschen, selbst zu erkennen, gewinnt die
Woran es liegt, dass nicht beachtet wird, wor-         dijk, Habermas` publizistischer Gegenspieler,        esoterische Strömung auch nicht genügend
auf ich (und Andere auf ihre Weise) schon ein          liefert mit seinen literarischen Assoziationsket-    Kraft gegenüber den sie bekämpfenden alten
Dutzend mal hingewiesen habe, darf der Leser           ten nicht gerade den Gegenbeweis. Wohl gibt          „Glaubens“-Mächten. Sie setzt dann nur ein
dreimal raten:                                         es zahlreiche, durchaus wertvolle philosophie-       neues Fürwahrhalten aus zweiter Hand gegen
                                                       historische Monographien und Sammlungen,             das alte – statt aus der Einheit von Erfahrung
Ein akademischer Diskurs der Argumente, der            die heute als Philosophie betrachtet werden.         und Denken zu schöpfen, der einzigen Autorität,
Voraussetzung dafür wäre, dass diese Argu-             Das ist um so verwunderlicher, als die 68-er-Be-     die im Wassermann-Zeitalter Bestand haben
mente gehört würden, existiert eben nicht. Nur         wegung eine ausgesprochen philosophisch-po-          wird.
der modisch-politische Diskurs existiert. In ihm       litische war.
finden folgerichtig die Modebewussten oder                                                                     Selbst wenn uns erleuchtete Meister
Günstlinge der Mode(schöpfer) Gehör.                   Seit langem hatte Philosophie nicht mehr soviel        helfen sollten (was ich sehr hoffe), liegt
                                                       Chancen, ins politische und alltägliche Leben         ihre Autorität einzig im Selbsterfahrenen
Wenn echte Verstandesargumente (außer                  gestaltend einzugreifen. Doch die Philosophie             und Selbstgedachten, ein riesiger,
  historischen Analysen) unter solchen                 der Frankfurter Schule zehrte vom alten Erbe.         entscheidender Unterschied zum Fische-
Bedingungen schon kaum Chancen haben,                  (Lehrreich dazu die Schrift von F. Engels: Ludwig                      Zeitalter.
                                                       Feuerbach und der Ausgang der klassischen
                                                       deutschen Philosophie, in: Marx/Engels: Ausge-
                                                       wählte Schriften II.) Konstruktiv-systematische
                                                       Weiterentwicklungen fehlten ebenso wie ein
                                                       konstruktiver, nicht bloß negativ-kritischer De-
                                                       mokratie- und Gesellschaftsentwurf.

                                                       H.P. Blavatsky/ Alice Bailey
Peter Sloterdijk

                                                        Man muss im akademischen Bereich von
                                                        einem Verfall der ganzheitlichen Vernunft
                                                                        sprechen.
                                                                                                            Buch, herausgegeben von peter Neuner im Herder-
                                                        Ist diese in die Theosophie ausgewandert? Die       Verlag, ISBN 3451021951
                                                       Antwort auf diese berechtigte Frage würde
                                                       ganz neue Betrachtungen erfordern. Die Theo-
                                                       sophie H.P. Blavatkys, A. Baileys und der Agni-
                                                       Yoga-Lehre des russischen Ehepaars Roerich
                                                                                                            Untergrabung der Geistes-
                                                       enthält viel philosophischen Stoff, der eine zünf-   wissenschaften durch
                                                       tig-akademische Aufbereitung erfordern wür-          staats-kirchen-rechtliche
                                                       de, ähnlich wie die seriöse Astrologie.              Privilegien
                                                          Eine Esoterik dagegen, die gering vom             Bevor ich auf den eigentlichen Glauben im Ver-
Jürgen Habermas                                          ganzheitlich-vernünftigen Denken denkt             hältnis zu Wissenschaft zu sprechen komme,

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Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Die Einzelseele verliert ihre Existenz als Individuum
                                                                                                       durch richtiges Handeln und Wissen. (Ajja)

möchte ich auf die zusätzliche Schwächung und       Es ist fatal für das Gemeinwesen, wenn man es     zum ausgeprägten, rechnenden und beredten
Untergrabung der Freiheit der Geisteswissen-        als unabänderbare Gegebenheit hinnimmt,           Verstandesgebrauch!) Hochkonjunktur haben.
schaften durch die für eine echt pluralistische     dass sich Wissenschaften und ihr Personal in      Doch was soll eigentlich unter „Glaube“ ver-
Gesellschaft unrechtmäßigen Privilegien der         der geisteswissenschaftlichen Forschung eher      standen werden, da hier sicher nicht von Kir-
christlichen Kirchen an den Universitäten einge-    einem kirchen-politischen Gemauschel verdan-      cheneintritten oder –austritten die Rede ist?
hen (um von den Schulen und Kindergärten hier       ken als der großartigen Idee der Universität,
zu schweigen). Infolge des Konkordats zwi-          das heißt des freien Diskurses auf allgemein      1. Für-wahr-halten einer religiösen Lehre, die
schen Hitler und dem Vatikan von 1933, das in-      verbindlichen Grundlagen und Einsichten.          man zwar nicht selbst einsieht, die man jedoch
zwischen und viele Einzelkonkordate der Länder                                                        aufgrund der (im weiteren Sinn verstandenen)
abgelöst und durch entsprechende Verträge mit       Philosophie und Geisteswissenschaften, die        kirchlichen Autorität akzeptiert? Zweifellos wur-
den evangelischen Landeskirchen „gerecht“ er-       darin ständig Abstriche machen müssen, weil       de der religiöse, besonders der christliche Glau-
gänzt wurde, genießen die beiden großen Kon-        aufgrund historischer Privilegien ständig Glau-   be, jahrtausendelang meist so verstanden.
fessionen (dazu neuerdings in wachsendem            bensansprüche dazwischen treten, über die         Doch wir sehen, dass es sich im Grunde um ei-
Maße die Jüdische Gemeinde sowie konse-             nicht mehr diskutiert werden kann, geben sich     nen Autoritätsglauben handelt:
quenterweise nun auch Vertreter des Islams)         selbst auf. Kein Wunder, dass die Maßstäbe für
Privilegien an unseren Universitäten, die wis-      wissenschaftlichen Diskurs in allen geisteswis-   Ich akzeptiere Wahrheiten, weil die Autorität sie
senschafts- wie verfassungstheoretisch in kei-      senschaftlichen Disziplinen so leicht verloren    lehrt.Vorausgesetzt ist dabei der Glaube an die-
ner Weise zu rechtfertigen sind.                    gehen können, wie es umrissen wurde.              se Autorität der „heiligen Kirche“. Ihr vertraue
                                                                                                      ich. Wenn solcher Glaube etwas Religiöses
Zu rechtfertigen wären Religionswissenschaft-                                                         gegenüber anderem Autoritätsglauben hat,
liche Fakultäten, an denen auch über diese Kon-                                                       dann nicht allein wegen der Inhalte, die meine
fessionen informiert würde – nicht aber die                                                           zeitliche und ewige Existenz betreffen, sondern
milliardenschwere Ausstattung fast all unserer                                                        weil die Kirche selbst als heilige Gemeinschaft
Universitäten mit mindestens zwei konfessio-                                                          erlebt oder selbst geglaubt wird. Ähnlich glaubt
nellen Fakultäten, an denen die künftigen Kon-                                                        ein Kind seinen Eltern, weil es sie als stark und
fessionsdiener ausgebildet werden, zudem in                                                           fast „allwissend“ erlebt.
Wissenschaften, die nach neuzeitlichem Wis-
senschaftsverständnis gar keine Wissenschaf-                                                          2. Gegenüber solchem Glauben als Fürwahrhal-
ten sein können, nachdem sie sich selbst als                                                          ten dessen, was ich selbst nicht einsehe, beton-
„Glaubenswissenschaften“ verstehen.                                                                   te Luther die Komponente des Vertrauens auf
                                                                                                      Gott. Die kirchliche Vermittlung solchen Vertrau-
  Man muss sich einmal überlegen, was                                                                 ens blieb bei diesem vielleicht stark mystisch,
          diese (von konservativen                                                                    also selbst erlebenden Reformator ausgeblen-
 Verfassungsrechtlern mit der christlichen                                                            det. Nach evangelischer Lehre ist es allein die-
     Tradition Europas gerechtfertigte)                                                               se vertrauende Selbstauslieferung des Gläubi-
      Bevorzugung der Kirchen für das               Martin Luther                                     gen an Gott, die den Menschen „rechtfertigt“.
 universitäre und intellektuelle Leben eines
          Gemeinwesens bedeutet!                                                                      3. Nun geht uns Heutigen, an Wissenschaft und
                                                                                                      Vernunft Geschulten, das Wort „Gott“ nicht
Es geht mir in keiner Weise um antireligiöse Po-                                                      mehr so kindlich über die Lippen, vor allem,
lemik, sondern um die Bedeutung sauber defi-                                                          nachdem so unendlich viel Missbrauch mit die-
nierter Geisteswissenschaften für unser Ge-                                                           sem Wort getrieben wurde. Ein Theologe wie
meinwesen. Der Sinn für das, was Wissen-                                                              der oben schon erwähnte, 1933 in die USA aus-
schaft ist und sein könnte, ist entweder ganz                                                         gewanderte Paul Tillich bestimmt Religion als
oder gar nicht sauber entwickelt.                                                                     „Verhältnis zu dem, was uns unbedingt angeht“
                                                                                                      (SystematischeTheologie in 3 Bänden, engl. Ori-
Dieser Sinn wird nicht zuletzt durch die mächti-                                                      ginal 1963) und Glaube als ein mutiges Festhal-
                                                    Paul Tillich
ge Gegenwart von Pseudo-Geisteswissen-                                                                ten an den diesbezüglich erkannten „ultimate
schaften mitten in der staatlich finanzierten                                                         values“. Eine andere Schrift Tillichs heißt Mut
Wissenschaft gründlich korrumpiert. Der Kopf                                                          zum Sein (Courage to be).
des zum Himmel stinkenden gesamtgesell-
                                                    Glaube
schaftlichen Fisches hat sowohl eine spirituelle                                                      Dieser „Mut zum Sein“, die grundlegende Da-
Seite (die Letztwerte des Gemeinwesens) wie         Wir kommen endlich zum Glauben. Wenn es ei-       seinsbejahung und das Festhalten an den eige-
eine wissenschaftliche Seite (als Teil der kultu-   ne Konkurrenz zwischen Glaube und Vernunft        nen diesbezüglichen Einsichten und Werterfah-
rellen Werte), um in diesem Zusammenhang Po-        gäbe, müsste der Glaube in solchen Zeiten des     rungen kann sinnvoll der Glaube eines Men-
litik und Wirtschaft einmal außen vor zu lassen.    dürftigen Vernunftgebrauchs (im Unterschied       schen genannt werden, wie vorsichtig oder un-

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Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Hinter dem Unendlichen gibt es nichts,
 das erkannt werden könnte.(Premananda)

vorsichtig auch immer dieser sich inhaltlich aus-      lichen) Gestalten des Heiligen, die sich nicht al-    ter 3., dargelegt unter Glauben verstehen, wenn
artikulieren, in den wechselnden Herausforde-          leTage wiederholen. Solche Offenbarungen gibt         er seiner historistisch „gebildeten“ (nur noch
rungen des Lebens ausbuchstabieren mag.                es offenbar. Wir brauchen nicht an sie zu glau-       historisch-philologisch sammelnden) Zeit ent-
                                                       ben. Wohl sollten wir das Zeugnis solcher Men-        gegenschleudert:
Wir sind mit diesem dritten Glaubensbegriff na-        schen ernst nehmen, die „glaubhaft“ von sol-
türlich weit von Glauben als Fürwahrhalten auf-        chen Erlebnissen sprechen. Und gegebenen-              „Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein
grund einer auf irgendwelchen Gründen akzep-           falls unsere eigenen Erlebnisse ernst nehmen,         Grauen überflog mich. Und als ich um mich
tierten Autorität entfernt, auch von dem noch          das heißt mit Treue zu uns selbst und mit Dank-        sah, siehe! Da war die Zeit mein einziger
recht kindlich und zugleich patriarchalisch ge-        barkeit gegenüber dem Erfahrenen am bleiben-              Zeitgenosse. Da floh ich rückwärts,
prägten Gottesvertrauen Luthers. Es sollen hier        den Gehalt (nicht an der vergänglichen und             heimwärts – und immer eilender: so kam
gar nicht die Gegensätze betont werden. Doch           meist unwesentlichen Form) dieser Erlebnisse                ich zu euch, ihr Gegenwärtigen,
bei näherem Hinsehen laufen für ein modernes,          festhalten.                                                  und ins Land der Bildung. (…)
selbstreflektiertes Bewusstsein die beiden er-
sten Bedeutungen von Glauben in den dritten               Die Kultur des zwischenmenschlichen                Alles Umheimliche der Zukunft, und was je
zusammen. Auch Glauben als Stehen zur eige-                  „Glaubens“, der kritische Prüfung                   verflogenen Vögeln Schauder machte,
nen Göttlichkeit ist nicht allein (als egoistisch zu       einschließt, ist aufgrund von zu viel              ist wahrlich heimlicher und wirklicher noch
diffamierende) Selbstbejahung, sondern darin              erfahrungsfremden Autoritätsglauben,               als eure ‚Wirklichkeit‘. Denn so sprecht ihr:
zugleich Bejahung der Ganzheit des Seins und                     bei uns unterentwickelt.                    ‚Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben
seines Sinnes, meinetwegen der „Schöpfung“                                                                     und Aberglauben‘: also brüstet ihr euch –
(wenn man dieses Wort nicht auf die traditionel-       Eine Alltagsform solcher Offenbarung sind intu-                ach, auch noch ohne Brüste!
le Dualität von Schöpfer und Geschöpf oder auf         itive Einsichten: plötzliche Erkenntnisse und Ah-
„Schöpfung aus dem Nichts“ festlegt). Anders           nungen, für die wir keine rationalen Gründe ha-         Ja, wie solltet ihr glauben können, ihr
gesprochen:                                            ben. Der Glaube an das Göttliche und damit an         Buntgesprenkelten! – die ihr Gemälde seid
                                                       uns selbst schließt ein, dass wir dergleichen             von allem, was je geglaubt wurde!
    Glaube kann nur Selbstbejahung in                  ernst nehmen, im Zweifelsfall prüfen und dies-         Wandelnde Widerlegungen seid ihr des
       Bejahung des Anderen sowie                      bezügliche Erfahrungen sorgfältig beachten              Glaubens selber, und aller Gedanken
  Selbstbejahung vom Anderen auch vom                  und erinnern.                                              Gliederbrechen. Unglaubwürdige:
       göttlichen Anderen her, sein.                                                                          also heiße ich euch, ihr Wirklichen! Alle
                                                       Hier wie schon beim Glaubensbegriff 2 spielt           Zeiten schätzen widereinander in euren
Glaube in dem Sinn ist kein bloß selbstbezoge-         die Zeitstruktur des Glaubens, das Durchhalten          Geistern; und aller Zeiten Träume und
ner Monolog, sondern Selbstbezug-im-Fremd-             und Festhalten an einmal Erkanntem und Ge-                Geschwätz waren wirklicher noch,
bezug, ein dialogisches Geschehen. (Eine aus-          schenktem, eine entscheidende Rolle. Der Um-                    als euer Wachsein ist!
führlichere Darlegung dieses Glaubens-Ver-             gang mit der Zeit ist Umgang mit uns selbst als
ständnisses durch den Verfasser findet sich im         zeitlicher Wesen.                                     Unfruchtbare seid ihr: darum fehlt es euch
Wörterbuch der Religionspsychologie, hg. von                                                                  an Glauben. Aber wer schaffen musste,
                                                       Friedrich Nietzsche
S. R. Dunde, Gütersloh 1993, Artikel Glau-                                                                       der hatte auch immer seine Wahr-
be/Zweifel.) Dies führt zu einem vierten Aspekt:                                                              Träume und Sternzeichen – und glaubte
                                                                                                                            an Glauben!“
4. Glaube kann auch Anerkennung von „Offen-
barung“ und Festhalten an dieser sein. Ich will
jetzt nicht über große geschichtliche Offenba-
rungserlebnisse und deren schriftliche Fixierung                                                             Glaube und Wissenschaft
diskutieren, wie sie den drei so genannten Of-
fenbarungsreligionen gemeinsam sind. Allzu                                                                   Hat es überhaupt Sinn, einen solchen aufge-
leicht führt die Bindung und Verpflichtung vieler                                                            klärten Begriff von Glauben mit Wissenschaft
Menschen, die selbst keine Offenbarung erlebt                                                                und Vernunft zu konfrontieren? Keineswegs,
haben, auf den ersten, autoritätsgeprägten Of-                                                               was die beiden letzten Formen oder Stufen des
fenbarungsbegriff zurück, der geistesgeschicht-                                                              Glaubens angeht. Konfrontieren ließen sich
lich überholt ist. Früher wurde der Glaube als                                                               einst Glaube und Wissenschaft nur als verschie-
„übernatürliche Erkenntnis“ deklariert. Das war        (Empfehlung: Osho-Buch “Ein Gott, der tanzen kann”,   dene Formen des Fürwahrhaltens.
                                                       ISBN 978-3-936360-86-8
weitgehend autoritärer Missbrauch. Allerdings
ist es die Natur des menschlichen Geistes,                                                                   Es ist aber klar, dass der so verstandene Glau-
„übernatürlich“ zu sein. Ich meine hier die selbst     Nietzsches Glaube                                     be von einem wissenschaftlichen Standpunkt
erlebte Offenbarung: besondere Wert-Erfahrun-                                                                zu einem bloßen Vermuten und einem Erkennt-
gen bis hin zu mystischen Erlebnissen und Be-          Der furiose „Atheist“ Friedrich Nietzsche muss        nis-Ersatz degradiert werden muss. Das ist je-
gegnung mit (körperlichen oder außerkörper-            etwas ganz Ähnliches wie hier, besonders un-          doch ein (wenn auch von vielen „Gläubigen“

Lebens|t|räume 04/09                                                                                                                                    13
Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Das Gewahrsein des jetzigen Moments
                                                                                                                     ist das Großartigste, was es gibt. (Ajja)

selbstverschuldetes) ganz unwissenschaftli-          Universalwissenschaft aufgrund natürlicher                Solche Intensität des Denkens ist
ches Missverstehen des Glaubens in der dritten       Vernunft, im Unterschied zur Theologie, die sich      keineswegs dem Philosophen vorbehalten.
und vierten Bedeutung.                               auf „übernatürliche Vernunft“ stütze („scientia
                                                     universalis supranaturali ratione comparata“).        Sie geschieht auch in den Wissenschaften da,
Auf der anderen Seite kann kein Glaubender im        Auf die Fragwürdigkeit, ja Unhaltbarkeit dieser       wo die begrenzten Begriffsbildungen durch die
Sinne der grundlegenden Selbst- und Wertbeja-        letzten Definition soll es hier nicht nochmals an-    ganzheitliche Vernunft und ihre Ideen in Frage
hung sich vernünftigerweise gegen wissen-            kommen, sondern auf Philosophie als Sachwal-          gestellt und dynamisiert werden. „Ganzheitli-
schaftliche Erkenntnis sperren – vorausgesetzt,      terin einer ganzheitlichen Vernunft.                  che Vernunft“ meint keineswegs etwas Unge-
sie ist tatsächlich Erkenntnis und nicht rationa-                                                          fähres, wozu der Ausdruck „ganzheitlich“ oft
listische Anmaßung und Reduktion von Erkennt-        Alle Wissenschaft, sofern sie nicht allein ein        missbraucht wird. Ganzheitlichkeit bedeutet die
nis.                                                 untergeordnetes Geschäft des berechnenden             umfassende, möglichst selbst geordnete Be-
                                                     und klassifizierenden Verstandes darstellt, er-       rücksichtigung aller Relationen, die bei einem
„Keine Religion ist höher als die Wahrheit“          hält einen philosophischen, d.h. aufs Ganze ge-       Begriff bzw. einem Phänomen zu berücksichti-
              (H.P. Blavatsky).                      henden Einschlag. Wir sehen dies deutlich bei         gen sind.
                                                     allen großen Naturwissenschaftlern, besonders
Ich verstehe nicht, welche Probleme es zwi-          den epochemachenden Physikern, des 2O.                Es ist allein diese ganzheitliche Vernünftigkeit,
schen Glauben im dargelegten Sinn und Wis-           Jahrhunderts. Die Frage ist immer, ob sich Na-        die aus den bekannten „Fachidioten“, die ihre
senschaft für einen aufgeklärten Menschen ge-        turwissenschaftler in willkürlichen Anmutungen        darüberhinausgehende Unkenntnis durch Fana-
ben könnte. Es kann sich nur um traditionell         und Weltanschauungsbildungen ergehen.                 tismus kompensieren, aus funktionierenden Er-
überkommene Missverständnisse und Selbst-                                                                  kenntnisbeamten, denen es eigentlich um ihr
missverständnisse auf beiden Seiten handeln.         Bei den Großen ist das nicht der Fall, weil sie ge-   regelmäßiges Gehalt und ihr soziales Prestige,
                                                     nügendes Problembewusstsein mitbringen,               nicht um Erkenntnis als solche geht, auf einmal
                                                     meist auch beilaufend eine gewisse philosophi-        offene, gläubige Denker machen kann, aus po-
Glauben und Vernunft                                 sche Ausbildung genossen haben. Einsteins Re-         tentiellen Inquisitoren mit den oben erwähnten
                                                     lativitätstheorien sind beispielsweise ohne das       Opfern hingebungsvolle und faire Wahrheitssu-
Wenn wir „Vernunft“ nicht rationalistisch ver-       „Einatmen“ Kantischer Ideen über Raum und             cher.
kürzt verstehen, sind die Formen des Glaubens        Zeit kaum denkbar.
im dargelegten Sinne selbst Formen von Ver-
nunft, freilich einer dialogischen Vernunft, für     Auf den nachgeordneten Rängen der Naturwis-           Fazit
welche die Botschaften des personal oder me-         senschaftler gibt es dagegen zahlreiche Gegen-
dial Anderen eine mögliche Rolle spielen. Aller-     beispiele für philosophischen Dilettantismus             Wissenschaft, Glaube und Vernunft
dings haben die Worte „Glauben“ und „Ver-            ohne genügendes Problembewusstsein – mö-                 beschreiben Wege zur Wahrheit, die
nunft“ auch dies gemeinsam: Sie sind beide un-       gen sie auch als angesehene Festredner vom             verschieden sind, aber nur vordergründig
säglich missbraucht worden. Vom Glauben war          Max-Planck-Institut kommen, die etwa mit               konkurrieren. Wenn man „konkurrieren“
diesbezüglich vorhin die Rede. Von der Vernunft      Quantenphysik die Gesellschaft strukturieren              von Wegen überhaupt sagen kann.
kann man nur sagen, dass dieses menschliche          wollen.
Vernehmungsvermögen der unendlichen Offen-                                                                 • Wissenschaften sind begrenzte „Settings“
heit im Zeitalter des Rationalismus gerade bei            Auch die rasche Gleichschaltung                  oder Disziplinen, die nur durch ganzheitliche Ver-
ständiger Betonung von „Vernunft/raison /rea-                von Physik und Mystik, unter                  nunft Anschluss an das Ganze der Wirklichkeit
son“ für bloßen Verstandesgebrauch verkürzt                Überspringung, weil Unkenntnis                  gewinnen.
wurde. Diese Verkürzung setzt sich, wie ausge-          abendländischer Philosophie, etwa bei
führt, in unseren Wissenschaften fort. Deshalb            Fritjof Capra (Das Tao der Physik;               • Glaube ist – im Unterschied zu vielen Formen
noch ein kurzes Schlusswort zu:                           Wendezeit), leisten der wirklichen               des Autoritätsglaubens - Mut zum Sein, Wert-
                                                       Begegnung von Denken und Spiritualität              bejahung des Ganzen, Selbstbejahung vom Un-
                                                           m.E. keinen besonderen Dienst.                  bedingten und Göttlichen her.
Wissenschaft und Vernunft
                                                     Eine solche Begegnung findet nur statt, wenn          • Vernunft ist das Vermögen des Menschen zum
(Um eine Spiritualität des                           eine echte Spiritualität des Denkens entwickelt       Unbedingten (zum göttlichen Logos). Freilich:
Denkens)                                             wird: wenn die „Anstrengung des Begriffes“            „Wir suchen überall das Unbedingte und finden
                                                     zum „Gottesdienst des vernünftigen Denkens“           immer nur Dinge“ (Novalis, Blüthenstaub 1) –
In der alten, mittelalterlich-scholastisch gepräg-   wird (Hegel). Meines Erachtens kann das Me-           womit sich der Kreis zur Wissenschaft schließt.
ten Philosophie wurde diese, die Philosophie,        dium des wissenschaftlichen Begriffes, ähnlich
als „scientia universalis“ gegenüber den Einzel-     wie das des dichterischen Wortes, bei hinrei-              „Denn was war schädlicher in der
wissenschaften, den „scientiae particulares“,        chender Intensität und Ehrfurcht tatsächlich           Geschichte und was überflüssiger als das
bezeichnet. Genauer galt Philosophie als „scien-     selbst zum Medium mystischer oder quasi-mys-            seit Galilei bestehende Katz-und-Maus-
tia universalis naturali ratione comparata“: als     tischer Erfahrung werden.                                     Spiel zwischen Religion und

14                                                                                                                                   Lebens|t|räume 04/09
Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
Wer da auch immer nach Erleuchtung suchen mag, der
 muss verschwinden. Das ist Erleuchtung. (Sri Brahmam)

  Naturwissenschaft?“ Die historischen
 Religionen brauchen wir vielleicht nicht
mehr. Doch den Glauben im besagten Sinn.
                                                                                      Seine Bücher                                           Hierin
                                                                                      sind Wegweiser für                                     beschreibt er die
                                                                                      freie Menschen,                                        Welt des sich der-
                                                                                      nicht für blind der                                    zeit
                                                                                      Obrigkeit folgende.                                    offensichtlich zu To-
                                                                                      Er zwingt zum                                          de siegenden Kapi-
                                                                                      Nachdenken:                                            talismus.

                                                                                      In dieser Real-Uto-
                                                                                      pie bietet er eine
                                                                                      einfache Lösung an,                                    "Die
                                                                                      wie die                                                schleichende Demo-
                                                                                      Demokratie wieder                                      kratie-verdrossen-
                                                                                      funktionsfähig ge-                                     heit wird bei
                                                                                      macht werden könn-                                     Genuss des Mani-
                                                                                      te. Dieses Buch kön-                                   festes zur Demokra-
                                                                                      nen Sie demnächst                                      tie-begeisterung,
                                                                                      als                                                    die nach Praxis ver-
                                                                                      Paperback erhalten:                                    langt."
                                                                                      ISBN 978-954-449-
                                                                                      321-9
                      Johann Wolfgang von Goethe

Schon Goethe meinte, in einer fortgeschrittenen
Humanität sei die Religion, eben der Glaube im
dargelegten Sinn, inklusive enthalten, ohne der                                       Zur Öko-Problematik
                                                                                      stellt er fest:                                        Das ist die
populären Form zu bedürfen:                                                                                                                  Antwort:
                                                                                      "Naturwissenschaft-
                                                                                      liche Einzelerkennt-                                   Die heute anstehen-
  „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,                                                nisse helfen uns                                       de politische Erneu-
                                                                                      nicht weiter,                                          erung muss fundiert
  der hat auch Religion. Wer jene beiden                                                                                                     sein in einer Revolu-
                                                                                      diese scheinbar
     nicht besitzt, der habe Religion.“                                               ausweglose                                             tion der Gesinnun-
                                                                                      Situation zu än-                                       gen und Vorstel-
                                                                                      dern."                                                 lungs-arten!
Doch war und ist das nicht heute noch zu elitär
gedacht? Bedürfen die „einfachen Menschen“
nicht weiterhin der irgendwie verbindlichen Leh-
re über „das, was sie unbedingt angeht“ sowie
der Riten des Ausdrucks für das, was sie im Le-          Siehe: www.johannesheinrichs.de. Auslieferung der Bücher über: GVA, Postfach 2021, 37010 Göttingen,
ben und Sterben, im Lieben und Grenzeziehen,             Tel. 0551-487177, Fax: 0551-41392.
bewegt? Nicht allein die einfachen Menschen,
sondern die menschliche Gemeinschaft als gan-
ze wird dieser Lehre und Ausdrucksformen be-                                       Johannes Heinrichs,
dürfen – jedoch auf einem neuen Niveau der
                                                                                   geb. 1942, zählt schon jetzt zu den herausragenden systematischen
Aufklärung und Freiheit, jenseits, nicht diesseits
                                                                                   Philosophen der Neuzeit. Als wichtige Neuerung in der Philosophie gilt
jenes aufgeklärten und personalisierten Glau-
                                                                                   seine Entdeckung des „Periodensystems der Handlungsarten“, das die
bensbegriffs.
                                                                                   Handlungen nach ihren Intentionen unterscheidet und systematisiert.
Doch dies, also künftige Formen von „Gemein-                                        Mit seiner Reflexionstheorie menschlicher Sinnvollzüge und sozialer
schaft der Menschen im Freien“, wie es im Buch                                      Systeme steht er auf den Schultern der deutschen Idealisten Hegel,
I Ging (Figur 13) heißt, jenseits autoritärer Dog-          Kant und Fichte. – Er doziert nicht, sondern besticht in der Einfachheit der Darstellung sinnfäl-
matik, jenseits der überholten Zwillingsbrüder              liger Zusammenhänge.
von Theismus und Atheismus (die beide das
                                                            Info: www.johannesheinrichs.de
Göttliche verdinglichen), das wäre ein eigenes
                                                            www.netz-vier.de, www.stenobooks.com
Thema.

Lebens|t|räume 04/09                                                                                                                                           15
Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs Verschiedene Wege zur Wahrheit - von Dr. Johannes Heinrichs
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