Vieten / Knorr Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung
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Vieten / Knorr Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung Leseprobe Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung von Vieten / Knorr Herausgeber: MVS Medizinverlage Stuttgart http://www.narayana-verlag.de/b8332 Im Narayana Webshop finden Sie alle deutschen und englischen Bücher zu Homöopathie, Alternativmedizin und gesunder Lebensweise. Das Kopieren der Leseproben ist nicht gestattet. Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, D-79400 Kandern Tel. +49 7626 9749 700 Email info@narayana-verlag.de http://www.narayana-verlag.de
74 6 Systemische Anamnese in der Homöopathie Wenn eine Pflanze an einem ungünstigen Platz Platz, die Sumpfdotterblume einen feuchten und steht können alle stärkenden Mittel nur vorüber- das Heidekraut einen sandigen Untergrund. Beim gehend helfen. Die Rose braucht einen sonnigen Menschen ist es nicht anders. 6.1 me repertorisieren, die sich zeigen, die aber keinen Wo steht der Klient in seinem inneren Zusammenhang mit diesem Phänomen haben. So kann es sein, dass wir im Erscheinungs- System? bild eine phosphorische Person vor uns haben, die Im Familiensystem geht es darum, am „richtigen in ihrem Familiendrama, aber in einer Natrium-mu- Platz“, d.h., an dem Platz zu stehen, der angemes- riaticum-Dynamik festhängt. Die Phosphorebene ist sen ist. Dieser Platz gibt die meiste Energie und för- zwar vorhanden und sichtbar, aber nicht die Ebene, dert die Gesundheit. Der „falsche Platz“ hingegen die das Problem nährt. An dieser Stelle kommt es ist häufig anstrengend und kostet Energie. Steht nun auf die eigene homöopathische Philosophie zum Beispiel eine Frau als Kind an der Stelle ihrer an. Gibt es das alleinig aufzufindende Similimum? Mutter und versucht dem Vater das zu geben, was Haben wir eine unveränderliche Konstitution oder eigentlich die Mutter geben sollte, ist sie überfor- Anteile an verschiedenen Arzneipersönlichkeiten? dert. Sie benimmt sich nicht tochtergemäß, son- Wir geben hier eigene Erfahrung weiter und daraus dern verhält sich in dem System wie eine Erwach- rückschließend haben wir ein Modell entwickelt, sene. Das kostet sie das „Kind sein können.“ Sie das diese Zusammenhänge erklären könnte; was trägt zu viel Verantwortung an diesem Platz, weil nicht heißt, dass es die einzig mögliche Wahrheit sie glaubt, dafür sorgen zu müssen, dass es dem ist. Für uns ist die individuelle Arznei das Konstitu- Vater gut geht. Und später ist sie dadurch mögli- tionsmittel. Die Konstitution kommt erst wirklich cherweise nicht mehr frei für eine Beziehung zu zum Ausdruck, wenn das „Familienmittel“ die Ver- einem Mann, denn sie ist ja bereits „verheiratet.“ strickung gelöst hat, beziehungsweise der Klient Im Umgang mit Männern wird sie sich eher über- sich selbst die Erlaubnis gegeben hat, sein eigenes fordert erleben, weil sie eher gibt, als nimmt. Leben leben zu dürfen. Lycopodium ist häufig eine Arznei für Kinder, die Es gibt „laute Arzneien“, die im Vordergrund sich übernehmen; sie tun größer, als sie eigentlich sichtbar sind und die eher „stillen Arzneien“, die sind, da sie an der Stelle eines Elternteils stehen. Als sich oft als eine Bremse, ein Hemmnis, als ein Erwachsene übernehmen sie später oft in Paarbe- Nicht-ausdrücken-Können darstellen. Hier ist ziehungen oder im Beruf ein Zuviel an Verantwor- auch der Ausdruck der Symptome eher im „Nicht- tung. Es kann allerdings auch auf Grund der kind- ausdruck“ zu orten. An diesen Stellen findet die lichen Vorerfahrung eine Angst vor Beziehung, eine sykotische Arznei hauptsächlich ihre Anwendung. Angst vor Verantwortung bestehen, da der damali- Thuja wird nicht umsonst häufig übersehen, weil ge Platz in der Familie sie immer schon überforder- es eine der Arzneien ist, die sich eher als diffuse te, und sie heute jede Beziehung mit Überforderung Blockade äußert statt in klarer Symptomatik. assoziieren. So leben sie als Single, in kurzfristigen Hier lohnt es sich, die Verbindung zur Familie zu Beziehungen oder in Beziehungen mit großen Ent- überprüfen, in der oft viel Lebensenergie fast un- fernungen. merklich gebunden ist. Dies zu verstehen, ist uns In der Praxis sehen wir vielleicht eine attraktive wichtig, um nachvollziehen zu können, warum Frau, die nicht versteht, warum sie keinen Mann, wir ein bestimmtes Mittel einem offensichtlicheren keine Beziehung findet. Ohne den familiären Zu- Mittel zunächst vorziehen. In den Praxisbeispielen sammenhang zu verstehen, könnten wir Sympto- gehen wir stets auf die Familiendynamik ein und aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
6.2 Familiendynamiken auf der Spur 75 stellen das Mittel dazu in Bezug. Um Informationen noch weitermachen?“ Prompt folgt der Anruf der über das Familienmittel zu gewinnen, muss die Mutter in der Praxis. Hier können wir uns zum Anamnese natürlich auch Fragen über das Indivi- Spielball des Familiensystems machen. Es ist also duum hinaus beinhalten. sinnvoll, nicht gleich die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen, sondern die Behandlung selbst zuerst in einen Bezugsrahmen zu stellen: Welchen 6.2 Platz hat die homöopathische Behandlung in der Familiendynamiken auf der Spur Familie – einen bereits mit guten Erfahrungen, einen kritischen oder einen, der sich bewähren Jede Wahrnehmung an einem Menschen, die seine und beweisen muss? Wer ist an der homöopathi- Defizite beschreibt, ist bereits ein Ausdruck unserer schen Behandlung interessiert? Was bedeutet ein Vorstellung, was besser oder richtiger für ihn sein Erfolg/Misserfolg für die Familie und für die Paar- könnte. Diese Wahrnehmung ist bereits eine Miss- beziehung? achtung seiner Ganzheit mit seinen Möglichkeiten In Beziehungen, in denen es häufig Meinungs- und Grenzen. Es ist kein vollkommenes „Ja“, so wie verschiedenheiten gibt, läuft die Homöopathie Ge- unsere Arzneien es vermögen zu sagen. Vielleicht fahr, mit auf die Liste zu geraten, mit deren Hilfe brauchen wir deshalb noch Arzneien – sie sagen nun Punkte für die eine oder andere Seite gesam- das „Ja“ an beider Stelle, an Stelle des Klienten melt werden. Die Homöopathie soll nun für die Sei- und Therapeuten. te der Frau antreten und beweisen, dass sie im Aus systemischer Sicht gilt es Fragen zu stellen, Recht ist, mit ihrer ganzen Art, das Leben zu sehen die den Sinn und die gute Absicht des Symptoms und zu denken. Dieser Druck fließt in jede Behand- entdecken helfen. So können wir als Therapeuten lung mit ein und ein Symptom ist nicht mehr nur und Klienten Zugang zum Symptom finden, uns ein Symptom, sondern möglicherweise eine verlo- vielleicht gar anfreunden und damit dem inneren rene Schlacht im Überzeugungskampf für eine al- „Ja“ schon sehr viel näher kommen: ternative Heilweise. Auch für die Kinder, die in * Für wen steht das Symptom im Familiensystem? einem solchen Konfliktfeld krank werden, ergeben * Welche Lösung bietet dieses Symptom für das sich zwangsweise Schwierigkeiten. Solche Konflikt- Familiensystem oder einen Einzelnen in der Fa- felder sind möglicherweise gar Auslöser der Krank- milie? heit. Die Kinder spüren, was von ihnen abhängt * Zu welcher Person drückt das Symptom seine und welche Entwicklung ein „Gewinn“ für Mama Liebe aus? oder Papa bringt. Sie geraten in ein Konkurrenzfeld * Wie kann ich meine Liebe ausdrücken, ohne das und sind damit für entsprechende Arzneien emp- Leid zu verdoppeln? fänglich. Arzneien aus der Rubrik „Gemüt-Ehrgeiz, * Woran hindert mich das Symptom; was wäre erhöht – Wettbewerb mit anderen, vergleicht sich möglich, wenn es nicht da wäre? mit ihnen“ sind hier gut geeignet. Wenn wir um diese Dynamik im Vorfeld wissen, können wir gelassener mit dem Druck umgehen, 6.2.1 Das System der Homöopathie der an uns als Behandelnder weitergegeben wird. als Symptomträger Zu gegebener Zeit kann dieses Thema direkt ange- Wir fragen von Anfang an nach der gesamten Fami- sprochen werden. Wir erwähnen von Anfang an die lie und auch danach, wie der Partner zur homöopa- möglichen Schwierigkeiten, die sich aus dieser thischen Behandlung steht. Denn hier beginnt Konstellation von Eltern ergeben können, wenn meist schon die systemische Verstrickung. Der sich Eltern im Blick auf die homöopathische Be- „Standard-Fall“ ist, dass die Väter und Ehemänner handlung nicht einig sind. sehr skeptisch sind, sobald unter der homöopathi- schen Behandlung des Kindes Fieber auftritt, und sie zu ihrer Frau sagen: „Jetzt wird es Zeit, dass un- ser Kind mal richtige Medikamente bekommt.“ – Oder: „Wie lange willst du das mit den Kügelchen aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
76 6 – Systemische Anamnese in der Homöopathie den, das in gesicherten Verhältnissen aufgewach- Praxistipp sen ist? Warum hat ein Kind im Fieber Wahnvor- Bei Konflikten, die auf eine Konkurrenzsituation stellungen von wilden Tieren? Wir können diesen gründen, drücken allen voran die Tierarzneien Ausdruck unkommentiert nehmen und als Reper- ihren Bezug zu Konkurrenzdynamiken aus: toriumsrubriken übersetzen. Wir können ihn als Schlangen, Biene, Hornisse, Spanische Fliege und Ameise und als einzige pflanzliche Arznei Nux Hinweis auf eine systemische Verbindung sehen, vomica (das „Krähenauge“). Das Kind, das zwi- diese Spur verfolgen und prüfen, ob sie für den schen den Eltern steht, kann auch von beiden Klienten weitere Möglichkeiten der Stärkung und Elternteilen Anteile vertreten und ausdrücken. Die inneren Heilung bereithalten oder auch für uns folgenden Rubriken können auch für Erwachsene Hinweise auf eine zentrale Arznei liefern. Häufig gelten, die aus (unbewusster) Liebe zu einem liegen hinter diesen Symptomen Familienschicksa- Familienmitglied das Schicksal oder Symptome le, die verdrängt oder vergessen wurden, weil sie zu dieses Ahnen weitertragen. schmerzhaft waren. Nun drückt ein Kind dieses Er- * Gemüt – Widerstreit mit sich selbst lebnis auf seine Weise noch einmal aus. Zur Reper- * Gemüt – Verwirrung, geistige – Identität; in torisation können wir die Symptome und Begeben- Bezug auf seine * Gemüt – Verwirrung, geistige – Identität; in heiten der ursprünglichen Geschichte wählen, Bezug auf seine – Dualität; Gefühl der denn unser Klient ist so etwas wie der Empfänger * Gemüt – Wahnideen – doppelt – sein, doppelt zu eines Radioprogramms, der Empfänger einer alten * Gemüt – Wille – widersprüchlich ungelösten Geschichte, die durch ihn lebendig wird * Gemüt – Wille – zwei Willen; Gefühl, er habe und durch ihn geheilt, erlöst werden kann. * Gemüt – Wahnideen – geteilt – zwei Teile; in Wir betrachten das Symptom, wie bereits er- * Gemüt – Wahnideen – Körper – geteilt, sei wähnt (► Kap. 5.5, S. 71), eingebunden in das Sys- * Gemüt – Wahnideen – Einfluss; er stehe unter tem der Familie; der Klient trägt quasi das Symp- einem mächtigen tom für das Familiensystem (Symptomträger) * Gemüt – Wahnideen – besessen zu sein und die Frage ist, zu wem gehört das Symptom eigentlich. Zu wem drückt das Symptom seine Liebe aus? In einem Fall von Anorexia nervosa einer 6.2.2 Symptome auf dem Hinter- Sechzehnjährigen wurde deutlich, wie das Symp- grund des Familiensystems tom als Lösung eingesetzt wurde, aus Liebe zur Die Familienanamnese ist ja ohnehin fester Be- Mutter. Mit ihrem Symptom blieb die Jugendliche standteil der homöopathischen Anamnese. Die Er- als zu versorgendes Kind der Mutter erhalten (An- weiterung im systemischen Sinne bedeutet, neben orexie: ich bleibe Kind und werde keine Frau) und den Erkrankungen auch die Schicksale zu erfragen. die älteren Geschwister waren frei und konnten in Heimatverlust, früh verstorbene Geschwister und anderen Städten studieren. Die „Krankheit“ ver- Unfälle können hier eine wichtige Rolle spielen. wehrte ihr – der Kleinsten – auszuziehen. Und Wichtig wird der Zusammenhang allerdings erst, sie ermöglichte ihr, sich für die Mutter in der wenn die Geschichte von damals einen Bezug Auseinandersetzung mit dem Vater einzusetzen: zum Symptom oder den Lebensumständen von „Mama, weil du dich nicht traust, dich gegen heute hat. Durch die Familiengeschichte kann häu- Papa durchzusetzen, tue ich das für dich.“ Hier fig bereits auf die Dynamik rückgeschlossen wer- hat das Symptom also einen Bezug zu einem Fa- den, in der sich der Klient eventuell befindet. milienmitglied. Es weist auf einen anderen im Fa- Es gibt Fälle, dass Kinder oder erwachsene miliensystem hin, manchmal auch auf jemanden, Klienten bestimmte Symptome, Ängste oder Wahr- der schon längst tot ist. nehmungen beschreiben, die mit ihrem Leben und ihrer bisherigen Biografie nicht zu erklären sind. * Merke: Es lohnt sich zu fragen, auf wen in Wieso fürchtet sich ein Kleinkind vor Männern der Familie die Beschwerde hinweist: mit dunklen Haaren? Wieso malt ein Kind Kriegs- Welche Folgen hat die Krankheit des Kindes szenen, das den Krieg nie selbst erlebt hat? Wieso für die Familie und was wäre möglich, wenn träumt ein Kind, verfolgt und umgebracht zu wer- es diese Krankheit nicht mehr gäbe? aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
6.2 Familiendynamiken auf der Spur 77 Symptome weisen manchmal auf folgenschwere Fallbeispiel: chronischer Husten auf der Suche Schicksale in der Familie hin, über die nicht geredet nach Halt wird, weil sie als sehr belastend erlebt werden. So Eine Mutter kommt mit ihren zwei Töchtern in die Praxis. litt ein 13-jähriger Junge „plötzlich“ an Panikatta- Sina ist vier Jahre alt und hat, seit sie sechs Monate alt ist, cken. In der Anamnese wurde deutlich, dass die stets Husten. Es ist ein trockener Reizhusten, der auch Panikattacken des Kindes mit der Insolvenz des mal schlimmer werden kann und sich dann steigert bis Vaters begonnen haben, der den Familienbetrieb zum Erbrechen einer Menge Schleim. Sie würgt durch die Hustenanfälle, aber nicht immer erbricht sie sich aufgeben musste (► Kap. 5.4.1, S. 64: „Wann hat dabei. es angefangen?“ „Was ist in dieser Zeit noch pas- siert?“). Das Symptom wies auf einen hochverant- Anamnese wortlichen Vater hin, der kaum über seine Nöte Die Mutter des Kindes berichtet: „So geht das Tag und und Ängste seines Versagens sprach und sich jetzt Nacht, mal mehr, mal weniger; aber es ist nie ganz weg. mit Suizidgedanken im Stillen plagte. Aurum für Als Säugling hatte sie einen Spitzfuß und ist lange auf den Vater erlöste die Panik des Jungen. Zehenspitzen gegangen. Zu Hause haben wir uns schon fast an den Husten gewöhnt. Im Kindergarten sprechen mich die Betreuerinnen jetzt verstärkt an, ich solle 6.2.3 Fallstricke des Homöopathen: etwas tun, aber ich habe ihr schon alles Mögliche ge- geben. Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“ Wir haben Neugierde und Eifer zunächst die übliche Anamnese gemacht, auch mit der Häufig glauben wir, es ganz genau wissen zu müs- Familiengeschichte, und konnten keinen Zusammen- sen, um verstehen zu können und dann die richtige hang zu dem Husten entdecken. So begannen wir die Arznei zu finden. So halten wir uns als Homöopa- Therapie mit im Ergebnis unbefriedigenden Verord- then bei der Anamnese fast nur in dem zugängli- nungen der Arzneien aus der Rubrik „Magen – Erbro- chen Teil unseres Tagesbewusstseins auf. Beziehen chenen, Art des – Schleim.“ Es ergab sich eine leichte Besserung nach Thuja, aber nie ein wirklich anhaltender wir jedoch Träume mit in die Verschreibung ein, se- Erfolg. hen wir auch das, was das Unterbewusstsein in sei- Die Mutter vereinbarte einen weiteren Termin, nen Bildern an die Oberfläche spült. Die Informati- diesmal für ihre kleine Tochter Anna. Zur Konsultation on, die uns eine Aufstellung gibt, liegt auch außer- brachte sie dann beide Töchter in die Praxis. Als ich als halb von Bewusstsein und Vorstellung unseres die behandelnde Homöopathin die kleine Anna unter- Klienten. Sie stellt Zusammenhänge her, die uns suchen will, tritt die vierjährige Sina breitbeinig vor ihre der Klient nie erzählen könnte. Nehmen wir das Schwester, fixiert mich, stemmt die Hände in die Seite Beispiel von Sina (► Fallbeispiel): Es muss nicht ver- und sagt: „Nein. Niemand fasst meine Schwester an!“ standen werden, welche Person auf dem Boden lag, Es gab keine Chance, Anna zu untersuchen. Sina kämpfte wer der Mann sein könnte, ob er die Frau umge- wie ein verzweifeltes Muttertier um seine Jungen. Hier bracht hat oder welche Bilder auch immer in diese fragten wir erneut nach der Familiengeschichte und fanden keinen Anhaltspunkt. Situation hineingesehen werden können. Wir wis- Mit der Erlaubnis der Mutter stellten wir den Fall in sen es nicht und niemand kennt die Geschichte der einer Supervisionsgruppe auf. Die Stellvertreterin von Vergangenheit dazu. Es genügt, der Mutter ohne Sina stellte sich auf die Zehenspitzen und begann zu jede Wertung und Interpretation das Gesehene husten, ohne dass die Symptome in der Gruppe benannt mitzuteilen. Wichtig ist, die Dynamik zu begreifen, worden waren. in der sich Sina befindet. Häufig reichen diese Infor- Stellvertreter Sina (Stv.): Es ist alles so furchtbar. Ich will mationen für den Blick auf eine neue Arznei aus. schreien, aber es kommt nur ein Husten. Es ist zum Mehr müssen wir nicht wissen. Wenn sich keinerlei Kotzen. Ich muss vorsichtig sein, überall lauert Gefahr. Zugang finden lässt, ist häufig Thuja eine hilfreiche Arznei, um irgendetwas aus dem Nebel auftauchen Eine weitere Frau und ein Mann wurden als Stellvertreter zu lassen. unbekannter Personen mit unbekanntem Schicksal ins Feld gestellt. Die Frau sinkt sofort zu Boden, der Mann steht vor der liegenden Frau und schaut zu Sinas Stell- vertreterin. ▼ aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
78 6 – Systemische Anamnese in der Homöopathie ▼ anderen Person, denn es geht nicht um uns Helfer. Stv. (Sina): Es macht mir Angst, dass die Frau daliegt, Eifer hat also etwas Kindliches und geht oft ins Maß- aber der Mann macht mir jetzt noch mehr Angst. Erst lose. Weil Eifer blind macht, dringt er dort ein, wo dachte ich, ich könnte ihm vertrauen, aber jetzt weiß ich, es Achtung bräuchte; er setzt sich über Grenzen hin- dass ich keinem hier trauen kann. Am liebsten will ich weg und bewegt sich doch in Grenzen – immer im mich wegschleichen oder schreien, habe aber Angst, ich Kreis sich drehend. werde gesehen und mir ergeht es wie der Frau. Alles um mich herum wirkt riesig und bedrohlich. * Merke: Mit seinem Eifer setzt sich der Be- handler über den Klienten und dessen Verordnung Eingebundensein hinweg. Damit macht er Nach dieser Aufstellung verordneten wir Sina eine Gabe sich als Helfer größer, als er in dem System, Stramonium C 1000. Stramonium hat das Gefühl, al- lein in einer bedrohlichen Umgebung zu sein, auf der in das er eintritt, sein kann. Diese An- inneren Suche nach einem Menschen, der Halt und maßung überfordert ihn letzten Endes, weil Sicherheit geben könnte. Wir erzählten der Mutter er Grenzen nicht achtet und deshalb am davon, was wir in der Aufstellung gesehen haben, und Ende der Eifer auch über seine Kräfte geht. interpretierten das Gesehene nicht weiter. Für sie gibt es Der Helfer braucht also eine bestimmte Achtung kein inneres Bild und keine bekannte Familiengeschichte, die eine verständliche Erklärung zu dieser Aufstellung vor dem Klienten: die Achtung vor dem Anderssein sein könnte. des Anderen, vor dem Eingebundensein in dessen Schicksalsgefüge und vor den anderen Anforderun- Behandlungsverlauf gen und Grenzen, die sich daraus erschließen (Hel- Drei Tage später rief die Mutter an. Ihre Tochter Sina sei linger 2005). Der Eifrige ist anmaßend. Er nimmt in den letzten drei Nächten schreiend aufgewacht, etwas in seine Hände und dirigiert, in der Absicht konnte sich kaum beruhigen und weinte auch im Schlaf. etwas steuern zu wollen. Auch der Eiferer verdient Der Husten blieb zunächst unverändert. Ihr sei das unsere Achtung; wir schauen auf ihn mit Achtung – Ganze etwas unheimlich und sie fürchtet, dieser Zustand könnte so bleiben. Wir beruhigten sie und baten abzu- aus einem gebührenden Abstand. warten. Nach einer Woche wurden die nächtlichen Die Neugierde und die Absicht stören die Wir- Schreie und der Husten langsam weniger. Nach einer kung einer Lösung: Frage ich nach der Wirksamkeit wiederholten Gabe Stramonium C 1000 verschwanden des Mittels, um wissen zu wollen, ob ich hilfreich das Schreien und der Husten völlig. Wir erfuhren nie, war, oder lasse ich dem Klienten und dem verab- welche Geschichte dafür verantwortlich war; es spielte reichten Mittel einen Raum zu wirken? In diesem auch keine Rolle. Raum nehme ich gelassen Platz und warte, welche Bewegungsrichtung mir das Mittel zeigt. Ich schaue a Exkurs: Neugier, die blind macht also auf die Richtung, die das Mittel mir vorgibt, Die Neugierde zerstreut den Helfer, er verliert seine und ich stelle mich, meinen Tatendrang und mei- Sammlung. In der Sammlung schaut er auf den Klien- nen Eifer in den Hintergrund. Sobald ich auf ten und bietet darin seine Hilfe an: Es ist eine Hilfe mich schaue (Ich will, dass ich hilfreich bin – es ohne Absicht. Sobald er Eifer spürt, etwas lösen zu muss mir gelingen!), beeinflusse ich das System wollen, einen Drang verspürt, die Lösung finden zu Klient und Homöopath – und damit die Wirkung wollen, wird er herausgefordert – von dem Gefühl des Mittels. aus der Zeit des Kindes, das er einmal war und jetzt in diesem Gefühl wieder auftaucht. Vielleicht ist es Fallbeispiel: Liebe und Solidarität zum das Gefühl „Mama, ich helfe dir, um dich gegen tuberkulinischem Großvater Papa zu behaupten“ oder der Drang „Papa, ich steh Der Klient leitet ein selbstständiges Unternehmen und dir in deiner Traurigkeit bei.“ Dann ist der Helfer nicht steht periodisch alle zwei Jahre kurz vor dem finanziellen mehr in seiner Sammlung. Seine Neugierde und sein Ruin. Er erlebt diese Zeit als existenzielle Bedrohung und Eifer wachsen und lassen ihn Dinge erfragen, die nicht hat außerdem viele Unfälle, einen davon mit Nahtod- zur Lösung notwendig sind. Er tut mehr, als die Lösung erlebniss. In einer Familienaufstellung stellte sich heraus, braucht. Er geht näher in die Beziehung zum Klienten, dass sein Opa auch ein Geschäftsmann war, der im Krieg ▼ als die Lösung braucht. Das ist eine Missachtung der aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
6.3 Verantwortung in der Behandlung 79 ▼ starb und dessen Firma Konkurs anmelden musste. In 6.3 seiner Liebe und Solidarität tat er es dem Opa nach. Wir Verantwortung in der ließen uns den Opa genauer beschreiben, der ein tur- bulentes Leben geführt hatte, bereits mehrfach verhei- Behandlung ratet war und auch häufig seinen Beruf wechselte. Die Patienten erleben sich oft als Opfer ihrer Symptome Frauen liebten ihn, weil er so charmant war und auch oder ihrer Probleme. Eine Krankheit kommt über wegen seines Abenteuergeistes. Im Krieg war er bei den Fliegern und wurde abgeschossen. Nach der Aufstellung sie oder bricht in ihr Leben ein und sie können und einigen Gaben Tuberkulinum ließen die Unfallten- nichts tun. Sie kommen zum Beispiel zum Homöo- denz und die existenziellen Krisen in seiner Firma deut- pathen mit dem „Arzt-Patient-Modell“ im Kopf lich nach. (Hess 2009): Der Klient gibt dem Therapeuten den Auftrag zur Diagnose und zur Problemlösung. Oft können wir nicht auseinanderhalten, was genau Sowohl Diagnoseerstellung als auch die Lösung zur Lösung bei dem Klienten beigetragen hat. werden ausschließlich an den Therapeuten dele- Reichte es aus, dass der Klient den Opa in den Blick giert. und ins Herz genommen hat, oder brachte die Arz- nei die Lösung. Wir verabreichten beides und die Lösung war möglich – wir betrachteten das Symp- 6.3.1 Verantwortung für die Lösung tom in seiner Ganzheit und behandelten es in sei- Bei einem „Kooperationsmodell gemeinsamer Ver- ner Ganzheit. Im Gefühl des Eifers hätten wir nur antwortung“ (dialogisches Heilungsmodel) hinge- auf ihn geschaut und auf die Gefährlichkeit seines gen kann der Homöopath den Patienten dazu ein- Handelns. Vielleicht hätten wir mit Angst auf seine laden, Mitverantwortung für den Heilungserfolg zu Kapriolen geschaut und befürchtet, dass er das übernehmen. Dies findet in der Auftragsklärung nächste Mal tot sein könnte. Die Angst und der Eifer statt. Beispielsweise beginnen systemisch arbeiten- hätten unseren Blick eng gemacht. So weiteten wir de Psychotherapeuten keine Arbeit, bis ein Auftrag den Blick und schauten über ihn hinaus. klar ist, denn sie sind auf die innere Arbeit des Ist ein Klient mit einem Familienmitglied so eng Klienten angewiesen – hier gibt es keine Arznei, verbunden, oder „identifiziert“, wie in dem be- auf die man sich verlassen kann. Und vielleicht schriebenen Fall, kann die homöopathische Arznei, ist genau das zuweilen die Falle, in die wir als Ho- die das verstorbene Familienmitglied repräsen- möopathen gern geraten. Es gibt wunderbare Arz- tiert, von dem Klienten „genommen“ werden. Es neiwirkungen, die an Wunder grenzen. Sie geben scheint, als könnte das alte Dilemma nun in seinem uns Homöopathen das Gefühl, es müsste immer Enkel geheilt werden und dieser damit frei werden so sein, und wenn es so nicht ist, haben wir etwas für sein eigenes Leben. Der Klient muss das Drama übersehen. Wir haben tatsächlich etwas überse- seines Opas damit nicht weiter fortführen. Tuberku- hen, das ist richtig. Wir übersehen gerne, dass linum hatte ihm gut getan; er fühlte sich „mehr auf der Klient ein Interesse an seiner Lösung haben dem Boden.“ Sein Lösungssatz in der Aufstellung und aktiv daran mitarbeiten sollte. Und wir über- war: „Lieber Opa, ich sehe dein Schicksal und neh- sehen, dass Prozesse sich auf ganz verschiedene me dich in mein Herz. Bitte schau gut auf mich, Art und Weise „entwickeln“ und deshalb unter- wenn ich mehr Glück habe als du.“ Er betreibt schiedlich lange dauern können. nun schon seit einigen Jahren erfolgreich eine Fir- Die Homöopathie verlockt den Klienten dazu, ma für Flugzeugersatzteile10. sich in den Behandlungsstuhl zu setzen in einer Haltung von „Mach-mir-das-Wunder.“ Und wir 10 Sicher ließe sich an dieser Stelle diskutieren, ob er als Enkel als Homöopathen ziehen uns natürlich diesen eine tuberkuline Störung hat, weil sein Familiensystem Schuh der Möglichkeit des wunderbaren Heilers tuberkulin belastet ist. Der Klient selbst hatte keine körper- lichen Beschwerden, außer der erhöhten Unfallneigung gerne an und vermitteln dieses Bild bewusst oder und den Existenzsorgen. Ohne die Geschichte des Groß- unbewusst an unsere Klienten. Dabei setzen wir vaters wäre ein Verständnis des Falles schwer möglich ge- wesen, denn die konstitutionellen Hinweise gaben keinen uns selbst unter Druck. Sehr selten fragt ein Ho- Anhalt für Tuberkulinum. möopath nach seinem Auftrag, denn er hat ja be- aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
Vieten / Knorr Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung Lösungswege für unlösbare Fälle 204 Seiten, kart. erschienen 2010 Mehr Bücher zu Homöopathie, Alternativmedizin und gesunder Lebensweise www.narayana-verlag.de
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