Vieten / Knorr Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung

Die Seite wird erstellt Lui-Horst Barthel
 
WEITER LESEN
Vieten / Knorr Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung
Vieten / Knorr
  Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung
                                            Leseprobe
                      Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung
                                    von Vieten / Knorr
                        Herausgeber: MVS Medizinverlage Stuttgart

                          http://www.narayana-verlag.de/b8332

Im Narayana Webshop finden Sie alle deutschen und englischen Bücher zu
Homöopathie, Alternativmedizin und gesunder Lebensweise.

Das Kopieren der Leseproben ist nicht gestattet.
Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, D-79400 Kandern
Tel. +49 7626 9749 700
Email info@narayana-verlag.de
http://www.narayana-verlag.de
74

           6         Systemische Anamnese in der Homöopathie

           Wenn eine Pflanze an einem ungünstigen Platz                Platz, die Sumpfdotterblume einen feuchten und
           steht können alle stärkenden Mittel nur vorüber-           das Heidekraut einen sandigen Untergrund. Beim
           gehend helfen. Die Rose braucht einen sonnigen             Menschen ist es nicht anders.

           6.1                                                        me repertorisieren, die sich zeigen, die aber keinen
           Wo steht der Klient in seinem                              inneren Zusammenhang mit diesem Phänomen
                                                                      haben. So kann es sein, dass wir im Erscheinungs-
           System?
                                                                      bild eine phosphorische Person vor uns haben, die
           Im Familiensystem geht es darum, am „richtigen             in ihrem Familiendrama, aber in einer Natrium-mu-
           Platz“, d.h., an dem Platz zu stehen, der angemes-         riaticum-Dynamik festhängt. Die Phosphorebene ist
           sen ist. Dieser Platz gibt die meiste Energie und för-     zwar vorhanden und sichtbar, aber nicht die Ebene,
           dert die Gesundheit. Der „falsche Platz“ hingegen          die das Problem nährt. An dieser Stelle kommt es
           ist häufig anstrengend und kostet Energie. Steht            nun auf die eigene homöopathische Philosophie
           zum Beispiel eine Frau als Kind an der Stelle ihrer        an. Gibt es das alleinig aufzufindende Similimum?
           Mutter und versucht dem Vater das zu geben, was            Haben wir eine unveränderliche Konstitution oder
           eigentlich die Mutter geben sollte, ist sie überfor-       Anteile an verschiedenen Arzneipersönlichkeiten?
           dert. Sie benimmt sich nicht tochtergemäß, son-            Wir geben hier eigene Erfahrung weiter und daraus
           dern verhält sich in dem System wie eine Erwach-           rückschließend haben wir ein Modell entwickelt,
           sene. Das kostet sie das „Kind sein können.“ Sie           das diese Zusammenhänge erklären könnte; was
           trägt zu viel Verantwortung an diesem Platz, weil          nicht heißt, dass es die einzig mögliche Wahrheit
           sie glaubt, dafür sorgen zu müssen, dass es dem            ist. Für uns ist die individuelle Arznei das Konstitu-
           Vater gut geht. Und später ist sie dadurch mögli-          tionsmittel. Die Konstitution kommt erst wirklich
           cherweise nicht mehr frei für eine Beziehung zu            zum Ausdruck, wenn das „Familienmittel“ die Ver-
           einem Mann, denn sie ist ja bereits „verheiratet.“         strickung gelöst hat, beziehungsweise der Klient
           Im Umgang mit Männern wird sie sich eher über-             sich selbst die Erlaubnis gegeben hat, sein eigenes
           fordert erleben, weil sie eher gibt, als nimmt.            Leben leben zu dürfen.
           Lycopodium ist häufig eine Arznei für Kinder, die               Es gibt „laute Arzneien“, die im Vordergrund
           sich übernehmen; sie tun größer, als sie eigentlich        sichtbar sind und die eher „stillen Arzneien“, die
           sind, da sie an der Stelle eines Elternteils stehen. Als   sich oft als eine Bremse, ein Hemmnis, als ein
           Erwachsene übernehmen sie später oft in Paarbe-            Nicht-ausdrücken-Können darstellen. Hier ist
           ziehungen oder im Beruf ein Zuviel an Verantwor-           auch der Ausdruck der Symptome eher im „Nicht-
           tung. Es kann allerdings auch auf Grund der kind-          ausdruck“ zu orten. An diesen Stellen findet die
           lichen Vorerfahrung eine Angst vor Beziehung, eine         sykotische Arznei hauptsächlich ihre Anwendung.
           Angst vor Verantwortung bestehen, da der damali-           Thuja wird nicht umsonst häufig übersehen, weil
           ge Platz in der Familie sie immer schon überforder-        es eine der Arzneien ist, die sich eher als diffuse
           te, und sie heute jede Beziehung mit Überforderung         Blockade äußert statt in klarer Symptomatik.
           assoziieren. So leben sie als Single, in kurzfristigen     Hier lohnt es sich, die Verbindung zur Familie zu
           Beziehungen oder in Beziehungen mit großen Ent-            überprüfen, in der oft viel Lebensenergie fast un-
           fernungen.                                                 merklich gebunden ist. Dies zu verstehen, ist uns
               In der Praxis sehen wir vielleicht eine attraktive     wichtig, um nachvollziehen zu können, warum
           Frau, die nicht versteht, warum sie keinen Mann,           wir ein bestimmtes Mittel einem offensichtlicheren
           keine Beziehung findet. Ohne den familiären Zu-             Mittel zunächst vorziehen. In den Praxisbeispielen
           sammenhang zu verstehen, könnten wir Sympto-               gehen wir stets auf die Familiendynamik ein und

     aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
6.2 Familiendynamiken auf der Spur      75

  stellen das Mittel dazu in Bezug. Um Informationen       noch weitermachen?“ Prompt folgt der Anruf der
  über das Familienmittel zu gewinnen, muss die            Mutter in der Praxis. Hier können wir uns zum
  Anamnese natürlich auch Fragen über das Indivi-          Spielball des Familiensystems machen. Es ist also
  duum hinaus beinhalten.                                  sinnvoll, nicht gleich die Ärmel hochzukrempeln
                                                           und loszulegen, sondern die Behandlung selbst
                                                           zuerst in einen Bezugsrahmen zu stellen: Welchen
  6.2                                                      Platz hat die homöopathische Behandlung in der
  Familiendynamiken auf der Spur                           Familie – einen bereits mit guten Erfahrungen,
                                                           einen kritischen oder einen, der sich bewähren
  Jede Wahrnehmung an einem Menschen, die seine            und beweisen muss? Wer ist an der homöopathi-
  Defizite beschreibt, ist bereits ein Ausdruck unserer     schen Behandlung interessiert? Was bedeutet ein
  Vorstellung, was besser oder richtiger für ihn sein      Erfolg/Misserfolg für die Familie und für die Paar-
  könnte. Diese Wahrnehmung ist bereits eine Miss-         beziehung?
  achtung seiner Ganzheit mit seinen Möglichkeiten            In Beziehungen, in denen es häufig Meinungs-
  und Grenzen. Es ist kein vollkommenes „Ja“, so wie       verschiedenheiten gibt, läuft die Homöopathie Ge-
  unsere Arzneien es vermögen zu sagen. Vielleicht         fahr, mit auf die Liste zu geraten, mit deren Hilfe
  brauchen wir deshalb noch Arzneien – sie sagen           nun Punkte für die eine oder andere Seite gesam-
  das „Ja“ an beider Stelle, an Stelle des Klienten        melt werden. Die Homöopathie soll nun für die Sei-
  und Therapeuten.                                         te der Frau antreten und beweisen, dass sie im
     Aus systemischer Sicht gilt es Fragen zu stellen,     Recht ist, mit ihrer ganzen Art, das Leben zu sehen
  die den Sinn und die gute Absicht des Symptoms           und zu denken. Dieser Druck fließt in jede Behand-
  entdecken helfen. So können wir als Therapeuten          lung mit ein und ein Symptom ist nicht mehr nur
  und Klienten Zugang zum Symptom finden, uns               ein Symptom, sondern möglicherweise eine verlo-
  vielleicht gar anfreunden und damit dem inneren          rene Schlacht im Überzeugungskampf für eine al-
  „Ja“ schon sehr viel näher kommen:                       ternative Heilweise. Auch für die Kinder, die in
  * Für wen steht das Symptom im Familiensystem?           einem solchen Konfliktfeld krank werden, ergeben
  * Welche Lösung bietet dieses Symptom für das            sich zwangsweise Schwierigkeiten. Solche Konflikt-
     Familiensystem oder einen Einzelnen in der Fa-        felder sind möglicherweise gar Auslöser der Krank-
     milie?                                                heit. Die Kinder spüren, was von ihnen abhängt
  * Zu welcher Person drückt das Symptom seine             und welche Entwicklung ein „Gewinn“ für Mama
     Liebe aus?                                            oder Papa bringt. Sie geraten in ein Konkurrenzfeld
  * Wie kann ich meine Liebe ausdrücken, ohne das          und sind damit für entsprechende Arzneien emp-
     Leid zu verdoppeln?                                   fänglich. Arzneien aus der Rubrik „Gemüt-Ehrgeiz,
  * Woran hindert mich das Symptom; was wäre               erhöht – Wettbewerb mit anderen, vergleicht sich
     möglich, wenn es nicht da wäre?                       mit ihnen“ sind hier gut geeignet.
                                                              Wenn wir um diese Dynamik im Vorfeld wissen,
                                                           können wir gelassener mit dem Druck umgehen,
  6.2.1  Das System der Homöopathie
                                                           der an uns als Behandelnder weitergegeben wird.
  als Symptomträger                                        Zu gegebener Zeit kann dieses Thema direkt ange-
  Wir fragen von Anfang an nach der gesamten Fami-         sprochen werden. Wir erwähnen von Anfang an die
  lie und auch danach, wie der Partner zur homöopa-        möglichen Schwierigkeiten, die sich aus dieser
  thischen Behandlung steht. Denn hier beginnt             Konstellation von Eltern ergeben können, wenn
  meist schon die systemische Verstrickung. Der            sich Eltern im Blick auf die homöopathische Be-
  „Standard-Fall“ ist, dass die Väter und Ehemänner        handlung nicht einig sind.
  sehr skeptisch sind, sobald unter der homöopathi-
  schen Behandlung des Kindes Fieber auftritt, und
  sie zu ihrer Frau sagen: „Jetzt wird es Zeit, dass un-
  ser Kind mal richtige Medikamente bekommt.“ –
  Oder: „Wie lange willst du das mit den Kügelchen

aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
76         6 – Systemische Anamnese in der Homöopathie

                                                                   den, das in gesicherten Verhältnissen aufgewach-
              Praxistipp
                                                                   sen ist? Warum hat ein Kind im Fieber Wahnvor-
              Bei Konflikten, die auf eine Konkurrenzsituation
                                                                   stellungen von wilden Tieren? Wir können diesen
              gründen, drücken allen voran die Tierarzneien
                                                                   Ausdruck unkommentiert nehmen und als Reper-
              ihren Bezug zu Konkurrenzdynamiken aus:
                                                                   toriumsrubriken übersetzen. Wir können ihn als
              Schlangen, Biene, Hornisse, Spanische Fliege und
              Ameise und als einzige pflanzliche Arznei Nux         Hinweis auf eine systemische Verbindung sehen,
              vomica (das „Krähenauge“). Das Kind, das zwi-        diese Spur verfolgen und prüfen, ob sie für den
              schen den Eltern steht, kann auch von beiden         Klienten weitere Möglichkeiten der Stärkung und
              Elternteilen Anteile vertreten und ausdrücken. Die   inneren Heilung bereithalten oder auch für uns
              folgenden Rubriken können auch für Erwachsene        Hinweise auf eine zentrale Arznei liefern. Häufig
              gelten, die aus (unbewusster) Liebe zu einem         liegen hinter diesen Symptomen Familienschicksa-
              Familienmitglied das Schicksal oder Symptome         le, die verdrängt oder vergessen wurden, weil sie zu
              dieses Ahnen weitertragen.                           schmerzhaft waren. Nun drückt ein Kind dieses Er-
              * Gemüt – Widerstreit mit sich selbst
                                                                   lebnis auf seine Weise noch einmal aus. Zur Reper-
              * Gemüt – Verwirrung, geistige – Identität; in
                                                                   torisation können wir die Symptome und Begeben-
                  Bezug auf seine
              * Gemüt – Verwirrung, geistige – Identität; in
                                                                   heiten der ursprünglichen Geschichte wählen,
                  Bezug auf seine – Dualität; Gefühl der           denn unser Klient ist so etwas wie der Empfänger
              * Gemüt – Wahnideen – doppelt – sein, doppelt zu     eines Radioprogramms, der Empfänger einer alten
              * Gemüt – Wille – widersprüchlich                    ungelösten Geschichte, die durch ihn lebendig wird
              * Gemüt – Wille – zwei Willen; Gefühl, er habe       und durch ihn geheilt, erlöst werden kann.
              * Gemüt – Wahnideen – geteilt – zwei Teile; in           Wir betrachten das Symptom, wie bereits er-
              * Gemüt – Wahnideen – Körper – geteilt, sei          wähnt (► Kap. 5.5, S. 71), eingebunden in das Sys-
              * Gemüt – Wahnideen – Einfluss; er stehe unter
                                                                   tem der Familie; der Klient trägt quasi das Symp-
                  einem mächtigen                                  tom für das Familiensystem (Symptomträger)
              * Gemüt – Wahnideen – besessen zu sein
                                                                   und die Frage ist, zu wem gehört das Symptom
                                                                   eigentlich. Zu wem drückt das Symptom seine
                                                                   Liebe aus? In einem Fall von Anorexia nervosa einer
           6.2.2  Symptome auf dem Hinter-                         Sechzehnjährigen wurde deutlich, wie das Symp-
           grund des Familiensystems                               tom als Lösung eingesetzt wurde, aus Liebe zur
           Die Familienanamnese ist ja ohnehin fester Be-          Mutter. Mit ihrem Symptom blieb die Jugendliche
           standteil der homöopathischen Anamnese. Die Er-         als zu versorgendes Kind der Mutter erhalten (An-
           weiterung im systemischen Sinne bedeutet, neben         orexie: ich bleibe Kind und werde keine Frau) und
           den Erkrankungen auch die Schicksale zu erfragen.       die älteren Geschwister waren frei und konnten in
           Heimatverlust, früh verstorbene Geschwister und         anderen Städten studieren. Die „Krankheit“ ver-
           Unfälle können hier eine wichtige Rolle spielen.        wehrte ihr – der Kleinsten – auszuziehen. Und
           Wichtig wird der Zusammenhang allerdings erst,          sie ermöglichte ihr, sich für die Mutter in der
           wenn die Geschichte von damals einen Bezug              Auseinandersetzung mit dem Vater einzusetzen:
           zum Symptom oder den Lebensumständen von                „Mama, weil du dich nicht traust, dich gegen
           heute hat. Durch die Familiengeschichte kann häu-       Papa durchzusetzen, tue ich das für dich.“ Hier
           fig bereits auf die Dynamik rückgeschlossen wer-         hat das Symptom also einen Bezug zu einem Fa-
           den, in der sich der Klient eventuell befindet.          milienmitglied. Es weist auf einen anderen im Fa-
              Es gibt Fälle, dass Kinder oder erwachsene           miliensystem hin, manchmal auch auf jemanden,
           Klienten bestimmte Symptome, Ängste oder Wahr-          der schon längst tot ist.
           nehmungen beschreiben, die mit ihrem Leben und
           ihrer bisherigen Biografie nicht zu erklären sind.       *   Merke: Es lohnt sich zu fragen, auf wen in
           Wieso fürchtet sich ein Kleinkind vor Männern               der Familie die Beschwerde hinweist:
           mit dunklen Haaren? Wieso malt ein Kind Kriegs-             Welche Folgen hat die Krankheit des Kindes
           szenen, das den Krieg nie selbst erlebt hat? Wieso          für die Familie und was wäre möglich, wenn
           träumt ein Kind, verfolgt und umgebracht zu wer-            es diese Krankheit nicht mehr gäbe?

     aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
6.2 Familiendynamiken auf der Spur           77

      Symptome weisen manchmal auf folgenschwere           Fallbeispiel: chronischer Husten auf der Suche
  Schicksale in der Familie hin, über die nicht geredet    nach Halt
  wird, weil sie als sehr belastend erlebt werden. So      Eine Mutter kommt mit ihren zwei Töchtern in die Praxis.
  litt ein 13-jähriger Junge „plötzlich“ an Panikatta-     Sina ist vier Jahre alt und hat, seit sie sechs Monate alt ist,
  cken. In der Anamnese wurde deutlich, dass die           stets Husten. Es ist ein trockener Reizhusten, der auch
  Panikattacken des Kindes mit der Insolvenz des           mal schlimmer werden kann und sich dann steigert bis
  Vaters begonnen haben, der den Familienbetrieb           zum Erbrechen einer Menge Schleim. Sie würgt durch
                                                           die Hustenanfälle, aber nicht immer erbricht sie sich
  aufgeben musste (► Kap. 5.4.1, S. 64: „Wann hat
                                                           dabei.
  es angefangen?“ „Was ist in dieser Zeit noch pas-
  siert?“). Das Symptom wies auf einen hochverant-         Anamnese
  wortlichen Vater hin, der kaum über seine Nöte           Die Mutter des Kindes berichtet: „So geht das Tag und
  und Ängste seines Versagens sprach und sich jetzt        Nacht, mal mehr, mal weniger; aber es ist nie ganz weg.
  mit Suizidgedanken im Stillen plagte. Aurum für          Als Säugling hatte sie einen Spitzfuß und ist lange auf
  den Vater erlöste die Panik des Jungen.                  Zehenspitzen gegangen. Zu Hause haben wir uns schon
                                                           fast an den Husten gewöhnt. Im Kindergarten sprechen
                                                           mich die Betreuerinnen jetzt verstärkt an, ich solle
  6.2.3 Fallstricke des Homöopathen:                       etwas tun, aber ich habe ihr schon alles Mögliche ge-
                                                           geben. Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“ Wir haben
  Neugierde und Eifer                                      zunächst die übliche Anamnese gemacht, auch mit der
  Häufig glauben wir, es ganz genau wissen zu müs-          Familiengeschichte, und konnten keinen Zusammen-
  sen, um verstehen zu können und dann die richtige        hang zu dem Husten entdecken. So begannen wir die
  Arznei zu finden. So halten wir uns als Homöopa-          Therapie mit im Ergebnis unbefriedigenden Verord-
  then bei der Anamnese fast nur in dem zugängli-          nungen der Arzneien aus der Rubrik „Magen – Erbro-
  chen Teil unseres Tagesbewusstseins auf. Beziehen        chenen, Art des – Schleim.“ Es ergab sich eine leichte
                                                           Besserung nach Thuja, aber nie ein wirklich anhaltender
  wir jedoch Träume mit in die Verschreibung ein, se-
                                                           Erfolg.
  hen wir auch das, was das Unterbewusstsein in sei-
                                                               Die Mutter vereinbarte einen weiteren Termin,
  nen Bildern an die Oberfläche spült. Die Informati-
                                                           diesmal für ihre kleine Tochter Anna. Zur Konsultation
  on, die uns eine Aufstellung gibt, liegt auch außer-     brachte sie dann beide Töchter in die Praxis. Als ich als
  halb von Bewusstsein und Vorstellung unseres             die behandelnde Homöopathin die kleine Anna unter-
  Klienten. Sie stellt Zusammenhänge her, die uns          suchen will, tritt die vierjährige Sina breitbeinig vor ihre
  der Klient nie erzählen könnte. Nehmen wir das           Schwester, fixiert mich, stemmt die Hände in die Seite
  Beispiel von Sina (► Fallbeispiel): Es muss nicht ver-   und sagt: „Nein. Niemand fasst meine Schwester an!“
  standen werden, welche Person auf dem Boden lag,         Es gab keine Chance, Anna zu untersuchen. Sina kämpfte
  wer der Mann sein könnte, ob er die Frau umge-           wie ein verzweifeltes Muttertier um seine Jungen. Hier
  bracht hat oder welche Bilder auch immer in diese        fragten wir erneut nach der Familiengeschichte und
                                                           fanden keinen Anhaltspunkt.
  Situation hineingesehen werden können. Wir wis-
                                                               Mit der Erlaubnis der Mutter stellten wir den Fall in
  sen es nicht und niemand kennt die Geschichte der
                                                           einer Supervisionsgruppe auf. Die Stellvertreterin von
  Vergangenheit dazu. Es genügt, der Mutter ohne
                                                           Sina stellte sich auf die Zehenspitzen und begann zu
  jede Wertung und Interpretation das Gesehene             husten, ohne dass die Symptome in der Gruppe benannt
  mitzuteilen. Wichtig ist, die Dynamik zu begreifen,      worden waren.
  in der sich Sina befindet. Häufig reichen diese Infor-
                                                           Stellvertreter Sina (Stv.): Es ist alles so furchtbar. Ich will
  mationen für den Blick auf eine neue Arznei aus.
                                                           schreien, aber es kommt nur ein Husten. Es ist zum
  Mehr müssen wir nicht wissen. Wenn sich keinerlei
                                                           Kotzen. Ich muss vorsichtig sein, überall lauert Gefahr.
  Zugang finden lässt, ist häufig Thuja eine hilfreiche
  Arznei, um irgendetwas aus dem Nebel auftauchen          Eine weitere Frau und ein Mann wurden als Stellvertreter
  zu lassen.                                               unbekannter Personen mit unbekanntem Schicksal ins
                                                           Feld gestellt. Die Frau sinkt sofort zu Boden, der Mann
                                                           steht vor der liegenden Frau und schaut zu Sinas Stell-
                                                           vertreterin.
                                                           ▼

aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
78         6 – Systemische Anamnese in der Homöopathie

           ▼                                                            anderen Person, denn es geht nicht um uns Helfer.
           Stv. (Sina): Es macht mir Angst, dass die Frau daliegt,      Eifer hat also etwas Kindliches und geht oft ins Maß-
           aber der Mann macht mir jetzt noch mehr Angst. Erst          lose. Weil Eifer blind macht, dringt er dort ein, wo
           dachte ich, ich könnte ihm vertrauen, aber jetzt weiß ich,   es Achtung bräuchte; er setzt sich über Grenzen hin-
           dass ich keinem hier trauen kann. Am liebsten will ich
                                                                        weg und bewegt sich doch in Grenzen – immer im
           mich wegschleichen oder schreien, habe aber Angst, ich
                                                                        Kreis sich drehend.
           werde gesehen und mir ergeht es wie der Frau. Alles um
           mich herum wirkt riesig und bedrohlich.                      *   Merke: Mit seinem Eifer setzt sich der Be-
                                                                            handler über den Klienten und dessen
           Verordnung
                                                                            Eingebundensein hinweg. Damit macht er
           Nach dieser Aufstellung verordneten wir Sina eine Gabe
                                                                            sich als Helfer größer, als er in dem System,
           Stramonium C 1000. Stramonium hat das Gefühl, al-
           lein in einer bedrohlichen Umgebung zu sein, auf der             in das er eintritt, sein kann. Diese An-
           inneren Suche nach einem Menschen, der Halt und                  maßung überfordert ihn letzten Endes, weil
           Sicherheit geben könnte. Wir erzählten der Mutter                er Grenzen nicht achtet und deshalb am
           davon, was wir in der Aufstellung gesehen haben, und             Ende der Eifer auch über seine Kräfte geht.
           interpretierten das Gesehene nicht weiter. Für sie gibt es
                                                                        Der Helfer braucht also eine bestimmte Achtung
           kein inneres Bild und keine bekannte Familiengeschichte,
           die eine verständliche Erklärung zu dieser Aufstellung       vor dem Klienten: die Achtung vor dem Anderssein
           sein könnte.                                                 des Anderen, vor dem Eingebundensein in dessen
                                                                        Schicksalsgefüge und vor den anderen Anforderun-
           Behandlungsverlauf                                           gen und Grenzen, die sich daraus erschließen (Hel-
           Drei Tage später rief die Mutter an. Ihre Tochter Sina sei   linger 2005). Der Eifrige ist anmaßend. Er nimmt
           in den letzten drei Nächten schreiend aufgewacht,
                                                                        etwas in seine Hände und dirigiert, in der Absicht
           konnte sich kaum beruhigen und weinte auch im Schlaf.
                                                                        etwas steuern zu wollen. Auch der Eiferer verdient
           Der Husten blieb zunächst unverändert. Ihr sei das
                                                                        unsere Achtung; wir schauen auf ihn mit Achtung –
           Ganze etwas unheimlich und sie fürchtet, dieser Zustand
           könnte so bleiben. Wir beruhigten sie und baten abzu-        aus einem gebührenden Abstand.
           warten. Nach einer Woche wurden die nächtlichen                 Die Neugierde und die Absicht stören die Wir-
           Schreie und der Husten langsam weniger. Nach einer           kung einer Lösung: Frage ich nach der Wirksamkeit
           wiederholten Gabe Stramonium C 1000 verschwanden             des Mittels, um wissen zu wollen, ob ich hilfreich
           das Schreien und der Husten völlig. Wir erfuhren nie,        war, oder lasse ich dem Klienten und dem verab-
           welche Geschichte dafür verantwortlich war; es spielte       reichten Mittel einen Raum zu wirken? In diesem
           auch keine Rolle.                                            Raum nehme ich gelassen Platz und warte, welche
                                                                        Bewegungsrichtung mir das Mittel zeigt. Ich schaue
           a Exkurs: Neugier, die blind macht                           also auf die Richtung, die das Mittel mir vorgibt,
           Die Neugierde zerstreut den Helfer, er verliert seine        und ich stelle mich, meinen Tatendrang und mei-
           Sammlung. In der Sammlung schaut er auf den Klien-           nen Eifer in den Hintergrund. Sobald ich auf
           ten und bietet darin seine Hilfe an: Es ist eine Hilfe       mich schaue (Ich will, dass ich hilfreich bin – es
           ohne Absicht. Sobald er Eifer spürt, etwas lösen zu          muss mir gelingen!), beeinflusse ich das System
           wollen, einen Drang verspürt, die Lösung finden zu            Klient und Homöopath – und damit die Wirkung
           wollen, wird er herausgefordert – von dem Gefühl             des Mittels.
           aus der Zeit des Kindes, das er einmal war und jetzt
           in diesem Gefühl wieder auftaucht. Vielleicht ist es         Fallbeispiel: Liebe und Solidarität zum
           das Gefühl „Mama, ich helfe dir, um dich gegen               tuberkulinischem Großvater
           Papa zu behaupten“ oder der Drang „Papa, ich steh            Der Klient leitet ein selbstständiges Unternehmen und
           dir in deiner Traurigkeit bei.“ Dann ist der Helfer nicht    steht periodisch alle zwei Jahre kurz vor dem finanziellen
           mehr in seiner Sammlung. Seine Neugierde und sein            Ruin. Er erlebt diese Zeit als existenzielle Bedrohung und
           Eifer wachsen und lassen ihn Dinge erfragen, die nicht       hat außerdem viele Unfälle, einen davon mit Nahtod-
           zur Lösung notwendig sind. Er tut mehr, als die Lösung       erlebniss. In einer Familienaufstellung stellte sich heraus,
           braucht. Er geht näher in die Beziehung zum Klienten,        dass sein Opa auch ein Geschäftsmann war, der im Krieg
                                                                        ▼
           als die Lösung braucht. Das ist eine Missachtung der

     aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
6.3 Verantwortung in der Behandlung     79

  ▼
  starb und dessen Firma Konkurs anmelden musste. In                     6.3
  seiner Liebe und Solidarität tat er es dem Opa nach. Wir               Verantwortung in der
  ließen uns den Opa genauer beschreiben, der ein tur-
  bulentes Leben geführt hatte, bereits mehrfach verhei-                 Behandlung
  ratet war und auch häufig seinen Beruf wechselte. Die
                                                                         Patienten erleben sich oft als Opfer ihrer Symptome
  Frauen liebten ihn, weil er so charmant war und auch
                                                                         oder ihrer Probleme. Eine Krankheit kommt über
  wegen seines Abenteuergeistes. Im Krieg war er bei den
  Fliegern und wurde abgeschossen. Nach der Aufstellung                  sie oder bricht in ihr Leben ein und sie können
  und einigen Gaben Tuberkulinum ließen die Unfallten-                   nichts tun. Sie kommen zum Beispiel zum Homöo-
  denz und die existenziellen Krisen in seiner Firma deut-               pathen mit dem „Arzt-Patient-Modell“ im Kopf
  lich nach.                                                             (Hess 2009): Der Klient gibt dem Therapeuten
                                                                         den Auftrag zur Diagnose und zur Problemlösung.
  Oft können wir nicht auseinanderhalten, was genau                      Sowohl Diagnoseerstellung als auch die Lösung
  zur Lösung bei dem Klienten beigetragen hat.                           werden ausschließlich an den Therapeuten dele-
  Reichte es aus, dass der Klient den Opa in den Blick                   giert.
  und ins Herz genommen hat, oder brachte die Arz-
  nei die Lösung. Wir verabreichten beides und die
  Lösung war möglich – wir betrachteten das Symp-                        6.3.1     Verantwortung für die Lösung
  tom in seiner Ganzheit und behandelten es in sei-                      Bei einem „Kooperationsmodell gemeinsamer Ver-
  ner Ganzheit. Im Gefühl des Eifers hätten wir nur                      antwortung“ (dialogisches Heilungsmodel) hinge-
  auf ihn geschaut und auf die Gefährlichkeit seines                     gen kann der Homöopath den Patienten dazu ein-
  Handelns. Vielleicht hätten wir mit Angst auf seine                    laden, Mitverantwortung für den Heilungserfolg zu
  Kapriolen geschaut und befürchtet, dass er das                         übernehmen. Dies findet in der Auftragsklärung
  nächste Mal tot sein könnte. Die Angst und der Eifer                   statt. Beispielsweise beginnen systemisch arbeiten-
  hätten unseren Blick eng gemacht. So weiteten wir                      de Psychotherapeuten keine Arbeit, bis ein Auftrag
  den Blick und schauten über ihn hinaus.                                klar ist, denn sie sind auf die innere Arbeit des
      Ist ein Klient mit einem Familienmitglied so eng                   Klienten angewiesen – hier gibt es keine Arznei,
  verbunden, oder „identifiziert“, wie in dem be-                         auf die man sich verlassen kann. Und vielleicht
  schriebenen Fall, kann die homöopathische Arznei,                      ist genau das zuweilen die Falle, in die wir als Ho-
  die das verstorbene Familienmitglied repräsen-                         möopathen gern geraten. Es gibt wunderbare Arz-
  tiert, von dem Klienten „genommen“ werden. Es                          neiwirkungen, die an Wunder grenzen. Sie geben
  scheint, als könnte das alte Dilemma nun in seinem                     uns Homöopathen das Gefühl, es müsste immer
  Enkel geheilt werden und dieser damit frei werden                      so sein, und wenn es so nicht ist, haben wir etwas
  für sein eigenes Leben. Der Klient muss das Drama                      übersehen. Wir haben tatsächlich etwas überse-
  seines Opas damit nicht weiter fortführen. Tuberku-                    hen, das ist richtig. Wir übersehen gerne, dass
  linum hatte ihm gut getan; er fühlte sich „mehr auf                    der Klient ein Interesse an seiner Lösung haben
  dem Boden.“ Sein Lösungssatz in der Aufstellung                        und aktiv daran mitarbeiten sollte. Und wir über-
  war: „Lieber Opa, ich sehe dein Schicksal und neh-                     sehen, dass Prozesse sich auf ganz verschiedene
  me dich in mein Herz. Bitte schau gut auf mich,                        Art und Weise „entwickeln“ und deshalb unter-
  wenn ich mehr Glück habe als du.“ Er betreibt                          schiedlich lange dauern können.
  nun schon seit einigen Jahren erfolgreich eine Fir-                        Die Homöopathie verlockt den Klienten dazu,
  ma für Flugzeugersatzteile10.                                          sich in den Behandlungsstuhl zu setzen in einer
                                                                         Haltung von „Mach-mir-das-Wunder.“ Und wir
  10
       Sicher ließe sich an dieser Stelle diskutieren, ob er als Enkel   als Homöopathen ziehen uns natürlich diesen
       eine tuberkuline Störung hat, weil sein Familiensystem            Schuh der Möglichkeit des wunderbaren Heilers
       tuberkulin belastet ist. Der Klient selbst hatte keine körper-
       lichen Beschwerden, außer der erhöhten Unfallneigung              gerne an und vermitteln dieses Bild bewusst oder
       und den Existenzsorgen. Ohne die Geschichte des Groß-             unbewusst an unsere Klienten. Dabei setzen wir
       vaters wäre ein Verständnis des Falles schwer möglich ge-
       wesen, denn die konstitutionellen Hinweise gaben keinen
                                                                         uns selbst unter Druck. Sehr selten fragt ein Ho-
       Anhalt für Tuberkulinum.                                          möopath nach seinem Auftrag, denn er hat ja be-

aus: Vieten u.a., Systemische Homöopathie mit Familienaufstellung (ISBN 9783830473893) © 2010 Karl F. Haug Verlag
Vieten / Knorr
                                    Systemische Homöopathie mit
                                    Familienaufstellung
                                    Lösungswege für unlösbare Fälle

                                    204 Seiten, kart.
                                    erschienen 2010

Mehr Bücher zu Homöopathie, Alternativmedizin und gesunder Lebensweise
                      www.narayana-verlag.de
Sie können auch lesen