Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert

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Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Völkerrecht über Bord
 Wie die EU die Verantwortung
für Seenotrettung im zentralen
     Mittelmeer auslagert
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Rettung einer Frau aus einem überbesetzten
                                                             Schlauchboot. Damit Frauen und Kinder nicht
                                                             ins Wasser fallen, werden sie meist in der Mitte
                                                             der Boote platziert. Dort sammelt sich oft ein
                                                             Gemisch aus Salzwasser, Treibstoff und mensch-
                                                             lichen Ausscheidungen. Die Folge sind starke
                                                             Hautverbrennungen. Panikausbrüche können
                                                             außerdem dazu führen, dass Menschen in der
                                                             Flüssigkeitsansammlung ertrinken.

„   Können Sie sich das vorstellen, eine so lange Zeit auf dem
    Wasser? Wir haben gebetet. Wir haben geweint, die ganze
    Zeit geweint. Und das mit den Kindern. Es war unerträglich.
    Es geht einem dabei alles Mögliche durch den Kopf. Man
    kann auf dem Meer sterben. Mir wäre es jedenfalls lieber
    gewesen, zu ertrinken, als von den Libyern* verhaftet zu
    werden.“
                                        Maimouna**, Überlebende, Elfenbeinküste

    *    Maimouna spricht von der libyschen Küstenwache
    **   Name wurde geändert
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Inhalt

   5     Zusammenfassung

   6     Im Einsatz für die Menschen in Seenot
         und das Völkerrecht

   8     Gegen das Ertrinkenlassen –
         5 Jahre SOS MEDITERRANEE
         Die Meilensteine der Seenotrettung im zentralen ­Mittelmeer

  14     Die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung
  16     Seenotfälle – Staaten haben die Pflicht zu koordinieren
  17     Rechtliche Vorgaben für Rettungsleitstellen – auch für Libyen
  17     Völkerrecht – Handlungsrahmen für die zivile Seenotrettung

  18     Umschiffung des Völkerrechts –
         Der Aufbau der libyschen Küstenwache durch die EU

  18     Das Sterben im Mittelmeer – ein politisches Versagen
  19     Europa schließt seine Häfen für gerettete Menschen
  20     Ohne Kontrolle – die Finanzierung der libyschen ­Küstenwache mit
         europäischen Steuergeldern
  22     Aufbau einer libyschen SAR-Zone
  23     Die fatalen Folgen der Kooperation mit Libyen
  23     Rechtsbruch – gewaltsame Rückführung der Menschen nach Libyen
  24     Beihilfe zum Völkerrechtsbruch auf See

  27     Aus dem Einsatz:
         Das Versagen der EU und Libyens auf See

  28     Fall 1:   Leitstellen, die nicht leiten
  33     Fall 2:   Tripolis antwortet nicht
  40     Fall 3:   Eine Küstenwache, die nicht rettet
  45     Fall 4:   Gerettet, aber noch nicht in Sicherheit
  50     Fall 5:   Ohne Hoffnung – gewaltsam nach Libyen zurückgeschleppt

  54     Ohne eine europäische Seenotrettung bleibt ­Völkerrechtsbruch
         Alltag im Mittelmeer

  56     Forderungen an alle EU-Staaten und zuständigen Institutionen
         auf EU-Ebene
  57     Forderungen an die deutsche Bundesregierung

  58     Glossar

  60     Appendix

  65     Impressum / Bildnachweise
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
„                   Zusammenfassung
        Können Sie sich das vorstellen, eine so lange Zeit auf dem
        Wasser? Wir haben gebetet. Wir haben geweint, die ganze
        Zeit geweint. Und das mit den Kindern. Es war unerträglich.
Die EU-Staaten   haben dabei
        Es geht einem    seit 2017
                               allessystematisch
                                     Mögliche durch   dieden
                                                          libysche
                                                             Kopf. ManKüsten-
wache mit  mindestens
        kann            90 Millionen
              auf dem Meer    sterben.Euro    finanziert.
                                         Mir wäre         Sie wurde
                                                   es jedenfalls       gezielt
                                                                   lieber
dazu befähigt, über
        gewesen,   zudas  Mittelmeer
                      ertrinken,        fliehende
                                  als von          Menschen
                                            den Libyern*         abzufangen
                                                           verhaftet   zu
und völkerrechtswidrig
        werden.“          in das Bürgerkriegsland Libyen zurückzu-
bringen. TrotzMaimouna**,
               ihrer Zuständigkeit     nimmt die libysche
                           17 von der Elfenbeinküste,          Küstenwache
                                                      gerettet im Februar 2020
ihre Aufgaben als Leitstelle bei der Seenotrettung kaum wahr.

Seit Mitte 2019 waren während 27 Einsätzen des zivilen Rettungs-
schiffs Ocean Viking die zuständigen libyschen Behörden bei 231
Kontaktversuchen nicht erreichbar. Die Folgen: Rettungen wurden
verzögert und Menschenleben gefährdet. SOS MEDITERRANEE do-
kumentiert dieses Versagen minutiös aus eigener Erfahrung.

Dieser Report beschreibt die wichtigsten Entwicklungen im Mittel-
meer und erklärt die juristischen und politischen Hintergründe der
Strategie der EU. Er zeigt auf, wie die EU sich vor einer Über­nahme
von Verantwortung drückt und lieber die libysche Küstenwache
stärkt, obwohl sie damit inhuman handelt und ihre Werte verrät.

Weil die europäischen Staaten ihre Verantwortung zur Seenotret-
tung im zentralen Mittelmeer umgehen und mit der Beauftragung der
­libyschen Küstenwache indirekt Völkerrechtsbruch begehen, fordert
 SOS MEDITERRANEE von diesen:

      →     Ein verlässliches System europäisch organisierter und
            finanzierter Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

      →     Die Einhaltung von internationalem See- und
            Völkerrecht

      →     Die Beendigung der Finanzierung und des Aufbaus der
            libyschen Küstenwache, solange diese als zuständige
            Rettungsleitstelle nachweislich ihren Verpflichtungen
            gemäß internationalem Seerecht nicht nachkommt
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Einleitung

Mitglieder des Such- und Rettungsteams untersuchen die Überreste eines kaputten Schlauchbootes. Kleidungsstücke und Plastikflaschen lassen darauf schlie-
ßen, dass sich noch wenige Stunden zuvor Menschen an Bord befunden haben müssen. Was mit ihnen geschehen ist, konnte nicht geklärt werden.

                            Im Einsatz für Menschen in Seenot
                                   und das Völkerrecht

Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Europa                               schen vor der libyschen Küste in Seenot. Mindestens
haben sich die Bedingungen für die Seenotrettung im                             fünf Menschen sind ertrunken, sieben werden weiter
zentralen Mittelmeer weiter verschärft und der Zugang                           vermisst.1 Die einzigen beiden Rettungs­schiffe, die im
zu humanitärer Hilfe wird noch mehr erschwert. Ab März                          April im Einsatz waren und der gesetzlichen Pflicht zur
2020 waren Grenzen geschlossen, Häfen wurden als un-                            Seenotrettung nachkamen und Menschen vor dem Er-
sicher deklariert und konnten monatelang nicht ange-                            trinken retteten, wurden kurz darauf wegen angebli-
laufen werden, öffentliche Infrastrukturen waren über-                          cher technischer Mängel in Italien festgesetzt.
lastet oder wurden heruntergefahren. Das deutsche
Bundesinnenministerium rief zivile Seenotrettungs-                              Und das, obwohl das zentrale Mittelmeer die töd­lichste
organisationen sogar dazu auf, den Rettungseinsatz                              Fluchtroute der Welt ist. Seit 2014 sind dort mindes-
vorerst auszusetzen. Während die Seenotrettung so                               tens 8.264 Menschen gestorben.2 Weil die EU-Staaten
fast vollständig zum Erliegen kam, flohen unterdes-                             bis heute keine eigene Seenotrettung etabliert haben,
sen Männer, Frauen und Kinder weiter aus L ­ ibyen über                         füllen von der europäischen Zivilgesellschaft getragene
das Mittelmeer. Allein während des Osterwochenen-                               Organisationen wie SOS MEDITERRANEE seitdem diese
des 2020 gerieten vier Boote mit mehr als 280 Men-                              Lücke. Sie haben in den letzten sechs Jahren Zehntau-

Völkerrecht über Bord                                                      6                         SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Einleitung

sende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt und müssen              und zeichnet nach, wie die EU durch den Aufbau der li-
ihren humanitären Handlungsspielraum doch ständig                byschen Küstenwache geltendes Völkerrecht umschifft
neu aushandeln und verteidigen. Ihre lebensrettende              (siehe Seite 18: „Umschiffung des Völkerrechts – Der
Arbeit wird vielfältig blockiert, kriminalisiert und poli-       Aufbau der libyschen Küstenwache durch die EU“). Auf
tisch instrumentalisiert. Seit 2017 war fast jede Seenot-        Basis eigener Einsatzdaten (siehe Seite 27: „Aus dem
rettungsorganisation im zentralen Mittelmeer aufgrund            Einsatz: Das Versagen der EU und Libyens auf See“)
von Interventionen staatlicher Stellen gezwungen, ihre           verdeutlicht der Bericht, dass das aktuelle Rettungs-
Mission zumindest vorübergehend einzustellen. Die EU             system im zentralen Mittelmeer unter Koordination der
hat sich unterdessen immer weiter aus der Seenotret-             von der EU finanzierten libyschen Behörden dysfunk-
tung im zentralen Mittelmeer zurückgezogen – obwohl              tional und völkerrechtswidrig ist. SOS MEDITERRANEE
die Rettung von in Not geratenen Menschen auf dem                hat hierzu die Einsätze der Ocean Viking im zentralen
Meer nach internationalem See- und Völkerrecht Plicht            Mittelmeer von August 2019 bis Februar 2020 präzise
ist. Ein Gebot, das auf der Nord- oder Ostsee niemand            aufgezeichnet und Informationen zusammengetragen,
infrage stellen würde.                                           die dies belegen.

                                                                 Das Fazit (siehe Seite 54: „Ohne eine europäische See-
Fünf Jahre SOS MEDITERRANEE– Einsatz                             notrettung bleibt Völkerrechtsbruch Alltag im Mittel-
für die Pflicht zur Seenotrettung                                meer“) des Berichts ist die Notwendigkeit einer von
                                                                 europäischen Staaten getragenen und organisierten
Auch SOS MEDITERRANEE hat sich in diesem Kontext                 Seenotrettung, mit der die EU ihren rechtlichen und
gegründet. Aus Empörung über das vermeidbare Ster-               humanitären Pflichten nachkommt und das den euro-
ben haben vor fünf Jahren der deutsche Kapitän und               päischen Grundsätzen würdig ist. Aus Seenot gerettete
Historiker Klaus Vogel und die französische Expertin für         Menschen müssen an einen sicheren Ort gebracht wer-
humanitäre Arbeit, Sophie Beau, die bis heute einzige            den. Zusätzlich muss die Finanzierung der libyschen
europäische zivile Seenotrettungsorganisation gegrün-            Küstenwache durch EU-Steuergelder umgehend be-
det. Seit 2016 hat SOS MEDITERRANEE 31.799 Men-                  endet werden, solange diese nicht im Einklang mit dem
schen aus Seenot gerettet. Währenddessen wurde die               See- bzw. Völkerrecht handelt. Ansonsten macht sich die
Besatzung von SOS MEDITERRANEE vor Ort eine der                  EU an Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechts-
wenigen direkten Zeugen, wie sich die EU immer weiter            bruch mitschuldig und versenkt ihre selbst gepriesenen
aus der Seenotrettung zurückzog und im Mittelmeer das            Werte im Mittelmeer.
Völkerrecht über Bord geht.

Europa entzieht sich seiner Verantwortung:
Finanzierung der libyschen Küstenwache

Seit 2016 bauen die EU-Staaten die libysche Küstenwa-
che3 mit europäischen Steuergeldern auf. Das Ziel: Men-
schen von der Ankunft in Europa abzuhalten. Gezielt
wird die libysche Küstenwache dazu befähigt, Schiffbrü-
chige auf hoher See abzufangen und völkerrechtswidrig
in das Bürgerkriegsland zurückzubringen. Das Retten
von Menschenleben wird der Sicherung europäischer
Grenzen untergeordnet und ihre Ausschiffung an einen
sicheren Ort gemäß internationalem Seerecht wird
­ignoriert.

In diesem Report legt SOS MEDITERRANEE eindrucks-
voll und mit erstmalig so veröffentlichen Daten die
skandalöse Situation im zentralen Mittelmeer dar. Die
Recherchen zeigen das Ausmaß des gegenwärtigen
rechtlichen und humanitären Desasters, das es umge-
hend zu beenden gilt. Der Report fasst die zentralen
politischen Entwicklungen im zentralen Mittemeer seit
2014 zusammen (siehe Seite 8: „Gegen das Ertrinken-
lassen – 5 Jahre SOS MEDITERRANEE“), erläutert die
rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung (siehe Seite
14: „Die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung“)

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                          7                                   Völkerrecht über Bord
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Während einer der ersten Rettungseinsätze hebt
Klaus Vogel – Gründer von SOS MEDITERRANEE
und Einsatzleiter im Mai 2016 – ein Neugeborenes
vom Rettungsboot an Bord der Aquarius.
Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Meilensteine

                         Gegen das Ertrinkenlassen –
                         5 Jahre SOS MEDITERRANEE

Die Meilensteine der Seenotrettung im zentralen
Mittelmeer

Oktober 2013:                                                Netzwerk SOS MEDITERRANEE ins Leben. Im Juni folgt
Italien engagiert sich in der Seenotrettung                  die Gründung eines französischen, 2016 eines italieni-
                                                             schen sowie 2017 eines schweizerischen Vereins.
652 Menschen ertrinken, als am 3.10. und 11.10. zwei
Boote mit Flüchtenden vor Lampedusa sinken. Die
Bilder der Hunderten von Särgen erschüttern Europa.
Italien initiiert die Operation „Mare Nostrum“ („unser       26.10.2015 :
Mittelmeer“). Zwei Wochen später laufen die ersten           Kein europäisches Seenotrettungsprogramm
Schiffe von Marine und Küstenwache aus.
                                                             Die EU startet im zentralen Mittelmeer die Anti-
                                                             schmuggler-Operation EUNAVFOR MED „Sophia“.
                                                             Im Gegensatz zum italienischen Seenotrettungspro-
31.10.2014: Grenzschutz statt Seenotrettung                  gramm „Mare Nostrum“ ist das Einsatzgebiet deut-
                                                             lich kleiner und primäres Ziel ist die Bekämpfung von
„Mare Nostrum“ wird beendet, nachdem das Seenot-             Schleppern. Ab Juni 2016 wird das Mandat um die Ein-
rettungsprogramm in einem Jahr rund 150.000 Men-             haltung des UN-Waffenembargos vor der libyschen
schen aus Seenot gerettet hat. Die EU hatte sich ge-         Küste und die Ausbildung der libyschen Küstenwache
weigert, Italien hierbei zu unterstützen. Die Mission        und Marine erweitert.
wird ersetzt durch die EU-Operation „Triton“, ausge-
führt durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Sie
beschränkt sich hierbei im Wesentlichen auf die Siche-
rung der EU-Außengrenzen zum Mittelmeer durch küs-           Herbst 2015: Europäische Zivilgesellschaft
tennahe Patrouillen.                                         spendet für ein Schiff

                                                             Zahlreiche Spenden aus der europäischen Zivilge-
                                                             sellschaft ermöglichen es SOS MEDITERRANEE, ein
05.05.2015: Gründung von SOS MEDITERRANEE in                 ehemaliges Versorgungsschiff zu chartern und für
Berlin                                                       den Einsatz im zentralen Mittelmeer herzurichten. Die
                                                             Aquarius ist groß genug, um viele Geflüchtete aufzu-
Nachdem immer mehr Menschen im Mittelmeer er-                nehmen, ganzjährig einsetzbar und bietet Raum für
trinken, gründet der Handelsschiffkapitän Klaus Vogel        eine medizinische Grundversorgung. Zu Beginn über-
zusammen mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft           nimmt die Organisation Ärzte der Welt den medizini-
SOS MEDITERRANEE Deutschland e.V. Am 09. Mai, dem            schen Part an Bord, ab Mai 2016 Ärzte ohne Grenzen.
Europatag, rufen er und die französische Expertin für
humanitäre Hilfe Sophie Beau in Berlin das europäische

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                      9                                   Völkerrecht über Bord
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Meilensteine

03. 10.2013: In einem Hangar des Flughafens von Lampedusa liegen Leichen-         Das Rettungsschiff Aquarius war von Februar 2016 bis Ende 2018 im Einsatz.
säcke von Menschen, die beim Versuch, die italienische Küste zu erreichen,        Hier zu sehen: eine Rettung im Januar 2018.
am 03. Oktober 2013 ertrunken sind. Mehr als 100 Menschen ertranken und
über 200 wurden vermisst, nachdem ein mit Schutzsuchenden aus afrikani-
schen Ländern beladenes Boot am Donnerstag vor der süditalienischen Insel
Lampedusa Feuer fing und sank.

07.03.2016: Erster Rettungseinsatz                                                23.05.2017: Seenotretter*innen unter Beschuss

Die Aquarius war zuvor aus Sassnitz (Rügen) über                                  An nur einem Tag retten SOS MEDITERRANEE und
Bremerhaven, Marseille und Lampedusa zu ihrer ers-                                Ärzte ohne Grenzen mit der Aquarius vor der libyschen
ten Mission im zentralen Mittelmeer ausgelaufen.                                  Küste 1.004 Menschen von elf Booten in Seenot. Der
Am Morgen des 7. März kann das Team der Aquarius                                  zehnstündige Rettungseinsatz stellt einen der kompli-
74 Menschen aus einem defekten Schlauchboot vor                                   ziertesten und schwierigsten Einsätze seit Beginn der
der libyschen Küste retten. Insgesamt können die                                  Mission dar. Während des Einsatzes kommt es zu einem
Teams von SOS MEDITERRANEE im ersten Einsatzjahr                                  dramatischen Zwischenfall mit der libyschen Küsten-
11.069 Menschen sicher an Bord nehmen.                                            wache: Nach Warnschüssen springen 67 Geflüchtete
                                                                                  ins Wasser und können nur dank des schnellen Eingrei-
                                                                                  fens der Crew sicher an Bord gebracht werden.

17.08.2016: Retter*innen werden im zentralen
Mittelmeer bedroht
                                                                                  23.06.2017: UNESCO Friedenspreis
Das Rettungsschiff Bourbon Argos von Ärzte ohne
Grenzen wird von einem libyschen Schnellboot nörd-                                SOS MEDITERRANEE erhält gemeinsam mit Lampe-
lich der libyschen Küste beschossen. Die Sicherheitsla-                           dusas (Italien) Bürgermeisterin Giuseppina Nicolini
ge im zentralen Mittelmeer spitzt sich zu und auch SOS                            den UNESCO-Friedenspreis. Der Preis wird denjenigen
MEDITERRANEE ist gezwungen, neue Sicherheitsmaß-                                  gewidmet, die auf der Suche nach Zuflucht in Euro-
nahmen an Bord der Aquarius einzuführen.                                          pa ihr Leben auf See verloren haben. Es ist die fünf-
                                                                                  te Auszeichnung für SOS MEDITERRANEE, neben der
                                                                                  Carl-von-Ossietzky-Medaille, dem europäischen Bür-
                                                                                  gerpreis des europäischen Parlaments, dem Schwarz-
03.02.2017: Aufbau der libyschen Küstenwache                                      kopf-Europa-Preis sowie dem deutsch-französischen
durch die EU                                                                      Medienpreis.

Mit der Malta-Erklärung verfestigen die EU-Staaten
den Aufbau der libyschen Küstenwache und lagern die
Verantwortung zur Seenotrettung im zentralen Mit-                                 Juli 2017: Verhaltenskodex für Seenotretter*innen
telmeer an einen Drittstaat aus. Sie legen damit den
Grundstein für einen klaren Verstoß gegen geltendes                               Die seit Ende 2016 breite Stimmungsmache gegen zivi-
Völkerrecht, der mit über 90 Millionen Euro Steuer-                               le Seenotretter*innen nimmt weiter zu. Die italienische
geldern von EU-Bürger*innen finanziert wird.                                      Regierung zwingt SOS MEDITERRANEE und weitere
                                                                                  Rettungs-NGOs nach mühsamen Verhandlungen einen

Völkerrecht über Bord                                                       10                        SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Meilensteine

23. Mai 2016: Gerettete drängen sich an Deck der Aquarius.        09.06.2018: Teammitglieder versuchen den Geretteten an Bord die Situation
                                                                  zu erklären – mit Karte, Megaphon und Übersetzer.

sogenannten Verhaltenskodex auf. Er soll die Seenot-              notfällen vor der libyschen Küste an Libyen. Eine liby-
rettung im Mittelmeer, die eigentlich im internationa-            sche Such- und Rettungszone wird festgelegt und eine
len Seerecht festgeschrieben ist, zusätzlich regeln. Ein          libysche Rettungsleitstelle eingerichtet - finanziert
erster Entwurf des Kodex sieht die Präsenz bewaffne-              von der EU. Von nun an stehen alle Rettungseinsätze
ter Polizeikräfte an Bord und den erschwerten Trans-              in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste
fer von geretteten Menschen auf andere Schiffe vor.               formal unter Koordination der libyschen Behörden.
SAR-NGOs werfen der italienischen Regierung vor, die
Rettungseinsätze nicht effektiver gestalten, sondern
vielmehr behindern zu wollen.
                                                                  08.08.2018: Die Aquarius: „Augen und Ohren“ der
                                                                  Zivilgesellschaft

09.–12.06.2018: Europa schließt seine Häfen                       Im neu eingeführten Online-Logbuch wird zeitnah be-
                                                                  richtet, was die Teams der Aquarius auf See tun, sehen
Die Aquarius ist im Juni 2018 das erste zivile Ret-               und hören. Ziel ist es, durch mehr Transparenz der Kri-
tungsschiff, dem die Ausschiffung Geretteter an einen             minalisierung ziviler Seenotrettung den Nährboden zu
sicheren Ort verweigert wird: Nach der Rettung von                entziehen und die Situation im zentralen Mittelmeer zu
629 Menschen darf die Aquarius für 36 Stunden nir-                bezeugen.
gendwo anlanden. Die sanitäre Situation wird unhalt-
bar, Lebensmittel knapp und die psychische Belastung
an Bord wächst. Am 12. Juni kommt schließlich die
Nachricht, dass die Geretteten im entfernten Valen-               07.07.2018: Die europäische Zivilgesellschaft
cia, Spanien, an Land gehen dürfen. Das bedeutet eine             erhebt sich
schwierige Überfahrt, der Hafen wird endlich nach ei-
ner weiteren Woche auf See erreicht. Von nun an muss              Im Sommer und Herbst geht eine Welle der Mobili-
in jedem Rettungsfall neu verhandelt werden, wo aus               sierung für die Seenotrettung durch Deutschland und
Seenot gerettete Menschen an Land gehen dürfen.                   Europa; bei Demonstrationen in 30 deutschen Städten
                                                                  gehen 79.000 Menschen auf die Straße. Sie fordern eu-
                                                                  ropaweit sichere Fluchtwege, eine menschenwürdige
                                                                  Aufnahme von Geflüchteten und eine Entkriminalisie-
28.06.2018: EU lagert Verantwortung an Libyen                     rung der Seenotrettung. Das Bündnis Seebrücke grün-
aus                                                               det sich in Berlin, Hamburg und zahlreichen weiteren
                                                                  deutschen Städten.
Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt überträgt die
Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UN
(IMO) die Verantwortung für die Koordination von See-

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                          11                                              Völkerrecht über Bord
Meilensteine

07.07.2018, Berlin: Teilnehmer protestieren bei einer Demonstration für Ge-        31.12.2018: Im Hafen von Marseille wird die Aquarius rückgebaut, bevor sie an
flüchtete der Bewegung „Seebrücke“. Bundesweit gehen tausende Menschen             den Eigner übergeben wird.
auf die Straße, um für sichere Fluchtwege und eine Entkriminalisierung der
Seenotrettung zu demonstrieren.

04.10.2018: Flaggenentzug                                                          März 2019: Völliger Rückzug der EU aus der
                                                                                   Seenotrettung
Einzelne EU-Staaten greifen zu drastischen Maßnah-
men, um die zivile Seenotrettung zu behindern: Auf                                 Die EU zieht alle Schiffe der Operation „Sophia“ vom
Druck der italienischen Regierung entzieht Panama                                  Mittelmer ab. Einzig Aufklärungsflugzeuge sind noch
der Aquarius die Registrierung, nachdem bereits Gi-                                vor Ort – retten können diese nicht. Schutzsuchende
braltar im August die Aquarius aus ihrem Flaggenre-                                Menschen werden im Mittelmeer so sich selbst oder
gister gelöscht hatte. Die Aquarius wird zum Hafenauf-                             der libyschen Küstenwache überlassen.
enthalt gezwungen - ohne Flagge darf ein Schiff nicht
auslaufen.

                                                                                   11.06.2019: Salvini-Dekret: Seenotrettung strafbar

November 2018: Kriminalisierung und Rechtsstreit                                   Die italienische Regierung verabschiedet einen um-
                                                                                   strittenen Erlass, der die Rettung von schutzsuchen-
Die Kriminalisierungsversuche gegen die zivile See-                                den Menschen auf dem Mittelmeer unter Strafe stellen
notrettung gehen weiter: Die Staatsanwaltschaft von                                kann. Schiffe, die unerlaubt in italienische Hoheitsge-
Catania, Sizilien, leitet Ermittlungen gegen den me-                               wässer fahren, drohen Bußgelder zwischen 10.000 und
dizinischen Partner von SOS MEDITERRANEE, Ärzte                                    50.000 EUR. Die Vereinten Nationen und NGOs halten
ohne Grenzen, ein. Der Vorwurf: Medizinische Bordab-                               das Dekret für einen Verstoß gegen die Menschen­
fälle seien nicht ordnungsgemäß entsorgt worden. Die                               rechte.
italienischen Behörden ordnen bei Wiedereinfahrt in
italienische Gewässer die präventive Beschlagnahme
der Aquarius an.
                                                                                   August 2019: #BackAtSea mit der Ocean Viking

                                                                                   SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen kehren
31.12.2018: Ende der Aquarius                                                      nach sechs Monaten mit einem neuen Schiff, der Ocean
                                                                                   Viking, in den Rettungseinsatz zurück. Das ehemalige
Nach den gezielten Angriffen von Regierungen, Behör-                               Versorgungs- und Bergungsschiff ist für die Seenot-
den und Gerichten, entschließen sich SOS MEDITER-                                  rettung aufwendig umgebaut und mit einer Klinik aus-
RANEE und Ärzte ohne Grenzen den Chartervertrag                                    gestattet worden.
für die Aquarius nach fast zwei Jahren Einsatz und
29.523 geretteten Menschen nicht zu verlängern. Zu
groß ist die Gefahr, dass das Schiff festgesetzt wird.

Völkerrecht über Bord                                                        12                         SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Meilensteine

August 2019: Die Ocean Viking nimmt für ihren ersten Einsatz Kurs auf das        23.02.2020: An Bord der Ocean Viking werden die Geretteten durch die
zentrale Mittelmeer.                                                             italienischen Behörden auf COVID-19-Symptome untersucht, bevor sie an
                                                                                 Land gehen können.

23.09.2019: Europäischer Verteilmechanismus                                      17.04.2020: Veränderte Einsatzbedingungen

Einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gehen am                          Ärzte ohne Grenzen kündigt öffentlich an, die Partner-
23. September die EU-Länder Deutschland, Frankreich,                             schaft mit SOS MEDITERRANEE zum 31.07.2020 zu
Italien und Malta: Bei einer Konferenz der Innenminis-                           beenden. Der Grund für die Trennung liegt vor allem
ter*innen im maltesischen Valletta einigen sie sich auf                          in dem Unwillen der europäischen Regierungen, trotz
einen neuen temporären Verteilungschlüssel für die                               der Corona-Pandemie Geflüchtete aufzunehmen. Die
Aufnahme von aus Seenot Geretteten zur Entlastung                                beiden humanitären Hilfsorganisationen haben einen
der Mittelmeeranrainer Italien und Malta.                                        unterschiedlichen Umgang mit den geschlossenen eu-
                                                                                 ropäischen Häfen. Die Rettungs-Crew von SOS MEDI-
                                                                                 TERRANEE wird um medizinisches Personal erweitert.
                                                                                 Die Ocean Viking nimmt ihren lebensrettenden Einsatz
23.02.2020: Als erstes NGO-Schiff in                                             nach den ersten Grenzöffnungen wieder auf.
COVID-19-Quarantäne

Die Ocean Viking bringt 276 Gerettete zum siziliani-
schen Hafen Pozzallo. Dort werden die Geflüchteten in                            22 Juni 2020: Rückkehr ins zentrale Mittelmeer
Quarantäne genommen. Die Crew muss für zwei Wo-
chen an Bord ebenfalls in Quarantäne gehen. Kein Mit-                            Die Ocean Viking nimmt ihren lebensrettenden Einsatz
glied der Crew zeigt Symptome. Die Ocean Viking kehrt                            nach den ersten Grenzöffnungen und Lockerungen der
nicht in den Einsatz zurück, sondern in den Hafen von                            Corona-bedingten Restriktionen wieder auf. Unter Ein-
Marseille.                                                                       haltung neuentwickelter Hygienestandards rettet die
                                                                                 Crew von SOS MEDITERRANEE schon nach wenigen
                                                                                 Tagen auf See Menschen aus Seenot.

01.04.2020: Neue EU-Mission auf dem Mittelmeer

Die neue EU-Mission „Irini“ löst „Sophia“ ab. Hauptauf-
gabe ist die die Überwachung der Einhaltung des Waf-
fenembargos gegen Libyen sowie der weitere Ausbau
der libyschen Küstenwache. Seenotrettung ist explizit
nicht Teil des Mandats: Die im Rahmen von „Irini“ ope-
rierenden Schiffe sollen fernab der Fluchtrouten im zen-
tralen Mittemeer patrouillieren.

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                                         13                                              Völkerrecht über Bord
Seerecht

Das Rettungsteam von SOS MEDITERRANEE nähert sich einem kleinen Holzboot in Seenot. 84 Menschen werden sicher an Bord der Ocean Viking gebracht.

          Die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung

  Die Pflicht zur Seenotrettung                       Staaten müssen dafür sorgen,                        Aus Seenot Gerettete
  gilt überall auf See und für                        dass jeder Person in Seenot                         müssen an einen sicheren Ort
  alle Schiffe gleichermaßen.                         geholfen wird.                                      gebracht werden.

Nach internationalem Seerecht sind alle Schiffe über-                         Such- und Rettungsdienst auf See (SAR, 1979),4 und
all auf See dazu verpflichtet, in Seenot geratenen Men-                       das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen
schen Hilfe zu leisten. Seenotrettung ist als mensch-                         (SRÜ, 1982)5.
liche Pflicht tief in der maritimen Tradition verankert
und gilt als Völkergewohnheitsrecht in jedem Bereich                          Egal, ob privates Handelsschiff oder staatliches Militär-
der See.1 Darüber hinaus regulieren drei völkerrecht-                         schiff: Ausnahmslos alle Schiffe und Seefahrer*innen
liche Abkommen die Koordinierung und Durchführung                             sind an die Prinzipien der Seenotrettung gebunden.6
der Seenotrettung: das Internationale Übereinkommen                           Wer als Erstes am Einsatzort eintrifft, ist dazu verpflich-
zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS,                                tet, in Seenot geratenen Menschen Hilfe zu leisten.7 Die
1974)2, das Internationale Übereinkommen über den                             einzige Einschränkung ist, dass sich die Schiffe und ihre

Völkerrecht über Bord                                                   14                       SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Seerecht

Im Durchschnitt sind die verwendeten Boote für 10-30 Personen ausgelegt. Die zugelassene Personenanzahl wird jedoch meist um das Doppelte oder Dreifache
überschritten: Auf einem 10-15 Meter langen Boot befinden sich im Schnitt 50-60 , auf einem nur etwas größeren Schlauchboot sogar 122 Personen. Durch die
Überbelegung ist es unmöglich, dass alle Menschen Platz im Boot finden, stattdessen sitzen sie auf dem Rand und damit halb im Wasser.

Besatzung bei den Rettungsmaßnahmen nicht selbst in                             dass es sich um Menschen in einer Notsituation handelt,
Gefahr bringen sollten.                                                         die Hilfe brauchen.

Es handelt sich um einen Seenotfall, wenn sich die                              Eine Seenotrettung beinhaltet, dass die Menschen in
Menschen an Bord eines Schiffes in ernsthafter Gefahr                           Seenot geborgen werden, eine (medizinische) Erst-
befinden und ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit                           versorgung erhalten und an einen sicheren Ort („place
gelangen können.8 Solch eine Notsituation liegt zum                             of safety“) gebracht werden.14 Die Rettung ist somit
Beispiel vor, wenn ein Boot manövrierunfähig ist, wenn                          erst abgeschlossen, wenn die Überlebenden einen si-
die Anzahl der Menschen an Bord die Kapazitäten des                             cheren Ort erreicht haben. An diesem Ort darf das Le-
Schiffes überschreitet oder wenn es an Rettungsausrüs-                          ben der Geretteten nicht länger in Gefahr sein und die
tung wie Rettungswesten mangelt.9                                               Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse muss sichergestellt
                                                                                sein.15
Die Boote, in denen schutzsuchende Menschen von Liby-
en aus flüchten, sind in der Regel nicht hochseetauglich,                       Darüber hinaus schreiben sowohl die Europäische Men-
haben keine Rettungswesten für die Passagiere und sind                          schenrechtskonvention (EMRK, 1950)16 als auch die
gefährlich überbesetzt. Deshalb sind sie ab dem Zeit-                           Genfer Flüchtlingskonvention (GFK, 1951)17 vor, dass
punkt, an dem sie die Küste verlassen, als Seenotfall zu                        Menschen nicht in einen Staat mit prekärer Menschen-
betrachten.                                                                     rechtslage zurückgebracht werden dürfen („Nichtzu-
                                                                                rückweisungsgebot“).18 Dies gilt sowohl für Schiffe der
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Menschen sich wis-                          EU und ihrer Mitgliedstaaten als auch für private Schif-
sentlich oder unwissentlich in Gefahr begeben, denn im                          fe, die unter einem Flaggenstaat fahren, der an diese
Völkerrecht ist ein Diskriminierungsverbot festgeschrie-                        Konventionen gebunden ist. Auch die Richtlinien der
ben.12 Allen Menschen in Seenot muss Hilfe geleistet                            Internationalen Seeschifffahrts-Organisation der Ver-
werden, unabhängig von ihrer Nationalität, ihres Status                         einten Nationen (IMO) bestimmen, dass Überlebende,
oder der Umstände, in denen sie vorgefunden werden.13                           die internationalen Schutz brauchen, nicht in ein Land
Wenn ein Seenotfall vorliegt, ist es ohne Belang, wer sich                      gebracht werden sollten, in denen ihr Leben und ihre
in Seenot befindet und warum. Es zählt einzig und allein,                       Freiheit bedroht sind.19

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                                        15                                               Völkerrecht über Bord
Seerecht

                                  Italien
                                                     Italienische SAR-Zone

                                                  Malta
                                                    Maltesische SAR-Zone

                                                    Libysche SAR-Zone

 Tunesien

                                                             Libyen

Such- und Rettungszonen im zentralen Mittelmeer

Seenotfälle – Staaten haben die Pflicht zu                              einen sicheren Ort für die Ausschiffung der Überlebenden
koordinieren                                                            zuzuweisen.26

Um die Sicherheit auf See zu gewährleisten, sind alle Küs-              Mit der Zuständigkeit von Küstenstaaten in den SAR-
tenstaaten rechtlich dazu verpflichtet, selbst einen „an-               Zonen geht nicht einher, dass der verantwortliche Küs-
gemessenen und wirksamen Such- und Rettungsdienst“                      tenstaat exklusive Zugangsrechte zu diesem Gebiet oder
einzurichten und zu betreiben oder sich regional zusam-                 den alleinigen Rettungsauftrag innehat. Die Hoheitsge-
menzuschließen, um einen solchen zu ermöglichen.20                      walt eines Staates muss immer, auch im eigenen Küsten-
                                                                        gewässer, in Übereinstimmung mit seevölkerrechtlichen
 Im Rahmen der IMO wurden alle territorialen und in-                    Verpflichtungen ausgeübt werden.27
 ternationalen Gewässer in Such- und Rettungszonen
 (SAR-Zonen) aufgeteilt und die Zuständigkeit für                       Wird eine Rettungsleitstelle über einen Seenotfall mit un-
 diese Zonen festgelegt. Der jeweils zuständige Küs-                    bekannter Position informiert und ist ihr nicht bekannt,
 tenstaat ist sowohl für die Koordination von Seenot-                   ob andere Stellen entsprechende Maßnahmen treffen, so
 fällen als auch für die Zuweisung eines sicheren Ortes                 muss sie die Verantwortung solange übernehmen, bis eine
 für die Überlebenden verantwortlich. Dazu muss der                     zuständige Leitstelle bestimmt wird, welche der Koordi-
 Küstenstaat eine Rettungsleitstelle (Rescue Coordina-                  nierungsverpflichtung nachkommt.28 Die zuerst erreichte
 tion Centre, RCC)21 einrichten, die in der Lage ist, auf               Rettungsleitstelle trägt die Verantwortung für die Koordi-
 Notfälle zu reagieren und die Rettungsmaßnahmen zu                     nierung des Seenotfalls, bis die zuständige Rettungsleit-
­koordinieren.22                                                        stelle oder eine andere Behörde die Verantwortung über-
                                                                        nimmt.29
Diese Rettungsleitstelle muss mit geeigneten Mitteln
zur Kommunikation, insbesondere zum Empfang von                         Grundsätzlich sind Staaten dazu verpflichtet, mit Nach-
Notrufen, ausgestattet sein.23 Des Weiteren sollte sie                  barstaaten zusammenzuarbeiten und erforderlichenfalls
rund um die Uhr erreichbar und mit Englisch sprechen-                   Such- und Rettungsmaßnahmen mit ihnen zu koordinie-
dem Personal besetzt sein.24 Sobald die Leitstelle von                  ren.30 Die Rettungsleitstellen verschiedener Länder müs-
einem Seenotfall erfährt, ist sie dazu verpflichtet, das                sen sich gegenseitig bei Bedarf Hilfe leisten (zum Beispiel
nächste Schiff in unmittelbarer Nähe mit der Rettung zu                 in Form von Schiffen, Flugzeugen, Personal, Ausrüstung)
beauftragen, bei Bedarf eine medizinische Evakuierung                   und die Einfahrt in das eigene Küstenmeer oder Hoheits-
zu ermöglichen25 und im Anschluss an die Rettung zügig                  gewässer erlauben.31

Völkerrecht über Bord                                             16                    SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Seerecht

Weil die Pflicht zur Seenotrettung das Territorialprinzip         der Rettungsleitstelle wahrgenommen werden. Dabei
überlagert, dürfen alle Schiffe zur Seenotrettung auch            muss er der zuständigen Rettungsleitstelle regelmäßig
in fremde Territorialgewässer einfahren.32 In diesem Fall         Bericht erstatten: unter anderem über einen Erfolg bei
sind die Schiffe dazu verpflichtet, der nationalen Küsten-        der Suche nach einem gemeldeten Boot in Seenot, die
wache mitzuteilen, welche Umstände und Notwendigkeit              Anzahl der Überlebenden, gegebenenfalls notwendige
zur Einfahrt in das Küstenmeer führen und die Behörden            weitere Bedarfe (zum Beispiel medizinische Evakuie-
des Küstenstaates sind dazu angehalten, die Einfahrt zu           rung) sowie über die Einleitung und den Abschluss einer
genehmigen.33 Wenn diese Genehmigung ausbleibt oder               Rettung.40 Im Falle einer Rettung ist die Rettungsleit-
die Rettung der Schiffbrüchigen durch die nationale Küs-          stelle außerdem dafür verantwortlich, einen sicheren
tenwache zu spät erfolgen würde, besteht Gefahr im Ver-           Ort für die Überlebenden zuzuweisen.
zug. In diesem Fall kann eine Seenotrettungsoperation im
Küstengewässer auch ohne Zustimmung des Küstenan-
rainerstaates von ausländischen Schiffen durchgeführt             Völkerrecht – Handlungsrahmen für die
werden.34                                                         zivile Seenotrettung

                                                                  In der Praxis bedeutet dies, dass SOS MEDITERRANEE
Rechtliche Vorgaben für                                           bei Seenotfällen in der libyschen SAR-Zone immer zu-
Rettungsleitstellen – auch für Libyen                             erst die zuständige Behörde, das libysche JRCC, über
                                                                  den Seenotfall informiert und während des gesamten
Der Einsatz von SOS MEDITERRANEE erfolgt in Ein-                  Einsatzverlaufs regelmäßig Aktualisierungen durch-
klang mit den Vorgaben des internationalen Seerechts.             gibt. Nach Abschluss einer Rettung wird von der Ocean
Dieses beinhaltet die Koordination mit der jeweils zu-            Viking ein Einsatzbericht an das libysche JRCC ver-
ständigen Seenotrettungsleitstelle. Das Rettungsschiff            sendet und um Zuweisung eines sicheren Ortes für die
Ocean ­Viking ist durch die Kooperationspflichten des             Überlebenden gebeten.41 Falls es an Bord einen me-
Seevölkerrechts grundsätzlich an die Anweisungen der              dizinischen Notfall gibt, der nicht vom medizinischen
jeweiligen zuständigen Rettungsleitstelle gebunden. 35            Team behandelt werden kann, wird außerdem mit den
                                                                  europäischen Behörden in Kontakt getreten, um eine
Bis Mai 2018 war Italien de facto für die Koordination            medizinische Evakuierung an einen sicheren Ort zu be-
aller Rettungseinsätze in internationalen Gewässern im            antragen.
zentralen Mittelmeer verantwortlich. Die italienische
Seenotrettungsleitstelle MRCC Rom informierte über                Wenn die libysche Rettungsleitstelle trotz ihrer Zustän-
Boote in Seenot und beauftragte Schiffe, darunter häu-            digkeit nicht erreichbar ist, wenden sich die Teams der
fig zivile Rettungsschiffe, mit der Rettung.                      Ocean Viking, wie rechtlich vorgesehen, an eine ande-
                                                                  re umliegende Rettungsleitstelle, die in der Lage ist,
Seit der Übertragung der SAR-Zone von Italien an Liby-            zu unterstützen.42 Gemäß den völkerrechtlichen Ver-
en, welche von der EU gefördert und von der IMO im Juni           pflichtungen kommen die Teams der Ocean Viking bei
2018 offiziell anerkannt wurde, sollen die Rettungsein-           mangelnder Koordinierung von staatlicher Seite ihrer
sätze von SOS MEDITERRANEE in diesem Gebiet unter                 Aufgabe als Einsatzleiter vor Ort nach und führen die
Koordination der libyschen Behörden stehen. Libyen hat            Such- und Rettungsmaßnahmen eigenständig durch.
sowohl das SOLAS- sowie das SAR-Übereinkommen ra-
tifiziert und ist damit rechtlich an diese gebunden. Auch         Während sich Seenotrettungsorganisationen wie SOS
wenn Libyen das SRÜ nicht ratifiziert hat, gilt das Völ-          MEDITERRANEE strikt an geltendes Seerecht halten,
kergewohnheitsrecht für Libyen.                                   beobachten sie auf See immer wieder die Missachtung
                                                                  bestehender seerechtlicher Verpflichtungen seitens der
Als Vertragsstaat des SAR-Übereinkommens ist Liby-                libyschen Küstenwache und anderer Akteure, wie im fol-
en dazu verpflichtet, seine Einsatz- und Rettungspläne            genden Kapitel aufgezeigt wird.
auf dem neuesten Stand zu halten36 sowie bestimmte
standardisierte Verfahren bei Such- und Rettungsope-
rationen einzuhalten.37 Dazu gehört unter anderem die
Weitergabe von Informationen an beteiligte oder mögli-
cherweise unterstützende Schiffe.38 Als koordinierende
Behörde ist die libysche Rettungsleitstelle zudem dazu
verpflichtet, ein Schiff oder eine Person als On-scene
Coordinator (OSC) zu bestimmen. Bis zur Ernennung
obliegt dem zuerst im Suchgebiet eintreffenden Schiff
automatisch die Einsatzkoordination vor Ort.39 Der On-
scene Coordinator ist für die Such- und Rettungsmaß-
nahmen verantwortlich, sofern diese Aufgaben nicht von

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                          17                                    Völkerrecht über Bord
Hintergrund

Sichtung eines gefährlich überbesetzten Schlauchbootes von Bord der Aquarius durch ein Fernglas.

         Umschiffung des Völkerrechts – Der Aufbau der
             libyschen Küstenwache durch die EU

Auf der Flucht über den Seeweg zwischen Libyen und                               Das Sterben im Mittelmeer – ein politisches
Europa sind seit 2014 nach Schätzungen der UN-Orga-                              Versagen
nisation für Migration (IOM) 8.264 Menschen ums Leben
gekommen.1 Seitdem sich SOS MEDITERRANEE 2015                                    Bereits seit den 1980er Jahren wurden Migrationsbewe-
gründete und im zentralen Mittelmeer seine zivile Ret-                           gungen nach Europa durch den Ausbau von Grenzkont-
tungsmission aufnahm, hat sich diese humanitäre Ka-                              rollen, Visaregimen und Rückübernahmeabkommen mit
tastrophe weiter verschärft. Zivile Seenotrettung wird                           Herkunftsstaaten zunehmend eingeschränkt. Die sys-
kriminalisiert und blockiert, während die EU-Staaten sich                        tematische Schließung legaler Migrationswege seit den
scheuen, selbst Verantwortung für die Seenotrettung vor                          1990iger Jahren machte die „Flucht nach vorn“, also die
der libyschen Küste zu übernehmen. Seit 2016 finanzie-                           riskante Überfahrt über das Mittelmeer, nach und nach
ren, trainieren und unterstützen sie die libysche Küsten-                        zur einzigen Möglichkeit aus Libyen zu entkommen.2 Li-
wache mit dem Ziel, Menschen von der Flucht nach Euro-                           byen wurde auch wegen seiner geographischen Lage ein
pa abzuhalten. Der Grundstein für den systematischen                             wichtiges Ziel- oder meist Transitland für Menschen aus
Aufbau der libyschen Küstenwache mit europäischen                                dem globalen Süden, denen – auch um den gravieren-
Steuergeldern wurde im Februar 2017 mit der Malta-Er-                            den Menschenrechtsverletzungen und dem Bürgerkrieg
klärung gelegt – mit dramatischen Folgen für den Schutz                          in Libyen zu entfliehen – nur noch die Flucht über das
der Menschenrechte und die Prinzipien des Seerechts.                             zentrale Mittelmeer bleibt.

Völkerrecht über Bord                                                      18                     SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Hintergrund

Als eine Folge der europäischen Abschottungspolitik                mit Schiffen ausgestattet ist, spielt die Seenotrettung
musste die italienische Seenotleitstelle, das IT MRCC              kaum eine Rolle: Der Einsatz wurde auf das Gebiet öst-
in Rom, seit den 2000er Jahren vermehrt Rettungen                  lich von Libyen begrenzt, wo der Waffenschmuggel ver-
von in Seenot geratenen Booten koordinieren. Nach                  ortet wird – fernab von den üblichen Fluchtrouten.12
zwei verheerenden Bootsunglücken vor Lampedusa                     Die Operation muss alle vier Monate (einstimmig) vom
Anfang Oktober 2013, bei denen 634 Menschen ums                    Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK)
Leben kamen3, startete Italien am 18. Oktober 2013 die             der Europäischen Union bestätigt werden. Darüber hin-
Seenotrettungs-Operation Mare Nostrum. Weil sich                   aus kann ein einzelner Mitgliedstaat veranlassen, dass
die europäischen Staaten weigerten, die von Italien                die Operation ein bestimmtes Seegebiet sofort und für
finanzierten, koordinierten und durchgeführten Ret-                die Dauer von acht Tagen verlässt.13 Auf diese Weise
tungseinsätze zu unterstützen, beendete Italien diese              können einzelne Mitgliedstaaten verhindern, dass die
Operation Ende Oktober 2014. In nur einem Jahr hatte               Operation Menschen aus Seenot rettet.14
Mare Nostrum rund 150.000 Menschen das Leben ge-
rettet.4 Die Seenotrettungsmission wurde im Novem-
ber 2014 durch die Operation Triton der Europäischen               Europa schließt seine Häfen für gerettete
Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) abge-                 Menschen
löst. Die italienische Seenotleitstelle führte ihre Praxis,
Notrufe über die eigene Such- und Rettungszone hi-                 Die EU-Politik im Mittelmeer geht vor allem zulasten
naus im gesamten zentralen Mittelmeer zu koordinie-                schutzsuchender Menschen und international an-
ren, unterdesssen fort.5 Im Gegensatz zum Mandat der               erkannter Rechtsstandards. Obwohl die absoluten To-
Rettung von Menschenleben bei Mare Nostrum, ziel-                  deszahlen seit 2016 zurückgegangen sind, ist das Risi-
ten Triton und seine Nachfolgeoperation Themis (seit               ko, auf der Flucht von Libyen nach Europa zu sterben,
2018) jedoch primär auf die Sicherung der italienischen            konstant gestiegen: Während 2017 eine von 50 Perso-
und europäischen Außengrenze.6                                     nen bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu über-
                                                                   queren ihr Leben verlor, war es 2018 eine von 35 Per-
Die Beendigung von Mare Nostrum hinterließ im Mit-                 sonen. 2019 lag die Todesrate dann bei fast 5% – eine
telmeer eine erhebliche Lücke in der Rettungskapazi-               von 21 Personen starb bei der Flucht über das Mittel-
tät, die von der EU immer weniger ausgefüllt wurde.                meer.15 Der unmenschliche Umgang der europäischen
Im April 2015 forderten weitere Bootsunglücke ins-                 Staaten mit Schutzsuchenden zeigt sich auch in der
gesamt fast 1.250 Tote.7 Um gegen die entstandene                  Politik geschlossener Häfen, die einen traurigen Hö-
Rettungslücke anzugehen, gründeten sich in demsel-                 hepunkt in der staatlichen Blockade ziviler Seenotret-
ben Jahr aus der europäischen Zivilgesellschaft her-               tung darstellt. Im Juni 2018 schloss Italien seine Häfen
aus mehrere Seenotrettungsorganisationen, darunter                 für zivile Rettungsschiffe. Auch Malta verweigerte die
auch SOS MEDITERRANEE. Unterdessen verlagerten                     Einfahrt, sodass Seenotrettungsorganisationen dazu
die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre                  gezwungen waren, mit Überlebenden an Bord auf See
Aufmerksamkeit weiter darauf, die Abfahrten aus Li-                auszuharren und weite Wege in entfernte europäische
byen zu verhindern und die Zahl der Menschen, die                  Häfen zu fahren. Diese Situation spitzte sich im Juni
Europa erreichen, zu verringern. Die EU-Militäropera-              2019 weiter zu. Die italienische Regierung verabschie-
tion EUNAVFOR MED Sophia (2015–2020) zielte mit                    dete ein Dekret, das hohe Strafen für die unbefugte
dem Hauptmandat der Eindämmung von Menschen-                       Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer vorsieht.16
schmuggel ebenfalls vorrangig auf die Verhinderung                 Sechs UN-Sonderberichterstatter*innen bewerteten
von Migration. Dennoch wurden durch die Mission                    den Erlass als einen Verstoß der völkerrechtlichen Ver-
43.000–50.000 Menschen vor dem Ertrinken geret-                    pflichtungen Italiens, das Recht auf Leben zu schüt-
tet.8 Im Juni 2016 verlängerte der Europäische Rat die             zen.17
Mission und erweiterte ihr Mandat auf die Ausbildung
und das Training der libyschen Küstenwache.9 Weil die              Die geschlossenen Häfen stellen nur einen Baustein
EU sich nicht einigen konnte, wie die aus Seenot Ge-               dar in einer Reihe gezielter administrativer, politischer
retteten auf die Mitgliedstaaten verteilt werden sollten           und juristischer Angriffe auf die Arbeit der zivilen See-
und Italien mit einer Blockade der Operation drohte,               notrettungsorganisationen. Die Festsetzung ziviler
wurde die Seenotrettung 2018 durch veränderte Ein-                 Rettungsschiffe, Flaggenentzug und die strafrecht-
satzgebiete10 und im März 2019 dann durch den Abzug                liche Verfolgung einzelner Crewmitglieder zielen da-
der Schiffe de facto ausgesetzt. Seitdem waren unter               rauf ab, die Rettungseinsätze auf See zu blockieren.
der Mission nur noch Flugzeuge in Betrieb. Die im Ap-              Zentraler Streitpunkt ist die Aufnahme und Vertei-
ril 2020 gestartete Nachfolgemission Irini zielt darauf,           lung von aus Seenot geretteten Menschen zwischen
das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Li-                 den EU-Mitgliedstaaten. Die Küstenstaaten Italien
byen durchzusetzen, Menschenschmuggel und illegale                 und Malta lehnen die alleinige Verantwortung ab. Seit
Öl-Exporte zu unterbinden und die libysche Küstenwa-               Jahrzehnten werden sie mit der Aufnahme und Unter-
che auszubilden.11 Auch wenn die Operation Irini wieder            bringung schutzsuchender Menschen von den ande-

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                           19                                    Völkerrecht über Bord
Hintergrund

Nach der Schließung der Häfen für zivile Rettungsschiffe harren 629 Gerettete an Bord der Aquarius aus, bis diese nach 36 Stunden in Warteposition angewiesen
wird, Kurs auf Valencia zu nehmen. Nach acht Tagen konnten dort alle Menschen endlich an Land gehen.

ren EU-Staaten allein gelassen. Nachdem zwischen                                 Praxis, dass im Mittelmeer nach wie vor eine langfris-
Juni 2018 und September 2019 mehrere Schiffe mit                                 tige und verlässliche Lösung für aus Seenot gerettete
aus Seenot geretteten Personen an Bord tage- und                                 Menschen dringend notwendig ist.
teilweise wochenlang auf See ausharren mussten, bis
sie schließlich an Land gehen durften18, einigten sich
die Innenminister*innen von Deutschland, Frankreich,                             Ohne Kontrolle – die Finanzierung der
Malta und Italien am 23. September 2019 bei einem                                libyschen Küstenwache mit europäischen
EU-Sondertreffen auf Malta schließlich auf die Ein-                              Steuergeldern
richtung eines auf sechs Monate befristeten Verteil-
mechanismus für aus Seenot gerettete Menschen.19                                 Seit 2016 vermeiden die EU und ihre Mitgliedstaaten zu-
Daneben haben sich in Einzelfällen immer wieder auch                             nehmend Verantwortung für die Such- und Rettungsko-
weitere EU-Staaten für die Übernahme von aus Seenot                              ordination im zentralen Mittelmeer zu übernehmen und
geretteten Personen zuständig erklärt.20 Die EU-Kom-                             geben diese stattdessen gezielt an Dritte, die libysche
mission bestätigte Ende April 2020, dass die Malta-                              Küstenwache, ab. Im September 2016 hat die EU die Aus-
Vereinbarung auch nach Ablauf der Frist vorerst weiter                           bildung libyscher Einheiten im Rahmen von EUNAVFOR
gelte.21 Auch wenn sich die Zeit bis zur Ausschiffung                            MED Sophia begonnen. Am 3. Februar 2017 verabschie-
geretteter Menschen an einen sicheren Ort durch die                              dete der Europäische Rat die Malta-Erklärung23 und for-
Malta-Vereinbarung verkürzt hat, wird nach wie vor                               malisierte die migrationspolitische Zusammenarbeit der
von Fall zu Fall über die Aufnahme verhandelt. Auch                              EU mit Libyen und baute die Finanzierung, Ausbildung
wird die vereinbarte Dauer der Übernahmeverfahren                                und Ausrüstung der libyschen Küstenwache weiter aus.
von vier Wochen in der Praxis nicht erfüllt – bis Mai                            Die Europäische Kommission bezeichnete die libysche
2020 ist keiner der 391 aus Seenot Geretteten, für                               Küstenwache in der Malta-Erklärung als zentralen Akteur,
welche die deutsche Bundesregierung seit Mitte Ok-                               um die humanitäre Krise im Mittelmeer zu bewältigen und
tober 2019 die Übernahme der Asylverfahren zuge-                                 begründete damit die Priorität, diese zu unterstützen.24
sagt hat, in Deutschland eingetroffen.22 Auch wenn die                           Das Unterstützungsprogramm für die libysche Küstenwa-
Malta-Vereinbarung ein Fortschritt ist, zeigt sich in der                        che umfasst in erster Linie die Einrichtung einer libyschen

Völkerrecht über Bord                                                      20                         SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Hintergrund

Inmitten von Verhandlungen darüber, wann und wo 105 Gerettete an Land gehen können, näherte sich am 8. Mai 2018 ein Boot der libyschen Küstenwache der
Aquarius.

Rettungsleitstelle, sowie einer libyschen SAR-Zone, die                         rent. Im Rahmen des EU-Nothilfe-Treuhandfonds für
Ausstattung und Instandhaltung von Schiffen, sowie die                          Afrika (EUTF) zur Unterstützung der Stabilität und zur
Förderung des Trainings der Küstenwache.25 Die Zusam-                           Fluchtursachenbekämpfung hat die Europäische Kom-
menarbeit mit der libyschen Küstenwache erfolgt nicht                           mission im Juli 2017 das Programm „Unterstützung
nur durch die EU, sondern wird auch von einzelnen EU-                           eines integrierten Grenz- und Migrationsmanagements
Mitgliedstaaten gezielt vorangetrieben. Im Februar 2017                         in Libyen“ bewilligt. Von dem insgesamt 4,5 Milliarden
unterzeichnete Italien ein bilaterales Abkommen zur                             umfassenden Budget wurden 282,2 Millionen Euro für
„Bekämpfung des illegalen Menschenhandels im Mittel-                            Projekte in Libyen verwendet, davon 166 Millionen Euro
meer“ mit der libyschen Einheitsregierung von Minister-                         nach dem Dezember 2017. 29 Dabei wurde mit rund 90
präsident Fayez Al Sarraj. Es wurde im Februar 2020 um                          Millionen Euro die libysche Küstenwache unterstützt.30
drei weitere Jahre verlängert.26                                                Fast ein Drittel des Geldes, das ursprünglich zur
                                                                                Fluchtursachenbekämpfung gedacht war, ist demnach
Die Unterstützung der libyschen Küstenwache erfolgt                             zu Zwecken der Migrationsabwehr eingesetzt worden.
seitdem auf diversen Wegen und lässt sich von außen                             Italien gewährt im Rahmen des bilateralen Abkommens
nur schwer nachvollziehen. Die Ausbildung der Ein-                              zusätzliche Finanzierung31 und stellt den libyschen
heiten fand vor allem im Rahmen der EUNAVFOR MED                                Einheiten Ausrüstung und Boote zur Verfügung. Die
Operation Sophia und aktuell ihrer Nachfolgeoperation                           italienische NGO ARCI (Italian Recreational and Cultu-
Irini statt. Zu den Lerninhalten sollen „seemännische                           ral Association) schätzt, dass Libyen seit 2017 42 Zo-
Grundlagen, Navigation, Such- und Rettungsdienst,                               diac-Schnellboote aus Italien erhielt.32 Auch Deutsch-
Menschenrechte und Internationales Recht“27 gehören.                            land beteiligt sich an der Unterstützung der libyschen
Bisher wurden mindestens 477 Personen ausgebildet,                              Küstenwache: Die Bundesrepublik ist im Rahmen der
davon 265 Mitglieder der libyschen Küstenwache und                              EU-Missionen Sophia und Irini finanziell und durch die
212 Marineoffiziere. 28                                                         Bereitstellung von Ausbildungspersonal in deren Aus-
                                                                                bildung einbezogen.33 Außerdem zahlte die Bundesre-
Auch die finanzielle Unterstützung der libyschen Küs-                           gierung allein 2019 116,7 Millionen Euro in das Nordafri-
tenwache durch die Europäische Union ist intranspa-                             ka-Fenster des EUTF ein, wodurch auch Maßnahmen in

SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.                                        21                                              Völkerrecht über Bord
Hintergrund

Teams von SOS MEDITERRANEE werden im Dezember 2018 Zeuge, wie in internationalen Gewässern ein in Seenot geratenes Schlauchboot von einem Schiff, das
als libysche Küstenwache gekennzeichnet war, nach Libyen zurückgezwungen wird.

Libyen gefördert werden.34 Unklar bleibt, wie hoch die                       Aufgrund der problematischen Sicherheitslage in Liby-
Geldsumme ist, die durch die verschiedenen Program-                          en gestaltet sich auch die Kontrolle darüber, wer von
me von Deutschland in die Finanzierung des Aufbaus                           der EU ausgebildet und finanziert wird, als schwierig.
der libyschen Küstenwache floss.                                             2017 stellte sich heraus, dass einige von der EU ausge-
                                                                             bildete Angehörige der libyschen Küstenwache im Ab-
Trotz der engen Kooperation gibt es keine systemati-                         schlussbericht des UN-Expertengremiums zu Libyen
sche und umfassende Überwachung und Evaluierung                              beschuldigt werden, für Ölschmuggel und Menschen-
der Ausbildung der libyschen Küstenwache durch die                           handel verantwortlich zu sein. 38 Inzwischen wurde
EU. Im Rahmen von EUNAVFOR MED Sophia wurde                                  vielfach belegt, dass Teile der libyschen Einheiten aus
erst 2017 ein „Monitoring and Advising“-Mechanismus                          kriminellen Milizionären bestehen und einzelne Mit-
eingeführt. Dieser konnte jedoch aus „Sicherheits-                           glieder in Menschenhandel und Menschenschmuggel
und administrativen Gründen“ 2018 nicht ausgeführt                           involviert sind.39
werden.35 Aufgrund der andauernden Kämpfe konnte
Personal von EUNAVFOR MED Sophia auch im Jahr
2019 nicht nach Libyen reisen.36 Die Ausbildung der                          Aufbau einer ibyschen SAR-Zone
libyschen Küstenwache erfolgte damit „remote“ in
Ländern der EU und die Umsetzung wurde telefonisch                           Ungeachtet dessen hat die EU nicht nur den Aufbau der
und per Video über GoPro Kameras sowie installierte                          libyschen Küstenwache weiter finanziert, sondern da-
Kameras auf den Einsatzbooten verfolgt. Diese Videos                         bei geholfen, sie zur offiziell zuständigen Behörde für
sollten dann an EUNAVFOR MED zur Evaluierung wei-                            die Koordination von Such- und Rettungseinsätzen im
tergeleitet werden. Es sei jedoch wenig wahrscheinlich,                      zentralen Mittelmeer zu machen. Im Juni 2018 erfolgte
dass belastendes Videomaterial weitergegeben wurde,                          in einem zweifelhaften Prozess die offizielle Anerken-
so ein Mitglied des deutschen Bundestages. Entspre-                          nung einer libyschen Such- und Rettungszone durch
chend gab die EU-Kommission an, dass die Qualität                            die Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UN
und die Anzahl der zur Verfügung gestellten Videos                           (IMO).40 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Italien alle See-
nicht ausreichend waren.37                                                   notfälle in internationalen Gewässern im zentralen Mit-
                                                                             telmeer koordiniert. Nun sind die libyschen Einheiten für

Völkerrecht über Bord                                                  22                        SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
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