Völkerrecht über Bord - Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Völkerrecht über Bord Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert
Rettung einer Frau aus einem überbesetzten Schlauchboot. Damit Frauen und Kinder nicht ins Wasser fallen, werden sie meist in der Mitte der Boote platziert. Dort sammelt sich oft ein Gemisch aus Salzwasser, Treibstoff und mensch- lichen Ausscheidungen. Die Folge sind starke Hautverbrennungen. Panikausbrüche können außerdem dazu führen, dass Menschen in der Flüssigkeitsansammlung ertrinken. „ Können Sie sich das vorstellen, eine so lange Zeit auf dem Wasser? Wir haben gebetet. Wir haben geweint, die ganze Zeit geweint. Und das mit den Kindern. Es war unerträglich. Es geht einem dabei alles Mögliche durch den Kopf. Man kann auf dem Meer sterben. Mir wäre es jedenfalls lieber gewesen, zu ertrinken, als von den Libyern* verhaftet zu werden.“ Maimouna**, Überlebende, Elfenbeinküste * Maimouna spricht von der libyschen Küstenwache ** Name wurde geändert
Inhalt 5 Zusammenfassung 6 Im Einsatz für die Menschen in Seenot und das Völkerrecht 8 Gegen das Ertrinkenlassen – 5 Jahre SOS MEDITERRANEE Die Meilensteine der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer 14 Die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung 16 Seenotfälle – Staaten haben die Pflicht zu koordinieren 17 Rechtliche Vorgaben für Rettungsleitstellen – auch für Libyen 17 Völkerrecht – Handlungsrahmen für die zivile Seenotrettung 18 Umschiffung des Völkerrechts – Der Aufbau der libyschen Küstenwache durch die EU 18 Das Sterben im Mittelmeer – ein politisches Versagen 19 Europa schließt seine Häfen für gerettete Menschen 20 Ohne Kontrolle – die Finanzierung der libyschen Küstenwache mit europäischen Steuergeldern 22 Aufbau einer libyschen SAR-Zone 23 Die fatalen Folgen der Kooperation mit Libyen 23 Rechtsbruch – gewaltsame Rückführung der Menschen nach Libyen 24 Beihilfe zum Völkerrechtsbruch auf See 27 Aus dem Einsatz: Das Versagen der EU und Libyens auf See 28 Fall 1: Leitstellen, die nicht leiten 33 Fall 2: Tripolis antwortet nicht 40 Fall 3: Eine Küstenwache, die nicht rettet 45 Fall 4: Gerettet, aber noch nicht in Sicherheit 50 Fall 5: Ohne Hoffnung – gewaltsam nach Libyen zurückgeschleppt 54 Ohne eine europäische Seenotrettung bleibt Völkerrechtsbruch Alltag im Mittelmeer 56 Forderungen an alle EU-Staaten und zuständigen Institutionen auf EU-Ebene 57 Forderungen an die deutsche Bundesregierung 58 Glossar 60 Appendix 65 Impressum / Bildnachweise
„ Zusammenfassung Können Sie sich das vorstellen, eine so lange Zeit auf dem Wasser? Wir haben gebetet. Wir haben geweint, die ganze Zeit geweint. Und das mit den Kindern. Es war unerträglich. Die EU-Staaten haben dabei Es geht einem seit 2017 allessystematisch Mögliche durch dieden libysche Kopf. ManKüsten- wache mit mindestens kann 90 Millionen auf dem Meer sterben.Euro finanziert. Mir wäre Sie wurde es jedenfalls gezielt lieber dazu befähigt, über gewesen, zudas Mittelmeer ertrinken, fliehende als von Menschen den Libyern* abzufangen verhaftet zu und völkerrechtswidrig werden.“ in das Bürgerkriegsland Libyen zurückzu- bringen. TrotzMaimouna**, ihrer Zuständigkeit nimmt die libysche 17 von der Elfenbeinküste, Küstenwache gerettet im Februar 2020 ihre Aufgaben als Leitstelle bei der Seenotrettung kaum wahr. Seit Mitte 2019 waren während 27 Einsätzen des zivilen Rettungs- schiffs Ocean Viking die zuständigen libyschen Behörden bei 231 Kontaktversuchen nicht erreichbar. Die Folgen: Rettungen wurden verzögert und Menschenleben gefährdet. SOS MEDITERRANEE do- kumentiert dieses Versagen minutiös aus eigener Erfahrung. Dieser Report beschreibt die wichtigsten Entwicklungen im Mittel- meer und erklärt die juristischen und politischen Hintergründe der Strategie der EU. Er zeigt auf, wie die EU sich vor einer Übernahme von Verantwortung drückt und lieber die libysche Küstenwache stärkt, obwohl sie damit inhuman handelt und ihre Werte verrät. Weil die europäischen Staaten ihre Verantwortung zur Seenotret- tung im zentralen Mittelmeer umgehen und mit der Beauftragung der libyschen Küstenwache indirekt Völkerrechtsbruch begehen, fordert SOS MEDITERRANEE von diesen: → Ein verlässliches System europäisch organisierter und finanzierter Seenotrettung im zentralen Mittelmeer → Die Einhaltung von internationalem See- und Völkerrecht → Die Beendigung der Finanzierung und des Aufbaus der libyschen Küstenwache, solange diese als zuständige Rettungsleitstelle nachweislich ihren Verpflichtungen gemäß internationalem Seerecht nicht nachkommt
Einleitung Mitglieder des Such- und Rettungsteams untersuchen die Überreste eines kaputten Schlauchbootes. Kleidungsstücke und Plastikflaschen lassen darauf schlie- ßen, dass sich noch wenige Stunden zuvor Menschen an Bord befunden haben müssen. Was mit ihnen geschehen ist, konnte nicht geklärt werden. Im Einsatz für Menschen in Seenot und das Völkerrecht Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Europa schen vor der libyschen Küste in Seenot. Mindestens haben sich die Bedingungen für die Seenotrettung im fünf Menschen sind ertrunken, sieben werden weiter zentralen Mittelmeer weiter verschärft und der Zugang vermisst.1 Die einzigen beiden Rettungsschiffe, die im zu humanitärer Hilfe wird noch mehr erschwert. Ab März April im Einsatz waren und der gesetzlichen Pflicht zur 2020 waren Grenzen geschlossen, Häfen wurden als un- Seenotrettung nachkamen und Menschen vor dem Er- sicher deklariert und konnten monatelang nicht ange- trinken retteten, wurden kurz darauf wegen angebli- laufen werden, öffentliche Infrastrukturen waren über- cher technischer Mängel in Italien festgesetzt. lastet oder wurden heruntergefahren. Das deutsche Bundesinnenministerium rief zivile Seenotrettungs- Und das, obwohl das zentrale Mittelmeer die tödlichste organisationen sogar dazu auf, den Rettungseinsatz Fluchtroute der Welt ist. Seit 2014 sind dort mindes- vorerst auszusetzen. Während die Seenotrettung so tens 8.264 Menschen gestorben.2 Weil die EU-Staaten fast vollständig zum Erliegen kam, flohen unterdes- bis heute keine eigene Seenotrettung etabliert haben, sen Männer, Frauen und Kinder weiter aus L ibyen über füllen von der europäischen Zivilgesellschaft getragene das Mittelmeer. Allein während des Osterwochenen- Organisationen wie SOS MEDITERRANEE seitdem diese des 2020 gerieten vier Boote mit mehr als 280 Men- Lücke. Sie haben in den letzten sechs Jahren Zehntau- Völkerrecht über Bord 6 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Einleitung sende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt und müssen und zeichnet nach, wie die EU durch den Aufbau der li- ihren humanitären Handlungsspielraum doch ständig byschen Küstenwache geltendes Völkerrecht umschifft neu aushandeln und verteidigen. Ihre lebensrettende (siehe Seite 18: „Umschiffung des Völkerrechts – Der Arbeit wird vielfältig blockiert, kriminalisiert und poli- Aufbau der libyschen Küstenwache durch die EU“). Auf tisch instrumentalisiert. Seit 2017 war fast jede Seenot- Basis eigener Einsatzdaten (siehe Seite 27: „Aus dem rettungsorganisation im zentralen Mittelmeer aufgrund Einsatz: Das Versagen der EU und Libyens auf See“) von Interventionen staatlicher Stellen gezwungen, ihre verdeutlicht der Bericht, dass das aktuelle Rettungs- Mission zumindest vorübergehend einzustellen. Die EU system im zentralen Mittelmeer unter Koordination der hat sich unterdessen immer weiter aus der Seenotret- von der EU finanzierten libyschen Behörden dysfunk- tung im zentralen Mittelmeer zurückgezogen – obwohl tional und völkerrechtswidrig ist. SOS MEDITERRANEE die Rettung von in Not geratenen Menschen auf dem hat hierzu die Einsätze der Ocean Viking im zentralen Meer nach internationalem See- und Völkerrecht Plicht Mittelmeer von August 2019 bis Februar 2020 präzise ist. Ein Gebot, das auf der Nord- oder Ostsee niemand aufgezeichnet und Informationen zusammengetragen, infrage stellen würde. die dies belegen. Das Fazit (siehe Seite 54: „Ohne eine europäische See- Fünf Jahre SOS MEDITERRANEE– Einsatz notrettung bleibt Völkerrechtsbruch Alltag im Mittel- für die Pflicht zur Seenotrettung meer“) des Berichts ist die Notwendigkeit einer von europäischen Staaten getragenen und organisierten Auch SOS MEDITERRANEE hat sich in diesem Kontext Seenotrettung, mit der die EU ihren rechtlichen und gegründet. Aus Empörung über das vermeidbare Ster- humanitären Pflichten nachkommt und das den euro- ben haben vor fünf Jahren der deutsche Kapitän und päischen Grundsätzen würdig ist. Aus Seenot gerettete Historiker Klaus Vogel und die französische Expertin für Menschen müssen an einen sicheren Ort gebracht wer- humanitäre Arbeit, Sophie Beau, die bis heute einzige den. Zusätzlich muss die Finanzierung der libyschen europäische zivile Seenotrettungsorganisation gegrün- Küstenwache durch EU-Steuergelder umgehend be- det. Seit 2016 hat SOS MEDITERRANEE 31.799 Men- endet werden, solange diese nicht im Einklang mit dem schen aus Seenot gerettet. Währenddessen wurde die See- bzw. Völkerrecht handelt. Ansonsten macht sich die Besatzung von SOS MEDITERRANEE vor Ort eine der EU an Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechts- wenigen direkten Zeugen, wie sich die EU immer weiter bruch mitschuldig und versenkt ihre selbst gepriesenen aus der Seenotrettung zurückzog und im Mittelmeer das Werte im Mittelmeer. Völkerrecht über Bord geht. Europa entzieht sich seiner Verantwortung: Finanzierung der libyschen Küstenwache Seit 2016 bauen die EU-Staaten die libysche Küstenwa- che3 mit europäischen Steuergeldern auf. Das Ziel: Men- schen von der Ankunft in Europa abzuhalten. Gezielt wird die libysche Küstenwache dazu befähigt, Schiffbrü- chige auf hoher See abzufangen und völkerrechtswidrig in das Bürgerkriegsland zurückzubringen. Das Retten von Menschenleben wird der Sicherung europäischer Grenzen untergeordnet und ihre Ausschiffung an einen sicheren Ort gemäß internationalem Seerecht wird ignoriert. In diesem Report legt SOS MEDITERRANEE eindrucks- voll und mit erstmalig so veröffentlichen Daten die skandalöse Situation im zentralen Mittelmeer dar. Die Recherchen zeigen das Ausmaß des gegenwärtigen rechtlichen und humanitären Desasters, das es umge- hend zu beenden gilt. Der Report fasst die zentralen politischen Entwicklungen im zentralen Mittemeer seit 2014 zusammen (siehe Seite 8: „Gegen das Ertrinken- lassen – 5 Jahre SOS MEDITERRANEE“), erläutert die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung (siehe Seite 14: „Die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung“) SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 7 Völkerrecht über Bord
Während einer der ersten Rettungseinsätze hebt Klaus Vogel – Gründer von SOS MEDITERRANEE und Einsatzleiter im Mai 2016 – ein Neugeborenes vom Rettungsboot an Bord der Aquarius.
Meilensteine Gegen das Ertrinkenlassen – 5 Jahre SOS MEDITERRANEE Die Meilensteine der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer Oktober 2013: Netzwerk SOS MEDITERRANEE ins Leben. Im Juni folgt Italien engagiert sich in der Seenotrettung die Gründung eines französischen, 2016 eines italieni- schen sowie 2017 eines schweizerischen Vereins. 652 Menschen ertrinken, als am 3.10. und 11.10. zwei Boote mit Flüchtenden vor Lampedusa sinken. Die Bilder der Hunderten von Särgen erschüttern Europa. Italien initiiert die Operation „Mare Nostrum“ („unser 26.10.2015 : Mittelmeer“). Zwei Wochen später laufen die ersten Kein europäisches Seenotrettungsprogramm Schiffe von Marine und Küstenwache aus. Die EU startet im zentralen Mittelmeer die Anti- schmuggler-Operation EUNAVFOR MED „Sophia“. Im Gegensatz zum italienischen Seenotrettungspro- 31.10.2014: Grenzschutz statt Seenotrettung gramm „Mare Nostrum“ ist das Einsatzgebiet deut- lich kleiner und primäres Ziel ist die Bekämpfung von „Mare Nostrum“ wird beendet, nachdem das Seenot- Schleppern. Ab Juni 2016 wird das Mandat um die Ein- rettungsprogramm in einem Jahr rund 150.000 Men- haltung des UN-Waffenembargos vor der libyschen schen aus Seenot gerettet hat. Die EU hatte sich ge- Küste und die Ausbildung der libyschen Küstenwache weigert, Italien hierbei zu unterstützen. Die Mission und Marine erweitert. wird ersetzt durch die EU-Operation „Triton“, ausge- führt durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Sie beschränkt sich hierbei im Wesentlichen auf die Siche- rung der EU-Außengrenzen zum Mittelmeer durch küs- Herbst 2015: Europäische Zivilgesellschaft tennahe Patrouillen. spendet für ein Schiff Zahlreiche Spenden aus der europäischen Zivilge- sellschaft ermöglichen es SOS MEDITERRANEE, ein 05.05.2015: Gründung von SOS MEDITERRANEE in ehemaliges Versorgungsschiff zu chartern und für Berlin den Einsatz im zentralen Mittelmeer herzurichten. Die Aquarius ist groß genug, um viele Geflüchtete aufzu- Nachdem immer mehr Menschen im Mittelmeer er- nehmen, ganzjährig einsetzbar und bietet Raum für trinken, gründet der Handelsschiffkapitän Klaus Vogel eine medizinische Grundversorgung. Zu Beginn über- zusammen mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft nimmt die Organisation Ärzte der Welt den medizini- SOS MEDITERRANEE Deutschland e.V. Am 09. Mai, dem schen Part an Bord, ab Mai 2016 Ärzte ohne Grenzen. Europatag, rufen er und die französische Expertin für humanitäre Hilfe Sophie Beau in Berlin das europäische SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 9 Völkerrecht über Bord
Meilensteine 03. 10.2013: In einem Hangar des Flughafens von Lampedusa liegen Leichen- Das Rettungsschiff Aquarius war von Februar 2016 bis Ende 2018 im Einsatz. säcke von Menschen, die beim Versuch, die italienische Küste zu erreichen, Hier zu sehen: eine Rettung im Januar 2018. am 03. Oktober 2013 ertrunken sind. Mehr als 100 Menschen ertranken und über 200 wurden vermisst, nachdem ein mit Schutzsuchenden aus afrikani- schen Ländern beladenes Boot am Donnerstag vor der süditalienischen Insel Lampedusa Feuer fing und sank. 07.03.2016: Erster Rettungseinsatz 23.05.2017: Seenotretter*innen unter Beschuss Die Aquarius war zuvor aus Sassnitz (Rügen) über An nur einem Tag retten SOS MEDITERRANEE und Bremerhaven, Marseille und Lampedusa zu ihrer ers- Ärzte ohne Grenzen mit der Aquarius vor der libyschen ten Mission im zentralen Mittelmeer ausgelaufen. Küste 1.004 Menschen von elf Booten in Seenot. Der Am Morgen des 7. März kann das Team der Aquarius zehnstündige Rettungseinsatz stellt einen der kompli- 74 Menschen aus einem defekten Schlauchboot vor ziertesten und schwierigsten Einsätze seit Beginn der der libyschen Küste retten. Insgesamt können die Mission dar. Während des Einsatzes kommt es zu einem Teams von SOS MEDITERRANEE im ersten Einsatzjahr dramatischen Zwischenfall mit der libyschen Küsten- 11.069 Menschen sicher an Bord nehmen. wache: Nach Warnschüssen springen 67 Geflüchtete ins Wasser und können nur dank des schnellen Eingrei- fens der Crew sicher an Bord gebracht werden. 17.08.2016: Retter*innen werden im zentralen Mittelmeer bedroht 23.06.2017: UNESCO Friedenspreis Das Rettungsschiff Bourbon Argos von Ärzte ohne Grenzen wird von einem libyschen Schnellboot nörd- SOS MEDITERRANEE erhält gemeinsam mit Lampe- lich der libyschen Küste beschossen. Die Sicherheitsla- dusas (Italien) Bürgermeisterin Giuseppina Nicolini ge im zentralen Mittelmeer spitzt sich zu und auch SOS den UNESCO-Friedenspreis. Der Preis wird denjenigen MEDITERRANEE ist gezwungen, neue Sicherheitsmaß- gewidmet, die auf der Suche nach Zuflucht in Euro- nahmen an Bord der Aquarius einzuführen. pa ihr Leben auf See verloren haben. Es ist die fünf- te Auszeichnung für SOS MEDITERRANEE, neben der Carl-von-Ossietzky-Medaille, dem europäischen Bür- gerpreis des europäischen Parlaments, dem Schwarz- 03.02.2017: Aufbau der libyschen Küstenwache kopf-Europa-Preis sowie dem deutsch-französischen durch die EU Medienpreis. Mit der Malta-Erklärung verfestigen die EU-Staaten den Aufbau der libyschen Küstenwache und lagern die Verantwortung zur Seenotrettung im zentralen Mit- Juli 2017: Verhaltenskodex für Seenotretter*innen telmeer an einen Drittstaat aus. Sie legen damit den Grundstein für einen klaren Verstoß gegen geltendes Die seit Ende 2016 breite Stimmungsmache gegen zivi- Völkerrecht, der mit über 90 Millionen Euro Steuer- le Seenotretter*innen nimmt weiter zu. Die italienische geldern von EU-Bürger*innen finanziert wird. Regierung zwingt SOS MEDITERRANEE und weitere Rettungs-NGOs nach mühsamen Verhandlungen einen Völkerrecht über Bord 10 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Meilensteine 23. Mai 2016: Gerettete drängen sich an Deck der Aquarius. 09.06.2018: Teammitglieder versuchen den Geretteten an Bord die Situation zu erklären – mit Karte, Megaphon und Übersetzer. sogenannten Verhaltenskodex auf. Er soll die Seenot- notfällen vor der libyschen Küste an Libyen. Eine liby- rettung im Mittelmeer, die eigentlich im internationa- sche Such- und Rettungszone wird festgelegt und eine len Seerecht festgeschrieben ist, zusätzlich regeln. Ein libysche Rettungsleitstelle eingerichtet - finanziert erster Entwurf des Kodex sieht die Präsenz bewaffne- von der EU. Von nun an stehen alle Rettungseinsätze ter Polizeikräfte an Bord und den erschwerten Trans- in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste fer von geretteten Menschen auf andere Schiffe vor. formal unter Koordination der libyschen Behörden. SAR-NGOs werfen der italienischen Regierung vor, die Rettungseinsätze nicht effektiver gestalten, sondern vielmehr behindern zu wollen. 08.08.2018: Die Aquarius: „Augen und Ohren“ der Zivilgesellschaft 09.–12.06.2018: Europa schließt seine Häfen Im neu eingeführten Online-Logbuch wird zeitnah be- richtet, was die Teams der Aquarius auf See tun, sehen Die Aquarius ist im Juni 2018 das erste zivile Ret- und hören. Ziel ist es, durch mehr Transparenz der Kri- tungsschiff, dem die Ausschiffung Geretteter an einen minalisierung ziviler Seenotrettung den Nährboden zu sicheren Ort verweigert wird: Nach der Rettung von entziehen und die Situation im zentralen Mittelmeer zu 629 Menschen darf die Aquarius für 36 Stunden nir- bezeugen. gendwo anlanden. Die sanitäre Situation wird unhalt- bar, Lebensmittel knapp und die psychische Belastung an Bord wächst. Am 12. Juni kommt schließlich die Nachricht, dass die Geretteten im entfernten Valen- 07.07.2018: Die europäische Zivilgesellschaft cia, Spanien, an Land gehen dürfen. Das bedeutet eine erhebt sich schwierige Überfahrt, der Hafen wird endlich nach ei- ner weiteren Woche auf See erreicht. Von nun an muss Im Sommer und Herbst geht eine Welle der Mobili- in jedem Rettungsfall neu verhandelt werden, wo aus sierung für die Seenotrettung durch Deutschland und Seenot gerettete Menschen an Land gehen dürfen. Europa; bei Demonstrationen in 30 deutschen Städten gehen 79.000 Menschen auf die Straße. Sie fordern eu- ropaweit sichere Fluchtwege, eine menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten und eine Entkriminalisie- 28.06.2018: EU lagert Verantwortung an Libyen rung der Seenotrettung. Das Bündnis Seebrücke grün- aus det sich in Berlin, Hamburg und zahlreichen weiteren deutschen Städten. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt überträgt die Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UN (IMO) die Verantwortung für die Koordination von See- SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 11 Völkerrecht über Bord
Meilensteine 07.07.2018, Berlin: Teilnehmer protestieren bei einer Demonstration für Ge- 31.12.2018: Im Hafen von Marseille wird die Aquarius rückgebaut, bevor sie an flüchtete der Bewegung „Seebrücke“. Bundesweit gehen tausende Menschen den Eigner übergeben wird. auf die Straße, um für sichere Fluchtwege und eine Entkriminalisierung der Seenotrettung zu demonstrieren. 04.10.2018: Flaggenentzug März 2019: Völliger Rückzug der EU aus der Seenotrettung Einzelne EU-Staaten greifen zu drastischen Maßnah- men, um die zivile Seenotrettung zu behindern: Auf Die EU zieht alle Schiffe der Operation „Sophia“ vom Druck der italienischen Regierung entzieht Panama Mittelmer ab. Einzig Aufklärungsflugzeuge sind noch der Aquarius die Registrierung, nachdem bereits Gi- vor Ort – retten können diese nicht. Schutzsuchende braltar im August die Aquarius aus ihrem Flaggenre- Menschen werden im Mittelmeer so sich selbst oder gister gelöscht hatte. Die Aquarius wird zum Hafenauf- der libyschen Küstenwache überlassen. enthalt gezwungen - ohne Flagge darf ein Schiff nicht auslaufen. 11.06.2019: Salvini-Dekret: Seenotrettung strafbar November 2018: Kriminalisierung und Rechtsstreit Die italienische Regierung verabschiedet einen um- strittenen Erlass, der die Rettung von schutzsuchen- Die Kriminalisierungsversuche gegen die zivile See- den Menschen auf dem Mittelmeer unter Strafe stellen notrettung gehen weiter: Die Staatsanwaltschaft von kann. Schiffe, die unerlaubt in italienische Hoheitsge- Catania, Sizilien, leitet Ermittlungen gegen den me- wässer fahren, drohen Bußgelder zwischen 10.000 und dizinischen Partner von SOS MEDITERRANEE, Ärzte 50.000 EUR. Die Vereinten Nationen und NGOs halten ohne Grenzen, ein. Der Vorwurf: Medizinische Bordab- das Dekret für einen Verstoß gegen die Menschen fälle seien nicht ordnungsgemäß entsorgt worden. Die rechte. italienischen Behörden ordnen bei Wiedereinfahrt in italienische Gewässer die präventive Beschlagnahme der Aquarius an. August 2019: #BackAtSea mit der Ocean Viking SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen kehren 31.12.2018: Ende der Aquarius nach sechs Monaten mit einem neuen Schiff, der Ocean Viking, in den Rettungseinsatz zurück. Das ehemalige Nach den gezielten Angriffen von Regierungen, Behör- Versorgungs- und Bergungsschiff ist für die Seenot- den und Gerichten, entschließen sich SOS MEDITER- rettung aufwendig umgebaut und mit einer Klinik aus- RANEE und Ärzte ohne Grenzen den Chartervertrag gestattet worden. für die Aquarius nach fast zwei Jahren Einsatz und 29.523 geretteten Menschen nicht zu verlängern. Zu groß ist die Gefahr, dass das Schiff festgesetzt wird. Völkerrecht über Bord 12 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Meilensteine August 2019: Die Ocean Viking nimmt für ihren ersten Einsatz Kurs auf das 23.02.2020: An Bord der Ocean Viking werden die Geretteten durch die zentrale Mittelmeer. italienischen Behörden auf COVID-19-Symptome untersucht, bevor sie an Land gehen können. 23.09.2019: Europäischer Verteilmechanismus 17.04.2020: Veränderte Einsatzbedingungen Einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gehen am Ärzte ohne Grenzen kündigt öffentlich an, die Partner- 23. September die EU-Länder Deutschland, Frankreich, schaft mit SOS MEDITERRANEE zum 31.07.2020 zu Italien und Malta: Bei einer Konferenz der Innenminis- beenden. Der Grund für die Trennung liegt vor allem ter*innen im maltesischen Valletta einigen sie sich auf in dem Unwillen der europäischen Regierungen, trotz einen neuen temporären Verteilungschlüssel für die der Corona-Pandemie Geflüchtete aufzunehmen. Die Aufnahme von aus Seenot Geretteten zur Entlastung beiden humanitären Hilfsorganisationen haben einen der Mittelmeeranrainer Italien und Malta. unterschiedlichen Umgang mit den geschlossenen eu- ropäischen Häfen. Die Rettungs-Crew von SOS MEDI- TERRANEE wird um medizinisches Personal erweitert. Die Ocean Viking nimmt ihren lebensrettenden Einsatz 23.02.2020: Als erstes NGO-Schiff in nach den ersten Grenzöffnungen wieder auf. COVID-19-Quarantäne Die Ocean Viking bringt 276 Gerettete zum siziliani- schen Hafen Pozzallo. Dort werden die Geflüchteten in 22 Juni 2020: Rückkehr ins zentrale Mittelmeer Quarantäne genommen. Die Crew muss für zwei Wo- chen an Bord ebenfalls in Quarantäne gehen. Kein Mit- Die Ocean Viking nimmt ihren lebensrettenden Einsatz glied der Crew zeigt Symptome. Die Ocean Viking kehrt nach den ersten Grenzöffnungen und Lockerungen der nicht in den Einsatz zurück, sondern in den Hafen von Corona-bedingten Restriktionen wieder auf. Unter Ein- Marseille. haltung neuentwickelter Hygienestandards rettet die Crew von SOS MEDITERRANEE schon nach wenigen Tagen auf See Menschen aus Seenot. 01.04.2020: Neue EU-Mission auf dem Mittelmeer Die neue EU-Mission „Irini“ löst „Sophia“ ab. Hauptauf- gabe ist die die Überwachung der Einhaltung des Waf- fenembargos gegen Libyen sowie der weitere Ausbau der libyschen Küstenwache. Seenotrettung ist explizit nicht Teil des Mandats: Die im Rahmen von „Irini“ ope- rierenden Schiffe sollen fernab der Fluchtrouten im zen- tralen Mittemeer patrouillieren. SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 13 Völkerrecht über Bord
Seerecht Das Rettungsteam von SOS MEDITERRANEE nähert sich einem kleinen Holzboot in Seenot. 84 Menschen werden sicher an Bord der Ocean Viking gebracht. Die rechtlichen Grundlagen der Seenotrettung Die Pflicht zur Seenotrettung Staaten müssen dafür sorgen, Aus Seenot Gerettete gilt überall auf See und für dass jeder Person in Seenot müssen an einen sicheren Ort alle Schiffe gleichermaßen. geholfen wird. gebracht werden. Nach internationalem Seerecht sind alle Schiffe über- Such- und Rettungsdienst auf See (SAR, 1979),4 und all auf See dazu verpflichtet, in Seenot geratenen Men- das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen schen Hilfe zu leisten. Seenotrettung ist als mensch- (SRÜ, 1982)5. liche Pflicht tief in der maritimen Tradition verankert und gilt als Völkergewohnheitsrecht in jedem Bereich Egal, ob privates Handelsschiff oder staatliches Militär- der See.1 Darüber hinaus regulieren drei völkerrecht- schiff: Ausnahmslos alle Schiffe und Seefahrer*innen liche Abkommen die Koordinierung und Durchführung sind an die Prinzipien der Seenotrettung gebunden.6 der Seenotrettung: das Internationale Übereinkommen Wer als Erstes am Einsatzort eintrifft, ist dazu verpflich- zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS, tet, in Seenot geratenen Menschen Hilfe zu leisten.7 Die 1974)2, das Internationale Übereinkommen über den einzige Einschränkung ist, dass sich die Schiffe und ihre Völkerrecht über Bord 14 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Seerecht Im Durchschnitt sind die verwendeten Boote für 10-30 Personen ausgelegt. Die zugelassene Personenanzahl wird jedoch meist um das Doppelte oder Dreifache überschritten: Auf einem 10-15 Meter langen Boot befinden sich im Schnitt 50-60 , auf einem nur etwas größeren Schlauchboot sogar 122 Personen. Durch die Überbelegung ist es unmöglich, dass alle Menschen Platz im Boot finden, stattdessen sitzen sie auf dem Rand und damit halb im Wasser. Besatzung bei den Rettungsmaßnahmen nicht selbst in dass es sich um Menschen in einer Notsituation handelt, Gefahr bringen sollten. die Hilfe brauchen. Es handelt sich um einen Seenotfall, wenn sich die Eine Seenotrettung beinhaltet, dass die Menschen in Menschen an Bord eines Schiffes in ernsthafter Gefahr Seenot geborgen werden, eine (medizinische) Erst- befinden und ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit versorgung erhalten und an einen sicheren Ort („place gelangen können.8 Solch eine Notsituation liegt zum of safety“) gebracht werden.14 Die Rettung ist somit Beispiel vor, wenn ein Boot manövrierunfähig ist, wenn erst abgeschlossen, wenn die Überlebenden einen si- die Anzahl der Menschen an Bord die Kapazitäten des cheren Ort erreicht haben. An diesem Ort darf das Le- Schiffes überschreitet oder wenn es an Rettungsausrüs- ben der Geretteten nicht länger in Gefahr sein und die tung wie Rettungswesten mangelt.9 Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse muss sichergestellt sein.15 Die Boote, in denen schutzsuchende Menschen von Liby- en aus flüchten, sind in der Regel nicht hochseetauglich, Darüber hinaus schreiben sowohl die Europäische Men- haben keine Rettungswesten für die Passagiere und sind schenrechtskonvention (EMRK, 1950)16 als auch die gefährlich überbesetzt. Deshalb sind sie ab dem Zeit- Genfer Flüchtlingskonvention (GFK, 1951)17 vor, dass punkt, an dem sie die Küste verlassen, als Seenotfall zu Menschen nicht in einen Staat mit prekärer Menschen- betrachten. rechtslage zurückgebracht werden dürfen („Nichtzu- rückweisungsgebot“).18 Dies gilt sowohl für Schiffe der Dabei spielt es keine Rolle, ob die Menschen sich wis- EU und ihrer Mitgliedstaaten als auch für private Schif- sentlich oder unwissentlich in Gefahr begeben, denn im fe, die unter einem Flaggenstaat fahren, der an diese Völkerrecht ist ein Diskriminierungsverbot festgeschrie- Konventionen gebunden ist. Auch die Richtlinien der ben.12 Allen Menschen in Seenot muss Hilfe geleistet Internationalen Seeschifffahrts-Organisation der Ver- werden, unabhängig von ihrer Nationalität, ihres Status einten Nationen (IMO) bestimmen, dass Überlebende, oder der Umstände, in denen sie vorgefunden werden.13 die internationalen Schutz brauchen, nicht in ein Land Wenn ein Seenotfall vorliegt, ist es ohne Belang, wer sich gebracht werden sollten, in denen ihr Leben und ihre in Seenot befindet und warum. Es zählt einzig und allein, Freiheit bedroht sind.19 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 15 Völkerrecht über Bord
Seerecht Italien Italienische SAR-Zone Malta Maltesische SAR-Zone Libysche SAR-Zone Tunesien Libyen Such- und Rettungszonen im zentralen Mittelmeer Seenotfälle – Staaten haben die Pflicht zu einen sicheren Ort für die Ausschiffung der Überlebenden koordinieren zuzuweisen.26 Um die Sicherheit auf See zu gewährleisten, sind alle Küs- Mit der Zuständigkeit von Küstenstaaten in den SAR- tenstaaten rechtlich dazu verpflichtet, selbst einen „an- Zonen geht nicht einher, dass der verantwortliche Küs- gemessenen und wirksamen Such- und Rettungsdienst“ tenstaat exklusive Zugangsrechte zu diesem Gebiet oder einzurichten und zu betreiben oder sich regional zusam- den alleinigen Rettungsauftrag innehat. Die Hoheitsge- menzuschließen, um einen solchen zu ermöglichen.20 walt eines Staates muss immer, auch im eigenen Küsten- gewässer, in Übereinstimmung mit seevölkerrechtlichen Im Rahmen der IMO wurden alle territorialen und in- Verpflichtungen ausgeübt werden.27 ternationalen Gewässer in Such- und Rettungszonen (SAR-Zonen) aufgeteilt und die Zuständigkeit für Wird eine Rettungsleitstelle über einen Seenotfall mit un- diese Zonen festgelegt. Der jeweils zuständige Küs- bekannter Position informiert und ist ihr nicht bekannt, tenstaat ist sowohl für die Koordination von Seenot- ob andere Stellen entsprechende Maßnahmen treffen, so fällen als auch für die Zuweisung eines sicheren Ortes muss sie die Verantwortung solange übernehmen, bis eine für die Überlebenden verantwortlich. Dazu muss der zuständige Leitstelle bestimmt wird, welche der Koordi- Küstenstaat eine Rettungsleitstelle (Rescue Coordina- nierungsverpflichtung nachkommt.28 Die zuerst erreichte tion Centre, RCC)21 einrichten, die in der Lage ist, auf Rettungsleitstelle trägt die Verantwortung für die Koordi- Notfälle zu reagieren und die Rettungsmaßnahmen zu nierung des Seenotfalls, bis die zuständige Rettungsleit- koordinieren.22 stelle oder eine andere Behörde die Verantwortung über- nimmt.29 Diese Rettungsleitstelle muss mit geeigneten Mitteln zur Kommunikation, insbesondere zum Empfang von Grundsätzlich sind Staaten dazu verpflichtet, mit Nach- Notrufen, ausgestattet sein.23 Des Weiteren sollte sie barstaaten zusammenzuarbeiten und erforderlichenfalls rund um die Uhr erreichbar und mit Englisch sprechen- Such- und Rettungsmaßnahmen mit ihnen zu koordinie- dem Personal besetzt sein.24 Sobald die Leitstelle von ren.30 Die Rettungsleitstellen verschiedener Länder müs- einem Seenotfall erfährt, ist sie dazu verpflichtet, das sen sich gegenseitig bei Bedarf Hilfe leisten (zum Beispiel nächste Schiff in unmittelbarer Nähe mit der Rettung zu in Form von Schiffen, Flugzeugen, Personal, Ausrüstung) beauftragen, bei Bedarf eine medizinische Evakuierung und die Einfahrt in das eigene Küstenmeer oder Hoheits- zu ermöglichen25 und im Anschluss an die Rettung zügig gewässer erlauben.31 Völkerrecht über Bord 16 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Seerecht Weil die Pflicht zur Seenotrettung das Territorialprinzip der Rettungsleitstelle wahrgenommen werden. Dabei überlagert, dürfen alle Schiffe zur Seenotrettung auch muss er der zuständigen Rettungsleitstelle regelmäßig in fremde Territorialgewässer einfahren.32 In diesem Fall Bericht erstatten: unter anderem über einen Erfolg bei sind die Schiffe dazu verpflichtet, der nationalen Küsten- der Suche nach einem gemeldeten Boot in Seenot, die wache mitzuteilen, welche Umstände und Notwendigkeit Anzahl der Überlebenden, gegebenenfalls notwendige zur Einfahrt in das Küstenmeer führen und die Behörden weitere Bedarfe (zum Beispiel medizinische Evakuie- des Küstenstaates sind dazu angehalten, die Einfahrt zu rung) sowie über die Einleitung und den Abschluss einer genehmigen.33 Wenn diese Genehmigung ausbleibt oder Rettung.40 Im Falle einer Rettung ist die Rettungsleit- die Rettung der Schiffbrüchigen durch die nationale Küs- stelle außerdem dafür verantwortlich, einen sicheren tenwache zu spät erfolgen würde, besteht Gefahr im Ver- Ort für die Überlebenden zuzuweisen. zug. In diesem Fall kann eine Seenotrettungsoperation im Küstengewässer auch ohne Zustimmung des Küstenan- rainerstaates von ausländischen Schiffen durchgeführt Völkerrecht – Handlungsrahmen für die werden.34 zivile Seenotrettung In der Praxis bedeutet dies, dass SOS MEDITERRANEE Rechtliche Vorgaben für bei Seenotfällen in der libyschen SAR-Zone immer zu- Rettungsleitstellen – auch für Libyen erst die zuständige Behörde, das libysche JRCC, über den Seenotfall informiert und während des gesamten Der Einsatz von SOS MEDITERRANEE erfolgt in Ein- Einsatzverlaufs regelmäßig Aktualisierungen durch- klang mit den Vorgaben des internationalen Seerechts. gibt. Nach Abschluss einer Rettung wird von der Ocean Dieses beinhaltet die Koordination mit der jeweils zu- Viking ein Einsatzbericht an das libysche JRCC ver- ständigen Seenotrettungsleitstelle. Das Rettungsschiff sendet und um Zuweisung eines sicheren Ortes für die Ocean Viking ist durch die Kooperationspflichten des Überlebenden gebeten.41 Falls es an Bord einen me- Seevölkerrechts grundsätzlich an die Anweisungen der dizinischen Notfall gibt, der nicht vom medizinischen jeweiligen zuständigen Rettungsleitstelle gebunden. 35 Team behandelt werden kann, wird außerdem mit den europäischen Behörden in Kontakt getreten, um eine Bis Mai 2018 war Italien de facto für die Koordination medizinische Evakuierung an einen sicheren Ort zu be- aller Rettungseinsätze in internationalen Gewässern im antragen. zentralen Mittelmeer verantwortlich. Die italienische Seenotrettungsleitstelle MRCC Rom informierte über Wenn die libysche Rettungsleitstelle trotz ihrer Zustän- Boote in Seenot und beauftragte Schiffe, darunter häu- digkeit nicht erreichbar ist, wenden sich die Teams der fig zivile Rettungsschiffe, mit der Rettung. Ocean Viking, wie rechtlich vorgesehen, an eine ande- re umliegende Rettungsleitstelle, die in der Lage ist, Seit der Übertragung der SAR-Zone von Italien an Liby- zu unterstützen.42 Gemäß den völkerrechtlichen Ver- en, welche von der EU gefördert und von der IMO im Juni pflichtungen kommen die Teams der Ocean Viking bei 2018 offiziell anerkannt wurde, sollen die Rettungsein- mangelnder Koordinierung von staatlicher Seite ihrer sätze von SOS MEDITERRANEE in diesem Gebiet unter Aufgabe als Einsatzleiter vor Ort nach und führen die Koordination der libyschen Behörden stehen. Libyen hat Such- und Rettungsmaßnahmen eigenständig durch. sowohl das SOLAS- sowie das SAR-Übereinkommen ra- tifiziert und ist damit rechtlich an diese gebunden. Auch Während sich Seenotrettungsorganisationen wie SOS wenn Libyen das SRÜ nicht ratifiziert hat, gilt das Völ- MEDITERRANEE strikt an geltendes Seerecht halten, kergewohnheitsrecht für Libyen. beobachten sie auf See immer wieder die Missachtung bestehender seerechtlicher Verpflichtungen seitens der Als Vertragsstaat des SAR-Übereinkommens ist Liby- libyschen Küstenwache und anderer Akteure, wie im fol- en dazu verpflichtet, seine Einsatz- und Rettungspläne genden Kapitel aufgezeigt wird. auf dem neuesten Stand zu halten36 sowie bestimmte standardisierte Verfahren bei Such- und Rettungsope- rationen einzuhalten.37 Dazu gehört unter anderem die Weitergabe von Informationen an beteiligte oder mögli- cherweise unterstützende Schiffe.38 Als koordinierende Behörde ist die libysche Rettungsleitstelle zudem dazu verpflichtet, ein Schiff oder eine Person als On-scene Coordinator (OSC) zu bestimmen. Bis zur Ernennung obliegt dem zuerst im Suchgebiet eintreffenden Schiff automatisch die Einsatzkoordination vor Ort.39 Der On- scene Coordinator ist für die Such- und Rettungsmaß- nahmen verantwortlich, sofern diese Aufgaben nicht von SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 17 Völkerrecht über Bord
Hintergrund Sichtung eines gefährlich überbesetzten Schlauchbootes von Bord der Aquarius durch ein Fernglas. Umschiffung des Völkerrechts – Der Aufbau der libyschen Küstenwache durch die EU Auf der Flucht über den Seeweg zwischen Libyen und Das Sterben im Mittelmeer – ein politisches Europa sind seit 2014 nach Schätzungen der UN-Orga- Versagen nisation für Migration (IOM) 8.264 Menschen ums Leben gekommen.1 Seitdem sich SOS MEDITERRANEE 2015 Bereits seit den 1980er Jahren wurden Migrationsbewe- gründete und im zentralen Mittelmeer seine zivile Ret- gungen nach Europa durch den Ausbau von Grenzkont- tungsmission aufnahm, hat sich diese humanitäre Ka- rollen, Visaregimen und Rückübernahmeabkommen mit tastrophe weiter verschärft. Zivile Seenotrettung wird Herkunftsstaaten zunehmend eingeschränkt. Die sys- kriminalisiert und blockiert, während die EU-Staaten sich tematische Schließung legaler Migrationswege seit den scheuen, selbst Verantwortung für die Seenotrettung vor 1990iger Jahren machte die „Flucht nach vorn“, also die der libyschen Küste zu übernehmen. Seit 2016 finanzie- riskante Überfahrt über das Mittelmeer, nach und nach ren, trainieren und unterstützen sie die libysche Küsten- zur einzigen Möglichkeit aus Libyen zu entkommen.2 Li- wache mit dem Ziel, Menschen von der Flucht nach Euro- byen wurde auch wegen seiner geographischen Lage ein pa abzuhalten. Der Grundstein für den systematischen wichtiges Ziel- oder meist Transitland für Menschen aus Aufbau der libyschen Küstenwache mit europäischen dem globalen Süden, denen – auch um den gravieren- Steuergeldern wurde im Februar 2017 mit der Malta-Er- den Menschenrechtsverletzungen und dem Bürgerkrieg klärung gelegt – mit dramatischen Folgen für den Schutz in Libyen zu entfliehen – nur noch die Flucht über das der Menschenrechte und die Prinzipien des Seerechts. zentrale Mittelmeer bleibt. Völkerrecht über Bord 18 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Hintergrund Als eine Folge der europäischen Abschottungspolitik mit Schiffen ausgestattet ist, spielt die Seenotrettung musste die italienische Seenotleitstelle, das IT MRCC kaum eine Rolle: Der Einsatz wurde auf das Gebiet öst- in Rom, seit den 2000er Jahren vermehrt Rettungen lich von Libyen begrenzt, wo der Waffenschmuggel ver- von in Seenot geratenen Booten koordinieren. Nach ortet wird – fernab von den üblichen Fluchtrouten.12 zwei verheerenden Bootsunglücken vor Lampedusa Die Operation muss alle vier Monate (einstimmig) vom Anfang Oktober 2013, bei denen 634 Menschen ums Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) Leben kamen3, startete Italien am 18. Oktober 2013 die der Europäischen Union bestätigt werden. Darüber hin- Seenotrettungs-Operation Mare Nostrum. Weil sich aus kann ein einzelner Mitgliedstaat veranlassen, dass die europäischen Staaten weigerten, die von Italien die Operation ein bestimmtes Seegebiet sofort und für finanzierten, koordinierten und durchgeführten Ret- die Dauer von acht Tagen verlässt.13 Auf diese Weise tungseinsätze zu unterstützen, beendete Italien diese können einzelne Mitgliedstaaten verhindern, dass die Operation Ende Oktober 2014. In nur einem Jahr hatte Operation Menschen aus Seenot rettet.14 Mare Nostrum rund 150.000 Menschen das Leben ge- rettet.4 Die Seenotrettungsmission wurde im Novem- ber 2014 durch die Operation Triton der Europäischen Europa schließt seine Häfen für gerettete Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) abge- Menschen löst. Die italienische Seenotleitstelle führte ihre Praxis, Notrufe über die eigene Such- und Rettungszone hi- Die EU-Politik im Mittelmeer geht vor allem zulasten naus im gesamten zentralen Mittelmeer zu koordinie- schutzsuchender Menschen und international an- ren, unterdesssen fort.5 Im Gegensatz zum Mandat der erkannter Rechtsstandards. Obwohl die absoluten To- Rettung von Menschenleben bei Mare Nostrum, ziel- deszahlen seit 2016 zurückgegangen sind, ist das Risi- ten Triton und seine Nachfolgeoperation Themis (seit ko, auf der Flucht von Libyen nach Europa zu sterben, 2018) jedoch primär auf die Sicherung der italienischen konstant gestiegen: Während 2017 eine von 50 Perso- und europäischen Außengrenze.6 nen bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu über- queren ihr Leben verlor, war es 2018 eine von 35 Per- Die Beendigung von Mare Nostrum hinterließ im Mit- sonen. 2019 lag die Todesrate dann bei fast 5% – eine telmeer eine erhebliche Lücke in der Rettungskapazi- von 21 Personen starb bei der Flucht über das Mittel- tät, die von der EU immer weniger ausgefüllt wurde. meer.15 Der unmenschliche Umgang der europäischen Im April 2015 forderten weitere Bootsunglücke ins- Staaten mit Schutzsuchenden zeigt sich auch in der gesamt fast 1.250 Tote.7 Um gegen die entstandene Politik geschlossener Häfen, die einen traurigen Hö- Rettungslücke anzugehen, gründeten sich in demsel- hepunkt in der staatlichen Blockade ziviler Seenotret- ben Jahr aus der europäischen Zivilgesellschaft her- tung darstellt. Im Juni 2018 schloss Italien seine Häfen aus mehrere Seenotrettungsorganisationen, darunter für zivile Rettungsschiffe. Auch Malta verweigerte die auch SOS MEDITERRANEE. Unterdessen verlagerten Einfahrt, sodass Seenotrettungsorganisationen dazu die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre gezwungen waren, mit Überlebenden an Bord auf See Aufmerksamkeit weiter darauf, die Abfahrten aus Li- auszuharren und weite Wege in entfernte europäische byen zu verhindern und die Zahl der Menschen, die Häfen zu fahren. Diese Situation spitzte sich im Juni Europa erreichen, zu verringern. Die EU-Militäropera- 2019 weiter zu. Die italienische Regierung verabschie- tion EUNAVFOR MED Sophia (2015–2020) zielte mit dete ein Dekret, das hohe Strafen für die unbefugte dem Hauptmandat der Eindämmung von Menschen- Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer vorsieht.16 schmuggel ebenfalls vorrangig auf die Verhinderung Sechs UN-Sonderberichterstatter*innen bewerteten von Migration. Dennoch wurden durch die Mission den Erlass als einen Verstoß der völkerrechtlichen Ver- 43.000–50.000 Menschen vor dem Ertrinken geret- pflichtungen Italiens, das Recht auf Leben zu schüt- tet.8 Im Juni 2016 verlängerte der Europäische Rat die zen.17 Mission und erweiterte ihr Mandat auf die Ausbildung und das Training der libyschen Küstenwache.9 Weil die Die geschlossenen Häfen stellen nur einen Baustein EU sich nicht einigen konnte, wie die aus Seenot Ge- dar in einer Reihe gezielter administrativer, politischer retteten auf die Mitgliedstaaten verteilt werden sollten und juristischer Angriffe auf die Arbeit der zivilen See- und Italien mit einer Blockade der Operation drohte, notrettungsorganisationen. Die Festsetzung ziviler wurde die Seenotrettung 2018 durch veränderte Ein- Rettungsschiffe, Flaggenentzug und die strafrecht- satzgebiete10 und im März 2019 dann durch den Abzug liche Verfolgung einzelner Crewmitglieder zielen da- der Schiffe de facto ausgesetzt. Seitdem waren unter rauf ab, die Rettungseinsätze auf See zu blockieren. der Mission nur noch Flugzeuge in Betrieb. Die im Ap- Zentraler Streitpunkt ist die Aufnahme und Vertei- ril 2020 gestartete Nachfolgemission Irini zielt darauf, lung von aus Seenot geretteten Menschen zwischen das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Li- den EU-Mitgliedstaaten. Die Küstenstaaten Italien byen durchzusetzen, Menschenschmuggel und illegale und Malta lehnen die alleinige Verantwortung ab. Seit Öl-Exporte zu unterbinden und die libysche Küstenwa- Jahrzehnten werden sie mit der Aufnahme und Unter- che auszubilden.11 Auch wenn die Operation Irini wieder bringung schutzsuchender Menschen von den ande- SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 19 Völkerrecht über Bord
Hintergrund Nach der Schließung der Häfen für zivile Rettungsschiffe harren 629 Gerettete an Bord der Aquarius aus, bis diese nach 36 Stunden in Warteposition angewiesen wird, Kurs auf Valencia zu nehmen. Nach acht Tagen konnten dort alle Menschen endlich an Land gehen. ren EU-Staaten allein gelassen. Nachdem zwischen Praxis, dass im Mittelmeer nach wie vor eine langfris- Juni 2018 und September 2019 mehrere Schiffe mit tige und verlässliche Lösung für aus Seenot gerettete aus Seenot geretteten Personen an Bord tage- und Menschen dringend notwendig ist. teilweise wochenlang auf See ausharren mussten, bis sie schließlich an Land gehen durften18, einigten sich die Innenminister*innen von Deutschland, Frankreich, Ohne Kontrolle – die Finanzierung der Malta und Italien am 23. September 2019 bei einem libyschen Küstenwache mit europäischen EU-Sondertreffen auf Malta schließlich auf die Ein- Steuergeldern richtung eines auf sechs Monate befristeten Verteil- mechanismus für aus Seenot gerettete Menschen.19 Seit 2016 vermeiden die EU und ihre Mitgliedstaaten zu- Daneben haben sich in Einzelfällen immer wieder auch nehmend Verantwortung für die Such- und Rettungsko- weitere EU-Staaten für die Übernahme von aus Seenot ordination im zentralen Mittelmeer zu übernehmen und geretteten Personen zuständig erklärt.20 Die EU-Kom- geben diese stattdessen gezielt an Dritte, die libysche mission bestätigte Ende April 2020, dass die Malta- Küstenwache, ab. Im September 2016 hat die EU die Aus- Vereinbarung auch nach Ablauf der Frist vorerst weiter bildung libyscher Einheiten im Rahmen von EUNAVFOR gelte.21 Auch wenn sich die Zeit bis zur Ausschiffung MED Sophia begonnen. Am 3. Februar 2017 verabschie- geretteter Menschen an einen sicheren Ort durch die dete der Europäische Rat die Malta-Erklärung23 und for- Malta-Vereinbarung verkürzt hat, wird nach wie vor malisierte die migrationspolitische Zusammenarbeit der von Fall zu Fall über die Aufnahme verhandelt. Auch EU mit Libyen und baute die Finanzierung, Ausbildung wird die vereinbarte Dauer der Übernahmeverfahren und Ausrüstung der libyschen Küstenwache weiter aus. von vier Wochen in der Praxis nicht erfüllt – bis Mai Die Europäische Kommission bezeichnete die libysche 2020 ist keiner der 391 aus Seenot Geretteten, für Küstenwache in der Malta-Erklärung als zentralen Akteur, welche die deutsche Bundesregierung seit Mitte Ok- um die humanitäre Krise im Mittelmeer zu bewältigen und tober 2019 die Übernahme der Asylverfahren zuge- begründete damit die Priorität, diese zu unterstützen.24 sagt hat, in Deutschland eingetroffen.22 Auch wenn die Das Unterstützungsprogramm für die libysche Küstenwa- Malta-Vereinbarung ein Fortschritt ist, zeigt sich in der che umfasst in erster Linie die Einrichtung einer libyschen Völkerrecht über Bord 20 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Hintergrund Inmitten von Verhandlungen darüber, wann und wo 105 Gerettete an Land gehen können, näherte sich am 8. Mai 2018 ein Boot der libyschen Küstenwache der Aquarius. Rettungsleitstelle, sowie einer libyschen SAR-Zone, die rent. Im Rahmen des EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Ausstattung und Instandhaltung von Schiffen, sowie die Afrika (EUTF) zur Unterstützung der Stabilität und zur Förderung des Trainings der Küstenwache.25 Die Zusam- Fluchtursachenbekämpfung hat die Europäische Kom- menarbeit mit der libyschen Küstenwache erfolgt nicht mission im Juli 2017 das Programm „Unterstützung nur durch die EU, sondern wird auch von einzelnen EU- eines integrierten Grenz- und Migrationsmanagements Mitgliedstaaten gezielt vorangetrieben. Im Februar 2017 in Libyen“ bewilligt. Von dem insgesamt 4,5 Milliarden unterzeichnete Italien ein bilaterales Abkommen zur umfassenden Budget wurden 282,2 Millionen Euro für „Bekämpfung des illegalen Menschenhandels im Mittel- Projekte in Libyen verwendet, davon 166 Millionen Euro meer“ mit der libyschen Einheitsregierung von Minister- nach dem Dezember 2017. 29 Dabei wurde mit rund 90 präsident Fayez Al Sarraj. Es wurde im Februar 2020 um Millionen Euro die libysche Küstenwache unterstützt.30 drei weitere Jahre verlängert.26 Fast ein Drittel des Geldes, das ursprünglich zur Fluchtursachenbekämpfung gedacht war, ist demnach Die Unterstützung der libyschen Küstenwache erfolgt zu Zwecken der Migrationsabwehr eingesetzt worden. seitdem auf diversen Wegen und lässt sich von außen Italien gewährt im Rahmen des bilateralen Abkommens nur schwer nachvollziehen. Die Ausbildung der Ein- zusätzliche Finanzierung31 und stellt den libyschen heiten fand vor allem im Rahmen der EUNAVFOR MED Einheiten Ausrüstung und Boote zur Verfügung. Die Operation Sophia und aktuell ihrer Nachfolgeoperation italienische NGO ARCI (Italian Recreational and Cultu- Irini statt. Zu den Lerninhalten sollen „seemännische ral Association) schätzt, dass Libyen seit 2017 42 Zo- Grundlagen, Navigation, Such- und Rettungsdienst, diac-Schnellboote aus Italien erhielt.32 Auch Deutsch- Menschenrechte und Internationales Recht“27 gehören. land beteiligt sich an der Unterstützung der libyschen Bisher wurden mindestens 477 Personen ausgebildet, Küstenwache: Die Bundesrepublik ist im Rahmen der davon 265 Mitglieder der libyschen Küstenwache und EU-Missionen Sophia und Irini finanziell und durch die 212 Marineoffiziere. 28 Bereitstellung von Ausbildungspersonal in deren Aus- bildung einbezogen.33 Außerdem zahlte die Bundesre- Auch die finanzielle Unterstützung der libyschen Küs- gierung allein 2019 116,7 Millionen Euro in das Nordafri- tenwache durch die Europäische Union ist intranspa- ka-Fenster des EUTF ein, wodurch auch Maßnahmen in SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. 21 Völkerrecht über Bord
Hintergrund Teams von SOS MEDITERRANEE werden im Dezember 2018 Zeuge, wie in internationalen Gewässern ein in Seenot geratenes Schlauchboot von einem Schiff, das als libysche Küstenwache gekennzeichnet war, nach Libyen zurückgezwungen wird. Libyen gefördert werden.34 Unklar bleibt, wie hoch die Aufgrund der problematischen Sicherheitslage in Liby- Geldsumme ist, die durch die verschiedenen Program- en gestaltet sich auch die Kontrolle darüber, wer von me von Deutschland in die Finanzierung des Aufbaus der EU ausgebildet und finanziert wird, als schwierig. der libyschen Küstenwache floss. 2017 stellte sich heraus, dass einige von der EU ausge- bildete Angehörige der libyschen Küstenwache im Ab- Trotz der engen Kooperation gibt es keine systemati- schlussbericht des UN-Expertengremiums zu Libyen sche und umfassende Überwachung und Evaluierung beschuldigt werden, für Ölschmuggel und Menschen- der Ausbildung der libyschen Küstenwache durch die handel verantwortlich zu sein. 38 Inzwischen wurde EU. Im Rahmen von EUNAVFOR MED Sophia wurde vielfach belegt, dass Teile der libyschen Einheiten aus erst 2017 ein „Monitoring and Advising“-Mechanismus kriminellen Milizionären bestehen und einzelne Mit- eingeführt. Dieser konnte jedoch aus „Sicherheits- glieder in Menschenhandel und Menschenschmuggel und administrativen Gründen“ 2018 nicht ausgeführt involviert sind.39 werden.35 Aufgrund der andauernden Kämpfe konnte Personal von EUNAVFOR MED Sophia auch im Jahr 2019 nicht nach Libyen reisen.36 Die Ausbildung der Aufbau einer ibyschen SAR-Zone libyschen Küstenwache erfolgte damit „remote“ in Ländern der EU und die Umsetzung wurde telefonisch Ungeachtet dessen hat die EU nicht nur den Aufbau der und per Video über GoPro Kameras sowie installierte libyschen Küstenwache weiter finanziert, sondern da- Kameras auf den Einsatzbooten verfolgt. Diese Videos bei geholfen, sie zur offiziell zuständigen Behörde für sollten dann an EUNAVFOR MED zur Evaluierung wei- die Koordination von Such- und Rettungseinsätzen im tergeleitet werden. Es sei jedoch wenig wahrscheinlich, zentralen Mittelmeer zu machen. Im Juni 2018 erfolgte dass belastendes Videomaterial weitergegeben wurde, in einem zweifelhaften Prozess die offizielle Anerken- so ein Mitglied des deutschen Bundestages. Entspre- nung einer libyschen Such- und Rettungszone durch chend gab die EU-Kommission an, dass die Qualität die Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UN und die Anzahl der zur Verfügung gestellten Videos (IMO).40 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Italien alle See- nicht ausreichend waren.37 notfälle in internationalen Gewässern im zentralen Mit- telmeer koordiniert. Nun sind die libyschen Einheiten für Völkerrecht über Bord 22 SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V.
Sie können auch lesen