Vom "Blackness"-Mythos zum Alien-Sound

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Vom "Blackness"-Mythos zum Alien-Sound
Vom «Blackness»-Mythos zum Alien-Sound | norient.com                   22 Dec 2021 11:19:09

    Vom «Blackness»-Mythos
    zum Alien-Sound
    by Didi Neidhardt

    Soul, das Retro-Genre par excellence? Soul, die Inkarnation
    schwarzer Entfremdung? Soul, das Gegenteil eines
    verkopften Zugangs zu Musik? Der Sampler Personal Space.
    Electronic Soul 1974 – 1984 beantwortet diese Fragen mit
    erfrischenden Anti-Klischees. Er vereint 17 Schätze aus der
    Geschichte des elektronischen Soul , kontert dem
    kanonbestimmenden Mythos der «Blackness» und zeigt,
    dass auch Soul einmal afrofuturistische Visionen hatte.

    Woran liegt es eigentlich, dass die elektronischen Seiten und Aspekte von
    Soul bei so vielen Soul-Fans nicht wirklich auf Gegenliebe stoßen (um es
    einmal gelinde zu sagen)? Trotz der Errungenschaften von Digi-R&B und
    afrotronischem Cyber-Soul zwischen Timbaland, Pharrell Williams/Neptunes,
    Outkast, Destiny’s Child, Missy Elliott, Shabazz Palaces, THEESatisfaction,
    Estelle, Kelis, Erykah Badu, Lady Blacktronika, Janelle Monáe, Gonjasufi,
    Flying Lotus, M.I.A., Santigold etc. Oder all dem, was sich in letzter Zeit
    zwischen Dubstep, Shangaan Electro, Congotronics und Juke getan hat,
    scheinen auch 2012 immer noch «neun von zehn Kulturkritikern eine
    humanistische, emphatisch im 19. Jahrhundert verankerte schwarze

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    Popkultur» vorzuziehen, wie es Kodwo Eshun schon 1999 angemerkt hat. Und
    das kann nicht allein Amy Winehouse in die Schuhe geschoben werden. Da
    muss schon mehr dahinter sein.

    Erinnern wir uns nur an die Suche nach den Erben von Jimi Hendrix in den
    1970ern. Während Heerscharen von Rockkritikern ausschwärmten und nicht
    wirklich fündig wurden, waren Gitarristen wie Eddy Hazel (Funkadelic) oder
    der unlängst verstorbene Pete Cosey (Miles Davis) schon lange dabei, die
    Frage zu beantworten, wie denn Hendrix «jetzt» klingen würde. Ebenso
    Stevie Wonder, der sich mit seinen Moog-Synthesizern ins Electric Ladyland
    Studio begab.

    Zudem gab es mit Miles Davis, Herbie Hancock, Sun Ra, Timmy Thomas
    (dessen Millionenhit «Why Can’t We Live Together» aber auch schon 1972
    von Soul-Fundies – weil Rhythmbox statt Schlagzeuger – als Soul-Dolchstoss
    gedisst wurde), Sly Stone, Shuggie Otis, George Clintons Parliament/
    Funkadelic, Bootsy Collins, Sun Ra, Norman Withfields psychedelische Soul-
    Visionen bei den Temptations und Undisputed Truth oder den Synthesizer-
    Exkursen von Marvin Gaye (etwa beim Trouble Man-Soundtrack, 1972) und
    Patrick Adams (Cloude One etc.) nicht gerade wenig Stoff. Er wurde, je nach
    Perspektive, entweder Disco, Electro, House oder Techno in unglaublichen
    avant la lettre-Versionen zur Disposition gestellt. Von Dub wollen wir dabei
    gar nicht sprechen, aber das wäre auch eine andere, nicht genuin US-
    amerikanische Baustelle.

    «What Is Soul?»

    Dennoch gehört es zum typischen Retromanie-Phänomenen, es sich
    zwischen Motown und Stax gemütlich zu machen und Magazine über
    Musiktechnik zu lesen, die mit Tipps und Grafiken zeigen, wie der «originale»
    Soul-Sound bei den jeweiligen Schlagzeug-Plug-Ins eingestellt werden kann.
    Während «Northern Soul» zumindest durch Soft Cells «Tainted Love» eine
    Elektronifizierung erfuhr und James Brown durch Kraftwerk als Electro-Alien
    in die USA reimportiert wurde, begnügt sich Retro-Soul zwischen Adele und
    Aloe Blacc mit dem Nachstellen dessen, was Soul als Retro-Genre schon
    immer gewesen ist: ein Mechanismus zum Ausblenden von «Future Shocks».
    Und das bei gleichzeitigem Ignorieren perfekter kapitalistischer
    Marktstrategien (sowohl Motown wie auch Stax produzierten nach dem
    Fliessbandprinzip) und all den Sachen, die nicht so recht ins gepflegte Bild
    von «Black Music» passen wollen.

    Etwa jene ehemaligen Hillbilly-Musiker, die Wilson Picketts «Land Of 1000
    Dances», Percy Sledges «When A Man Loves A Woman» oder Aretha
    Franklins «Respect» eingespielt haben oder die genredefinierenden jüdischen
    Rhythm’n’Blues- Komponisten Leiber & Stoller.

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    In dieses Bild passen auch diverse ARTE-Dokus über «Black Music», die viel
    über Blues/Rhythm’n’Blues, noch mehr über Soul, kurz was zu Funk und
    etwas zu HipHop berichten wissen. Disco, House und Techno scheinen
    hingegen nicht «black enough» zu sein, um in den Chronologien
    vorzukommen. Elektronik (egal ob analog oder digital praktiziert) bedroht ja
    nach Kodwo Esun genau jenen «Festkörperaggregatzustand namens
    «Blackness», den es quasi zu konservieren gilt.

    Hier zeigt sich zudem auch sehr schön, wie Ideologie funktioniert und
    produziert wird. Nach Slavoj Žižek hat Ideologie zwei miteinander verbundene
    Seiten. Auf Soul übertragen wäre «Realness» (wahre Gefühle, echter
    Schweiss, authentisches Leiden, ungekünstelte Kunst) der offiziell
    verkündete Wert, der dann auch den Kanon bestimmt. Damit eine Ideologie
    funktionieren und sich reproduzieren kann, braucht es jedoch auch das
    Unausgesprochene (das Geleugnete, Ignorierte, Verdrängte,
    Ausgeschlossene). Diese «verdeckte Kehrseite» (Žižek) ist auch bei Soul,
    gerade wenn es um dessen «wahre Natur» geht, immer noch der inhärente
    Rassismus. Das ist das «schmutzige Geheimnis» von dem Žižek immer wieder
    spricht.

    So schreibt auch Paul Gilroy in seinem Text « Exterritorialität: Die
    Entfremdung der Entfremdung» (in Loving The Alien, 1998). Dort merkt er
    an, dass bisher ein verstärktes Interesse an «Blackness» keinesfalls mit einer
    Begeisterung für Schwarze einherging. Viel eher handelt es sich für Gilroy
    meist um einen schlechten Tausch, bei dem die «spezifisch US-
    amerikanische Form der Erniedrigung und des Elends» zu einem hippen
    «Symbol für körperliche Gesundheit, Fitness und Vitalität [...], Eleganz und
    hyper-maskuline Potenz» resignifiziert wurde. Für Gilroy macht ‹Blackness›
    als «Repräsentation des Biologischen» aus AfroamerikanerInnen wieder
    «Neger» (Rhythmus im Blut, Sex in der Hose, immer einen Blues auf den
    Lippen).

    Und hier kommt erneut Soul ins Spiel. Auch weil Soul als Authentizitätsersatz
    Blues im Lande Pop mittlerweile komplett abgelöst hat. Das öffentliche
    Sterben von Amy Winehouse (als Janis-Joplin-Impersonatorin) gehört hier
    ebenso dazu wie die Vorstellung, Soul sei das Gegenteil jeglicher
    Intellektualität – also eine Entfremdung qua theoretischer Reflexion.

    Gilroys Fazit lautet dann auch: «Statt auf den Geist wird sich hier auf den
    Körper bezogen.» Auch Eshun kommt darauf zu sprechen, wenn er eine Greg-
    Tate-Passage über Gilroys «Black Atlantic»-Theorie weiterspinnt und die
    Überquerung des «Black Atlantic» wie die Situation der Sklaven in den USA
    als etwas bezeichnet, das «die Kultur gezwungen hat, intellektuell zu
    werden». Und das reicht vom Signifying bis zu den Black Secret
    Technologies. Eine primär orale Kultur (auch und gerade wenn sie zur
    mündlichen Weitergabe gezwungen wird, weil alles andere verboten ist) hat
    die Archive und Bibliotheken, also das gesamte Wissen, per se im Kopf. Von

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    daher ist auch jede Artikulation eine Aktualisierung auf Grundlage
    gemeinsamer Erfahrungen, jedoch unter sich ständig neukonfigurierenden
    Parametern.

    Illegal Soul Aliens
    Ein Online-Übersetzungsdienst bietet für «alien» folgende Übersetzungen:
    «der Ausländer», «die Ausländerin»; «der Außerirdische» («ein
    Ausserirdischer»), «die Außerirdische»; «der Drittausländer»; «der Fremde»
    («ein Fremder»), «die Fremde»; «der Fremdling»; «der Gebietsfremde» («ein
    Gebietsfremder»), «die Gebietsfremde». Weit davon entfernt, nur aus
    Psychedelic, LSD und einem dem entsprechenden Konsum von «Star Trek»
    zusammengesetzt zu sein, geht es im diasporischen Afrofuturismus um ganz
    konkrete Erfahrungen. Solche der Nichtexistenz (bzw. der Existenz nur «as
    myth», wie es bei Sun Ra heißt), der Entfremdung und der Romantisierung
    eines Leidens – wie die Arbeit auf dem Baumwollfeld oder in den
    Schlachthöfen von Chicago als einzigen Garanten für «echten» Blues. Schon
    Greg Tate meinte dazu: «Schwarze Menschen leben die Entfremdung, die
    sich SF-AutorInnen ausmalen.» Auch bei Eshun finden wir diesen Aspekt
    wieder, wenn er schreibt: «Alien Music ist ein synthetischer Rekombinator,
    eine angewandte Technologie der Kunst, die den Grad der Fremdheit, der
    Entfremdung und der Befremdung erhöht.»

    Was hier noch hinzugefügt werden muss, sind jene Mittel sonischer
    Verfremdung, die beim Hören erst jenes Befremden auslösen, das im besten
    Fall weit über ein Neues Hören hinausgeht, sondern ganz neue Welten
    (Universen) eröffnet. Und «Future Shock» meint in diesem Zusammenhang –
    mit Eshun gesprochen – genau jene Ereignisse, durch die «die vergessene
    Vergangenheit aus der Zukunft eintritt, um die Gegenwart zu stören». Jedoch
    nicht nur die Musik der Gegenwart, sondern auch die dahinterstehende
    Ideologie.

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    Ein Sampler wie Personal Space. Electronic Soul 1974–1984 geht dabei weit
    über das rein Obskure und Nerdige hinaus. Zum einen wird eine
    «independently-pressed record»-Szene gezeigt, die sich erst durch endlich
    leistbare Mehrspur-Kassettenrecorder, billige Drum-Maschinen und
    ebensolche Synthesizer hat bilden können. Zum anderen beweisen die
    oftmals sehr bizarren Tracks, wie dehnbar ein Begriff wie Soul ist, ohne ihn
    gänzlich über Bord zu werfen. Das zeigt sich speziell bei den schon Richtung
    Detroit/Chicago aufbrechenden Tracks an. «My Bleeding Wound» von The
    New Year schafft es mit seinem Echo-Overkill doch tatsächlich, Sleezy D’s
    Acid-Klassiker «I‘ve Lost Control» nach der eigentlichen Vorlage (dem
    Mittelteil von Led Zeppelins «Whole Lotta Love») klingen zu lassen. Mit Jerry
    Greens «I Finally Found The Love I Need» kommen neben einer scheinbar
    gerade kaputtgehenden Drum-Box noch Klaustrophobie, Paranoia und
    Dunkelheit (also Soul als quasi Wave Noir) mit ins Spiel, die sich bei «All
    About Money» von Spontaneaous Overthrow mittels flirrender Synth-
    Akkorde, die wie im Loop daherkommen, noch um Aspekte des Manisch-
    Depressiven erweitern.

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    Natürlich geht es auch in die Disco. Etwa mit Cotillions extraterrestrischem
    Maschinen-P-Funk «If You Give A Dance» oder einer Art Lover’s Electro, wie
    ihn sich Dyson & Company («It‘s All Over») oder Steve Elliott («One More
    Time») zu Synth-Streichern und Syn-Drums vorstellen. Disco dürfte auch das
    Stichwort für einige der tollsten Soul-Mutationen des Samplers gewesen sein.
    Zudem treffen wir hier bei der hypnotischen, ebenso an ESG wie Grace Jones
    gemahnenden Funk/Dub-Mixtur der Makers mit Boris Midney einen weiteren
    legendären Disco-Alien, kam dieser Synthesizer-Visonär doch aus der UdSSR
    in die USA und wurde vor allem durch die sich meist über eine ganze LP-Seite
    erstreckenden Tracks seiner U.S.A. European Connection wie durch ein
    «Evita»-Discoalbum bekannt.

    Visionär-minimalistischen Dub-Funk gibt es jedoch auch von der Bassistin
    Deborah Washington («Shortest Lady»), wohingegen sich Jeff Phelps bei
    «Super Lady» als Keller-Prince im New Wave-Electro-Funk-Outfit zu
    erkennen gibt. Komplett auf DIY setzen hingegen Jeff Phelps (Vierspur-
    Kassettenrekorder, Fender Rhodes, Synth, Boss-Drumbox an einem etwas
    durch den Wind geschossenen Herbstnachmittag in Texas) sowie die Usaries
    mit «Are You Ready To Come (With Me)», einem Jam über ein schon
    vorproduziertes Tape, bei dem sich Space auf Sex reimt und es im Geiste von
    Marvin Gaye um die Suche nach «sexy treasures» geht. Am ehesten noch als
    Soul zu identifizieren sind just jene Tracks, die quasi den maschinellen
    Timmy-Thomas-Groove weiterführen, damit aber ganz woanders
    ankommen.

    Was aus Chicago Blues wird, wenn er von einer Suicide-Rhythmbox
    angetrieben wird, zeigt ein gewisser Guitar Red exemplarisch mit «Disco
    From A Space Show». Zu einem ultrafetten Mörderbass, der sich wild
    schlängelnd durch den Track gräbt, lassen all die Bleeps und Fieps der
    Bluesgitarre wirklich nur noch wenig Spielraum. Ähnlich funkadelisch und
    erneut mit Brutzel-Bass rollt Johnnie Walkers unglaublicher «Love Vibrator»
    heran. Wenigstens besinnt sich Otis G. Johnson bei «Time To Go Home» auch
    der Gospel-Tradition, jedoch zum Tuckern eines «factory metronomic pre-
    sets».

    Der heimliche Höhepunkt in Sachen Space-Funk-Freak-Out kommt dabei von
    niemand Geringerem als dem Starship Commander Woo Woo, der sich 1981
    mit der LP «Master Ship» (wovon wir ein immer noch sechsminütiges
    Exzerpt des Titelsongs hören) zu rumpelnden Korg-Preset-Fill-Ins aus den
    «Mothership»-Resten sein ganz eigenes Egyptian-Lover-Electro-Funk-
    Raumschiff gebastelt hat.

    Aber es sind Key & Cleary, die mit «A Man» und der Zeile «My muscles are of
    steel/My mind of complex computers/Daily I struggle for understandig» zu
    Drumbox, Percussion und funky Guitar zeigen, wie hier im Sonischen immer
    schon das Politische mitgedacht wurde.

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    Various Artists: Personal Space. Electronic Soul 1974–1984
    (DoLP/CD, Chocolate Industries, 2012)

    Dieser Artikel wurde Norient von den KollegInnen von Skug zu Verfügung
    gestellt.

    → Published on September 19, 2012

    → Last updated on July 30, 2020

    Didi Neidhardt, geboren 1963, wohnhaft in Salzburg, Chefredakteur von «skug –
    Journal für Musik» (A), Artikel u.a. für testcard (D), versorgerin (A), Vorträge und
    Lectures in Galerien, Museen, Kunstakademien, Fachhochschulen, Bars,
    Weinkellern, Clubs und Gärten, div. Katalog- und Buchbeiträge (u.a. «Michaela
    Melián – Triangel», 2004), Beteiligungen bei Festivals und Ausstellungen (u.a. «Just
    Do It! Copyleft & Copywrong», Lentos/Linz, 2003, «Popfeminismus – Lost &
    Found», Shedhalle/Zürich & lothringer13/laden/München, 2007 & 2008, «Protest &
    Eigensinn im Widerstand der Kunst», Galerie 5020/Salzburg, 2008, «No Sound of
    Music», Kunstverein Salzburg, 2009), Promo & Booklet-Texte für div. Acts (u.a.
    Cherry Sunkist, Crazy Bitch In A Cave, F.S.K.) DJ und Musiker (dis*ka/München,

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    Discozma, App-O-Negative/Wien)

    → Topics

                 Alienation
                   Desire
                 Nostalgia
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