Von Emil Nolde bis Kenneth Noland-Ausgewählte Werke 2. Dezember 2021 - Grisebach
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Von Emil Nolde bis Kenneth Noland – Ausgewählte Werke Auktion Nr. 336 2. Dezember 2021, 18 Uhr From Emil Nolde to Kenneth Noland – Selected Works Auction No. 336 2 Dezember 2021, 6 p.m. Nutzen Sie die Möglichkeit, sich ein Kunstwerk von unseren Experten im Video vorstellen zu lassen. Scannen Sie hierfür den QR-Code beim Kunstwerk. 6
Experten Specialists Vorbesichtigung Vorbesichtigung Preview Preview Ausgewählte Werke Ausgewählte Werke München MünchenAusgewählte Werke: Ausgewählte Werke:2021 2. bis 4. November 2. bis 4. Kunst desNovember 2021 19. Jahrhunderts: Kunst desNovember 8. bis 11. 19. Jahrhunderts: 2021 8. bis 11. November 2021 Grisebach Grisebach Türkenstraße 104 Türkenstraße 80799 München 104 80799 10 bis 18München Uhr 10 bis 18 Uhr Düsseldorf Dr. Markus Krause Micaela Kapitzky Traute Meins Düsseldorf 5. und 6. November 2021 Moderne Kunst Moderne Kunst Moderne Kunst 5. und 6. November 2021 Grisebach +49 30 885 915 29 +49 30 885 915 32 +49 30 885 915 21 Grisebach Bilker Straße 4–6 markus.krause@grisebach.com micaela.kapitzky@grisebach.com traute.meins@grisebach.com Bilker 40213 Straße 4–6 Düsseldorf 40213 Düsseldorf 10 bis 18 Uhr Zürich 10 bis 18 Uhr Zürich 10. bis 12. November 2021 10. bis 12. November 2021 Grisebach Grisebach Bahnhofstrasse 14 Bahnhofstrasse 8001 Zürich 14 8001 10 bisZürich 18 Uhr 10 bis 18 Uhr Sondervorbesichtigung Sondervorbesichtigung Sammlung Berliner Sparkasse Sammlung Berliner 12. bis Sparkasse2021 18. November 12. bis 18. November 2021 Grisebach Grisebach Fasanenstraße 25 und 27 Nina Barge Diandra Donecker Sarah Miltenberger Fasanenstraße 10719 Berlin 25 und 27 Moderne Kunst Fotografie Zeitgenössische Kunst 10719 10 bis Berlin 18 Uhr +49 30 885 915 37 +49 30 885 915 27 +49 30 885 915 47 10 bis 18 Uhr nina.barge@grisebach.com diandra.donecker@grisebach.com sarah.miltenberger@grisebach.com Sämtliche Werke Sämtliche Werke Berlin Berlin 23. bis 30. November 2021 23. bis 30. November 2021 Grisebach Grisebach Fasanenstraße 25, 27 und 73 Fasanenstraße 10719 Berlin 25, 27 und 73 10719 Berlin Dienstag bis Montag 10 bis 18 Uhr Dienstag Dienstag,bis 30.Montag 10 bis November, 1018 bisUhr 15 Uhr Dienstag, 30. November, 10 bis 15 Uhr Virtuelle Vorbesichtigung ab Mitte Dr. Anna Ahrens Zustandsberichte Virtuelle November Vorbesichtigung ab Mitte 2021 auf grisebach.com Alte Kunst Condition reports November 2021 auf grisebach.com +49 30 885 915 48 condition-report@grisebach.com Virtual tour from mid-November 2021 anna.ahrens@grisebach.com Virtual tour from mid-November 2021 at grisebach.com at grisebach.com Grisebach — Winter 2021
1N Emile Bernard Lille 1868 – 1941 Paris „Bretonnes dans un champ ou La moisson“. 1888 Öl auf Leinwand. 27 × 62 cm (10 ⅝ × 24 ⅜ in.). Unten links signiert und datiert: Emile Bernard 1888. Werk- verzeichnis: Luthi/Israël 125. [3002] Gerahmt. Provenienz Privatsammlung, Schweiz (1977 bei Galerie Koller, Zürich, erworben) EUR 150.000–200.000 USD 174,000–233,000 Literatur und Abbildung Versteigerungskatalog: Bilder 15.-20. Jh. Graphik und bibliophile Editionen 19. und 20. Jh. Zürich, Galerie Koller, 20./21.5.1977, Kat.-Nr. 5026, Abb. Farbtafel III Das Gemälde „Bretoninnen auf dem Feld oder Die Ernte“ malte Émile Bernard 1888 – in seinem wichtigsten Schaf- fensjahr: Seite an Seite mit Paul Gauguin arbeitete der damals erst 20-jährige Künstler in Pont-Aven an der breto- nischen Küste. Auch hatte er angefangen, Briefe an Vincent van Gogh zu schreiben, die beiden pflegten bald einen regen Austausch. Gemeinsam war allen drei der Wunsch, den Impressionismus zu überwinden und eine neue ausdrucks- starke Malerei zu entwickeln. Während van Gogh dabei auf seinen charakteristi- schen Stil mit akzentuierten, gut sichtbaren Pinselstrichen setzte, entwickelten Gauguin und Bernard den Cloisonis- mus, eine an mittelalterliche Glasfenster angelehnte Tech- nik, bei der die Farbe flächig aufgetragen und die Fläche dann durch dunkle Linien konturiert wurde. Damit sollten sie den Beginn des Post-Impressionismus einleiten. Unser Bild zeigt mehrere Figurengruppen: Eine Frau mit rotem Rock, dunkler langer Bluse und weißer Haube pflückt Obst von einem Baum. Im Zentrum des Gemäldes lagern zwei Frauen auf dem gemähten Feld, zwei andere – ebenfalls in der für die Region typischen Tracht – stehen weiter links und sind in ein Gespräch vertieft. Im Hintergrund erkennt man zwei Schnitter bei der Ernte. Zum Horizont hin begrenzen grün belaubte Bäume und einfache Häuser, die sich kontrast- reich vom Blau des Himmels absetzen, das sommerliche Feld. Die faszinierende Leichtigkeit, mit der Bernard hier den Pinsel Die faszinierende Leichtigkeit, mit der Bernard hier den Pinsel führte, erinnert führte, erinnert an Werke Paul Cézannes. Die „regionalen Trachten hatten mich zu einer gelben, sonnendurchfluteten Wiese inspiriert, die von den typisch bretonischen Hauben und blau-schwarzen Figurengruppen beherrscht wurde“ (zit. nach: Fred Leemann: Symbolismus an Werke Cézannes. und Religion – Emile Bernards Suche nach Inhalten, in: Dorothee Hansen (Hg.): Émile Bernard. Am Puls der Moderne, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen 2015, Köln 2015, S. 47). Der Durchbruch zur Überwindung der feinteiligen impressionis- tischen Malweise zugunsten einer dekorativen, flächigeren Auffassung ist ihm zweifellos grandios gelungen. GK 11 10 Grisebach — Winter 2021
2R Christopher Wool lung, die selbst Malerei sein will, als auch im Wechsel von Erinnerung an das Vormalige, das in der Transparenz der Chicago 1955 – lebt in New York Übermalung sichtbar bleibt, lässt Christopher Wool den Betrachter teilhaben an seiner Bildfindung. Vor diesem Hin- Ohne Titel. 1998 tergrund darf man diese großformatige Papierarbeit verste- Alkydharz auf Reispapier. 167 × 120 cm hen als Einblick in das Atelier des Malers. Darin liegt ihre (65 ¾ × 47 ¼ in.). Rückseitig mit Bleistift mit der Besonderheit und Bedeutung. Werknummer bezeichnet, signiert und datiert: Christopher Wools Werke der frühen Achtzigerjahre D 64 Wool 1998. [3035] Gerahmt. entnehmen ihr Motiv einer gängigen Aufwertungspraxis von Provenienz New Yorker Immobilienmaklern. Er hatte beobachtet, dass Sammlung Berliner Sparkasse Eingangsbereiche von Häusern kurzfristig „verschönert“ wur- den, indem Anstreicher Muster auf Wände auftrugen, die EUR 300.000–400.000 mittels einer hölzernen Rolle erzeugt wurden und in denen USD 349,000–465,000 einfache florale oder abstrakte Dekors eingraviert waren; so etwas konnte man in den Bedarfsläden der Canal Street Literatur und Abbildung erwerben. Christopher Wool nutzte diese Rollenmuster für Stiftung Brandenburger Tor (Hg.): Die Kunstsammlung seine Zwecke und schuf Gemälde, die wie großformatige Holz- der Landesbank Berlin AG, Berlin, Nicolaische Verlags- schnitte erscheinen. Die von ihm dafür verwendete Farbe buchhandlung, 2007, Abb. S. 111 wird als Alkydharz bezeichnet und besitzt die Eigenschaft, schnell zu trocknen und eine lackiert erscheinende Oberflä- • Aus der Sammlung der Berliner Sparkasse che zu erzielen, ein Farbeffekt, der zum Stilmittel des Wool- • Christopher Wool gestaltete während seines Berlin- schen Œuvres geworden ist. Die Verwendung dieser Muster aufenthalts das ikonische Logo des DAAD erzeugt einen All-over-Effekt, der an die Prinzipien des ame- • Seine künstlerische Praxis ist gleichermaßen vom rikanischen abstrakten Expressionismus anschließt, in der Abstrakten Expressionismus wie von der Minimal Art seriellen Regelhaftigkeit dieser Binnenmotive aber auch beeinflusst Konzepte der vorangegangenen Minimal Art einbindet und reflektiert. Sich wiederholende Ornamente bestimmen die Bildfläche, sie suggerieren die Vervielfältigung als Möglichkeit Die hier angebotene Arbeit auf Papier von 1998 markiert und bleiben doch individuelle Unikate. einen wichtigen Wendepunkt im Werk von Christopher Wool, Bekannt wurde Christopher Wool zu Beginn der 1990er- weg von den „word paintings“, hin zu einem ausschließlich Jahre durch Gemälde mit großformatigen Buchstaben, die malerischen Werk. Wir erkennen einen Grund, der durch die Worte der amerikanischen Sprache visualisieren. Dem ver- schwarzen, floralen Bildmuster angelegt ist. Dieser wird trauten Schriftbild von schwarzer Schrift auf weißem Grund jedoch nun mittels gestisch aufgetragener Weißflächen teil- entsprechend, waren die Worte wie Schablonen von Buch- weise übermalt, es erscheint eine zweite Malfläche über dem staben plakativ angelegt. Einzelne Worte und Textzitate neutral angelegten Grund. Als erste und ganz wesentliche wurden zu einem unverkennbaren Stilmittel seiner Gemälde, Veränderung ist auszumachen, dass Christopher Wool hier die 2013 in seiner Retrospektive im Guggenheim Museum in eine „handschriftliche“ Malgeste zulässt, ja vorsätzlich ein- New York eindrucksvoll zusammengeführt waren. Nach die- setzt, um das zuvor Angelegte, Anonym-Serielle zu konter- sem Prinzip hat Christopher Wool das bis heute verwendete karieren. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass ab der Jahrtau- Logo DA / AD nach seinem Stipendienjahr 1993 gestaltet. sendwende ausschließlich Gemälde entstehen werden, die Friedrich Meschede in Verwendung einer sehr reduzierten Farbigkeit zwischen Schwarz und Weiß ein Grau ausloten und der Umgang mit extrem verdünnter Farbe nahezu den Eindruck eines groß- formatigen Aquarells evoziert. Weitere Werke aus dieser Sammlung in unserer In ihrem malerischen Anliegen lässt die großformatige Sonderauktion „Sammlung Berliner Sparkasse“, Papierarbeit den Betrachter teilhaben an dem künstlerischen Katalog 339, Donnerstag, 2. Dezember 2021, 15 Uhr Versuch Christopher Wools, sich in dieser Zeit etwas Neuem zuzuwenden. Dass bereits diese Experimente ihm bildwürdig erscheinen, verkörpert nicht zuletzt das Format der Papier- arbeit. Die Größe des Blattes geht über das Format einer Skizze oder Studie hinaus und ist damit auch der Ausdruck des Anspruchs, dass diese künstlerische Entwicklung Zeugen haben soll, in Gestalt dieser Arbeit – und vergleichbarer anderer aus diesem Jahr. Zudem benutzt Christopher Wool in dieser Zeit sehr feines Japanpapier, das in dieser Bestim- mung als Malgrund Ausdruck von Exklusivität und Fragilität zugleich ist. Sowohl im Malerisch-Gestischen der Überma- Erfahren Sie mehr! 15 14
Experiment und Vorstellungskraft – Martin Schmidt Max Ernsts hintergründiges Spiel mit unseren Erwartungen Ausgehend von der Faszination der unterschiedlichen Reflexionen, die Mond- und Sonnenlicht auf der Meeresoberfläche erzeugen, widmete Max Ernst sich dem Thema Spiegelung in großer Variationsbreite, mit wechselnden Dominanzen zwi- schen Farbe, Licht und Struktur. Unser Gemälde „Effet de soleil reflété dans l’eau“ gehört in die Reihe der Meerbilder der späten 1920er-Jahre. Der Künstler nutzt hier eine Technik, die er oder, vielleicht besser gesagt, die ihn 1925 „entdeckt“ hat. In seinen autobiografischen Notizen schreibt er: „Er verbringt die Ferien am Meer in der Bretagne. Dort kommt ihm eine Erleuchtung beim Anblick des hölzer- nen Fußbodens. Die Frottage-Technik ist gefunden.“ Das Verfahren, mittels star- ken Reibens die Struktur unter einer Papierfläche auf dieser sichtbar zu machen, führte zur epochalen Folge der „Histoire naturelle“. Im selben Jahr übertrug der Künstler das Verfahren auf die Leinwand – die Grattage war geboren. Diese Tech- nik hat Max Ernst in vielen Bildern zu künstlerischer Geltung gebracht, und sie spielt auch in der unteren Hälfte unseres Gemäldes eine dominante Rolle. Die klare Zweiteilung des Bildes lässt uns an eine Meereslandschaft den- ken. Unter einem grauen Himmel, der ganz oben, dort, wo eine dunkle Sonne ihn bekrönt, in ein zartes Blau übergeht, ist eine leuchtend dunkelorange Fläche ausgebreitet, in deren Zentrum eine dunklere große Scheibe mit aufglühenden Rändern ruht. Die Modulationen dieser Fläche hat Max Ernst mittels der Grat- tage hergestellt. Während die Leinwand auf einem strukturierten Untergrund liegt, bewirkt das partielle Abkratzen mehrerer übereinanderliegender Farb- schichten auf ihrer Oberfläche ein bewegtes Abbild des darunterliegenden Reliefs. Unsere Wahrnehmung wird dadurch irritiert, dass wir meinen, die große, auf- leuchtende Scheibe der unteren Bildhälfte als Sonne zu sehen, und geneigt sind, das Bild umzudrehen. Der Künstler spielt also mit unserer Seherfahrung, die er durch seine Gestaltung in eine bestimmte Richtung lenkt und dann untergräbt. So bleibt das Gemälde, wie auch die anderen Bilder dieser Reihe, in einer dyna- mischen Schwebe zwischen Abbildhaftem und Abstraktem. Der Kammzug in der grauen Himmelsfläche sorgt für zusätzliche Verwirrung, weil er ein geometri- sches Element in die Komposition bringt, das dem Landschaftlichen, das wir zu sehen meinen, zuwiderläuft. In doppelter Weise spielt der Künstler – mit dem Horizont im Bild, der das Zweidimensionale nicht aufhebt, und mit unserem Erfahrungshorizont, der das Oben und Unten als Weite interpretieren möchte. Solches Changieren ist vielen seiner Bilder eingeschrieben, und der Titel unse- res Werks zeigt an, dass das Assoziative erwünscht ist. Einmal mehr leuchtet in diesem Gemälde die Experimentierfreude, die Max Ernst auszeichnet, seine Empfänglichkeit für die unzähligen Strukturen der sichtbaren Welt, die er durch technische Innovationen wie die Grattage in das Kunstwerk übersetzt hat. Die abwechslungsreichen Strukturen und Malmittel in den Bildern waren dabei nie ein Selbstzweck, sondern dienten immer einer Idee, die außerhalb der Attraktivität des Materials an sich lag. Im Grunde ist Max Ernsts bildnerisches Wirken der intensiven Erforschung verschiedenster künst- lerisch-handwerklicher Verfahren gewidmet im Hinblick darauf, seine Imagina- tionskraft sowie die des Betrachters zu steigern. Das Vertrauen in das poetische Potenzial des Vorgefundenen, das „nur“ als Bild gestaltet werden musste, hat uns ein undogmatisches Lebenswerk beschert, das seinesgleichen sucht in der Max Ernst, 1930 (Foto: Man Ray) Kunst des 20. Jahrhunderts. 17 16 Grisebach — Winter 2021
3N Max Ernst Brühl 1891 – 1976 Paris „Effet de soleil reflété dans l’eau“. 1927/28 Öl auf Leinwand. 65 × 54 cm (25 ⅝ × 21 ¼ in.). Unten rechts signiert (in die feuchte Farbe geritzt): max ernst. Auf dem Spannrahmen ein Etikett der Galerie Richard L. Feigen, New York. Werkverzeichnis: Nicht bei Spies/Metken. Mit einer Bestätigung von Prof. Dr. Werner Spies, undatiert (in Kopie) und einem Gutachten von Dr. Jürgen Pech vom 10. April 2016. Das Gemälde trägt die Arbeitsnummer 97A und wird aufgenommen in den Nachtragsband zum Werk- verzeichnis der Werke Max Ernsts von Werner Spies, Sigrid Metken und Jürgen Pech (in Vorbereitung). [3069] Provenienz René Gaffé, Cagnes-sur-Mer / Jean Cooken, ca. 1937 von Gaffé als Geschenk erhalten / Pierre H.J. Cooken, Amstelveen / Richard L. Feigen & Co, New York / Galerie Daniel Malingue, Paris (1989) / Waddington Galleries, London / Privatsammlung, Deutschland/ Schweiz (1994 bei Waddington Galleries, London, erworben, seitdem in Familienbesitz) EUR 300.000–500.000 USD 349,000–581,000 Ausstellung Aspects de l’Art Moderne en France. Paris, Galerie Daniel Malingue, 1989, Kat.-Nr. 20, m. Abb. Literatur und Abbildung Versteigerungskatalog: Impressionist and Modern Paintings and Sculpture. London, Christie’s, 21.3.1983, Kat.-Nr. 34 • Assoziatives Spiel mit Sehgewohnheiten und Erfahrungen des Betrachters • Zeigt Max Ernsts Experimentierfreude an verschiedenen künstlerischen Techniken • Aus der berühmten Reihe der Meerbilder des Künstlers Der Künstler spielt mit unserer Wahrnehmung, die er in eine bestimmte Richtung lenkt und dann untergräbt. 19 18 Grisebach — Winter 2021
4 Piet Mondrian Beim Namen Mondrian ruft das innere Auge sogleich dessen ikonische neoplastizistische Werke auf, also die streng Amersfoort 1872 – 1944 New York rechtwinkligen Flächenaufteilungen mittels schwarzer Strei- fen, die in den Primärfarben gehaltene Rechtecke im Bild- „House on the Gein, 1741, Reversed Sketch“. 1900 geviert organisieren. Auch wenn jeder Künstler ein Frühwerk Öl auf Leinwand. Doubliert. 20,3 × 31,2 cm hat, das meist unbekannter bleibt, erscheint die Distanz (8 × 12 ¼ in.). Unten rechts signiert: PIET MONDRIAAN zwischen unserem Gemälde und dem weltbekannten späte- [sic!]. Werkverzeichnis: Welsh A244a. [3033] Gerahmt. ren Werk unfassbar weit. Um sie zu verstehen, müssen wir Provenienz im Grunde den gesamten gestalterischen Raum von Mondrians M. Mutsaerts, Eindhoven (um 1930–1971) / H.L. Tatham / Stilentwicklung durchmessen. Privatsammlung, Rheinland (seit 1973) Der Künstler begann zwar als impressionistisch wir- kender Maler, interessierte sich aber als genauer Beobach- EUR 60.000–80.000 ter schon früh mehr für die innere Ordnung der Erschei- USD 69,800–93,000 nungswelt als für die Reflexionen des Lichts auf dessen Oberfläche. Um dieser Ordnung auf die Spur zu kommen, lag Literatur und Abbildung es nahe, bestimmte Motive in Serien zu gestalten, wie das Versteigerungskatalog: Impressionist and Modern unter anderem Claude Monet schon getan hatte, indem er Paintings and Sculpture. London, Sotheby’s, 2.12.1971, Heuhaufen zum visuellen Ereignis machte. Kat.-Nr. 43, Abb. / Versteigerungskatalog: Kunst des Das kleinformatige Gemälde des „House on the Gein“ XX. Jahrhunderts. Köln, Kunsthaus Lempertz, 3.5.1973, ist Teil einer Folge, die sich einem malerischen Gebäude am Kat.-Nr. 461, Abb. Flussufer widmet. Mondrian hat es meist frontal dargestellt und seine mal mehr, mal weniger deutliche Spiegelung im • Seltenes Frühwerk des Erfinders der neoplastizis- Wasser des Flusses mit einbezogen. Unser Bild nun ist in tischen Kunst mehrerlei Hinsicht ein Solitär innerhalb dieser Darstellun- • Virtuoses Spiel mit Schein und Wirklichkeit gen. Während die anderen Ansichten im Kontext eines • Seit fast 50 Jahren erstmalig auf dem Kunstmarkt Umraums verortet werden, ist hier das Gebäude als Einzel- objekt stärker isoliert und dadurch bereits mehr in die Flä- che gebracht als räumlich lokalisierbar zu sein. Was auf den zweiten Blick dann auffällt, ist die seitenverkehrte Darstel- lung des Motivs, die nur dieses Bild betrifft. Es gibt zwei Ver- mutungen, warum das so ist. Das Werkverzeichnis spricht von der Möglichkeit einer Kompositionsübung. Handelt es sich aber nicht vielmehr um die Spiegelung im Wasser, der Mondrian den Vorzug gab, indem er das Bild umdrehte und unten rechts signierte? Und damit das Verhältnis der Wirk- lichkeit zur Malerei thematisierte? Auch ohne eine Bestätigung dieses revolutionären Akts vorweisen zu können, offeriert Mondrians Komposition uns, den mit dem Wissen um die weitere Kunstentwicklung ausge- statteten Nachgeborenen, einen Blick in die Zukunft seiner Malerei. Zieht man zwei Diagonalen von den Bildecken, dann treffen sie sich in dem schwarzen Quadrat, das Teil eines Fensters ist. Hier schaut aber niemand heraus, sondern im Gegenteil schauen wir auf das Primat des Rechtwinkligen, auf das sich Mondrians Malerei zubewegen sollte. Lange vor Das Haus entpuppt sich bei näherer Josef Albers ist dieses Bildzentrum auch eine Hommage „to the square“, und immerhin 15 Jahre vor Malewitsch steht ein schwarzes Quadrat im geometrischen Mittelpunkt und wird damit zur Hauptsache des ganzen Bildes! Die Ordnung, die Mondrian im Sichtbaren seiner Umgebung wahrnimmt, über- Betrachtung als Spiegelung. trägt er in eine zweidimensionale Bildlogik. Seine große Leistung besteht darin, das Konstruktive in der Wirklichkeit des Hauses am Gein wahrzunehmen und dabei die für eine traditionelle Bildauffassung geradezu typisch lyrische Ansicht in ein Beispiel theoretisch grun- dierter Malerei zu verwandeln. Vergleichbares kennen wir Piet Mondrian. „House on the Gein, 1741, Sketch“. 1900. vor allem von Hermann Glöckner. Innerhalb der Gruppe der Öl/Lwd. Welsh A244. Bilder zum Haus am Gein ist unser kleines Werk das reifste, weil es das Kommende wie nebenbei antizipiert. MS 21 20 Grisebach — Winter 2021
5 Max Liebermann Von Dunkelgrün bis Hellgrün und Blaugrün zu Gelbgrün: Grün in allen Schattierungen ist die Farbe, die dieses aufre- 1847 – Berlin – 1935 gende Gemälde von Max Liebermann dominiert. Bahnt sich das Auge einen Weg durch den pastos-impressionistischen „Die Blumenterrasse im Wannseegarten nach Norden“. 1924 Farbdschungel, so lassen sich einzelne Details erkennen. Im Öl auf Holz. 39,7 × 49,8 cm (15 ⅝ × 19 ⅝ in.). Unten Vordergrund die von Rasenflächen unterbrochenen Beete, links signiert und datiert: M Liebermann 24. Werk- in denen gerade rote Blumen blühen. Am Ende eines dieser verzeichnis: Eberle 1924/21. [3151] Gerahmt. Beete kniet eine dunkel gekleidete Gärtnerin. Dann entdeckt Provenienz man auch einen Blumenkübel mit einem Palmengewächs. Kurt Hamann, Berlin (1970–1981) / Ehemals Privat- Im Hintergrund überlagern sich Hecken und Bäume zu sammlung, Norddeutschland einem grün-vitalen Fond. Das von großzügigem Farbauftrag geprägte Bild zeigt Liebermann auf dem Gipfel seiner maleri- EUR 180.000–240.000 schen Kraft. Im selben Moment wirkt die Freiheit des dyna- USD 209,000–279,000 misch-expressiven Duktus auch fast fiebrig-feingliedrig. Auf faszinierende Weise lässt Liebermann hier die Grenzen zur Ausstellung Abstraktion verschwimmen: Die Einzelheiten des Motivs las- Im Garten von Max Liebermann. Hamburg, Kunsthalle, sen sich nur dechiffrieren, wenn man das Gemälde im Gan- und Berlin, Alte Nationalgalerie, 2004/05, Kat.-Nr. 54, zen betrachtet. Abb. S. 107 Nähert man sich dem Bild, so offenbart sich mehr und Literatur und Abbildung mehr seine furiose Farbigkeit. 1924 entstanden, zählt diese Versteigerungskatalog: Moderne Kunst. Hamburg, Arbeit zu der bedeutenden Serie der Wannseebilder – sie mar- Dr. Ernst Hauswedell, 4./5.6.1970, Kat.-Nr. 763, Abb. kieren den Höhepunkt des Spätwerks des Impressionisten S. 171 / Holly Prentiss Richardson: Landscape in the Liebermann. Bereits 1909 hatte der Künstler eines der letz- Work of Max Liebermann. Phil. Diss., 3 Bände. Ann ten freien Seegrundstücke am Großen Wannsee erworben Arbor, Brown University, 1991, hier Bd. II, S. 252, und dort gemeinsam mit seiner Tochter Käthe und dem Nr. 720 / Günter und Waldtraut Braun: Max Lieber- Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, eine manns Garten am Wannsee und seine wechselvolle konzeptuell geprägte Gartenlandschaft geschaffen. Geschichte. Berlin, Nicolai, 2008, Abb. S. 53 Ab 1918 nutzte Liebermann, der nun die Sommer- monate in seinem „Schloss am See“ verbrachte, den Garten • Äußerst modernes Gemälde Max Liebermanns immer häufiger als Bildsujet: „Was in den Wannseebildern nahe der Abstraktion wirkt, ist die Stärke der malerischen Übersetzung“, so sein • Die Wannseebilder gehören zu den begehrtesten Biograf Erich Hancke 1922: „In der Kunst, einen Naturein- Werken Max Liebermanns auf dem Kunstmarkt druck zum Bilde zu formen, ist Liebermann jetzt unum- • Weitere Werke mit diesem Thema befinden sich in schränkter Meister“ (zit. n. Erich Hancke: Max Liebermanns Museumsbesitz, u.a. in der Nationalgalerie Berlin Kunst seit 1914, in: Kunst und Künstler, Jg. 20 (1922), H. 10, und der Kunsthalle Bremen S. 345). Dem bleibt mit Blick auf „Die Blumenterrasse im Wannseegarten nach Norden“ nichts hinzuzufügen. GK 23 22 Grisebach — Winter 2021
6 Ernst Ludwig Kirchner Den Reiz der Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“ hatte Ernst Ludwig Kirchner bereits 1906 entdeckt – und Aschaffenburg 1880 – 1938 Davos sich davon zu einem Zyklus von Holzschnitten inspirieren lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg und in der Abgeschie- „Im Palast der Prinzessinnen“. Um 1922 denheit der Schweizer Alpen beschäftigten die orientali- Öl auf Leinwand. 25,3 × 32,2 cm (10 × 12 ⅝ in.). Unten schen Märchen den Expressionisten immer noch. „Es ist zu rechts und rückseitig oben links signiert: E L Kirchner. schön, dass Sie sich so in 1001 Nacht hineingelesen haben“, Werkverzeichnis: Nicht bei Gordon. Das Gemälde ist schrieb er im Dezember 1920 an Nele van de Velde, die im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, Tochter des belgischen Designers und Architekten Henry registriert. [3048] Gerahmt. van de Velde, der seit 1918 mit seiner Familie ebenfalls in der Provenienz Schweiz lebte (E. L. Kirchner. Briefe an Nele und Henry van de Ferdinand Oechsle und Carolina Pruss, Schweiz Velde, München 1961, S. 34–36). (um 1930) / Privatsammlung, Lima (durch Erbschaft) / Der angehenden Künstlerin empfahl er die Stoffe aus Privatsammlung (durch Erbschaft) / Privatsammlung, den Märchen als Anregung für neue Werke: „Das beste Mittel Hessen ist: wenn man darin gelesen hat, aufstehen und irgend einen alltäglichen Vorgang im Hause oder draußen zeichnen, so EUR 120.000–150.000 genau man nur kann. Dann leitet man die sinnliche Zärtlich- USD 140,000–174,000 keit, die das Buch einem gibt, in die Malerei und ins Leben.“ Die „sinnliche Zärtlichkeit“, die er in den Erzählungen • Moderne Hommage an die Erzählungen aus wiederfand, sollte er selbst wenig später in dieses um 1922 „Tausendundeiner Nacht“ entstandene Gemälde übertragen: Eine Gruppe junger Frauen • Entstanden in Ernst Ludwig Kirchners Schweizer sitzt barbusig ins Gespräch vertieft in einem Palast beiein- Schaffensphase in Davos ander. Die Leiber der titelgebenden Prinzessinnen, durch • Raffinierter Farbklang aus Rot- und Grüntönen markante Umrisslinien voneinander abgegrenzt, strahlen eine bezaubernde, einander zugewandte Intimität aus. Dieser Ein- druck wird unterstützt und noch gesteigert durch von Rund- bogen geprägte Architektur im Hintergrund. Während sich in der Gestaltung der Physiognomien und Körper der Frauen der Einfluss Picassos zeigt, erscheint als interessantes Detail die Figur vorn links aus der Schweizer Bergwelt zu stammen, zumindest legt das ihre Kopfbede- ckung nahe. Im Gegensatz zu dem ca. ein Jahr später ent- standenen Holzschnitt, der das Motiv mit harten Konturen entwirft, steigert unser Gemälde das Sujet zu einer dekorati- ven Komposition von besonderer malerischer Rafinesse. GK 25 24 Grisebach — Winter 2021
7 Albrecht Dürer Das Motiv von Albrecht Dürers „Meerwunder“ gehört zu den besonders rätselhaften der Kunstgeschichte. Es wurde bis 1471 – Nürnberg – 1528 heute nicht eindeutig interpretiert: In erstaunlich gelasse- ner Pose gleitet eine junge, unbekleidete Frau auf ihrem Ent- „Das Meerwunder (Raub der Amymone)“. Wohl vor 1500 führer, einem Seeungeheuer, über das Meer hinweg. Am Ufer Kupferstich auf Bütten (Wasserzeichen: gotisches P). zurück bleiben weitere Badende sowie ein aufgebrachter 25 × 18,8 cm (9 ⅞ × 7 ⅜ in.). Rückseitig mit dem Mann mit Turban. Die Landschaft hinter der Figurengruppe Sammlerstempel in Blau: Dr. K.O. [im Kreis; Lugt türmt sich zu einem felsigen Berg, auf dem Burgen, ein 4810]. Daneben der Sammlerstempel: RB [das R Fachwerkhaus und Laubbäume angesiedelt sind. gespiegelt, nicht bei Lugt]. Werkverzeichnis: Für das „Meerwunder“, wie Dürer den Stich in seinem Bartsch 71 / Meder 66 c (von k) / Schoch, Mende, „Niederländischen Tagebuch“ von 1520 nannte, bietet die Scherbaum 21c (von k). Einer der seltenen Abzüge Kunstgeschichte zahlreiche mythologische Deutungen an – zu Dürers Lebzeiten. [3033] Gerahmt. etwa den Raub der Amymone nach Lukian, den Raub der Provenienz Scylla nach Ovid oder den Raub der Syme nach Philostratus. Privatsammlung, Rheinland (1966 bei Karl & Faber, In der spätmittelalterlichen deutschen Prosa – im „Dresdener München, erworben) Heldenbuch“ – ist eine Erzählung mit dem Titel „Das Meer- wunder“ zu lesen. Sie handelt vom Raub und von der Verge- EUR 40.000–60.000 waltigung einer Königin durch ein Meerwesen. Da Dürer den USD 46,500–69,800 identischen Titel für seinen Stich verwendete, ist nahelie- gend, dass er hier Anleihen für sein Motiv fand. Als Illustration Literatur und Abbildung einer dieser Mythen oder Sagen ist sein Stich jedoch nicht Versteigerungskatalog: Kunst alter und neuer Meister, zu verstehen. Dafür ist seine Bildzusammenstellung – Fach- dekorative Graphik, Veduten, Ostasiatica. München, werkhäuser am Meer, ein orientalisch gekleideter Mann – zu Karl & Faber, 18./19.10.1966, Kat.-Nr. 58, Abb. ungewöhnlich. Zugleich lassen diese Erkenntnisse den Schluss zu, dass wir mit dem „Meerwunder“ eine Bilderfindung Dürers • Einzigartige Verbindung von Virtuosität, Erotik vor Augen haben. Eine solche Bildschöpfung ist bemerkens- und Innovation wert, da der Stich in einer Zeit entstand, in der es Konvention • Einer der seltenen frühen Abzüge zu Albrecht war, das Interesse an weiblicher Nacktheit oder gar Sinn- Dürers Lebzeiten lichkeit und Erotik durch mythologische Bezüge zu kaschie- • Seit über 50 Jahren in Privatbesitz ren. Bei Dürers „Meerwunder“ kehrt der Blick des Betrach- ters immer wieder zurück zum eigentlichen Motiv: der ruhig dahingleitenden, liegenden Schönen mit ihrem weiblichen, fein modellierten Körper. Es ist nur konsequent, dass dieser bildbestimmende weibliche Akt mit seiner linken Hand auf das prominent platzierte Dürer-Monogramm und damit auf den Schöpfer des Stichs weist. Nach Josef Meders Werkverzeichnis stellt das vorlie- gende Blatt den 3. Druckzustand 66c dar. Demnach handelt es sich um einen besonders frühen Abzug, der womöglich vor 1500 angefertigt wurde und somit einer der ersten Abzüge der Druckplatte von 1498 ist. CH 27 26 Grisebach — Winter 2021
2030R Richard Avedon New York 1923 – 2004 San Antonio, Texas Dovima with Elephants, Evening Dress by Dior, Cirque d’Hiver, Paris. August. 1955 Silbergelatineabzug, vor 1964. 49 × 36,2 cm. Auf Originalkarton (49 × 36,2 cm) aufgezogen, darauf rückseitig Photographenstempel: „PHOTOGRAPH BY RICHARD AVEDON“ sowie mit rotem Farb- und Bleistift beschriftet. [2000] Provenienz Richard Avedon an „The Famous Photographers School Collection“, Westport / Privatsammlung, New York EUR 100.000–150.000 USD 116,000–174,000 Aus unserer Auktion „The Art of Photography – A New York Collection“, Katalog 335, Mittwoch, 1. Dezember 2021, 18 Uhr 29 28 Grisebach — Winter 2021
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8 Alex Katz Unverkennbar Katz – die zumeist großformatigen, ikonischen Porträts sind charakteristisch für den 1927 geborenen New New York 1927 – lebt in New York Yorker Künstler. Knallig, poppig, leicht, aber vor allem ästhe- tisch ist das mittlerweile rund 70 Jahre umspannende Œuvre „Black Bathing Suit“. 1997 von Alex Katz. Angelehnt an die Bildsprache der Mode und der Öl auf Leinwand. 122 × 182 cm (48 × 71 ⅝ in.). Werbung entwickelte er seinen ganz eigenen Stil, der ihn zu Rückseitig mit Filzstift in Schwarz signiert: Alex Katz. einem bedeutenden Künstler unserer Zeit macht. Ebenda mit Filzstift in Grün signiert und datiert: Schwungvoll und in Bewegung erscheint die dargestellte Alex Katz 97. [3221] Frau vor einem monochrom blau leuchtenden Hintergrund – Provenienz als würde sie, leicht aus der Achse gedreht und aus der Bild- Privatsammlung, Bayern (1998 bei der Galerie Klüser, fläche lächelnd, dem Betrachter gleich etwas zurufen wollen. München, auf der Art Basel erworben) Es ist ein Augenblick, ein gemalter Schnappschuss. Mit der für den Künstler so charakteristischen linearen EUR 280.000–350.000 Pinselführung und der flächigen Farbigkeit reduziert Katz das USD 326,000–407,000 Dargestellte in seinem Werk auf das Wesentliche. Zwar wid- met er sich in seinen Arbeiten stets dem Hier und Jetzt, doch erscheinen seine Modelle – oftmals Freunde und Menschen Wir danken Judith Koller, Galerie Klüser, für freundliche aus seinem engsten Umkreis – durch die grundlegende Hinweise. Reduktion von Raum und Zeit losgelöst. Lediglich der dunkle Badeanzug der hübschen Brünetten, die im Übrigen ein wenig • Katz ist einer der wichtigsten Vertreter der an seine häufig porträtierte Ehefrau Ada erinnert, ließe einen amerikanischen Pop-Art Rückschluss auf die Entstehungszeit zu. In seiner Klar- und • Unverwechselbare Verbindung von Reduktion Einfachheit schafft Alex Katz ein wundervoll leichtes und und Figuration lebendiges Werk, das zweifelsohne beschwingt. SSB • Das Blau als grenzenlos assoziativer Raum 33 32 Grisebach — Winter 2021
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Landschaftsmalerei in unsicheren Uwe M. Schneede Zeiten – Max Beckmanns wiederentdecktes Strandbild von Zandvoort Wenn Max Beckmann alljährlich seine Urlaubsreisen an italienische, französische oder niederländische Küsten unternahm, blieben davon Bilder – inhaltsreiche Bilder, die der Geschichte der Landschaftsmalerei ganz neue Perspektiven hinzu- fügten. Wenn sie auch nicht vor Ort entstanden, sondern ihre bildnerische Ver- dichtung erst im heimischen Atelier erfuhren („Malen kann ich doch nur zu Hause“), sind sie gleichwohl geprägt von den fremden Eindrücken am Meer, an der Adria (Pirano, Rimini), an der italienischen Riviera (Viareggio, Spotorno), an der Côte d’Azur (Cap Martin, Saint-Cyr-sur-Mer, Bandol) oder an der holländischen Küste (Scheveningen, Zandvoort). Zandvoort, etwa 30 Kilometer westlich von Amsterdam, war seit 1934 Beck- manns bevorzugter Erholungsort, nicht zuletzt in der Zeit des Exils seit 1937. Nach der Befreiung der Niederlande notierte er 1946 im Tagebuch: „War in Zandvoort und zu Fuß nach Overveen, ziemlich anstrengend, aber das Meer war wieder Meer und sagte guten Tag Herr Beckmann“ – eine Anspielung auf die vorausgegangenen Zugangssperren während der nationalsozialistischen Besetzung des Landes wegen der in Meeresnähe zu errichtenden Wehrbauten (Tagebuch, Amsterdam, 6. Februar 1946, in: Max Beckmann, Tagebücher 1940–1950, München 1984, S. 153). Nachdem Beckmann von den neuen Machthabern aus seinem Lehramt an der Frankfurter Städelschule entlassen worden war, zog er, der nun als verfemt galt, noch 1933 mit seiner Frau Mathilde nach Berlin um. Im Jahr darauf entstand das Gemälde „Badende mit grüner Kabine und Schiffern mit roten Hosen“ im Zusammenhang mit einem Ferienaufenthalt in Zandvoort, wie oben im Bild mit- samt dem Datum 1. Juli 34 vermerkt ist. Eine vermutlich vor Ort entstandene Bleistiftskizze zeigt die Motive mit knappen Farbangaben. Im Gemälde schaut man von einem erhöhten Standpunkt auf den Strand mit Badekabine, Boot, Schif- fern und auf das Meer mit Badenden; der hochgeklappte Horizont mit Dampf- schiff obenauf senkt sich wie eine Riesenwelle nach rechts; im Vordergrund angeschnitten zwei Sitzlehnen und ein Terrassengeländer. Das für Landschaften nicht sehr übliche, aber von Beckmann dennoch gelegentlich dezidiert eingesetzte Hochformat erlaubte die Staffelung und damit Steigerung der Zonen Terrasse, Strand und Meer und machte dank eines Maß- stabwechsels die Überhöhung der Badekabine möglich, die so zu einem mächti- gen Fremdkörper wurde. Gleichzeitig erlaubte das Hochformat die Längenbeto- nung der beiden im Vordergrund aufragenden Masten mit ihren Flaggen, nach deren Bedeutung folglich zu fragen ist. Zunächst wird das Bild durch den formalen Kontrast der kubischen Kabine und des längsovalen Bootes mit dem quirligen Meer und zugleich durch die farbige Korrespondenz zwischen den beiden grünen und weißen Objekten und dem grün- weißen Meer bestimmt. Die Schiffer sind darüber zum (allerdings durch die gespreizten roten Hosenbeine auffälligen) Beiwerk geworden. Max Beckmann am Strand, um 1928 Seit Mitte der 1920er-Jahre rückte Beckmann die pure Landschaftsansicht (Foto: Mathilde Beckmann) durch Vorbauten in die Distanz. Angeschnittene Motive unmittelbar im Vorder- 37 36 Grisebach — Winter 2021
grund – Balkongitter oder Terrassenbrüstung, Fensterrahmen oder Badekabinenöffnung, Schiffsluke oder offene Tür – bilden Barrieren vor dem Motiv und machen zugleich, wie in diesem Bild, Mitteilung über den Standort des Malers. Sie heben damit seinen persönlichen Blick hervor. Kein generelles Naturerlebnis ist wiedergegeben, sondern ausdrücklich eine persönliche Ansicht. Sie ist mit einer dramaturgisch und malerisch einzig- artigen Souveränität und Freiheit der Gestaltung realisiert. Dem bestimmten festen Standort des Malers ist in die- sem Bild ein schräger, aus dem Lot geratener Horizont entge- gengestellt, der irritierend auf die gesamten Verhältnisse ein- wirkt. Das Meer ist hier nicht, wie oft bei Beckmann, durch gewaltige Wellen bedrohlich, nicht die Natur ist beunruhigend, sondern die vom Maler gewollt eingesetzte bildnerische Anlage. Zumal durch das Hochformat und die übergroße Kabine be- kommt das Bild zusätzlich zum schiefen Horizont etwas unaus- Los 9 weichlich Bedrohliches, und die Stuhllehnen im Vordergrund Max Beckmann in Zandvoort, 1934 (Foto: Helga Fietz) haben etwas Aufsehermäßiges. Es fehlt gänzlich die Leichtigkeit einer sommer- lichen Ferienstimmung. Man lebt in unsicheren Zeiten. Die Situation ist genau geortet und datiert: Zandvoort, 1. Juli 1934. Aber nicht nur der Bade- ort ist im Bild angegeben, son- ten werden? Das Bild wurde nach dem Zeugnis von Mathilde Beck- dern auch das Land, in dem er mann später in Berlin fertiggestellt, aber es ist auf den 1. Juli datiert. liegt. Denn die orange Flagge Da hielten sich die beiden Beckmanns in Zandvoort auf. Bei dieser zeigt die Oranier und die Nie- Gelegenheit entstanden am Strandweg einige Fotos von ihnen, aber derlande an. Hier, im Jahr 1934, auch von Hedda Schoonderbeek.Hedda Schoonderbeek, ausgebil- ist sie angesichts der Verfol- dete Bildhauerin, war die Schwester von Mathilde Beckmann; seit gungen zu Haus in Deutschland Ende der 20er-Jahre lebte sie in Amsterdam. ein unübersehbarer Hinweis Max Beckmann erkundete in diesem Jahr 1934, weil er sich der auf das freie Land. Die Flagge politischen Bedrohungen in Deutschland bewusst war, auf Reisen wird bei Beckmann während nach Paris und in die Schweiz bei Freunden die Möglichkeiten einer der nationalsozialistischen Be- Emigration. Müssen die beiden daher nicht auch am Strand von satzung des Landes noch deut- Zandvoort mit der Schwester und Schwägerin besprochen haben, licher politische Bedeutung an- wie es weitergehen könnte, etwa in den freien Niederlanden? Drei nehmen, etwa in den „Möwen Jahre nach Entstehung dieses Gemäldes, 1937, sollten die Beck- in Sturm“ von 1942, wo der offi- manns unter Mithilfe von Hedda Schoonderbeek tatsächlich nach ziellen niederländischen Flagge Amsterdam emigrieren. im oberen Feld, das eigentlich Könnte es sein, dass Beckmann das Bild wegen der schwer- rot zu sein hat, augenfällig ein wiegenden Gespräche so genau datiert hat? Seine Tagebücher aus Orange aufgesetzt ist, also die Max Beckmann. Studie. 1934. Bleistift/Papier. Zeiller 45.4r dieser Zeit vernichtete er sicherheitshalber, als die deutsche Wehr- Max Beckmann. „Blick aus der Schiffsluke“. 1934. Öl/Lwd. Farbe des emigrierten Königs- macht die Niederlande 1940 besetzten, und in den Briefen äußerte Tiedemann 409 hauses und des niederländischen Widerstands. er sich nicht politisch. Im Gemälde konnte ein Hinweis auf entschei- Aber warum hat der Künstler das Werk auf den Tag genau datiert, was er in dende Zukunftsabsichten, kaum wahrnehmbar angebracht, verbor- diesen Jahren ansonsten nicht tat? Weshalb wollte dieser Tag auf Dauer festgehal- gen werden. 39 38 Grisebach — Winter 2021
9 Max Beckmann Leipzig 1884 – 1950 New York „Badende mit grüner Kabine und Schiffern mit roten Hosen“. 1934 Öl auf Leinwand. 80 × 60 cm (31 ½ × 23 ⅝ in.). Oben rechts signiert, bezeichnet und datiert: Beckmann Zandvorde 1 Juli 34. Werkverzeichnis: Tiedemann 400 (Verbleib unbekannt) (Online-Werkverzeichnis, Abfrage vom 21.10.2021) / Göpel 400. [3009] Gerahmt. Provenienz Privatsammlung, Sachsen/Rheinland (um 1934/36 vom Künstler erworben, seitdem in Familienbesitz) EUR 1.000.000–1.500.000 USD 1,160,000–1,740,000 Ausstellung Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik aus Privatbesitz. Aachen, Museumsverein, im Suermondt-Museum, 1964, Kat.-Nr. 10, Abb. 57 Literatur und Abbildung Ernst Günther Grimme: „Am Strand von Zandvoorde“, ein Ölbild von Max Beckmann. In: Aachener Nachrich- ten, 2.6.1964, m. Abb. • Entstanden in bewegten Zeiten anlässlich eines Ferienaufenthalts in Zandvoort • Aus der reinen Landschaftsansicht wird ein persön- lich motiviertes Schicksalsbild • Seit über 80 Jahren in Familienbesitz, erstmalig auf dem Kunstmarkt War in Zandvoort und zu Fuß nach Overveen, ziemlich anstrengend, aber das Meer war wieder Meer und sagte guten Tag Herr Beckmann. Max Beckmann Erfahren Sie mehr! 41 40 Grisebach — Winter 2021
Hier offenbart sich der Wille zur Ulrike Lorenz Kunst – Otto Dix´ Selbstbildnis aus dem Vorkriegsjahr 1913 „Entweder ich werde berüchtigt – oder berühmt.“ Otto Dix hat seine frühe Pro- phezeiung (überliefert von Diether Schmidt) im Doppelsinn wahr gemacht und in der Fülle seines Werks rund 500 Selbstdarstellungen hinterlassen. Neben Max Beckmann, Lovis Corinth und Käthe Kollwitz zählt er zu den seltenen Künstlern der Moderne, die sich zeitlebens skeptisch auf der Spur geblieben sind. Sein Œuvre umfasst Selbstreflexionen aus jeder Schaffensphase: von ersten Versu- chen aus der Volksschulzeit bis zum abgründigen Selbstporträt als Totenkopf nach dem Schlaganfall – in allen Stilen und Stadien: vom expressionistischen Aus- bruch über messerscharfe Analysen bis zu altmeisterlichen Allegorien, von Ideen- skizzen und Detailstudien über druckgrafische Ich-Expeditionen bis zu den aus- geklügelten Schlüsselbildern des Gemäldewerks. Das Selbstbildnis war für Dix ein weites Feld programmatischer Bekenntnisse und philosophischer Spekulation – und es blieb das einzige für einen Mann ohne Manifeste: „Ich habe niemals Bekenntnisse schriftlich von mir gegeben, da ja meine Bilder Bekenntnisse auf- richtigster Art sind […]. Wer Augen hat zum Sehen, der sehe!“ (Zit. nach: Hans Kinkel: Die Toten und die Nackten. Beiträge zu Dix, Berlin 1991, S. 16/17) Wer beim zweiten Blick seinen Augen immer noch traut, dem zeigt sich ein Mensch, der nicht nur die äußeren Spuren, sondern auch geheimste Abgründe eines kantigen Künstlerschicksals im 20. Jahrhundert präsentiert – und dabei Anspruch wie Scheitern offenbart. Offener, sensibler, dünnhäutiger jedoch erschien der Maler nie als in die- sem Selbstbildnis aus dem Vorkriegsjahr 1913. Es ist, als wenn der Arbeitersohn aus Ostthüringen mitten in seinem Aufbruch zur autonomen Kunst in Dresden – zwischen der disziplinierten Frührenaissance-Adaption mit Nelke 1912 und der dionysischen Selbstdämonisierung als Raucher um 1914 – kurz innehält und tief durchatmet: Totalverzicht auf Stil und Pose. Vor dunkelgrünem, glattem Hinter- grund erscheint sein helles Konterfei zwischen brünetter Ponyfrisur und schlich- tem Kragenpullover. Ganz nah an den Bildrand gerückt erscheint das jugendlich freimütige Gesicht. Nach links gewendet, wirkt der 22-jährige Student hoch kon- zentriert, doch nicht verspannt. Ein sensitiver Ausdruck liegt über zart geschwun- genen Lippen, leise geblähten Nüstern und fein ziseliertem Ohr. Seine Züge arti- kulieren sich klar in den durchscheinenden Lasurschichten einer schon jetzt stupend beherrschten altmeisterlichen Maltechnik wie unter einer lebendig atmenden Haut. Der wachsame Blick aus Augenwinkeln springt die Betrachter noch nicht an, er ruht forschend, nicht fordernd auf dem Gegenüber. Erst ein Jahr später wird sich Dix einen blitzenden, qualmenden Raubtierhabitus zueig- nen und seine Kämpfernatur auf dem Sprung zur Tat in eine saturnische Atelier- nacht zwischen Mondsichel und Sterngefunkel hineininszenieren. So wie 1913 hin- gegen – zur Linken dem Bildgrund in markiger Faktur aufgeprägt – zeigt sich das neue Selbstbewusstsein als freier Künstler ohne Aplomb, so arglos und aufrichtig nach dem leibhaftig durchlittenen Schock des Ersten Weltkriegs nie wieder. Seine künstlerische Laufbahn hatte Dix 1910, der Dekorationsmalerlehre in der Vaterstadt Gera glücklich entronnen, an der Königlichen Kunstgewerbeschule Otto Dix, 1920 (Foto: Hugo Erfurth) zu Dresden begonnen. Wie bei vielen der besten deutschen Künstler entfaltete 43 42 Grisebach — Winter 2021
Otto Dix. „Selbstbildnis mit Nelke“. 1912. Öl/Pappe. Detroit Institute Los 10 Otto Dix. „Kleines Selbstbildnis“. 1913. Öl/Lwd. Staatsgalerie Stuttgart Otto Dix. „Selbstbildnis als Raucher“. Um 1914. Öl/Pappe. Kunstsammlung Gera, of Arts Museum Otto-Dix-Haus sich sein Naturtalent unter der „Kamelslast des Drills“ (Otto Dix, Erinnerungen!, sprung nach Berlin und als Akademieprofessor wieder in Dresden. Die National- in: Ausstellungskatalog Otto Dix, Gera 1966) auf dem Nährboden pädagogischer sozialisten diffamierten ihn als „entartet“; er zog sich in die innere Emigration an Reformen, trainierter Naturanschauung und stärkster Impulse aus Kunst und den Bodensee zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihm die Spaltung Leben außerhalb der Schule. Studien vor Meisterwerken von Pinturicchio, Cranach Deutschlands zur privaten Last, aber auch zum Impuls für eine singuläre deutsch- und Dürer in der Gemäldegalerie regten zu Experimenten mit Lasurmalerei und deutsche Künstlerexistenz. Dix‘ stilistischer Synkretismus spannt sich vom kosmi- stilistischen Adaptionen an. Vermittlerfiguren zwischen Symbolismus und Jugend- schen Expressionismus über das Hohngelächter Dadas zum polemischen Veris- stil, Heimat- und Monumentalkunst wie Arnold Böcklin, Max Klinger und Ferdinand mus mit sozialkritischer Potenz der frühen 1920er-Jahre. Danach treibt sein Hodler bestärkten die Lust an bildnerischen Attraktionen. Initialerlebnisse in wandlungsreicher Realismus sachliche, magische und romantische Blüten, bis er Avantgarde-Galerien animierten zu künstlerischen Neuorientierungen. Eine sen- 1933 in einen altmeisterlichen Naturalismus mit zeitkritischen Untertönen und sationelle Van-Gogh-Ausstellung Anfang 1912 hinterlässt pastos bewegte Spuren nach 1945 in ein spätexpressionistisches Alterswerk mündet. Er war beim großen und metaphorische Steigerungen im Werk. Seit Herbst 1913 tragen die apokalyp- Sterben in den Kriegen und bei der Geburt der eigenen Kinder dabei, ergründete tischen Stadtlandschaften Ludwig Meidners, orphische Traumvisionen Robert Verlockung und Verfall der menschlichen Existenz. Als „Wirklichkeitsmensch“ war Delaunays und psychologisierende Porträts von Edvard Munch zum frühen Stil- Dix immer beides: Zeitgenosse und Zeitzeuge, Betroffener und Beobachter. Sinn- pluralismus bei. Die vitalistische Philosophie Nietzsches, das affirmative Ver- liche Anschauung, unmittelbares Erleben blieben ihm wichtigstes Movens. „Es gilt ständnis des ewigen Kreislaufs von Geburt und Tod, prägt 1913/14 wilde rote und die Dinge zu geben, wie sie sind. Entrüstung kann man nicht malen.“ (Otto Dix im schwarze Tuschzeichnungen mit erotischen, christlichen und mythischen Sujets. Gespräch mit Fritz Löffler, in: Neue Zeit, Berlin, 16.8.1957.) In den Wechselfällen Die vibrierende Atmosphäre in der Elbmetropole löste rasche Aufbrüche und Um- und Widersprüchen seines Werks hat er wie kaum ein Zweiter die Zäsuren und stürze im Frühwerk aus. Der Debütant probierte zwischen Kunstgeschichte und Verwerfungen seiner Zeit reflektiert. Gegenwart alles aus, was ihm vor die Augen kam. Mit Eigensinn und Ausdrucks- Heute gilt Dix als einer der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. kraft formulierte er schon jetzt den Spannungsbogen seines künftigen Werks: Jahrhunderts. Sein ambivalenter Realismus ist brisanter denn je. Doch schon vor vom Superrealismus bis zur Ausdrucksexplosion und wieder zurück. 1914 hat er seine thematischen und stilistischen Horizonte ausgemessen. Dabei In den Stahlgewittern des Weltkriegs härtete sich Dix’ Selbstverständnis markiert das Selbstbildnis von 1913 einen wichtigen Punkt. Der junge Maler zeigt dann endgültig aus: „Der Künstler: Einer der den Mut hat, Ja zu sagen“ (Otto Dix, hier das Gegenteil einer habituellen Probehandlung, nämlich: existenzielles Kriegstagebuch, S. 87). Aufstieg und Fall der Weimarer Republik begleitete er mit Selbstsein. Otto Dix ist ganz bei sich – und offenbart einen Willen zur Kunst, der seinem Durchbruch als Künstler in Dresden und Düsseldorf bis zum Karriere- im Sinne Nietzsches „keinen Beweis mehr nötig hat“. 45 44 Grisebach — Winter 2021
10 Otto Dix Gera-Untermhaus 1891 – 1969 Singen „Selbstbildnis“. 1913 Öl auf Papier auf Pappe. 36 × 30 cm (14 ⅛ × 11 ¾ in.). Unten links datiert: 1913. Werkverzeichnis: Löffler 1913/2. [3009] Gerahmt. Provenienz Privatsammlung, Rheinland (spätestens 1964 erwor- ben, seitdem in Familienbesitz) EUR 200.000–300.000 USD 233,000–349,000 Ausstellung Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik aus Privatbesitz. Aachen, Museumsverein, im Suermondt-Museum, 1964, Kat.-Nr. 23, Abb. 60 / Otto Dix. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Graphik. Ham- burg, Kunstverein, 1966/67, Kat.-Nr. 3 / Dix. Otto Dix zum 80. Geburtstag. Gemälde, Aquarelle, Gouachen, Zeichnungen und Radierfolge „Der Krieg“. Stuttgart, Galerie der Stadt Stuttgart, 1971, Kat.-Nr. 7, und Paris, Musée d’art moderne de la Ville de Paris, 1972, Kat.- Nr. 5 Literatur und Abbildung Fritz Löffler: Otto Dix, Leben und Werk. Dresden, Ver- lag der Kunst, 1960, S. 13; 2. Auflage: Dresden, Verlag der Kunst, und Wien, 1967, S. 14; 3. Aufl.: Dresden, Verlag der Kunst, 1972, S. 14 / Fritz Löffler: Kunst als Sinngebung unserer Zeit. Otto Dix 75 Jahre alt. In: Die Kunst und das schöne Heim, 64. Jg., 1966, S. 113–116, hier S. 113, m. Abb. / Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis. Berlin, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, zweite, ergänzte Aufl. 1981 (1. Aufl. 1978), S. 23, S. 26, Abb. 10, u. S. 284 / Otto Conzelmann: Der andere Dix. Sein Bild vom Menschen und vom Krieg. Stuttgart, Klett-Cotta, 1983, S. 58 u. S. 59, Abb. 76 / Rainer Beck: Dix und die Tradition. Aspekte zum Thema im Œuvre der Gemälde. In: Otto Dix zum 100. Geburts- tag. Symposion. Albstadt, Städtische Galerie, 1./2. Juni 1991, S. 18 u. S. 35, Abb. 40 • Otto Dix´ Selbstbildnis als existenzielles Bekenntnis • Selbstbildnisse von Otto Dix sind auf dem Kunstmarkt von allergrößter Seltenheit • Seit etwa 60 Jahren in Familienbesitz 47 46 Grisebach — Winter 2021
11 Lovis Corinth Unser Aquarell steht in engem Zusammenhang mit dem ebenfalls 1921 geschaffenen Gemälde „Walchensee, Land- Tapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort schaft mit Kuh“, das sich im Besitz der Staatlichen Kunst- sammlungen Kassel, Neue Galerie, befindet (s. Abb. unten). Urfeld am Walchensee. 1921 Bei seinen Aufenthalten in Urfeld nutzte Lovis Corinth Aquarell und Gouache auf festem Papier. die Möglichkeiten der Aquarelltechnik, um die charakteristi- 36,1 × 50,8 cm (14 ¼ × 20 in.). Am rechten Rand unten schen Formen der Landschaft sowie die Fülle ihrer atmo- mit Tuschfeder signiert, bezeichnet und datiert: sphärischen Erscheinungen in großen Zügen und in freier Lovis Corinth Urfeld 19. August 1921. [3218] Gerahmt. Bewegung des Pinsels festzuhalten. Bis zur Fertigstellung Provenienz seines eigenen Hauses oberhalb der Ortschaft logierte Privatsammlung, Spanien (1973) / Privatsammlung, Corinth im Hotel Fischer am See, das man in vielen seiner Schweiz (1975) / Privatsammlung, Spanien (1986) / Walchenseelandschaften wiederfindet. In diesem Aquarell Privatsammlung, Berlin hat er für die Wiedergabe des „Landhauses“, wie er es auch nannte, den Farbton des Papiers genutzt, während der Rest EUR 150.000–200.000 des Blattes von den transparenten, ineinander fließenden USD 174,000–233,000 Farben bedeckt ist. In einem eng eingegrenzten Ausschnitt des Sees mit Ausstellung wenigen Häusern am Ufer hat Corinth die gesamte Dramatik Lovis Corinth. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1973, einer Abendstimmung festgehalten. Die Wärme der unter- Kat.-Nr. 23 / Lovis Corinth zum 50. Todestag. Aqua- gehenden Sonne und der spektakulär beleuchtete Himmel relle, Handzeichnungen und Graphik. Berlin, Galerie sind im Farbenspiel des Wassers, den goldgelben Hängen Pels-Leusden, 1975, Kat.-Nr. 16 / Lovis Corinth. Die und den mit roter Deckfarbe akzentuierten Dächern enthal- Bilder vom Walchensee, Vision und Realität. Regens- ten. Es war jedoch weniger der flüchtige Moment, den burg, Ostdeutsche Galerie, und Bremen, Kunsthalle, Corinth bannen wollte. Schnell und konzentriert erwächst 1986, Kat.-Nr. 102 a / Lovis Corinth am Walchensee. aus leuchtendem Violett und Blau die Vorstellung des Malers Späte Bilder. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 2002, von der Urkraft des Sees. Er weiß die Aquarelltöne als farbi- Kat.-Nr. 12, Abb. S. 15 und auf dem Umschlag / Lovis ges Licht einzusetzen, welches rätselhafte Tiefen sowie seine Corinth. Seelenlandschaften. Walchenseebilder und eigenen zwiespältigen Gefühle andeutet, die er im manch- Selbstbildnisse. Kochel am See, Franz Marc Museum, mal Heiteren, manchmal Unheimlichen des Naturschauspiels 2009, S. 25, Abb. 6, u. S. 119 gespiegelt sah. Die Meisterschaft, mit der Lovis Corinth hier Literatur und Abbildung die Leichtigkeit des Aquarells mit bildhafter Dichte und Versteigerungskatalog: Kunst alter und neuer Meister, damit den vorübergehenden Augenblick mit elementarer Dekorative Graphik, Veduten. München, Karl & Faber, Aussage vereint, macht „Urfeld am Walchensee“ zu einem 11./12.6.1970, Kat.-Nr. 585, Abb. Tf. 4 seiner bedeutendsten Walchensee-Aquarelle. sch • Urfeld am Walchensee war ab 1919 Rückzugsort von Lovis Corinth • Die Bilder vom Walchensee gehören zu den Höhe- punkten in Lovis Corinths Schaffen • Virtuoses Aquarell von großer Farbintensität Lovis Corinth. „Walchensee, Landschaft mit Kuh“. 1921. Öl/Lwd. Kassel, Staatliche Kunstsammlungen, Neue Galerie 49 48 Grisebach — Winter 2021
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