VULNERABILITÄTSERFAHRUNGEN UND DIE ERARBEITUNG VON AGENCY: ANKOMMENSPROZESSE JUNGER GEFLÜCHTETER

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ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

VULNERABILITÄTSERFAHRUNGEN UND DIE
ERARBEITUNG VON AGENCY:
ANKOMMENSPROZESSE JUNGER GEFLÜCHTETER
Rebecca Mörgen und Peter Rieker

Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft
E-Mail: rmoergen@ife.uzh.ch
URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/moergenrebecca.html

Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft
E-Mail: prieker@ife.uzh.ch
URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/riekerpeter.html

Zitationsvorschlag:

Mörgen, Rebecca/Rieker, Peter (2021): Vulnerabilitätserfahrungen und die Erarbeitung
von Agency: Ankommensprozesse junger Geflüchteter. In: Gesellschaft – Individuum –
Sozialisation (GISo). Zeitschrift für Sozialisationsforschung, 2 (1). DOI:
10.26043/GISo.2021.1.3

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https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3

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ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

VULNERABILITÄTSERFAHRUNGEN UND DIE
ERARBEITUNG VON AGENCY:
ANKOMMENSPROZESSE JUNGER GEFLÜCHTETER 1
Rebecca Mörgen und Peter Rieker
Abstract: Unbegleitete minderjährige Geflüchtete befinden sich nach ihrer Ankunft in Europa in prekären
Lebenssituationen, die mit Vulnerabilitätserfahrungen einhergehen, die sie gleichzeitig bearbeiten und be-
wältigen. Denn mit der Ankunft ist zwar die Fluchtmigration beendet, doch angekommen sind die Jugend-
lichen noch nicht. Wie gestalten Jugendliche den Prozess des Ankommens, und welche Formen von
Agency erarbeiten sie sich unter den jeweiligen sozialen Bedingungen? Diese Fragen fokussiert der Bei-
trag und rekonstruiert auf Basis von qualitativen Interviews mit jungen Geflüchteten, wie sie Vulnerabili-
tätserfahrungen und Agency in Bezug auf ihren Ankommensprozess thematisieren.

Keywords: Agency, Vulnerabilität, unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Ankommensprozess, Flucht-
migration

Mit der Ankunft in europäischen Ländern, wie               Schutzwürdigkeit und Unterstützungsnotwen-
z. B. der Schweiz, und dem Stellen eines Asylge-           digkeit, die ihnen ausschliesslich eine vulnerable
suchs ist für unbegleitete minderjährige Geflüch-          Position zuschreibt.
tete (im Folgenden mineurs non accompagnés:
MNA) zwar die Fluchtmigration beendet, doch                Die Jugendlichen befinden sich also auch nach
von einem „Angekommen-Sein“ im Aufnahme-                   der Ankunft in Europa in prekären Lebenssituati-
kontext kann nicht ausgegangen werden. 2 Viel-             onen, die mit Vulnerabilitätserfahrungen einher-
mehr wird auf die mit der Ankunft beginnenden              gehen, die sie aber auch bewältigen und
Herausforderungen und Ambivalenzen der Le-                 bearbeiten. Allerdings fehlt es an Erkenntnissen
benssituationen der MNA hingewiesen: Ihr All-              dazu, wie geflüchtete Jugendliche ihr Leben, den
tag sei durchgängig von „Unsicherheiten                    damit verbundenen Prozess des Ankommens
geprägt“ (Lechner et. al. 2017, 18) und sie bewe-          und die verschiedenen (institutionellen) Über-
gen sich in einem Spannungsverhältnis zwi-                 gänge gestalten, wahrnehmen und erleben (Zel-
schen „Vulnerabilität und Eigenmotivation“                 ler et al. 2020) und welche Möglichkeitsräume
sowie in „Kontakttreten und Anderssein“ (Finde-            sich unter den jeweiligen sozialen Bedingungen
ning/Klinger 2019) in Bezug auf die sie aufneh-            für sie ergeben können.
mende Mehrheitsgesellschaft. Die Ankunft
werde als angsteinflössend wahrgenommen                    In der Schweiz, auf die sich die Überlegungen
(Detemple 2016, 57) und das Erleben strukturell            des vorliegenden Beitrags beziehen, werden
bedingter Einschränkungen, bspw. durch das                 MNA nach ihrer Ankunft in unterschiedlichen
Asylsystem, führe zu Gefühlen der Ohnmacht                 Kontexten institutionell untergebracht und be-
und Hilflosigkeit (Hargasser 2015, 124). Diese             treut, wie bspw. in spezifischen MNA-Einrich-
Betrachtungsweise verbindet die Lebenssituati-             tungen, in Pflegefamilien oder Gemeinschafts-
onen von jungen Geflüchteten implizit mit einer            unterkünften (Rieker et al. 2021). Es kann davon
                                                           ausgegangen werden, dass sie während dem

1
  Wir möchten an dieser Stelle ganz herzlich Alex Knoll, Anne Caroline Ramos, Anna Schnitzer und den anonymen
Gutachter*innen für die anregenden und konstruktiven Hinweise zu Vorversionen dieses Textes danken.
2
  In der Schweiz wird der Begriff „mineurs non accompagnés“ (MNA) verwendet. Im Unterschied zu dem Begriff der
„unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden“ umfasst dieser alle Kinder und Jugendlichen, die ohne Sorgeberech-
tigte in der Schweiz leben, und bezieht sich nicht nur auf den Status des Asylverfahrens.

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                           Seite 1
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Ankommen unterschiedliche institutionelle Über-             Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit verknüpft.
gangs- und damit verbundene Diskontinuitätser-              Dies hat zunächst damit zu tun, dass junge Ge-
fahrungen machen, wie sie aus der Care-                     flüchtete routinemässig – bspw. durch das Büro
Leaving-Debatte bekannt sind (vgl. Göbel et al.             des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Ver-
2020).                                                      einten Nationen (UNHCR) oder die EU-Recht-
                                                            sprechung – in öffentlichen Diskursen als
Vor diesem Hintergrund fokussiert der Beitrag               vulnerable Personengruppe kategorisiert wer-
die Frage, wie Jugendliche mit Fluchterfahrung              den. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Dar-
den Prozess des Ankommens in der Schweiz er-                stellung der MNA als traumatisierte, verletzliche
leben und gestalten, um vor diesem Hintergrund              und schutzbedürftige Kinder (Lems et al. 2019).
die sozialen Bedingungen von Vulnerabilität als             In dieser Adressierungsweise als vulnerables
auch Agency zu reflektieren. Es wird untersucht,            Subjekt befinden sich junge Geflüchtete aus-
inwiefern sich die Jugendlichen in Bezug auf den            serhalb dessen, was in europäischen Konzepten
Ankommensprozess unter Berücksichtigung der                 als „normale“ und „ideale“ Kindheit betrachtet
jeweiligen sozialen und kontextspezifischen Be-             wird (Wernesjö 2012, 504) – wobei sich euro-
dingungen Handlungsmöglichkeiten erarbeiten.                zentrische Konzeptionen von Kindheit eher durch
Zudem wird danach gefragt, welche Möglich-                  Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit als durch
keitsräume sich für sie eröffnen und welche sozi-           Prozesse der Autonomisierung auszeichnen
alen Beziehungen sie relevant setzen. Hierfür               (Liebel 2017, 69). Dies sei zum einen der Fall,
wird sich auf Interviews bezogen, die mit ge-               weil ihnen eine „normale“ Kindheit vorenthalten
flüchteten Jugendlichen im Kontext des Projekts             werde (Wernesjö 2012, 504) und sie mitunter
„Unbegleitete minderjährige Geflüchtete in insti-           als Opfer verantwortungsloser Eltern gelten, die
tutioneller Betreuung: Chancen und Herausfor-               ihre Abhängigkeit ausnutzen und sie ungeachtet
derungen“ geführt wurden. 3                                 ihrer kindlichen Vulnerabilität auf die Flucht schi-
                                                            cken. Zum anderen wird die Ausgeglichenheit
Im Folgenden werden zunächst der Forschungs-                und Gleichmütigkeit im Auftreten minderjähriger
und Diskussionsstand zu Verwundbarkeit und                  Geflüchteter als Fassade gesehen, hinter der
Agency in der Fluchtmigrationsforschung skiz-               Traumata, Ängste und Schuldgefühle ausge-
ziert (1), bevor auf method(olog)ische Überle-              macht werden (Kurz-Adam 2016, 43). Psychi-
gungen des Projekts eingegangen wird (2). Im                sche Vulnerabilität und Hilflosigkeit werden
Anschluss daran werden zwei Fälle präsentiert,              somit mit traumatisierenden Verlusten und Ver-
in denen die Ankunft in der Schweiz in spezifi-             folgungserfahrungen im Heimatland und auf der
scher Weise erlebt wird, wobei biographische                Flucht begründet (ebd.). Zudem werden Vulnera-
Dimensionen einen bedeutsamen Stellenwert                   bilitätserfahrungen im Rahmen vorliegender Stu-
haben und unterschiedliche Bedingungen der                  dien auf verschiedene kontextspezifische
Ermöglichung wie auch Verhinderung von                      Bedingungen zurückgeführt: Unzureichende
Agency und Vulnerabilitätserfahrungen deutlich              Partizipationsmöglichkeiten im Asylverfahren
werden (3). Den Abschluss bildet ein kurzes Fazit           (Hargasser 2016), eine fürsorgliche Betreuung,
(4).                                                        die Selbstständigkeit verhindere (Jurt/Roulin
                                                            2016), fehlende Vertrauens- und Zukunftskons-
1. FORSCHUNGS- UND DISKUSSIONSSTAND:                        tellationen, die die jeweilige Handlungsmächtig-
VERWUNDBARKEIT UND AGENCY VON MNA                           keit bedrohen (Zeller et al. 2020, 222) oder
IN DER FLUCHTMIGRATIONSFORSCHUNG                            prekäre, instabile Beziehungen, die das Gefühl,
                                                            „wirklich angekommen zu sein“ (Lechner et. al.
Migrations- und Fluchtbewegungen sowie damit
                                                            2017, 18), verhinderten.
einhergehende biografische Prozesse werden
seit den 90er-Jahren in der Fluchtmigrationsfor-            Dem gegenüber konzentriert man sich an ande-
schung zu jungen Geflüchteten mit Fragen von                rer Stelle auf Fragen der Bedeutung wie auch

3
 Das Forschungsprojekt wird seit 2018 am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich durchgeführt.
Es wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert und ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 76. Im
Projekt arbeiten Ellen Höhne, Rebecca Mörgen und Peter Rieker (Projektleitung).

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                             Seite 2
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Herstellung von Agency junger Geflüchteter,                Vor diesem Hintergrund betonen bspw. Mats
wobei spezifische Erfahrungen im Herkunftskon-             Utas (2005) mit dem Begriff „Victimcy“ oder
text untersucht werden, wie z. B. die Übernahme            Laura Otto (2019) mit „adult minors“ die Ein-
von Verantwortung für andere Familienmitglie-              nahme einer relationalen Perspektive auf das
der und das Agieren als Haushaltsvorstand                  Verhältnis von Agency und Vulnerabilität, die
(Payne 2012). Zudem gelten junge Geflüchtete               den sozialen, ökonomischen, politischen und
teilweise auch im familialen Kontext als auto-             kontextspezifischen Bedingungen der Lebens-
nome Akteur*innen, die ihre Fluchtentscheidung             führungsweisen der jungen Geflüchteten Beach-
nicht von familialer Unterstützung abhängig ma-            tung schenkt (vgl. auch: Clark 2007; Belloni
chen (Heidbrinck/Statz 2017, 547 ff.; Belloni              2019). Sie verweisen auf die paradoxale Verbin-
2019). Andere Studien wiederum konzentrieren               dung zwischen einer Selbst- und Fremdpositio-
sich auf die Bedeutung von Handlungsmacht                  nierung und machen darauf aufmerksam, dass
junger Geflüchteter im europäischen Grenzre-               die Selbstpräsentation der Jugendlichen inner-
gime; hier werden z. B. ihre Verhandlungen mit             halb des Migrationsregimes als vulnerabel,
Mitarbeitenden in Flüchtlingsunterkünften skiz-            gleichzeitig aber auch als Ausdruck der Herstel-
ziert, in deren Verlauf sie ihre eigenen Interessen        lung einer Handlungsfähigkeit und Handlungs-
und Vorstellungen kompetent vertreten (Otto                macht innerhalb des Asylsystems gelesen
2019).                                                     werden kann. Die jeweiligen Positionierungen in
                                                           den Interaktionen mit institutionellen Akteur*in-
Auf die Wirkmächtigkeit des Diskurses, der MNA             nen unterliegen immer wieder alltäglichen Aus-
auf essentialisierende Art und Weise als unter-            handlungen      und    entziehen sich       einer
stützungs- und hilfsbedürftig kategorisiert und            eindeutigen Zuordnung eines handlungsfähigen
positioniert (Clark 2007), wird in verschiedenen           oder vulnerablen Subjektstatus.
empirischen Studien kritisch hingewiesen. Denn
die Konstruktion der MNA als vulnerable Sub-               Mit dieser Einordnung in den Forschungsstand
jekte ruft in der Regel eine Bearbeitungskultur auf        knüpft der Beitrag an konzeptionelle-theoreti-
den Plan, z. B. die Besonderheiten der institutio-         sche Überlegungen zu einer relationalen Be-
nellen Betreuung, die als Bearbeitungsversuche             trachtungsweise von Vulnerabilität und Agency
von Vulnerabilität gelesen werden können, und              an, die diese nicht als eine individuelle Eigen-
die die Legitimität von Sozialpädagogik in Bezug           schaft – im Sinne einer Wesenszuschreibung –
auf Betreuung und Unterbringung begründet.                 konzipieren (Burkitt 2015; MacKenzie et al.
Somit durchdringe der Diskurs bspw. auch die in-           2013). Vielmehr gehen wir davon aus, dass sich
stitutionellen Kontexte der Unterstützungsange-            Agency und Vulnerabilität situativ in sozialen
bote, in denen geflüchtete Jugendliche dazu                Prozessen konstituieren und es sich um subjek-
aufgefordert werden, sich selbst als verletzlich           tive Konzeptionen von Agency- als auch Vulne-
und unterstützungsbedürftig zu zeigen, um                  rabilitätserfahrungen handelt (Helfferich 2020).
überhaupt Zugang zu den entsprechenden Res-                Gemeinsam ist diesen Perspektiven die Veror-
sourcen zu erhalten (Otto 2019; Utas 2005).                tung und Herstellung verschiedener Dimensio-
Diese Selbstpositionierungen bilden aber gleich-           nen      von     Agency      innerhalb    sozialer
zeitig die Grundlage für die Legitimitätsansprü-           Beziehungskonstellationen wie auch sozialer
che innerhalb des Asylsystems. Denn                        Bedingungen, die für die Jugendlichen besonders
Vulnerabilität symbolisiere eine „Währung“                 relevant sind, sofern von einer existentiellen so-
(Lems et al. 2019, 326), die eingesetzt werden             zialen Angewiesenheit als auch Verwiesenheit
müsse, um die Gegenleistung, wie Zugang zu                 auf Andere ausgegangen wird (Eßer/Schröder
gesellschaftlichen Ressourcen in Form von insti-           2020). Damit wird von einem Subjektverständnis
tutioneller Unterstützung oder Bildungsange-               ausgegangen, das, mit Bernhard Waldenfels
bote, erhalten zu können. Und solch eine                   (2002) gesprochen, durch „Bruchlinien der Er-
Selbstrepräsentation als vulnerabel kann ihrer-            fahrung“ gekennzeichnet ist, zu denen es sich
seits als spezifische Form von Agency angese-              verhält, auf die es reagiert und antwortet, in de-
hen werden.                                                nen Vulnerabilität ein Grundmoment von Erfah-
                                                           rungen darstellt (Stöhr 2019, 161) und in denen
                                                           sich Möglichkeitsräume eröffnen. Die kontext-

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ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

und situationsspezifischen Erfahrungen der Ju-             der in einer Heimeinrichtung oder in einer Pflege-
gendlichen lassen sich sodann als eine Eröffnung           familie leben. Der Zugang zu Jugendlichen, die in
und Begrenzung der Handlungsfähigkeiten und                institutionellen Betreuungskontexten, wie MNA-
-möglichkeiten wie auch der Handlungsohn-                  Heimen und Gemeinschaftsunterkünften, unter-
macht verstehen. Es wird zu zeigen sein, wie sich          gebracht sind, erfolgte auf Basis der ethnogra-
geflüchtete Jugendliche Agency unter prekären              phischen Feldaufenthalte durch die jeweilige
Bedingungen des Migrationsregimes und des                  Forscherin. Die in den Einrichtungen lebenden
Ankommens in dem Aufnahmekontext erarbei-                  Jugendlichen wurden nach einer gewissen Zeit
ten und inwiefern mit spezifischen Vulnerabili-            der Teilnahme am Alltag, der damit verbundenen
tätserfahrungen     begrenzende      als    auch           Kontaktaufnahme und des Beziehungsaufbaus
ermöglichende Möglichkeitsräume einhergehen                von den Forscherinnen persönlich für die Durch-
können.                                                    führung des Interviews angesprochen. Im Unter-
                                                           schied dazu erfolgte der Zugang zu denjenigen
2. METHODISCHES VORGEHEN UND ME-                           Jugendlichen, die in Pflegefamilien untergebracht
THODOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN ZU DER                          sind, über eine Pflegefamilienplatzierungsorga-
SELBSTREPRÄSENTATION VON MNA IM                            nisation. Im Anschluss an ein Vorgespräch mit
PROJEKTKONTEXT                                             den Pflegefamilienmitgliedern wurden Inter-
                                                           views mit den Jugendlichen als auch den Pflege-
Überlegungen zum Prozess des Ankommens                     eltern geführt. Die Interviews mit den
sowie die Frage danach, welche sozialen Bedin-             Jugendlichen fanden an von ihnen selbstgewähl-
gungen und Beziehungen wie von geflüchteten                ten Orten und somit in Restaurants, Cafés, wäh-
Jugendlichen in den unterschiedlichen Phasen               rend einem Spaziergang, in den Klassenzimmern
der Übergangs- und Diskontinuitätserfahrungen              der Einrichtungen oder bei ihnen zuhause statt.
thematisiert werden, werden mit Bezug auf die
Studie „Unbegleitete minderjährige Geflüchtete             Methodisch orientieren wir uns am Verfahren
in institutioneller Betreuung: Chancen und Her-            des problemzentrierten Interviews, d. h. den Ge-
ausforderungen“ empirisch analysiert und disku-            sprächen liegt ein Leitfaden zugrunde, mit dem
tiert. Das Projekt untersucht die (institutionelle)        jedoch je nach Interviewsituation flexibel umge-
Unterbringung und Betreuung von MNA, wobei                 gangen wird. Gleichzeitig wurde versucht, mög-
auf das Spannungsverhältnis von Fürsorge und               lichst wenige Vorgaben zu machen, um den
Zwang fokussiert wird. Im Zuge dessen wird in              interviewten Jugendlichen zu ermöglichen, ei-
unterschiedlichen institutionellen Betreuungs-             gene Relevanzsetzungen vorzunehmen (Witzel
kontexten der deutschsprachigen Schweiz                    2000). Die Interviews wurden vollständig
(MNA-Zentren, Durchgangszentren, Pflegefami-               transkribiert, wobei sämtliche Personen- und
lien) über einen Zeitraum von bis zu drei Monaten          Ortsnamen anonymisiert wurden. Diese Materi-
an dem Alltag der Betreuung teilgenommen und               alien werden in der Forschungsgruppe in Anleh-
ethnographisch beobachtet. Zudem werden In-                nung an das Verfahren der Grounded Theory
terviews mit den verschiedenen am Alltag der               ausgewertet (Strauss 1998). Bei der Datenana-
Betreuung Beteiligten (Jugendliche, Fachkräfte,            lyse dienen sozialtheoretische Überlegungen zu
Pflegeeltern) geführt.                                     einem relationalen Verständnis von Agency und
                                                           Vulnerabilität (Burkitt 2015) sowie methodologi-
Dieser Beitrag bezieht sich ausschliesslich auf            sche Überlegungen zu subjektiven Konzeptionen
die im Rahmen der Studie bisher durchgeführten             von Agency (Helfferich 2020) als sensibilisie-
Interviews mit elf Jugendlichen und fokussiert             rende Zugänge und Konzepte.
damit deren subjektive Perspektiven. Insgesamt
wurden zehn männliche Jugendliche und eine                 3. ANKOMMEN AUS SICHT DER JUGENDLI-
junge Frau interviewt, die mindestens seit einem           CHEN
Jahr in der Schweiz leben, ganz unterschiedliche
soziale Hintergründe aufweisen, aus unter-                 Die im Rahmen unserer Untersuchung bisher
schiedlichen Ländern (v. a. Eritrea, Afghanistan,          geführten Interviews deuten auf ganz unter-
Syrien) in die Schweiz migriert sind und entwe-            schiedliche Erfahrungen in Bezug auf den Her-
                                                           kunftskontext, die Flucht, die Ankunft und das

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                         Seite 4
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

bisherige Leben in der Schweiz hin. Vor diesem                                                                 rungen sind hierbei als retrospektive, auf die ge-
Hintergrund wurden für diesen Beitrag zwei Ein-                                                                genwärtige Situation und Zukunft erfolgende
zelfälle ausgewählt, bei denen sich unterschied-                                                               Sinn- und Bedeutungskonstruktionen zu verste-
liche Sichtweisen auf das Ankommen in der                                                                      hen.
Schweiz zeigen. D. h. sie unterscheiden sich ins-
besondere in ihrer Wahrnehmungsweise der in-                                                                   3.1 Aras – „von Null anfangen und dann geht’s
stitutionellen als auch strukturellen Bedingungen                                                              weiter“
ihres Ankommens in der Schweiz, die sie entwe-
der als begrenzenden oder grenzenlosen Mög-                                                                    Geboren und aufgewachsen ist Aras in Syrien
lichkeitsraum für sich erleben. Um zu verstehen,                                                               und 2015 ist er über die europäischen Flucht-
was Vulnerabilität und Agency für die Jugendli-                                                                migrationsrouten in die Schweiz gekommen.
chen in den jeweiligen Kontexten und sozialen                                                                  Seine Eltern leben zum Zeitpunkt des Interviews
Beziehungen wie auch unter unterschiedlichen                                                                   noch immer in Syrien, während zwei seiner
sozialen Bedingungen bedeuten, erscheint es                                                                    Schwestern in anderen europäischen Ländern
lohnenswert, ihre Erzählungen zu den unter-                                                                    leben. Über seine Reiseroute und auf der Flucht
schiedlichen biographischen Lebensphasen ih-                                                                   gemachte Erfahrungen spricht Aras im Interview
res Migrationsprozesses zu berücksichtigen. Im                                                                 nicht. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Aras 17
Rahmen einer ersten Falldarstellung wird auf                                                                   Jahre alt, verfügt über den vorläufig aufgenom-
Aras eingegangen, der vor der Fluchtmigration                                                                  menen Asylstatus „F“, ist gerade in ein Ein-Zim-
familiale Fürsorge erfahren hat und sich nun als                                                               mer-Apartment in Grossstadt 1 gezogen,
selbständige, erwachsene Person positioniert                                                                   besucht weiterhin das letzte Jahr der Sekundar-
(3.1). Anschliessend werden wir im Rahmen ei-                                                                  schule in Stadt 1, bevor er im September 2019
ner zweiten Falldarstellung auf Ahmend einge-                                                                  eine Ausbildung in einem bautechnischen Be-
hen (3.2), der dadurch aufgefallen ist, dass er                                                                reich beginnen wird (vgl. Abb. 1). 4 Sein Onkel
Diskontinuitäts- und Übergangserfahrungen als                                                                  und dessen Familie leben in unmittelbarer Nähe
Normalzustand beschreibt. Die Erzählungen der                                                                  der eigenen Wohnung.
Jugendlichen als biografische Selbstthematisie-

Abbildung 1: Lebensstationen Aras – gemäss Interviewerzählung

             2002 in Afrin geboren;                     2015;                                    27 Tage;                                 wohnt ca. 3 Jahre dort;               Umzug 1-Zimmer-
                                                                               Aufnahmezentrum
                                      Ankunft Schweiz
    Syrien

                                                                                                                        MNA-Einrichtung

                                                                                                                                                                    seit 2019

             lebt mit seinen Eltern                     ist 13 Jahre alt;                        erhält den F-Ausweis                     besucht die öffentliche               Appartement in
             zusammen                                                                                                                     Schule;                               unmittelbarer Nähe zu
                                                        Empfang durch seinen                                                                                                    der Familie seines
                                                        Onkel – kommt in das                                                              arbeitet bei seinem                   Onkels;
                                                        Aufnahmezentrum                                                                   Onkel im Geschäft
                                                                                                                                                                                besucht weiterhin die
                                                                                                                                                                                Schule in Stadt 1;
                                                                                                                                                                                Aussicht auf eine
                                                                                                                                                                                Lehrstelle 2019

Quelle: eigene Darstellung

3.1.1 Herkunftskontext                                                                                         „Ja als ich noch in Syrien war, waren meine Eltern
                                                                                                               für mich zuständig oder sie haben mir alles ge-
Aras gibt an verschiedenen Stellen Einblicke in                                                                macht und alles (.) es waren einfach (.) für mich
sein familiäres Beziehungsgefüge und die Bedin-                                                                da oder sie haben mir alles gemacht einfach ge-
gungen seines Aufwachsens vor der Flucht, wie                                                                  kocht und auch was wie immer oder Sachen ge-
es in der folgenden Erzählung zum Ausdruck                                                                     kauft (.) also ich musste mir einfach keine Sorgen
kommt:                                                                                                         machen […].“ (Z.61)

4
 Mit dem Asylstatus „F“ werden Personen als Flüchtling anerkannt, sind allerdings nach nationalem Recht von Asyl
ausgeschlossen. Sie werden in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Der Ausweis wird jeweils für ein Jahr ausgestellt
und kann verlängert werden.

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Später kommt er erneut auf seinen Herkunfts-                    Schweiz kommen oder (.) da sind sie halt Flücht-
kontext zu sprechen:                                            linge oder da müssen sie (.) in ein Heim gehen wo
                                                                sie nicht wollen oder (.) da würden sie sich
„[U]nd in Syrien (.) hatte ich nie so eine fremde               schlecht fühlen oder (.) mit fünfzig Jahren in ein
Person getroffen (.) es waren […] einfach alle (.)              Heim gehen oder (.) und […] müsst einfach essen
die meine Sprache gesprochen haben (und dann)                   und schlafen huh das wollen sie irgendwie nicht
hatte ich auf einmal (.) viele Leute die (.) keine Ah-          oder (I: Mhm.) das ist einfach ähm (.) unange-
nung andere Sprache sprechen oder (.) andere (.)                nehm.“ (Z. 669–693)
Nationalitäten haben und [...] vor allem so (.) dun-
kelhäutige Menschen und das habe ich noch nie                   Eindrücklich beschreibt Aras in dieser Sequenz
im Leben gesehen @.@ (I: Mhm.) erst in der                      den mit dem Fluchtmigrationsprozess verbunde-
Schweiz (.) ja (.).“ (Z. 953–960)                               nen Verlust an Möglichkeitsbedingungen von
                                                                Autonomie sowie damit einhergehenden Verlus-
Aras beschreibt das Aufwachsen in einem von                     terfahrungen des Gewohnten: Verloren wird die
Fürsorge geprägten familialen Umfeld, in dem er                 eigene Sprache und die uneingeschränkte Be-
eine sorgenfreie Kindheit erlebt hat. Zudem skiz-               wegungsmöglichkeit. Mit der Ankunft in der
ziert er den Kontext seines Aufwachsens als ei-                 Schweiz werden seine Eltern „Flüchtlinge“ und
nen, in dem nur die vertraute Sprache und                       geben damit gewissermassen das Recht auf ein
vertraut aussehende Menschen präsent waren.                     selbstbestimmtes Leben ab: „Einfach essen und
Erst nach seiner Flucht macht er Fremdheitser-                  schlafen“ bedeutet innerhalb der vorgegebenen
fahrungen, wie die mit anderen Sprachen                         Strukturen zu funktionieren, sich unterzuordnen
verbundene Möglichkeit von Verständigungs-                      und abzuwarten. Aras skizziert also in Bezug auf
problemen oder das Zusammenleben mit Men-                       den Aufnahmekontext situative Vulnerabilitäts-
schen anderer natio-ethno-kultureller Zuge-                     bedingungen, die für ihn als junger Mensch noch
hörigkeiten. Die Entbehrung der Eltern sowie die                zumutbar sind – für seine Eltern jedoch unzumut-
Fremdheitserfahrungen in der Schweiz gehen                      bar erscheinen; Leben unter Bedingungen des
mit der Erfahrung von Neuem und Irritationen für                Krieges erscheint hier als das geringere Übel. Die
Aras einher und fordern ihn auf, seine bisherigen               mit der Erzählung verbundene subjektive Bewer-
Erfahrungen weiterzuentwickeln.                                 tung der Situation deutet an, dass Aras sich unter
                                                                prekären Bedingungen der Asylpolitik Hand-
An anderer Stelle im Interview kommt Aras                       lungsmöglichkeiten erarbeitet hat, und lassen
nochmals auf die Abwesenheit seiner Eltern in                   Agency als dynamisches Durchhalten erschei-
der Schweiz zurück. Er erzählt, dass er seine                   nen, das aber nicht für jeden zumutbar ist.
Eltern aufgefordert habe, in die Schweiz zu kom-
men, diese sich allerdings dagegen ausgespro-                   3.1.2 Ankunft im Erstaufnahmezentrum: ein be-
chen haben. Auf die Rückfrage der Interviewerin,                grenzter Möglichkeitsraum
wie dies für ihn sei, reagiert er mit einer Normali-
sierungstaktik und einem generationalen Ver-                    Die Beurteilung der mit Fremdbestimmung ver-
gleich:                                                         bundenen Migrationserfahrungen sowie der
                                                                Herausforderungen in Bezug auf einen als an-
„[E]s hat Vorteile und Nachteile (.) in die Schweiz             spruchsvoll erlebten Integrationsprozess im Auf-
kommen oder (.) dann sie sind ja nicht so jung wie              nahmekontext für seine Eltern ist verknüpft mit
ich oder (I: Ja.) sie sind ältere Leute oder (.) [...], ich     seinen eigenen Erfahrungen der Ankunft in der
bin sicher dass sie so Schwierigkeiten haben                    Schweiz. Nachdem er mit dem Zug am Bahnhof
werden oder (.) beim [...] integrieren und so und               angekommen ist und dort von seinem Onkel in
die Sprache (eben) so Deutsch und (.) [...], weil               Empfang genommen wurde, hat dieser ihn in ein
dort sie sich keine Ahnung sich einfach frei fühlen             Erstaufnahmezentrum gebracht, welches für ihn
oder (.) es ist schon nicht sicher oder (.) s ist schon         mit Angst und Überforderung verbunden ist:
Krieg dort oder (I: Mhm.) (.) aber sie sind halt dort
geboren und sie haben alles im Griff oder (.) sie               „Das Heim war einfach voller Leute oder und da
dürfen Auto fahren sie dürfen (3) alles machen                  war ich (.) und (.) ( ) hatte gesagt du musst jetzt
was sie wollen oder (.) und wenn sie in die                     reingehen (.) so, wie ein Stall (.) und jetzt hier

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                               Seite 6
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müssen wie jetzt reingehn und die Türe zu oder             terview, ein eigenes 1-Zimmer-Appartment. Sei-
(.) und es gibt niemand mit dem man reden kann             nen Alltag in der Schweiz erlebt er durchaus am-
oder und dem man Fragen stellen kann oder (.)              bivalent. So erzählt er zunächst:
keine Übersetzer und niemand fragt dich (.) und
man kann einfach keine Fragen stellen wieso ich            „[S]o mein Alltag in der Einrichtung war einfach
jetzt da bin oder was passieren kann oder (.) ein-         immer so stressig weiss nicht wieso (.) mir war
fach so oder (.) und dann musst du einfach rein-           immer stressig (.) also ich muss immer so früh
gehen und darfst nicht mehr raus gehen (.) du              aufstehen (.) und dann in die Schule gehn […] und
musst einfach essen und warten bis jemand dich             am Nachmittag ging ich wieder in die Schule (.)
holt oder und interviewt und so (.) dann war ich           und am Abend halb sechs Hausaufgabenhilfe (.)
dort und hab ich so ein komisches Gefühl gehabt            und da haben sie mich unterstützt bei den Auf-
(.) mir war immer schlecht ich habe nicht gewusst          gaben ((husten)) und schlussendlich musst ich
(.) he das ist so komisch wieso bin ich da ich ver-        noch kochen, essen, und duschen und dann
schwinde hier und ich hab so oft geweint ich               schlafen (I: Mhm.) ja (sagen wir) immer so gleich
habe mich so einsam gefühlt (.) he ich will weg            (.) immer so stressig.“ (Z. 179–191)
von hier.“ (Z. 132–148)
                                                           In dieser atemlos wirkenden Aufzählung seiner
Sehr anschaulich schildert Aras seine Eindrücke            alltäglichen Verrichtungen fällt die häufige Ver-
von dem für ihn unverständlichen Ankunftskon-              wendung des Attributes „stressig“ auf, wobei die
text, der für ihn mit Gefühlen der Orientierungs-          „immer so gleich(en)“ Tage als Abfolge von Ver-
losigkeit und des Eingesperrtseins verbunden ist.          pflichtungen geschildert werden. Den dann erfol-
Dass er sich schlecht fühlt, sich nicht orientieren        genden Umzug in die eigene Wohnung,
kann, weinen muss und einsam ist, mögen als                verbindet Aras mit einem Statuswechsel. Er
spezifische emotionale Verfasstheiten von Aras             bringt dies wie folgt zur Sprache:
Vulnerabilität in der Situation des Ankommens
zeugen und auf einen für ihn begrenzten Mög-               „Ja (.) ich fühl mich so eher selbständig (I: Mhm.)
lichkeitsraum verweisen.                                   @.@ nicht mehr so (.) @wie ein Kind@ @.@ (.) ja
                                                           [...]. Ja eigentlich Selbständigkeit war schon im-
Deutlich merkt man seiner Sprechweise die für              mer auch im Birkenhof oder (.) aber da ich jetzt
ihn immer noch aktuelle Erschütterung ange-                alleine wohne ist noch mehr selbständig (oder)
sichts dieser existentiellen Erfahrung an, der er          da ich so allein in ein Zimmer bin oder und nie-
sich ausgesetzt fühlt und sich dieser gegenüber            mand (.) ähm niemand mich betreut oder nie-
auch nicht verwehren kann. Er erzählt an anderer           mand jetzt im Haus für mich zuständig ist oder
Stelle: „[I]n diesem Heim war ich 27 Tage und es           (dann bin) ich einfach selbständig (.) ich muss
war ziemlich anstrengend.“ Sowohl die hier kon-            einfach (alles) (.) selbständig entscheiden (orga-
kret erinnerte Zeitlichkeit als auch die verbalisier-      nisieren) oder (I: Mhm.) wie ein erwachsene Per-
ten Gefühle von Aras verweisen darauf, dass es             son.“ (Z. 40–53)
sich bei der Ankunft um ein für ihn einschneiden-
des Erlebnis handelt. In der Schweiz erfährt er            In dieser Sequenz grenzt Aras sich vom „Kind-
nicht die bisher erlebte Fürsorge; er ist auf sich         Sein“ ab und positioniert sich als „erwachsene
alleine zurückgeworfen und leidet unter Unge-              Person“: Als diese muss er seinen Alltag nun
wissheit, Einsamkeit und Angst sowie dem feh-              gänzlich selbst gestalten. Insbesondere der
lenden Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des                Übergang von der Heimunterbringung in die ei-
Verlaufs seiner Unterbringung.                             gene Wohnung ist für ihn mit einem Zuwachs an
                                                           Selbstständigkeit verbunden. Der Zuwachs an
3.1.3 Von der MNA-Einrichtung in die eigene                alltäglicher Autonomie zeigt sich bei Aras jedoch
Wohnung                                                    auch als eine Form der Überforderung, nun eben
                                                           alles selbstständig – und für sich selbst verant-
Aras lebt jahrelang in einer MNA-Einrichtung               wortlich – entscheiden zu müssen. Inzwischen,
und bezieht von dort aus, kurze Zeit vor dem In-           so Aras weiter, habe er sich daran gewöhnt, all
                                                           diese Pflichten selbstständig zu erledigen, auch
                                                           wenn er es als mühsam empfinde, all dies alleine

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                          Seite 7
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

bewältigen zu müssen. Gleichzeitig ist Aras auf            wie im B-Politik, wenn der nicht glaubt, be-
soziale Unterstützung angewiesen. Denn die                 kommst du einen F normal, wie ich“. Es sind die
Wohnung, die er von der Asylorganisation zuge-             Fremdheitsgefühle, die Erfahrungen der Ableh-
wiesen bekommt und beziehen darf, ist, so Aras,            nung, die existentielle Ohnmacht gegenüber
„leer, und ich habe ja keine Küche“. Sofern er             strukturellen Bedingungen sowie Diskriminie-
nicht über die notwendige materielle Ausstat-              rungserfahrungen durch das Asylsystem, die auf
tung verfügt, lässt sich dies als eine strukturell         kontextspezifische und situative Vulnerabilitäts-
verhinderte Agency lesen, die Aras sehr deutlich           erfahrungen verweisen. Gleichzeitig erarbeitet
im Interview kritisiert und die ihn in seinen Mög-         sich Aras einen Kampfgeist, der sich affirmativ zu
lichkeitsbedingungen der selbstverantwortlichen            den sozialen Verhältnissen der Prekarität und
Gestaltung des Alltags einschränkt. Hierbei                Ungerechtigkeit verhält:
bleibt seine Verwandtschaft – und insbesondere
sein Onkel – auch weiterhin die für ihn signifi-           „[D]as macht keinen Sinn wenn wir darüber re-
kante Gruppe von (Bezugs-)Personen, die ihm                den oder (.) [...] den ganzen Tag (schimpfen) oder
während der Zeit Unterstützung gewährt und                 (.) (weinen) das macht keinen Sinn @.@ das ist
Kontinuität sicherstellt (Göbel et al. 2020). So er-       halt Politik (.) wir müssen einfach (.) darauf ver-
zählt Aras: „[D]ann kochen sie für mich, oder weil         zichten und halt [...] kämpfen oder (.).“ (Z. 840–
sie da in der Nähe sind, da kann ich jeden Tag             845)
hingehen und dort essen und dann halt schlafen
und Hausaufgaben machen“. Aus einer eigenen                Auf Rückfrage der Interviewerin, was er denn mit
emotional wertschätzenden Perspektive kann                 kämpfen meine, fährt er wie folgt fort:
Aras in dieser Konstellation sozialer Unterstüt-
                                                           „Ja halt [...] sich weiter entwickeln oder (.) einfach
zung für sich Handlungsfähigkeit herstellen, sei-
                                                           weiter in die Schule gehn und versuchen (.) [...],
nen Alltag selbstständig gestalten und sich auf
                                                           einfach selber weiter zu kommen oder (.) etwas
die Schule konzentrieren.
                                                           mit der Schule zu machen oder (.) wenn du die
3.1.4 Das Asylverfahren: Überzeugungsarbeit                Sprache kannst wenn du in die Schule gehst oder
leisten und Kampfgeist entwickeln                          (.) kommst du auch etwas besser (zurecht) (.) halt
                                                           so ja.“ (Z. 849–853)
Die oben skizzierte Verbindung aus zeitlich aus-
gedehntem Erleben unangenehmer Verpflich-                  Obwohl Aras die strukturellen Rahmenbedin-
tungen, die Aras in der Schweiz zu absolvieren             gungen als Zwang empfindet, erscheint es für
hat, zeigt sich ausserdem in der Erzählung über            ihn als sinnlos, sich den selektiven und regulati-
die Anhörung im Rahmen seines Asylverfahrens.              ven Logiken des Asylsystems zu widersetzen.
Er berichtet in diesem Zusammenhang: „[S]ie ha-            Die von ihm eingenommene kämpferische
ben die Fragen immer wiederholt, also das hat              Grundhaltung ist damit auf die Normalisierung
stundenlang gedauert“ (Z. 652). Hierbei ist das            seines Ankommens wie auch Disziplinierung sei-
Asylverfahren für ihn mit der Anforderung ver-             ner selbst gerichtet. In Bezug auf die Herstellung
bunden, eine Überzeugungsarbeit zu leisten, um             seiner Handlungsfähigkeit in dem Aufnahme-
in der Schweiz bleiben zu können und eine „gute            kontext Schweiz müsse er sich in Verzicht üben
Aufenthaltsgenehmigung“ zu erhalten. Aras                  und gleichzeitig eine anpassungsfähige Haltung
Asylstatus „F“ gehört nicht dazu: Dieser schränkt          gegenüber dem Asylsystem und den damit ver-
ihn in seinen Möglichkeitsbedingungen ein und              bundenen Anforderungen der Aufnahmegesell-
ist mit spezifischen Anforderungen, wie z. B. der          schaft einnehmen. Gefühle der erlebten sozialen
erfolgreichen Lehrstellensuche, verbunden. In-             Ungerechtigkeiten, wie sie sich in Wut oder Wei-
wiefern es sich hierbei um eine existentielle Er-          nen ausdrücken, gilt es hierbei zu unterdrücken
fahrung der totalen Fremdbestimmung handelt,               (Magyar-Haas 2017, 49). Vielmehr ist Konzent-
wird dann deutlich, wenn Aras wie folgt be-                ration und Durchhaltevermögen in Bezug auf die
schreibt: „[W]enn [der Richter] überzeugt ist,             an ihn gestellten Anforderungen der Aufnahme-
dass du wirklich wegen dem Krieg geflüchtet                gesellschaft gefordert: Nur die erfolgreiche (Aus-
bist, dann bekommst du einen guten Aufenthalt              )Bildung, der kompetente Erwerb der hegemoni-
                                                           alen Sprache und das Entsprechen neoliberaler

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                             Seite 8
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

Subjektanforderungen des „Weiterkommens“                                                                                                 umfassend betreuten Kindheit in Einklang ge-
ermöglichen ein „erfolgreiches“ Absolvieren des                                                                                          bracht werden können, verweisen die Erzählun-
Asylverfahrens und eine auf die Zukunft ausge-                                                                                           gen von Ahmend auf einen ganz anderen
richtete Bleibeperspektive in der Schweiz.                                                                                               Hintergrund.

Mit Blick auf die Veränderungen, Brüche und Dis-                                                                                         3.2 Ahmend – „Ich bin ja immer neu für mich ist
kontinuitäten innerhalb des Fluchtmigrations-                                                                                            einfach normal.“
und damit verbundenen Ankommensprozesses
von Aras legt die Fallanalyse nahe, die Diskonti-                                                                                        Ahmend wurde in Somalia geboren, bevor seine
nuitätserfahrungen nicht ausschliesslich auf eine                                                                                        Eltern nach Äthiopien migrierten. Nach dem Tod
kategoriale Dimension des Vulnerabel-Seins zu                                                                                            seiner Eltern als auch seines Onkels verbringt
reduzieren (Clark 2007). Aras übt sich in Verzicht                                                                                       Ahmend seine Kindheit auf der Strasse. Ca. 2016
und nimmt damit Vulnerabilitätserfahrungen, wie                                                                                          ist er über Italien in die Schweiz gekommen. Über
die Abwesenheit seiner Eltern im Hier-und-Jetzt,                                                                                         seine Erfahrungen auf der Flucht spricht auch er
für sich an. Er entwickelt eine anpassungsfähige                                                                                         im Interview nicht. In der Schweiz angekommen,
Haltung in Bezug auf die soziale Integration im                                                                                          wird er im Unterschied zu Aras nach dem Erst-
Aufnahmekontext und damit in das Asyl- und                                                                                               aufnahmezentrum in einer Pflegefamilie platziert.
Bildungssystem, um den situativen Bedingun-                                                                                              Zum Zeitpunkt des Interviews ist Ahmend 15
gen nicht mehr machtlos ausgeliefert zu sein. Es                                                                                         Jahre alt und lebt in seiner zweiten Pflegefamilie
sind die situativen Vulnerabilitätsbedingungen                                                                                           mit zwei weiteren Kindern. Er besucht die öffent-
(MacKenzie et al. 2013), die mit der Herstellung                                                                                         liche Schule, absolviert verschiedene Schnupper-
als auch Erarbeitung einer kontextspezifischen                                                                                           lehren, hat einen Nebenjob in einer Metzgerei
Agency einhergehen, die eben bedeuten kann,                                                                                              und verfügt – wie Aras – über den Aufenthalts-
einen „Kampfgeist“ zu entwickeln, denn so Aras                                                                                           status „F“. Zudem stellt das Fussballspielen eine
im Interview: „weiter geht’s“.                                                                                                           Kontinuität in seinem Leben dar. Zum aktuellen
                                                                                                                                         Zeitpunkt spielt er in einer U16-Mannschaft und
Während Aras geschilderte Erfahrung familialer                                                                                           träumt von einer Karriere als Profifussballer.
Fürsorge und Bedingungen des Aufwachsens                                                                                                 Seine Stationen lassen sich wie folgt darstellen:
vor dem Migrationsprozess mit einem eurozent-
risch dominierenden bürgerlichen Konzept einer
Abbildung 2: Lebensstationen Ahmend – gemäss Interviewerzählung

                     Leben auf der                           2016 oder 2017 in                     5 Wochen;                             wohnt etwa ein Jahr              wohnt bei seiner                              seit 2018 bis heute;
                                                                                 Aufnahmezentrum
                                           Ankunft Schweiz
Leben in Äthiopien

                                                                                                                                                               Übergang
                                                                                                                   erste Pflegefamilie

                                                                                                                                                                                               aktuelle Pflegefamilie

                     Strasse nach dem                        die Schweiz                           erhält den F-                         bei ihnen;                       Lehrerin für ca. 2                            wechselt Schule,
                     Tod seiner primären                     gekommen;                             Ausweis                               wird in die                      Wochen                                        besucht die 9.
                     Bezugspersonen                          ist 13 Jahre alt                                                            öffentliche Schule                                                             Klasse im
                                                                                                                                         eingeschult;                                                                   Nachbarsdorf;
                                                                                                                                         spielt in einem                                                                wechselt zur U16-
                                                                                                                                         Fussballclub;                                                                  Mannschaft;
                                                                                                                                         beginnt mit einem                                                              wechselt Nebenjob
                                                                                                                                         Wochenjob                                                                      (Metzger)

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Niggli-Gamper (2019, 86)

3.2.1 Herkunftskontext                                                                                                                   in die Hauptstadt von – zweite Hauptstadt von
                                                                                                                                         Äthiopien mitgenommen (.) er hat nachher nach
In Bezug auf seine Erfahrungen im Herkunfts-                                                                                             einem Jahr so eine Krankheit gehabt im Bein und
kontext berichtet Ahmend wie folgt:                                                                                                      so und ist er auch gestorben und nachher habe
                                                                                                                                         ich müssen auf der Strasse leben dort – ja dort
„Meine Eltern sind, keine Ahnung zwischen 6                                                                                              habe ich auch gute Kollegen gehabt, habe ich
oder 8 bin ich gewesen, gestorben wegen so                                                                                               müssen einfach Schuhe putzen oder ein Auto
eine nicht gerade Krieg aber wegen einfach ein                                                                                           putzen oder irgendetwas gemacht für das ich
paar Leute […], sie haben so meine Eltern getötet                                                                                        Geld habe für das Essen oder irgendetwas […] Ich
(.) und nachher bin ich mit – mein Onkel hat mich                                                                                        habe auf der Strasse gelebt […], ich habe nicht so

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                                                                                                                                                     Seite 9
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

leben können wie jetzt (3) habe Arbeiten müs-              3.2.2 Ankunft im Erstaufnahmezentrum: ein
sen, Mittagessen suchen alles suchen (3) (.) nicht         grenzenloser Möglichkeitsraum
so können duschen oder nicht Haare schneiden
können alles ist einfach schwieriger gewesen. Ich          In Bezug auf die Ankunft in der Schweiz erzählt
habe nicht können Kleider leisten.“ (Z. 1451–              er wie folgt:
1461)
                                                           „Ich habe es mega cool gefunden dort so viele
In dieser Passage wird deutlich, inwiefern das             Leute (.) kannst einfach so leben also wir haben
Leben von Ahmend bereits während der Kind-                 bis um 5 Uhr dürfen draussen sein (2) und nach-
heit durch den Verlust wichtiger Bezugsperso-              her haben wir pro Woche 7 Franken bekommen
nen und für ihn Sorgenden, durch die                       ist mega cool gewesen (3) haben wir können
Notwendigkeit der Binnenmigration, durch Ob-               draussen herumchillen Frühstück alle zusammen
dachlosigkeit sowie die Notwendigkeit, durch               – können essen mit 200 Personen oder 300 ein
Arbeit den eigenen Lebensunterhalten zu si-                super feines Frühstück auch ein feines Mittages-
chern, gekennzeichnet war. Auf Grund der pre-              sen am Abend Filmabend immer das ist cool ge-
kären und vulnerablen Lebensverhältnisse ist               wesen ich vermisse sogar (.) manchmal […] und
Ahmend dazu aufgefordert, sich Selbstständig-              Filmabend haben wir eben nicht gekonnt weil ich
keit zu erarbeiten, die „pragmatisch auf die Be-           bin 12 Jahre gewesen ich habe nicht dürfen –
wältigung der täglichen Erfordernisse zielt“               Filme sind manchmal über 18 und so gewesen
(Liebel 2017, 43) wie auf das Erreichen einer ge-          […] und nachher haben wir uns versteckt sind wir
wissen Form sozialer Verlässlichkeit (Payne                nachher immer rüber gegangen (.) nachher ha-
2012). Letzteres zeigt sich darin, dass Ahmend             ben wir die Nacht dort geschaut bis um 12 Uhr
sich soziale Netzwerke schafft und davon                   Filme oder 11 Uhr und nachher sind wir eben zu-
spricht, dass er „gute Kollegen“ gehabt habe, die          rück gekommen, schlafen gegangen (3) es hat
sich gegenseitig unterstützten aber auch mitei-            mega Spass gemacht dort (2) ja (3) es hat einfach
nander Fussball spielten:                                  so viel Leute gehabt weisst du (9) ich habe es
                                                           auch gerne wenn es mega viele Leute hat dann
„[I]ch bin eigentlich immer froh gewesen ja ich            kannst du mit jedem chillen einfach.“ (Z. 925–
habe ja keine Ahnung gehabt wie es hier läuft              942)
[...], wenn ich gewusst hätte wäre es mir dort ein-
fach wahrscheinlich schlecht gegangen aber                 Während Aras seine Ankunftserfahrungen in der
wenn ich so einfach für mich ist einfach mega gut          Schweiz als einen deutlichen Bruch mit seinem
gewesen dort [...], es hat alles so Spass gemacht          bisherigen Leben präsentiert, zeigt sich in der Er-
mit Kollegen ein Spielen einfach ja [...], aber wenn       zählung bei Ahmend der Bruch mit seinen bishe-
man es nicht besser leben kann muss man ja ein-            rigen Erfahrungen auf konträre Art und Weise.
fach froh sein dort [...], weil du kannst ja nichts        Das Erstaufnahmezentrum symbolisiert einen
dafür machen.“ (Z. 1448–1454)                              grenzenlosen Möglichkeitsraum, statt einen Ort
                                                           strukturell bedingter Abhängigkeiten und Vulne-
Aus einer die eigene Situation evaluativ bewer-            rabilitätserfahrungen. Geschildert wird ein Raum,
tenden Perspektive nimmt Ahmend die Be-                    der es Ahmend ermöglicht, mit vielen Menschen
schreibungen eines durch Entbehrung und                    zusammenzuleben, materielle Fürsorge zu erfah-
Mühsal gekennzeichneten Lebens auf der                     ren und sich zu erholen. Während er in Bezug auf
Strasse als solches erst nachträglich wahr.                seinen Alltag in Äthiopien eine fürsorglose Auto-
Gleichzeitig vollzieht er eine Normalisierung jener        nomie beschreibt, macht er nun materielle Für-
Bedingungen des Aufwachsens. Die damalige                  sorgeerfahrungen durch andere und ist
Zufriedenheit mit dem Leben begründet er mit               gleichzeitig in seiner gewohnten Bewegungs-
fehlendem verfügbarem Wissen über die ihm zur              freiheit und sozialen Beziehungspflege nicht ein-
Verfügung stehenden Möglichkeitsbedingungen                geschränkt. Zugleich relativiert er diesen
seiner gegenwärtigen Lebenssituation – wie                 grenzenlosen Möglichkeitsraum an anderer
bspw. Zugang zu Bildung. Doch trotz der prekä-             Stelle, wenn er rückblickend sagt: „nur eine Wo-
ren Lebensbedingungen sei er immer „froh“ ge-              che dorthin zurück, nicht länger“.
wesen.

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Eine unterschiedliche Erlebensweise zu Aras                 und nachher habe ich müssen alles mitmachen
wird auch mit Blick auf das Asylverfahren deut-             was kleine Kinder machen.“ (Z. 205–216)
lich. Ahmend beschreibt dieses als eine Art Par-
cours, bestehend aus zwei Anhörungen, den er                In dieser Sequenz beschreibt Ahmend nicht nur
gemäss seinen Schilderungen besonders schnell               eine negative Aufzählung an alltäglichen Restrik-
absolvierte: „Ich bin der schnellste gewesen, nie-          tionen, sondern auch eine Gleichschaltung mit
mand hat es so geschafft gehabt […], ich habe               den Kindern aus der Pflegefamilie. Indem er „wie
glaube ich dort einen Rekord gemacht“ (Z. 909).             ein kleines Kind behandelt“ wurde, macht er die
Diese Zeit der Anhörungen im Rahmen des Asyl-               dort erfahrene Fremdbestimmung deutlich und
verfahrens scheint hier wie im Flug zu vergehen             weist implizit daraufhin, dass er sich als Person
und auch noch als Bestärkung des eigenen                    nicht ernst genommen fühlte. Diese Formulie-
Selbstwertgefühls erlebt zu werden. Für Ah-                 rung weist auf eine Differenzerfahrung von
mend symbolisiert das erfolgreiche Absolvieren              Ahmend hin: Er ist als Jugendlicher mit Migrati-
des Asylverfahrens gleichzeitig den Erhalt eines            onserfahrung anders und positioniert sich als
legitimen Status in der Schweiz. Erst viel später           nicht-zugehörig. Die Differenzerfahrung als Kind
in seinem weiteren Werdegang erlebt er Ein-                 positioniert zu werden, drückt sich für Ahmend
schränkungen auf Grund des ihm verliehenen                  darin aus, dass sich sein Tagesablauf als auch
Aufenthaltstatus „F“, denn seinen Traum Fuss-               seine Freizeitaktivitäten an denen der jüngeren
ballprofi zu werden und in einen besseren Fuss-             Kinder der Pflegefamilie orientieren müssen und
ballclub zu wechseln, kann er mit diesem Status             er sich unzulässig bevormundet fühlt. So erzählt
nicht verwirklichen.                                        er an anderer Stelle, dass er keine Fussballspiele
                                                            schauen dürfe und sein Medienkonsum auf eine
3.2.3 Platzierung in einer Pflegefamilie: Positio-          Minimaldauer pro Tag festgelegt wird. Damit
nierung als kleines Kind und situativer Autono-             wird Ahmend in seinen Wünschen und Bedürf-
mieverlust                                                  nissen eingeschränkt: Denn während der Fuss-
                                                            ball immer eine Konstante in seinem Leben
Danach wird Ahmend in seiner ersten Pflegefa-               darstellte, die ihm Zugang zu seinen Träumen
milie platziert, in der er ungefähr ein Jahr lebt.          und Zukunftsvorstellungen als auch seinen Peers
Seine erste Begegnung mit der Pflegefamilie be-             ermöglichte, ist der unbeschränkte Zugang zu ei-
schreibt er als „komisch“. Denn er wird mit Fami-           nem funktionierenden WLAN für ihn insofern
lien- und Vatervorstellungen konfrontiert, die              wichtig, als er darüber seine digitalen sozialen
nicht seinen eigenen entsprechen und zu Verun-              Netzwerke pflegt. Seine Differenzerfahrung als
sicherungen führen. So ist es für Ahmend irritie-           Person mit Migrationserfahrung beschreibt er an
rend, dass der für ihn zukünftig sorgende                   anderer Stelle, wenn er sich implizit selbst als
Pflegevater erst 28 Jahre alt ist und „schon“ drei          „Ausländer“ positioniert:
Kinder hat, und er erzählt: „[N]achher habe ich
gedacht, er ist nicht Mann, er ist nicht Vater, er ist      „[I]ch habe damals nicht einmal Deutsch gekonnt
einfach normal, einer der 18 ist“ (Z. 1074–1082).           (I: Mhm.) ja ich habe niemanden gekannt gehabt
Während er sich in seiner aktuellen Pflegefamilie           […] dort ich habe auch nicht Somalier oder so ge-
unterstützt und wohl fühlt, ist in der ersten Pfle-         kannt weisst du es ist so ein Dorf wo kein Bahn-
gefamilie also alles „anders“ (Z. 205) gewesen, er          hof hat (.) du kannst nirgendwo hin gehen und
führt auf die Aufforderung „erzähl mal“ seitens             dort hat es keine Ausländer fast.“ (Z. 220–228)
der Interviewerin aus:
                                                            Sowohl die sozialräumliche Isolation als auch die
„[D]ort ist einfach sie haben mich einfach so wie           nicht vorhandenen Sprachkenntnisse gehen für
kleines Kind behandelt sie haben (.) ich habe im-           Ahmend mit zu bewältigenden Herausforderun-
mer schon so am 9 Uhr zuhause sein müssen                   gen einher. Mit der Platzierung in der ersten Pfle-
oder am 8 Uhr (.) sie haben ich habe pro Tag un-            gefamilie verliert er den Kontakt zu seinen bisher
gefähr eine Stunde dü- dürfen Handy brauche                 aufgebauten sozialen Beziehungen in dem Erst-
Internet (7) ja (7) [...]. Sie hat kleine Kinder gehabt     aufnahmezentrum und zu seinen virtuellen sozi-
und nachher dort ist einfach wie Kinder gegan-              alen Netzwerken, ist in seiner Mobilität
gen hast ja nichts Spezielles machen können [...]           eingeschränkt und verfügt über keine Personen

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in seinem nahen Umfeld, mit denen er seine ver-            sei, als eine Selbstermächtigung deuten. Denn
traute Sprache sprechen kann. Die mangelnden               bei der dann erfolgenden Umplatzierung ergreift
Deutschkenntnisse führen zu dieser Zeit bei Ah-            er selbst die Initiative. Hierfür greift er auf seine
mend dazu, dass er innerhalb der Familie nicht             sozialen Beziehungs- und Unterstützungsnetz-
alles versteht und sich dadurch nicht angemes-             werke zurück, die er sich bislang in der Schweiz
sen beteiligen und einbringen kann.                        aufgebaut hat, um der Situation, mit der er unzu-
                                                           frieden ist, Abhilfe zu schaffen. Er erzählt, dass er
3.2.4 Abbruch des Pflegefamilienverhältnisses              zunächst bei einem Kollegen übernachtet habe,
                                                           bevor er bei seiner damaligen Lehrerin eine Zwi-
In der Folge kommt es zum Abbruch des ersten               schenlösung gefunden hat. Von dort aus habe er
Pflegefamilienverhältnisses. Ahmend erzählt                dann Kontakt mit seiner für ihn zuständigen So-
zum einen von Bestrafungen, die sich für ihn in            zialpädagogin aufgenommen, um mitzuteilen,
fehlender materieller Fürsorge ausdrücken, wenn            dass er nicht länger dort bleibe. Während in der
ihm das Essen verweigert wird, zum anderen von             ersten Familie kein Prozess des Kennenlernens
körperlichen Gewalterfahrungen, die das Ende               stattfand, wird Ahmend nun nicht nur an dem
des Pflegefamilienverhältnisses einläuten:                 Prozess beteiligt, sondern er bindet sich selbst
                                                           aktiv ein: Er besteht auf einer „Schnupperphase“
„[N]achher ist der Mann am Abend gekommen                  und dem Kriterium, dass er nicht mehr mit kleinen
und hat er mich so wegstossen gibt mir alles               Kindern zusammenleben möchte.
Geld ich habe gesagt ich gebe dir nicht und nach-
her bin ich einfach weggegangen.“ (Z. 269–271)             Die Anfangsphase und der damit verbundene
                                                           Prozess des (erneuten) Ankommens in einer an-
Es sind die von ihm beschriebenen Bedingungen              deren Pflegefamilie erlebt Ahmend dann nicht
asymmetrischer und machtvoller Sorgebezie-                 mehr als eine radikale Fremdheitserfahrung,
hungen, die auf situative Vulnerabilitätserfahrun-         wenn er erzählt: „[F]ür mich ist nachher alles nor-
gen und damit Entmachtung seiner für ihn                   mal gewesen, weil ich bin ja fast zwei Jahre in der
bislang tonangebenden ganz eigenen Vorstel-                Schweiz gewesen“. Der hier von Ahmend ange-
lungen und Praktiken der Lebensführungswei-                sprochene Normalisierungsprozess deutet auf
sen hindeuten. Der reglementierte Alltag wie               die Bewältigung von begrenzenden und sich
auch die Positionierung als Kind scheinen im Wi-           gleichzeitig eröffnenden Möglichkeitsräumen
derspruch zu Ahmends gewohnten und vertrau-                hin. Zum einen kann er sich nun in der neu erlern-
ten Lebensführungsweisen zu stehen, in denen               ten Sprache mit den Familienmitgliedern ver-
er in erster Linie für sich selbst verantwortlich ge-      ständigen; zum anderen beschreibt Ahmend
wesen ist, und führen damit zu einer Einschrän-            einen Zuwachs an Mitbestimmungsrechten:
kung seiner gewohnten Agency.
                                                           „[D]ie [Pflegefamilie 1] haben das einfach so ge-
Ahmend beschreibt zudem mangelnde Partizi-                 macht und nachher habe ich einfach immer müs-
pationsmöglichkeiten in Bezug auf den Platzie-             sen mitgehen (I: Mhm.) (.) aber hier ist meine
rungsprozess als auch die asylpolitischen                  Entscheidung ich kann sagen ob ich mitkommen
Strukturen, die keine klaren nachvollziehbaren             möchte.“ (Z. 1190–1192)
Regeln vorgeben. Die Platzierung von Ahmend
in einer Pflegefamilie erscheint hier als infantili-       Ahmend betont, dass er nun in seinen Entschei-
sierende Bevormundung, sofern er gerade nicht              dungen respektiert wird und auch seine Bedürf-
Teil des Entscheidungsprozesses ist.                       nisse selbstbestimmt und uneingeschränkt
                                                           artikulieren kann. Zudem berichtet er, wie die ak-
3.2.5 Von der unzulässigen Bevormundung zur                tuelle Pflegefamilie ihn bei dem Wechsel in eine
Selbstermächtigung                                         neue Schule und einen neuen Fussballclub sowie
                                                           in der Akquise eines Nebenjobs unterstützt. Da-
Vor diesem Hintergrund lässt sich die oben auf-
                                                           mit verbunden ist die Wiederaufnahme seiner
geführte Passage, in der Ahmend berichtet, dass
                                                           sozialen Kontakte, die er sich während der An-
er auf Grund der ihn vulnerabilisierenden Bedin-
                                                           kunftszeit im Aufnahmezentrum aufgebaut hat,
gungen in der Pflegefamilie „einfach gegangen“
                                                           sowie Beziehungen, die er mit somalischen

Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3                          Seite 12
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