VULNERABILITÄTSERFAHRUNGEN UND DIE ERARBEITUNG VON AGENCY: ANKOMMENSPROZESSE JUNGER GEFLÜCHTETER
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ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG VULNERABILITÄTSERFAHRUNGEN UND DIE ERARBEITUNG VON AGENCY: ANKOMMENSPROZESSE JUNGER GEFLÜCHTETER Rebecca Mörgen und Peter Rieker Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft E-Mail: rmoergen@ife.uzh.ch URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/moergenrebecca.html Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft E-Mail: prieker@ife.uzh.ch URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/riekerpeter.html Zitationsvorschlag: Mörgen, Rebecca/Rieker, Peter (2021): Vulnerabilitätserfahrungen und die Erarbeitung von Agency: Ankommensprozesse junger Geflüchteter. In: Gesellschaft – Individuum – Sozialisation (GISo). Zeitschrift für Sozialisationsforschung, 2 (1). DOI: 10.26043/GISo.2021.1.3 Link zum Artikel: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG VULNERABILITÄTSERFAHRUNGEN UND DIE ERARBEITUNG VON AGENCY: ANKOMMENSPROZESSE JUNGER GEFLÜCHTETER 1 Rebecca Mörgen und Peter Rieker Abstract: Unbegleitete minderjährige Geflüchtete befinden sich nach ihrer Ankunft in Europa in prekären Lebenssituationen, die mit Vulnerabilitätserfahrungen einhergehen, die sie gleichzeitig bearbeiten und be- wältigen. Denn mit der Ankunft ist zwar die Fluchtmigration beendet, doch angekommen sind die Jugend- lichen noch nicht. Wie gestalten Jugendliche den Prozess des Ankommens, und welche Formen von Agency erarbeiten sie sich unter den jeweiligen sozialen Bedingungen? Diese Fragen fokussiert der Bei- trag und rekonstruiert auf Basis von qualitativen Interviews mit jungen Geflüchteten, wie sie Vulnerabili- tätserfahrungen und Agency in Bezug auf ihren Ankommensprozess thematisieren. Keywords: Agency, Vulnerabilität, unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Ankommensprozess, Flucht- migration Mit der Ankunft in europäischen Ländern, wie Schutzwürdigkeit und Unterstützungsnotwen- z. B. der Schweiz, und dem Stellen eines Asylge- digkeit, die ihnen ausschliesslich eine vulnerable suchs ist für unbegleitete minderjährige Geflüch- Position zuschreibt. tete (im Folgenden mineurs non accompagnés: MNA) zwar die Fluchtmigration beendet, doch Die Jugendlichen befinden sich also auch nach von einem „Angekommen-Sein“ im Aufnahme- der Ankunft in Europa in prekären Lebenssituati- kontext kann nicht ausgegangen werden. 2 Viel- onen, die mit Vulnerabilitätserfahrungen einher- mehr wird auf die mit der Ankunft beginnenden gehen, die sie aber auch bewältigen und Herausforderungen und Ambivalenzen der Le- bearbeiten. Allerdings fehlt es an Erkenntnissen benssituationen der MNA hingewiesen: Ihr All- dazu, wie geflüchtete Jugendliche ihr Leben, den tag sei durchgängig von „Unsicherheiten damit verbundenen Prozess des Ankommens geprägt“ (Lechner et. al. 2017, 18) und sie bewe- und die verschiedenen (institutionellen) Über- gen sich in einem Spannungsverhältnis zwi- gänge gestalten, wahrnehmen und erleben (Zel- schen „Vulnerabilität und Eigenmotivation“ ler et al. 2020) und welche Möglichkeitsräume sowie in „Kontakttreten und Anderssein“ (Finde- sich unter den jeweiligen sozialen Bedingungen ning/Klinger 2019) in Bezug auf die sie aufneh- für sie ergeben können. mende Mehrheitsgesellschaft. Die Ankunft werde als angsteinflössend wahrgenommen In der Schweiz, auf die sich die Überlegungen (Detemple 2016, 57) und das Erleben strukturell des vorliegenden Beitrags beziehen, werden bedingter Einschränkungen, bspw. durch das MNA nach ihrer Ankunft in unterschiedlichen Asylsystem, führe zu Gefühlen der Ohnmacht Kontexten institutionell untergebracht und be- und Hilflosigkeit (Hargasser 2015, 124). Diese treut, wie bspw. in spezifischen MNA-Einrich- Betrachtungsweise verbindet die Lebenssituati- tungen, in Pflegefamilien oder Gemeinschafts- onen von jungen Geflüchteten implizit mit einer unterkünften (Rieker et al. 2021). Es kann davon ausgegangen werden, dass sie während dem 1 Wir möchten an dieser Stelle ganz herzlich Alex Knoll, Anne Caroline Ramos, Anna Schnitzer und den anonymen Gutachter*innen für die anregenden und konstruktiven Hinweise zu Vorversionen dieses Textes danken. 2 In der Schweiz wird der Begriff „mineurs non accompagnés“ (MNA) verwendet. Im Unterschied zu dem Begriff der „unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden“ umfasst dieser alle Kinder und Jugendlichen, die ohne Sorgeberech- tigte in der Schweiz leben, und bezieht sich nicht nur auf den Status des Asylverfahrens. Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 1
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Ankommen unterschiedliche institutionelle Über- Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit verknüpft. gangs- und damit verbundene Diskontinuitätser- Dies hat zunächst damit zu tun, dass junge Ge- fahrungen machen, wie sie aus der Care- flüchtete routinemässig – bspw. durch das Büro Leaving-Debatte bekannt sind (vgl. Göbel et al. des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Ver- 2020). einten Nationen (UNHCR) oder die EU-Recht- sprechung – in öffentlichen Diskursen als Vor diesem Hintergrund fokussiert der Beitrag vulnerable Personengruppe kategorisiert wer- die Frage, wie Jugendliche mit Fluchterfahrung den. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Dar- den Prozess des Ankommens in der Schweiz er- stellung der MNA als traumatisierte, verletzliche leben und gestalten, um vor diesem Hintergrund und schutzbedürftige Kinder (Lems et al. 2019). die sozialen Bedingungen von Vulnerabilität als In dieser Adressierungsweise als vulnerables auch Agency zu reflektieren. Es wird untersucht, Subjekt befinden sich junge Geflüchtete aus- inwiefern sich die Jugendlichen in Bezug auf den serhalb dessen, was in europäischen Konzepten Ankommensprozess unter Berücksichtigung der als „normale“ und „ideale“ Kindheit betrachtet jeweiligen sozialen und kontextspezifischen Be- wird (Wernesjö 2012, 504) – wobei sich euro- dingungen Handlungsmöglichkeiten erarbeiten. zentrische Konzeptionen von Kindheit eher durch Zudem wird danach gefragt, welche Möglich- Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit als durch keitsräume sich für sie eröffnen und welche sozi- Prozesse der Autonomisierung auszeichnen alen Beziehungen sie relevant setzen. Hierfür (Liebel 2017, 69). Dies sei zum einen der Fall, wird sich auf Interviews bezogen, die mit ge- weil ihnen eine „normale“ Kindheit vorenthalten flüchteten Jugendlichen im Kontext des Projekts werde (Wernesjö 2012, 504) und sie mitunter „Unbegleitete minderjährige Geflüchtete in insti- als Opfer verantwortungsloser Eltern gelten, die tutioneller Betreuung: Chancen und Herausfor- ihre Abhängigkeit ausnutzen und sie ungeachtet derungen“ geführt wurden. 3 ihrer kindlichen Vulnerabilität auf die Flucht schi- cken. Zum anderen wird die Ausgeglichenheit Im Folgenden werden zunächst der Forschungs- und Gleichmütigkeit im Auftreten minderjähriger und Diskussionsstand zu Verwundbarkeit und Geflüchteter als Fassade gesehen, hinter der Agency in der Fluchtmigrationsforschung skiz- Traumata, Ängste und Schuldgefühle ausge- ziert (1), bevor auf method(olog)ische Überle- macht werden (Kurz-Adam 2016, 43). Psychi- gungen des Projekts eingegangen wird (2). Im sche Vulnerabilität und Hilflosigkeit werden Anschluss daran werden zwei Fälle präsentiert, somit mit traumatisierenden Verlusten und Ver- in denen die Ankunft in der Schweiz in spezifi- folgungserfahrungen im Heimatland und auf der scher Weise erlebt wird, wobei biographische Flucht begründet (ebd.). Zudem werden Vulnera- Dimensionen einen bedeutsamen Stellenwert bilitätserfahrungen im Rahmen vorliegender Stu- haben und unterschiedliche Bedingungen der dien auf verschiedene kontextspezifische Ermöglichung wie auch Verhinderung von Bedingungen zurückgeführt: Unzureichende Agency und Vulnerabilitätserfahrungen deutlich Partizipationsmöglichkeiten im Asylverfahren werden (3). Den Abschluss bildet ein kurzes Fazit (Hargasser 2016), eine fürsorgliche Betreuung, (4). die Selbstständigkeit verhindere (Jurt/Roulin 2016), fehlende Vertrauens- und Zukunftskons- 1. FORSCHUNGS- UND DISKUSSIONSSTAND: tellationen, die die jeweilige Handlungsmächtig- VERWUNDBARKEIT UND AGENCY VON MNA keit bedrohen (Zeller et al. 2020, 222) oder IN DER FLUCHTMIGRATIONSFORSCHUNG prekäre, instabile Beziehungen, die das Gefühl, „wirklich angekommen zu sein“ (Lechner et. al. Migrations- und Fluchtbewegungen sowie damit 2017, 18), verhinderten. einhergehende biografische Prozesse werden seit den 90er-Jahren in der Fluchtmigrationsfor- Dem gegenüber konzentriert man sich an ande- schung zu jungen Geflüchteten mit Fragen von rer Stelle auf Fragen der Bedeutung wie auch 3 Das Forschungsprojekt wird seit 2018 am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich durchgeführt. Es wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert und ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 76. Im Projekt arbeiten Ellen Höhne, Rebecca Mörgen und Peter Rieker (Projektleitung). Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 2
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Herstellung von Agency junger Geflüchteter, Vor diesem Hintergrund betonen bspw. Mats wobei spezifische Erfahrungen im Herkunftskon- Utas (2005) mit dem Begriff „Victimcy“ oder text untersucht werden, wie z. B. die Übernahme Laura Otto (2019) mit „adult minors“ die Ein- von Verantwortung für andere Familienmitglie- nahme einer relationalen Perspektive auf das der und das Agieren als Haushaltsvorstand Verhältnis von Agency und Vulnerabilität, die (Payne 2012). Zudem gelten junge Geflüchtete den sozialen, ökonomischen, politischen und teilweise auch im familialen Kontext als auto- kontextspezifischen Bedingungen der Lebens- nome Akteur*innen, die ihre Fluchtentscheidung führungsweisen der jungen Geflüchteten Beach- nicht von familialer Unterstützung abhängig ma- tung schenkt (vgl. auch: Clark 2007; Belloni chen (Heidbrinck/Statz 2017, 547 ff.; Belloni 2019). Sie verweisen auf die paradoxale Verbin- 2019). Andere Studien wiederum konzentrieren dung zwischen einer Selbst- und Fremdpositio- sich auf die Bedeutung von Handlungsmacht nierung und machen darauf aufmerksam, dass junger Geflüchteter im europäischen Grenzre- die Selbstpräsentation der Jugendlichen inner- gime; hier werden z. B. ihre Verhandlungen mit halb des Migrationsregimes als vulnerabel, Mitarbeitenden in Flüchtlingsunterkünften skiz- gleichzeitig aber auch als Ausdruck der Herstel- ziert, in deren Verlauf sie ihre eigenen Interessen lung einer Handlungsfähigkeit und Handlungs- und Vorstellungen kompetent vertreten (Otto macht innerhalb des Asylsystems gelesen 2019). werden kann. Die jeweiligen Positionierungen in den Interaktionen mit institutionellen Akteur*in- Auf die Wirkmächtigkeit des Diskurses, der MNA nen unterliegen immer wieder alltäglichen Aus- auf essentialisierende Art und Weise als unter- handlungen und entziehen sich einer stützungs- und hilfsbedürftig kategorisiert und eindeutigen Zuordnung eines handlungsfähigen positioniert (Clark 2007), wird in verschiedenen oder vulnerablen Subjektstatus. empirischen Studien kritisch hingewiesen. Denn die Konstruktion der MNA als vulnerable Sub- Mit dieser Einordnung in den Forschungsstand jekte ruft in der Regel eine Bearbeitungskultur auf knüpft der Beitrag an konzeptionelle-theoreti- den Plan, z. B. die Besonderheiten der institutio- sche Überlegungen zu einer relationalen Be- nellen Betreuung, die als Bearbeitungsversuche trachtungsweise von Vulnerabilität und Agency von Vulnerabilität gelesen werden können, und an, die diese nicht als eine individuelle Eigen- die die Legitimität von Sozialpädagogik in Bezug schaft – im Sinne einer Wesenszuschreibung – auf Betreuung und Unterbringung begründet. konzipieren (Burkitt 2015; MacKenzie et al. Somit durchdringe der Diskurs bspw. auch die in- 2013). Vielmehr gehen wir davon aus, dass sich stitutionellen Kontexte der Unterstützungsange- Agency und Vulnerabilität situativ in sozialen bote, in denen geflüchtete Jugendliche dazu Prozessen konstituieren und es sich um subjek- aufgefordert werden, sich selbst als verletzlich tive Konzeptionen von Agency- als auch Vulne- und unterstützungsbedürftig zu zeigen, um rabilitätserfahrungen handelt (Helfferich 2020). überhaupt Zugang zu den entsprechenden Res- Gemeinsam ist diesen Perspektiven die Veror- sourcen zu erhalten (Otto 2019; Utas 2005). tung und Herstellung verschiedener Dimensio- Diese Selbstpositionierungen bilden aber gleich- nen von Agency innerhalb sozialer zeitig die Grundlage für die Legitimitätsansprü- Beziehungskonstellationen wie auch sozialer che innerhalb des Asylsystems. Denn Bedingungen, die für die Jugendlichen besonders Vulnerabilität symbolisiere eine „Währung“ relevant sind, sofern von einer existentiellen so- (Lems et al. 2019, 326), die eingesetzt werden zialen Angewiesenheit als auch Verwiesenheit müsse, um die Gegenleistung, wie Zugang zu auf Andere ausgegangen wird (Eßer/Schröder gesellschaftlichen Ressourcen in Form von insti- 2020). Damit wird von einem Subjektverständnis tutioneller Unterstützung oder Bildungsange- ausgegangen, das, mit Bernhard Waldenfels bote, erhalten zu können. Und solch eine (2002) gesprochen, durch „Bruchlinien der Er- Selbstrepräsentation als vulnerabel kann ihrer- fahrung“ gekennzeichnet ist, zu denen es sich seits als spezifische Form von Agency angese- verhält, auf die es reagiert und antwortet, in de- hen werden. nen Vulnerabilität ein Grundmoment von Erfah- rungen darstellt (Stöhr 2019, 161) und in denen sich Möglichkeitsräume eröffnen. Die kontext- Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 3
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG und situationsspezifischen Erfahrungen der Ju- der in einer Heimeinrichtung oder in einer Pflege- gendlichen lassen sich sodann als eine Eröffnung familie leben. Der Zugang zu Jugendlichen, die in und Begrenzung der Handlungsfähigkeiten und institutionellen Betreuungskontexten, wie MNA- -möglichkeiten wie auch der Handlungsohn- Heimen und Gemeinschaftsunterkünften, unter- macht verstehen. Es wird zu zeigen sein, wie sich gebracht sind, erfolgte auf Basis der ethnogra- geflüchtete Jugendliche Agency unter prekären phischen Feldaufenthalte durch die jeweilige Bedingungen des Migrationsregimes und des Forscherin. Die in den Einrichtungen lebenden Ankommens in dem Aufnahmekontext erarbei- Jugendlichen wurden nach einer gewissen Zeit ten und inwiefern mit spezifischen Vulnerabili- der Teilnahme am Alltag, der damit verbundenen tätserfahrungen begrenzende als auch Kontaktaufnahme und des Beziehungsaufbaus ermöglichende Möglichkeitsräume einhergehen von den Forscherinnen persönlich für die Durch- können. führung des Interviews angesprochen. Im Unter- schied dazu erfolgte der Zugang zu denjenigen 2. METHODISCHES VORGEHEN UND ME- Jugendlichen, die in Pflegefamilien untergebracht THODOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN ZU DER sind, über eine Pflegefamilienplatzierungsorga- SELBSTREPRÄSENTATION VON MNA IM nisation. Im Anschluss an ein Vorgespräch mit PROJEKTKONTEXT den Pflegefamilienmitgliedern wurden Inter- views mit den Jugendlichen als auch den Pflege- Überlegungen zum Prozess des Ankommens eltern geführt. Die Interviews mit den sowie die Frage danach, welche sozialen Bedin- Jugendlichen fanden an von ihnen selbstgewähl- gungen und Beziehungen wie von geflüchteten ten Orten und somit in Restaurants, Cafés, wäh- Jugendlichen in den unterschiedlichen Phasen rend einem Spaziergang, in den Klassenzimmern der Übergangs- und Diskontinuitätserfahrungen der Einrichtungen oder bei ihnen zuhause statt. thematisiert werden, werden mit Bezug auf die Studie „Unbegleitete minderjährige Geflüchtete Methodisch orientieren wir uns am Verfahren in institutioneller Betreuung: Chancen und Her- des problemzentrierten Interviews, d. h. den Ge- ausforderungen“ empirisch analysiert und disku- sprächen liegt ein Leitfaden zugrunde, mit dem tiert. Das Projekt untersucht die (institutionelle) jedoch je nach Interviewsituation flexibel umge- Unterbringung und Betreuung von MNA, wobei gangen wird. Gleichzeitig wurde versucht, mög- auf das Spannungsverhältnis von Fürsorge und lichst wenige Vorgaben zu machen, um den Zwang fokussiert wird. Im Zuge dessen wird in interviewten Jugendlichen zu ermöglichen, ei- unterschiedlichen institutionellen Betreuungs- gene Relevanzsetzungen vorzunehmen (Witzel kontexten der deutschsprachigen Schweiz 2000). Die Interviews wurden vollständig (MNA-Zentren, Durchgangszentren, Pflegefami- transkribiert, wobei sämtliche Personen- und lien) über einen Zeitraum von bis zu drei Monaten Ortsnamen anonymisiert wurden. Diese Materi- an dem Alltag der Betreuung teilgenommen und alien werden in der Forschungsgruppe in Anleh- ethnographisch beobachtet. Zudem werden In- nung an das Verfahren der Grounded Theory terviews mit den verschiedenen am Alltag der ausgewertet (Strauss 1998). Bei der Datenana- Betreuung Beteiligten (Jugendliche, Fachkräfte, lyse dienen sozialtheoretische Überlegungen zu Pflegeeltern) geführt. einem relationalen Verständnis von Agency und Vulnerabilität (Burkitt 2015) sowie methodologi- Dieser Beitrag bezieht sich ausschliesslich auf sche Überlegungen zu subjektiven Konzeptionen die im Rahmen der Studie bisher durchgeführten von Agency (Helfferich 2020) als sensibilisie- Interviews mit elf Jugendlichen und fokussiert rende Zugänge und Konzepte. damit deren subjektive Perspektiven. Insgesamt wurden zehn männliche Jugendliche und eine 3. ANKOMMEN AUS SICHT DER JUGENDLI- junge Frau interviewt, die mindestens seit einem CHEN Jahr in der Schweiz leben, ganz unterschiedliche soziale Hintergründe aufweisen, aus unter- Die im Rahmen unserer Untersuchung bisher schiedlichen Ländern (v. a. Eritrea, Afghanistan, geführten Interviews deuten auf ganz unter- Syrien) in die Schweiz migriert sind und entwe- schiedliche Erfahrungen in Bezug auf den Her- kunftskontext, die Flucht, die Ankunft und das Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 4
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG bisherige Leben in der Schweiz hin. Vor diesem rungen sind hierbei als retrospektive, auf die ge- Hintergrund wurden für diesen Beitrag zwei Ein- genwärtige Situation und Zukunft erfolgende zelfälle ausgewählt, bei denen sich unterschied- Sinn- und Bedeutungskonstruktionen zu verste- liche Sichtweisen auf das Ankommen in der hen. Schweiz zeigen. D. h. sie unterscheiden sich ins- besondere in ihrer Wahrnehmungsweise der in- 3.1 Aras – „von Null anfangen und dann geht’s stitutionellen als auch strukturellen Bedingungen weiter“ ihres Ankommens in der Schweiz, die sie entwe- der als begrenzenden oder grenzenlosen Mög- Geboren und aufgewachsen ist Aras in Syrien lichkeitsraum für sich erleben. Um zu verstehen, und 2015 ist er über die europäischen Flucht- was Vulnerabilität und Agency für die Jugendli- migrationsrouten in die Schweiz gekommen. chen in den jeweiligen Kontexten und sozialen Seine Eltern leben zum Zeitpunkt des Interviews Beziehungen wie auch unter unterschiedlichen noch immer in Syrien, während zwei seiner sozialen Bedingungen bedeuten, erscheint es Schwestern in anderen europäischen Ländern lohnenswert, ihre Erzählungen zu den unter- leben. Über seine Reiseroute und auf der Flucht schiedlichen biographischen Lebensphasen ih- gemachte Erfahrungen spricht Aras im Interview res Migrationsprozesses zu berücksichtigen. Im nicht. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Aras 17 Rahmen einer ersten Falldarstellung wird auf Jahre alt, verfügt über den vorläufig aufgenom- Aras eingegangen, der vor der Fluchtmigration menen Asylstatus „F“, ist gerade in ein Ein-Zim- familiale Fürsorge erfahren hat und sich nun als mer-Apartment in Grossstadt 1 gezogen, selbständige, erwachsene Person positioniert besucht weiterhin das letzte Jahr der Sekundar- (3.1). Anschliessend werden wir im Rahmen ei- schule in Stadt 1, bevor er im September 2019 ner zweiten Falldarstellung auf Ahmend einge- eine Ausbildung in einem bautechnischen Be- hen (3.2), der dadurch aufgefallen ist, dass er reich beginnen wird (vgl. Abb. 1). 4 Sein Onkel Diskontinuitäts- und Übergangserfahrungen als und dessen Familie leben in unmittelbarer Nähe Normalzustand beschreibt. Die Erzählungen der der eigenen Wohnung. Jugendlichen als biografische Selbstthematisie- Abbildung 1: Lebensstationen Aras – gemäss Interviewerzählung 2002 in Afrin geboren; 2015; 27 Tage; wohnt ca. 3 Jahre dort; Umzug 1-Zimmer- Aufnahmezentrum Ankunft Schweiz Syrien MNA-Einrichtung seit 2019 lebt mit seinen Eltern ist 13 Jahre alt; erhält den F-Ausweis besucht die öffentliche Appartement in zusammen Schule; unmittelbarer Nähe zu Empfang durch seinen der Familie seines Onkel – kommt in das arbeitet bei seinem Onkels; Aufnahmezentrum Onkel im Geschäft besucht weiterhin die Schule in Stadt 1; Aussicht auf eine Lehrstelle 2019 Quelle: eigene Darstellung 3.1.1 Herkunftskontext „Ja als ich noch in Syrien war, waren meine Eltern für mich zuständig oder sie haben mir alles ge- Aras gibt an verschiedenen Stellen Einblicke in macht und alles (.) es waren einfach (.) für mich sein familiäres Beziehungsgefüge und die Bedin- da oder sie haben mir alles gemacht einfach ge- gungen seines Aufwachsens vor der Flucht, wie kocht und auch was wie immer oder Sachen ge- es in der folgenden Erzählung zum Ausdruck kauft (.) also ich musste mir einfach keine Sorgen kommt: machen […].“ (Z.61) 4 Mit dem Asylstatus „F“ werden Personen als Flüchtling anerkannt, sind allerdings nach nationalem Recht von Asyl ausgeschlossen. Sie werden in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Der Ausweis wird jeweils für ein Jahr ausgestellt und kann verlängert werden. Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 5
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Später kommt er erneut auf seinen Herkunfts- Schweiz kommen oder (.) da sind sie halt Flücht- kontext zu sprechen: linge oder da müssen sie (.) in ein Heim gehen wo sie nicht wollen oder (.) da würden sie sich „[U]nd in Syrien (.) hatte ich nie so eine fremde schlecht fühlen oder (.) mit fünfzig Jahren in ein Person getroffen (.) es waren […] einfach alle (.) Heim gehen oder (.) und […] müsst einfach essen die meine Sprache gesprochen haben (und dann) und schlafen huh das wollen sie irgendwie nicht hatte ich auf einmal (.) viele Leute die (.) keine Ah- oder (I: Mhm.) das ist einfach ähm (.) unange- nung andere Sprache sprechen oder (.) andere (.) nehm.“ (Z. 669–693) Nationalitäten haben und [...] vor allem so (.) dun- kelhäutige Menschen und das habe ich noch nie Eindrücklich beschreibt Aras in dieser Sequenz im Leben gesehen @.@ (I: Mhm.) erst in der den mit dem Fluchtmigrationsprozess verbunde- Schweiz (.) ja (.).“ (Z. 953–960) nen Verlust an Möglichkeitsbedingungen von Autonomie sowie damit einhergehenden Verlus- Aras beschreibt das Aufwachsen in einem von terfahrungen des Gewohnten: Verloren wird die Fürsorge geprägten familialen Umfeld, in dem er eigene Sprache und die uneingeschränkte Be- eine sorgenfreie Kindheit erlebt hat. Zudem skiz- wegungsmöglichkeit. Mit der Ankunft in der ziert er den Kontext seines Aufwachsens als ei- Schweiz werden seine Eltern „Flüchtlinge“ und nen, in dem nur die vertraute Sprache und geben damit gewissermassen das Recht auf ein vertraut aussehende Menschen präsent waren. selbstbestimmtes Leben ab: „Einfach essen und Erst nach seiner Flucht macht er Fremdheitser- schlafen“ bedeutet innerhalb der vorgegebenen fahrungen, wie die mit anderen Sprachen Strukturen zu funktionieren, sich unterzuordnen verbundene Möglichkeit von Verständigungs- und abzuwarten. Aras skizziert also in Bezug auf problemen oder das Zusammenleben mit Men- den Aufnahmekontext situative Vulnerabilitäts- schen anderer natio-ethno-kultureller Zuge- bedingungen, die für ihn als junger Mensch noch hörigkeiten. Die Entbehrung der Eltern sowie die zumutbar sind – für seine Eltern jedoch unzumut- Fremdheitserfahrungen in der Schweiz gehen bar erscheinen; Leben unter Bedingungen des mit der Erfahrung von Neuem und Irritationen für Krieges erscheint hier als das geringere Übel. Die Aras einher und fordern ihn auf, seine bisherigen mit der Erzählung verbundene subjektive Bewer- Erfahrungen weiterzuentwickeln. tung der Situation deutet an, dass Aras sich unter prekären Bedingungen der Asylpolitik Hand- An anderer Stelle im Interview kommt Aras lungsmöglichkeiten erarbeitet hat, und lassen nochmals auf die Abwesenheit seiner Eltern in Agency als dynamisches Durchhalten erschei- der Schweiz zurück. Er erzählt, dass er seine nen, das aber nicht für jeden zumutbar ist. Eltern aufgefordert habe, in die Schweiz zu kom- men, diese sich allerdings dagegen ausgespro- 3.1.2 Ankunft im Erstaufnahmezentrum: ein be- chen haben. Auf die Rückfrage der Interviewerin, grenzter Möglichkeitsraum wie dies für ihn sei, reagiert er mit einer Normali- sierungstaktik und einem generationalen Ver- Die Beurteilung der mit Fremdbestimmung ver- gleich: bundenen Migrationserfahrungen sowie der Herausforderungen in Bezug auf einen als an- „[E]s hat Vorteile und Nachteile (.) in die Schweiz spruchsvoll erlebten Integrationsprozess im Auf- kommen oder (.) dann sie sind ja nicht so jung wie nahmekontext für seine Eltern ist verknüpft mit ich oder (I: Ja.) sie sind ältere Leute oder (.) [...], ich seinen eigenen Erfahrungen der Ankunft in der bin sicher dass sie so Schwierigkeiten haben Schweiz. Nachdem er mit dem Zug am Bahnhof werden oder (.) beim [...] integrieren und so und angekommen ist und dort von seinem Onkel in die Sprache (eben) so Deutsch und (.) [...], weil Empfang genommen wurde, hat dieser ihn in ein dort sie sich keine Ahnung sich einfach frei fühlen Erstaufnahmezentrum gebracht, welches für ihn oder (.) es ist schon nicht sicher oder (.) s ist schon mit Angst und Überforderung verbunden ist: Krieg dort oder (I: Mhm.) (.) aber sie sind halt dort geboren und sie haben alles im Griff oder (.) sie „Das Heim war einfach voller Leute oder und da dürfen Auto fahren sie dürfen (3) alles machen war ich (.) und (.) ( ) hatte gesagt du musst jetzt was sie wollen oder (.) und wenn sie in die reingehen (.) so, wie ein Stall (.) und jetzt hier Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 6
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG müssen wie jetzt reingehn und die Türe zu oder terview, ein eigenes 1-Zimmer-Appartment. Sei- (.) und es gibt niemand mit dem man reden kann nen Alltag in der Schweiz erlebt er durchaus am- oder und dem man Fragen stellen kann oder (.) bivalent. So erzählt er zunächst: keine Übersetzer und niemand fragt dich (.) und man kann einfach keine Fragen stellen wieso ich „[S]o mein Alltag in der Einrichtung war einfach jetzt da bin oder was passieren kann oder (.) ein- immer so stressig weiss nicht wieso (.) mir war fach so oder (.) und dann musst du einfach rein- immer stressig (.) also ich muss immer so früh gehen und darfst nicht mehr raus gehen (.) du aufstehen (.) und dann in die Schule gehn […] und musst einfach essen und warten bis jemand dich am Nachmittag ging ich wieder in die Schule (.) holt oder und interviewt und so (.) dann war ich und am Abend halb sechs Hausaufgabenhilfe (.) dort und hab ich so ein komisches Gefühl gehabt und da haben sie mich unterstützt bei den Auf- (.) mir war immer schlecht ich habe nicht gewusst gaben ((husten)) und schlussendlich musst ich (.) he das ist so komisch wieso bin ich da ich ver- noch kochen, essen, und duschen und dann schwinde hier und ich hab so oft geweint ich schlafen (I: Mhm.) ja (sagen wir) immer so gleich habe mich so einsam gefühlt (.) he ich will weg (.) immer so stressig.“ (Z. 179–191) von hier.“ (Z. 132–148) In dieser atemlos wirkenden Aufzählung seiner Sehr anschaulich schildert Aras seine Eindrücke alltäglichen Verrichtungen fällt die häufige Ver- von dem für ihn unverständlichen Ankunftskon- wendung des Attributes „stressig“ auf, wobei die text, der für ihn mit Gefühlen der Orientierungs- „immer so gleich(en)“ Tage als Abfolge von Ver- losigkeit und des Eingesperrtseins verbunden ist. pflichtungen geschildert werden. Den dann erfol- Dass er sich schlecht fühlt, sich nicht orientieren genden Umzug in die eigene Wohnung, kann, weinen muss und einsam ist, mögen als verbindet Aras mit einem Statuswechsel. Er spezifische emotionale Verfasstheiten von Aras bringt dies wie folgt zur Sprache: Vulnerabilität in der Situation des Ankommens zeugen und auf einen für ihn begrenzten Mög- „Ja (.) ich fühl mich so eher selbständig (I: Mhm.) lichkeitsraum verweisen. @.@ nicht mehr so (.) @wie ein Kind@ @.@ (.) ja [...]. Ja eigentlich Selbständigkeit war schon im- Deutlich merkt man seiner Sprechweise die für mer auch im Birkenhof oder (.) aber da ich jetzt ihn immer noch aktuelle Erschütterung ange- alleine wohne ist noch mehr selbständig (oder) sichts dieser existentiellen Erfahrung an, der er da ich so allein in ein Zimmer bin oder und nie- sich ausgesetzt fühlt und sich dieser gegenüber mand (.) ähm niemand mich betreut oder nie- auch nicht verwehren kann. Er erzählt an anderer mand jetzt im Haus für mich zuständig ist oder Stelle: „[I]n diesem Heim war ich 27 Tage und es (dann bin) ich einfach selbständig (.) ich muss war ziemlich anstrengend.“ Sowohl die hier kon- einfach (alles) (.) selbständig entscheiden (orga- kret erinnerte Zeitlichkeit als auch die verbalisier- nisieren) oder (I: Mhm.) wie ein erwachsene Per- ten Gefühle von Aras verweisen darauf, dass es son.“ (Z. 40–53) sich bei der Ankunft um ein für ihn einschneiden- des Erlebnis handelt. In der Schweiz erfährt er In dieser Sequenz grenzt Aras sich vom „Kind- nicht die bisher erlebte Fürsorge; er ist auf sich Sein“ ab und positioniert sich als „erwachsene alleine zurückgeworfen und leidet unter Unge- Person“: Als diese muss er seinen Alltag nun wissheit, Einsamkeit und Angst sowie dem feh- gänzlich selbst gestalten. Insbesondere der lenden Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des Übergang von der Heimunterbringung in die ei- Verlaufs seiner Unterbringung. gene Wohnung ist für ihn mit einem Zuwachs an Selbstständigkeit verbunden. Der Zuwachs an 3.1.3 Von der MNA-Einrichtung in die eigene alltäglicher Autonomie zeigt sich bei Aras jedoch Wohnung auch als eine Form der Überforderung, nun eben alles selbstständig – und für sich selbst verant- Aras lebt jahrelang in einer MNA-Einrichtung wortlich – entscheiden zu müssen. Inzwischen, und bezieht von dort aus, kurze Zeit vor dem In- so Aras weiter, habe er sich daran gewöhnt, all diese Pflichten selbstständig zu erledigen, auch wenn er es als mühsam empfinde, all dies alleine Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 7
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG bewältigen zu müssen. Gleichzeitig ist Aras auf wie im B-Politik, wenn der nicht glaubt, be- soziale Unterstützung angewiesen. Denn die kommst du einen F normal, wie ich“. Es sind die Wohnung, die er von der Asylorganisation zuge- Fremdheitsgefühle, die Erfahrungen der Ableh- wiesen bekommt und beziehen darf, ist, so Aras, nung, die existentielle Ohnmacht gegenüber „leer, und ich habe ja keine Küche“. Sofern er strukturellen Bedingungen sowie Diskriminie- nicht über die notwendige materielle Ausstat- rungserfahrungen durch das Asylsystem, die auf tung verfügt, lässt sich dies als eine strukturell kontextspezifische und situative Vulnerabilitäts- verhinderte Agency lesen, die Aras sehr deutlich erfahrungen verweisen. Gleichzeitig erarbeitet im Interview kritisiert und die ihn in seinen Mög- sich Aras einen Kampfgeist, der sich affirmativ zu lichkeitsbedingungen der selbstverantwortlichen den sozialen Verhältnissen der Prekarität und Gestaltung des Alltags einschränkt. Hierbei Ungerechtigkeit verhält: bleibt seine Verwandtschaft – und insbesondere sein Onkel – auch weiterhin die für ihn signifi- „[D]as macht keinen Sinn wenn wir darüber re- kante Gruppe von (Bezugs-)Personen, die ihm den oder (.) [...] den ganzen Tag (schimpfen) oder während der Zeit Unterstützung gewährt und (.) (weinen) das macht keinen Sinn @.@ das ist Kontinuität sicherstellt (Göbel et al. 2020). So er- halt Politik (.) wir müssen einfach (.) darauf ver- zählt Aras: „[D]ann kochen sie für mich, oder weil zichten und halt [...] kämpfen oder (.).“ (Z. 840– sie da in der Nähe sind, da kann ich jeden Tag 845) hingehen und dort essen und dann halt schlafen und Hausaufgaben machen“. Aus einer eigenen Auf Rückfrage der Interviewerin, was er denn mit emotional wertschätzenden Perspektive kann kämpfen meine, fährt er wie folgt fort: Aras in dieser Konstellation sozialer Unterstüt- „Ja halt [...] sich weiter entwickeln oder (.) einfach zung für sich Handlungsfähigkeit herstellen, sei- weiter in die Schule gehn und versuchen (.) [...], nen Alltag selbstständig gestalten und sich auf einfach selber weiter zu kommen oder (.) etwas die Schule konzentrieren. mit der Schule zu machen oder (.) wenn du die 3.1.4 Das Asylverfahren: Überzeugungsarbeit Sprache kannst wenn du in die Schule gehst oder leisten und Kampfgeist entwickeln (.) kommst du auch etwas besser (zurecht) (.) halt so ja.“ (Z. 849–853) Die oben skizzierte Verbindung aus zeitlich aus- gedehntem Erleben unangenehmer Verpflich- Obwohl Aras die strukturellen Rahmenbedin- tungen, die Aras in der Schweiz zu absolvieren gungen als Zwang empfindet, erscheint es für hat, zeigt sich ausserdem in der Erzählung über ihn als sinnlos, sich den selektiven und regulati- die Anhörung im Rahmen seines Asylverfahrens. ven Logiken des Asylsystems zu widersetzen. Er berichtet in diesem Zusammenhang: „[S]ie ha- Die von ihm eingenommene kämpferische ben die Fragen immer wiederholt, also das hat Grundhaltung ist damit auf die Normalisierung stundenlang gedauert“ (Z. 652). Hierbei ist das seines Ankommens wie auch Disziplinierung sei- Asylverfahren für ihn mit der Anforderung ver- ner selbst gerichtet. In Bezug auf die Herstellung bunden, eine Überzeugungsarbeit zu leisten, um seiner Handlungsfähigkeit in dem Aufnahme- in der Schweiz bleiben zu können und eine „gute kontext Schweiz müsse er sich in Verzicht üben Aufenthaltsgenehmigung“ zu erhalten. Aras und gleichzeitig eine anpassungsfähige Haltung Asylstatus „F“ gehört nicht dazu: Dieser schränkt gegenüber dem Asylsystem und den damit ver- ihn in seinen Möglichkeitsbedingungen ein und bundenen Anforderungen der Aufnahmegesell- ist mit spezifischen Anforderungen, wie z. B. der schaft einnehmen. Gefühle der erlebten sozialen erfolgreichen Lehrstellensuche, verbunden. In- Ungerechtigkeiten, wie sie sich in Wut oder Wei- wiefern es sich hierbei um eine existentielle Er- nen ausdrücken, gilt es hierbei zu unterdrücken fahrung der totalen Fremdbestimmung handelt, (Magyar-Haas 2017, 49). Vielmehr ist Konzent- wird dann deutlich, wenn Aras wie folgt be- ration und Durchhaltevermögen in Bezug auf die schreibt: „[W]enn [der Richter] überzeugt ist, an ihn gestellten Anforderungen der Aufnahme- dass du wirklich wegen dem Krieg geflüchtet gesellschaft gefordert: Nur die erfolgreiche (Aus- bist, dann bekommst du einen guten Aufenthalt )Bildung, der kompetente Erwerb der hegemoni- alen Sprache und das Entsprechen neoliberaler Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 8
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Subjektanforderungen des „Weiterkommens“ umfassend betreuten Kindheit in Einklang ge- ermöglichen ein „erfolgreiches“ Absolvieren des bracht werden können, verweisen die Erzählun- Asylverfahrens und eine auf die Zukunft ausge- gen von Ahmend auf einen ganz anderen richtete Bleibeperspektive in der Schweiz. Hintergrund. Mit Blick auf die Veränderungen, Brüche und Dis- 3.2 Ahmend – „Ich bin ja immer neu für mich ist kontinuitäten innerhalb des Fluchtmigrations- einfach normal.“ und damit verbundenen Ankommensprozesses von Aras legt die Fallanalyse nahe, die Diskonti- Ahmend wurde in Somalia geboren, bevor seine nuitätserfahrungen nicht ausschliesslich auf eine Eltern nach Äthiopien migrierten. Nach dem Tod kategoriale Dimension des Vulnerabel-Seins zu seiner Eltern als auch seines Onkels verbringt reduzieren (Clark 2007). Aras übt sich in Verzicht Ahmend seine Kindheit auf der Strasse. Ca. 2016 und nimmt damit Vulnerabilitätserfahrungen, wie ist er über Italien in die Schweiz gekommen. Über die Abwesenheit seiner Eltern im Hier-und-Jetzt, seine Erfahrungen auf der Flucht spricht auch er für sich an. Er entwickelt eine anpassungsfähige im Interview nicht. In der Schweiz angekommen, Haltung in Bezug auf die soziale Integration im wird er im Unterschied zu Aras nach dem Erst- Aufnahmekontext und damit in das Asyl- und aufnahmezentrum in einer Pflegefamilie platziert. Bildungssystem, um den situativen Bedingun- Zum Zeitpunkt des Interviews ist Ahmend 15 gen nicht mehr machtlos ausgeliefert zu sein. Es Jahre alt und lebt in seiner zweiten Pflegefamilie sind die situativen Vulnerabilitätsbedingungen mit zwei weiteren Kindern. Er besucht die öffent- (MacKenzie et al. 2013), die mit der Herstellung liche Schule, absolviert verschiedene Schnupper- als auch Erarbeitung einer kontextspezifischen lehren, hat einen Nebenjob in einer Metzgerei Agency einhergehen, die eben bedeuten kann, und verfügt – wie Aras – über den Aufenthalts- einen „Kampfgeist“ zu entwickeln, denn so Aras status „F“. Zudem stellt das Fussballspielen eine im Interview: „weiter geht’s“. Kontinuität in seinem Leben dar. Zum aktuellen Zeitpunkt spielt er in einer U16-Mannschaft und Während Aras geschilderte Erfahrung familialer träumt von einer Karriere als Profifussballer. Fürsorge und Bedingungen des Aufwachsens Seine Stationen lassen sich wie folgt darstellen: vor dem Migrationsprozess mit einem eurozent- risch dominierenden bürgerlichen Konzept einer Abbildung 2: Lebensstationen Ahmend – gemäss Interviewerzählung Leben auf der 2016 oder 2017 in 5 Wochen; wohnt etwa ein Jahr wohnt bei seiner seit 2018 bis heute; Aufnahmezentrum Ankunft Schweiz Leben in Äthiopien Übergang erste Pflegefamilie aktuelle Pflegefamilie Strasse nach dem die Schweiz erhält den F- bei ihnen; Lehrerin für ca. 2 wechselt Schule, Tod seiner primären gekommen; Ausweis wird in die Wochen besucht die 9. Bezugspersonen ist 13 Jahre alt öffentliche Schule Klasse im eingeschult; Nachbarsdorf; spielt in einem wechselt zur U16- Fussballclub; Mannschaft; beginnt mit einem wechselt Nebenjob Wochenjob (Metzger) Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Niggli-Gamper (2019, 86) 3.2.1 Herkunftskontext in die Hauptstadt von – zweite Hauptstadt von Äthiopien mitgenommen (.) er hat nachher nach In Bezug auf seine Erfahrungen im Herkunfts- einem Jahr so eine Krankheit gehabt im Bein und kontext berichtet Ahmend wie folgt: so und ist er auch gestorben und nachher habe ich müssen auf der Strasse leben dort – ja dort „Meine Eltern sind, keine Ahnung zwischen 6 habe ich auch gute Kollegen gehabt, habe ich oder 8 bin ich gewesen, gestorben wegen so müssen einfach Schuhe putzen oder ein Auto eine nicht gerade Krieg aber wegen einfach ein putzen oder irgendetwas gemacht für das ich paar Leute […], sie haben so meine Eltern getötet Geld habe für das Essen oder irgendetwas […] Ich (.) und nachher bin ich mit – mein Onkel hat mich habe auf der Strasse gelebt […], ich habe nicht so Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 9
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG leben können wie jetzt (3) habe Arbeiten müs- 3.2.2 Ankunft im Erstaufnahmezentrum: ein sen, Mittagessen suchen alles suchen (3) (.) nicht grenzenloser Möglichkeitsraum so können duschen oder nicht Haare schneiden können alles ist einfach schwieriger gewesen. Ich In Bezug auf die Ankunft in der Schweiz erzählt habe nicht können Kleider leisten.“ (Z. 1451– er wie folgt: 1461) „Ich habe es mega cool gefunden dort so viele In dieser Passage wird deutlich, inwiefern das Leute (.) kannst einfach so leben also wir haben Leben von Ahmend bereits während der Kind- bis um 5 Uhr dürfen draussen sein (2) und nach- heit durch den Verlust wichtiger Bezugsperso- her haben wir pro Woche 7 Franken bekommen nen und für ihn Sorgenden, durch die ist mega cool gewesen (3) haben wir können Notwendigkeit der Binnenmigration, durch Ob- draussen herumchillen Frühstück alle zusammen dachlosigkeit sowie die Notwendigkeit, durch – können essen mit 200 Personen oder 300 ein Arbeit den eigenen Lebensunterhalten zu si- super feines Frühstück auch ein feines Mittages- chern, gekennzeichnet war. Auf Grund der pre- sen am Abend Filmabend immer das ist cool ge- kären und vulnerablen Lebensverhältnisse ist wesen ich vermisse sogar (.) manchmal […] und Ahmend dazu aufgefordert, sich Selbstständig- Filmabend haben wir eben nicht gekonnt weil ich keit zu erarbeiten, die „pragmatisch auf die Be- bin 12 Jahre gewesen ich habe nicht dürfen – wältigung der täglichen Erfordernisse zielt“ Filme sind manchmal über 18 und so gewesen (Liebel 2017, 43) wie auf das Erreichen einer ge- […] und nachher haben wir uns versteckt sind wir wissen Form sozialer Verlässlichkeit (Payne nachher immer rüber gegangen (.) nachher ha- 2012). Letzteres zeigt sich darin, dass Ahmend ben wir die Nacht dort geschaut bis um 12 Uhr sich soziale Netzwerke schafft und davon Filme oder 11 Uhr und nachher sind wir eben zu- spricht, dass er „gute Kollegen“ gehabt habe, die rück gekommen, schlafen gegangen (3) es hat sich gegenseitig unterstützten aber auch mitei- mega Spass gemacht dort (2) ja (3) es hat einfach nander Fussball spielten: so viel Leute gehabt weisst du (9) ich habe es auch gerne wenn es mega viele Leute hat dann „[I]ch bin eigentlich immer froh gewesen ja ich kannst du mit jedem chillen einfach.“ (Z. 925– habe ja keine Ahnung gehabt wie es hier läuft 942) [...], wenn ich gewusst hätte wäre es mir dort ein- fach wahrscheinlich schlecht gegangen aber Während Aras seine Ankunftserfahrungen in der wenn ich so einfach für mich ist einfach mega gut Schweiz als einen deutlichen Bruch mit seinem gewesen dort [...], es hat alles so Spass gemacht bisherigen Leben präsentiert, zeigt sich in der Er- mit Kollegen ein Spielen einfach ja [...], aber wenn zählung bei Ahmend der Bruch mit seinen bishe- man es nicht besser leben kann muss man ja ein- rigen Erfahrungen auf konträre Art und Weise. fach froh sein dort [...], weil du kannst ja nichts Das Erstaufnahmezentrum symbolisiert einen dafür machen.“ (Z. 1448–1454) grenzenlosen Möglichkeitsraum, statt einen Ort strukturell bedingter Abhängigkeiten und Vulne- Aus einer die eigene Situation evaluativ bewer- rabilitätserfahrungen. Geschildert wird ein Raum, tenden Perspektive nimmt Ahmend die Be- der es Ahmend ermöglicht, mit vielen Menschen schreibungen eines durch Entbehrung und zusammenzuleben, materielle Fürsorge zu erfah- Mühsal gekennzeichneten Lebens auf der ren und sich zu erholen. Während er in Bezug auf Strasse als solches erst nachträglich wahr. seinen Alltag in Äthiopien eine fürsorglose Auto- Gleichzeitig vollzieht er eine Normalisierung jener nomie beschreibt, macht er nun materielle Für- Bedingungen des Aufwachsens. Die damalige sorgeerfahrungen durch andere und ist Zufriedenheit mit dem Leben begründet er mit gleichzeitig in seiner gewohnten Bewegungs- fehlendem verfügbarem Wissen über die ihm zur freiheit und sozialen Beziehungspflege nicht ein- Verfügung stehenden Möglichkeitsbedingungen geschränkt. Zugleich relativiert er diesen seiner gegenwärtigen Lebenssituation – wie grenzenlosen Möglichkeitsraum an anderer bspw. Zugang zu Bildung. Doch trotz der prekä- Stelle, wenn er rückblickend sagt: „nur eine Wo- ren Lebensbedingungen sei er immer „froh“ ge- che dorthin zurück, nicht länger“. wesen. Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 10
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Eine unterschiedliche Erlebensweise zu Aras und nachher habe ich müssen alles mitmachen wird auch mit Blick auf das Asylverfahren deut- was kleine Kinder machen.“ (Z. 205–216) lich. Ahmend beschreibt dieses als eine Art Par- cours, bestehend aus zwei Anhörungen, den er In dieser Sequenz beschreibt Ahmend nicht nur gemäss seinen Schilderungen besonders schnell eine negative Aufzählung an alltäglichen Restrik- absolvierte: „Ich bin der schnellste gewesen, nie- tionen, sondern auch eine Gleichschaltung mit mand hat es so geschafft gehabt […], ich habe den Kindern aus der Pflegefamilie. Indem er „wie glaube ich dort einen Rekord gemacht“ (Z. 909). ein kleines Kind behandelt“ wurde, macht er die Diese Zeit der Anhörungen im Rahmen des Asyl- dort erfahrene Fremdbestimmung deutlich und verfahrens scheint hier wie im Flug zu vergehen weist implizit daraufhin, dass er sich als Person und auch noch als Bestärkung des eigenen nicht ernst genommen fühlte. Diese Formulie- Selbstwertgefühls erlebt zu werden. Für Ah- rung weist auf eine Differenzerfahrung von mend symbolisiert das erfolgreiche Absolvieren Ahmend hin: Er ist als Jugendlicher mit Migrati- des Asylverfahrens gleichzeitig den Erhalt eines onserfahrung anders und positioniert sich als legitimen Status in der Schweiz. Erst viel später nicht-zugehörig. Die Differenzerfahrung als Kind in seinem weiteren Werdegang erlebt er Ein- positioniert zu werden, drückt sich für Ahmend schränkungen auf Grund des ihm verliehenen darin aus, dass sich sein Tagesablauf als auch Aufenthaltstatus „F“, denn seinen Traum Fuss- seine Freizeitaktivitäten an denen der jüngeren ballprofi zu werden und in einen besseren Fuss- Kinder der Pflegefamilie orientieren müssen und ballclub zu wechseln, kann er mit diesem Status er sich unzulässig bevormundet fühlt. So erzählt nicht verwirklichen. er an anderer Stelle, dass er keine Fussballspiele schauen dürfe und sein Medienkonsum auf eine 3.2.3 Platzierung in einer Pflegefamilie: Positio- Minimaldauer pro Tag festgelegt wird. Damit nierung als kleines Kind und situativer Autono- wird Ahmend in seinen Wünschen und Bedürf- mieverlust nissen eingeschränkt: Denn während der Fuss- ball immer eine Konstante in seinem Leben Danach wird Ahmend in seiner ersten Pflegefa- darstellte, die ihm Zugang zu seinen Träumen milie platziert, in der er ungefähr ein Jahr lebt. und Zukunftsvorstellungen als auch seinen Peers Seine erste Begegnung mit der Pflegefamilie be- ermöglichte, ist der unbeschränkte Zugang zu ei- schreibt er als „komisch“. Denn er wird mit Fami- nem funktionierenden WLAN für ihn insofern lien- und Vatervorstellungen konfrontiert, die wichtig, als er darüber seine digitalen sozialen nicht seinen eigenen entsprechen und zu Verun- Netzwerke pflegt. Seine Differenzerfahrung als sicherungen führen. So ist es für Ahmend irritie- Person mit Migrationserfahrung beschreibt er an rend, dass der für ihn zukünftig sorgende anderer Stelle, wenn er sich implizit selbst als Pflegevater erst 28 Jahre alt ist und „schon“ drei „Ausländer“ positioniert: Kinder hat, und er erzählt: „[N]achher habe ich gedacht, er ist nicht Mann, er ist nicht Vater, er ist „[I]ch habe damals nicht einmal Deutsch gekonnt einfach normal, einer der 18 ist“ (Z. 1074–1082). (I: Mhm.) ja ich habe niemanden gekannt gehabt Während er sich in seiner aktuellen Pflegefamilie […] dort ich habe auch nicht Somalier oder so ge- unterstützt und wohl fühlt, ist in der ersten Pfle- kannt weisst du es ist so ein Dorf wo kein Bahn- gefamilie also alles „anders“ (Z. 205) gewesen, er hof hat (.) du kannst nirgendwo hin gehen und führt auf die Aufforderung „erzähl mal“ seitens dort hat es keine Ausländer fast.“ (Z. 220–228) der Interviewerin aus: Sowohl die sozialräumliche Isolation als auch die „[D]ort ist einfach sie haben mich einfach so wie nicht vorhandenen Sprachkenntnisse gehen für kleines Kind behandelt sie haben (.) ich habe im- Ahmend mit zu bewältigenden Herausforderun- mer schon so am 9 Uhr zuhause sein müssen gen einher. Mit der Platzierung in der ersten Pfle- oder am 8 Uhr (.) sie haben ich habe pro Tag un- gefamilie verliert er den Kontakt zu seinen bisher gefähr eine Stunde dü- dürfen Handy brauche aufgebauten sozialen Beziehungen in dem Erst- Internet (7) ja (7) [...]. Sie hat kleine Kinder gehabt aufnahmezentrum und zu seinen virtuellen sozi- und nachher dort ist einfach wie Kinder gegan- alen Netzwerken, ist in seiner Mobilität gen hast ja nichts Spezielles machen können [...] eingeschränkt und verfügt über keine Personen Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 11
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG in seinem nahen Umfeld, mit denen er seine ver- sei, als eine Selbstermächtigung deuten. Denn traute Sprache sprechen kann. Die mangelnden bei der dann erfolgenden Umplatzierung ergreift Deutschkenntnisse führen zu dieser Zeit bei Ah- er selbst die Initiative. Hierfür greift er auf seine mend dazu, dass er innerhalb der Familie nicht sozialen Beziehungs- und Unterstützungsnetz- alles versteht und sich dadurch nicht angemes- werke zurück, die er sich bislang in der Schweiz sen beteiligen und einbringen kann. aufgebaut hat, um der Situation, mit der er unzu- frieden ist, Abhilfe zu schaffen. Er erzählt, dass er 3.2.4 Abbruch des Pflegefamilienverhältnisses zunächst bei einem Kollegen übernachtet habe, bevor er bei seiner damaligen Lehrerin eine Zwi- In der Folge kommt es zum Abbruch des ersten schenlösung gefunden hat. Von dort aus habe er Pflegefamilienverhältnisses. Ahmend erzählt dann Kontakt mit seiner für ihn zuständigen So- zum einen von Bestrafungen, die sich für ihn in zialpädagogin aufgenommen, um mitzuteilen, fehlender materieller Fürsorge ausdrücken, wenn dass er nicht länger dort bleibe. Während in der ihm das Essen verweigert wird, zum anderen von ersten Familie kein Prozess des Kennenlernens körperlichen Gewalterfahrungen, die das Ende stattfand, wird Ahmend nun nicht nur an dem des Pflegefamilienverhältnisses einläuten: Prozess beteiligt, sondern er bindet sich selbst aktiv ein: Er besteht auf einer „Schnupperphase“ „[N]achher ist der Mann am Abend gekommen und dem Kriterium, dass er nicht mehr mit kleinen und hat er mich so wegstossen gibt mir alles Kindern zusammenleben möchte. Geld ich habe gesagt ich gebe dir nicht und nach- her bin ich einfach weggegangen.“ (Z. 269–271) Die Anfangsphase und der damit verbundene Prozess des (erneuten) Ankommens in einer an- Es sind die von ihm beschriebenen Bedingungen deren Pflegefamilie erlebt Ahmend dann nicht asymmetrischer und machtvoller Sorgebezie- mehr als eine radikale Fremdheitserfahrung, hungen, die auf situative Vulnerabilitätserfahrun- wenn er erzählt: „[F]ür mich ist nachher alles nor- gen und damit Entmachtung seiner für ihn mal gewesen, weil ich bin ja fast zwei Jahre in der bislang tonangebenden ganz eigenen Vorstel- Schweiz gewesen“. Der hier von Ahmend ange- lungen und Praktiken der Lebensführungswei- sprochene Normalisierungsprozess deutet auf sen hindeuten. Der reglementierte Alltag wie die Bewältigung von begrenzenden und sich auch die Positionierung als Kind scheinen im Wi- gleichzeitig eröffnenden Möglichkeitsräumen derspruch zu Ahmends gewohnten und vertrau- hin. Zum einen kann er sich nun in der neu erlern- ten Lebensführungsweisen zu stehen, in denen ten Sprache mit den Familienmitgliedern ver- er in erster Linie für sich selbst verantwortlich ge- ständigen; zum anderen beschreibt Ahmend wesen ist, und führen damit zu einer Einschrän- einen Zuwachs an Mitbestimmungsrechten: kung seiner gewohnten Agency. „[D]ie [Pflegefamilie 1] haben das einfach so ge- Ahmend beschreibt zudem mangelnde Partizi- macht und nachher habe ich einfach immer müs- pationsmöglichkeiten in Bezug auf den Platzie- sen mitgehen (I: Mhm.) (.) aber hier ist meine rungsprozess als auch die asylpolitischen Entscheidung ich kann sagen ob ich mitkommen Strukturen, die keine klaren nachvollziehbaren möchte.“ (Z. 1190–1192) Regeln vorgeben. Die Platzierung von Ahmend in einer Pflegefamilie erscheint hier als infantili- Ahmend betont, dass er nun in seinen Entschei- sierende Bevormundung, sofern er gerade nicht dungen respektiert wird und auch seine Bedürf- Teil des Entscheidungsprozesses ist. nisse selbstbestimmt und uneingeschränkt artikulieren kann. Zudem berichtet er, wie die ak- 3.2.5 Von der unzulässigen Bevormundung zur tuelle Pflegefamilie ihn bei dem Wechsel in eine Selbstermächtigung neue Schule und einen neuen Fussballclub sowie in der Akquise eines Nebenjobs unterstützt. Da- Vor diesem Hintergrund lässt sich die oben auf- mit verbunden ist die Wiederaufnahme seiner geführte Passage, in der Ahmend berichtet, dass sozialen Kontakte, die er sich während der An- er auf Grund der ihn vulnerabilisierenden Bedin- kunftszeit im Aufnahmezentrum aufgebaut hat, gungen in der Pflegefamilie „einfach gegangen“ sowie Beziehungen, die er mit somalischen Rebecca Mörgen und Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2021.1.3 Seite 12
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