Was macht das Theater, Afsane Ehsandar? - Theater der Zeit

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ESSAY

Was macht das Theater, Afsane Ehsandar?
von Afsane Ehsandar und Dorte Lena Eilers

Nach der islamischen Revolution 1979 wurden viele Künstlerinnen und Künstler gezwungen, Iran zu
verlassen oder besser gesagt: Sie wurden aus der Gesellschaft ausgestoßen. Einige Exilierte nahmen sich
schließlich das Leben, wie Sadegh Hedayat und Golam-Hossein Saedi. Seit fast vierzig Jahren verfolgen
Iranerinnen und Iraner Interviews von Exilierten, die ständig von der Rückkehr in die Heimat „nach Iran“
sprechen, genau wie Tschechows drei Schwestern. In jedem Interview behaupten sie erneut, dass sie im
nächsten Jahr, nächsten Oktober, nächsten Juli, um jeden Preis zurückkehren werden, und sie wiederholen
es ohne Variation. Wenn man die Interviews aufmerksam liest oder hört, unterscheiden sich diejenigen von
1981, 1991 oder 2019 überhaupt nicht voneinander, nicht nur, was den Inhalt betrifft, selbst der Wortlaut ist
gleich. Es scheint, als merkten die Exilierten gar nicht, dass die Zeit vergeht, so als wäre die Welt für sie
stehengeblieben, seit sie ausgestoßen wurden. Ein innerer Zwang zur Rückkehr hält sie in ihren
Erinnerungen gefangen, sie erlangen weder Erkenntnisse über die gegenwärtige Situation in der Heimat,
noch Einsichten in ihre Umgebung im Ausland.

Seit meiner Kindheit versuche ich immer wieder, die Tränen und das Hoffen der Exilierten nachzuempfinden.
Ihr Heimweh – welches mir noch fremd ist – erscheint mir mitunter wie eine zweifelhafte Litanei der
Hoffnung. Bis heute gehen mir viele Fragen durch den Kopf: Warum können die Ausgeschlossenen, vor
allem iranische Künstlerinnen und Künstler, das Leben im Exil kaum aushalten? Warum entwickeln Exilierte
trotz langem Aufenthalt im Ausland kein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem anderen Land oder zu einer
anderen Kultur? Warum vergeuden sie ihr ganzes Leben mit Zweifeln hinsichtlich ihrer Rückkehr oder
Nicht-Rückkehr? Abgesehen davon, wonach haben sie eigentlich Sehnsucht? Einige Ausgeschlossene sind
schließlich in die Heimat zurückgekehrt, wie der russische Schriftsteller Maxim Gorki, der seit 1931 wieder in
der Sowjetunion lebte. Ich habe mich immer gefragt, wie ein Ausgeschlossener trotz des immensen Hasses
auf seine Heimat, auf das System, auf die Gesellschaft, die ihn einfach ausgestoßen hat, nach seiner
Rückkehr zurechtkommt und in ihr weiterleben kann. Zurück zu den Landsleuten, die keinen einzigen
Versuch unternommen haben, ihn dazubehalten, zurück die Freunden und Kollegen, die keinen Widerstand
geleistet und ohne ihn weitergelebt haben. Woher kommt dieser innere Zwang? Was ist dieser Preis, den die
Exilierten zahlen, um sich von der Sinnhaftigkeit der Rückkehr zu überzeugen?

Als ich das großartige Stück „Philoktet“ von Heiner Müller gelesen habe, wurde mir dieser Preis deutlich.
Nachdem Neoptolemos den unfehlbaren Bogen des Philoktet an sich bringt, ihm aus Gewissengründen
seine Lüge gesteht und ihn schließlich verlässt, führt Philoktet einen langen Dialog mit dem eigenen Ich und
versucht sich selbst zu überreden nachzugeben und zurückzukehren. Kamen ihm Zweifel, ob er auf der Insel
allein mit seinen schweigsamen Zeugen, den Geiern, weiterleben oder seine vorgeschriebene Rolle in der
Gesellschaft einnehmen sollte? Wer das Leben im Exil erlebt hat, stellt sich zwangsläufig die Frage,
inwiefern er selbst die Schuld an seinem Elend und Ausgestoßensein trägt, ob er sich nicht der Regierung
und ihren Erwartungen hätte anpassen sollen? Wäre er in der Position des Machthabers, hätte er nicht
genauso gehandelt? In diesem inneren Monolog ruft Philoktet sich selbst an, sieht sich im Spiegel der Augen
der anderen. Zunächst macht er sich verächtlich Vorwürfe, beurteilt seine Erwartungen an die Truppe als
ungerecht und akzeptiert schließlich seine Rolle als Mittel zum Zweck in der Gesellschaft, als bloßes Fleisch,
als eine Wunde.

Hör, Mann auf Lemnos, Philoktet, mein Ohr/ Ist voll mit deinem Jammer, stopf dein Maul/ Genug geschrien,
gewartet lang genug /Beug deinen Nacken wieder, Gaul, ins Joch/ Und lern das Leben neu, vor Troja
schlachtend. [...] Geh, unter seiner Sohle ist noch Platz/ Nimm deinen Platz ein unter seiner Sohle/ Leb für
den nächsten Fußtritt/ In der blutsaufenden Gemeinschaft wieder./ Der Faustschlag ist Berührung, Brot ihr
Speichel./ Lauf, Einbein, in den Schlamm, der alles heilt/ Die alte Wunde mit der neuen Kränkung/ Den
Stinkenden mit dem Gestank der Schlacht. (Geht.)

Kann die Rückkehr eines Ausgeschlossenen wie Maxim Gorki aus einer solchen Selbst-Demütigung heraus
als eine freiwillige Entscheidung angesehen werden? Bei Sophokles erscheint schließlich Herakles als
Halbgott, um Philoktet zur Teilnahme am Krieg um Troja zu bewegen, und trotz all seines Hasses kehrt
Philoktet lebend nach Troja zurück. Müller schrieb diesen Monolog wie einen inneren Zwang zur Rückkehr,
in dem der Protagonist sich seine Rückkehr und die Wiederaufnahme in die Gesellschaft ausmalt. Was
würde passieren, wenn ein Ausgeschlossener zurückkehrte und wiederaufgenommen würde?
Überlegenswert ist in diesem Kontext auf jeden Fall die Frage nach dem Tod des Philoktet in Müllers
Bearbeitung, in der im Gegensatz zur sophokleischen Tragödie Philoktet zum Schluss nicht mit den
Griechen nach Troja zieht, sondern von Neoptolemos umgebracht wird. Direkt nach der Selbst-Erniedrigung
taucht plötzlich sein Erzfeind Odysseus auf, als würde Philoktet beim Betreten seiner Heimat unmittelbar
wieder mit dem hässlichen Gesicht der Wirklichkeit konfrontiert. An dieser Stelle wird seine Identität explizit
infrage gestellt. Sein Feind identifiziert ihn, ruft seinen Namen mit „unvergessner Stimme“, aber Philoktet
verleugnet sich selbst im Angesicht der Griechen, als könnte ein Ausgeschlossener nach dem
Ausgestoßensein, bei der Rückkehr oder Nicht-Rückkehr, nicht mehr er selbst sein.
PHILOKTET: Wer nennt mich mit der unvergessnen Stimme?

ODYSSEUS: Der deine Stimme nicht vergessen hat/Seit er dich vor die Geier warf im Dienst.

PHILOKTET: Den so Verwundeten im gleichen Dienst.

ODYSSEUS: Den nicht mehr Dienlichen mit solcher Wunde.

PHILOKTET: Den Philoktet.

ODYSSEUS: Dich.

PHILOKTET: Bin ichs? Wer bist du?

ODYSSEUS: Odysseus, den du kennst. Spiel nicht den Blöden.

PHILOKTET: Odysseus war ein Lügner. Wenn du der bist/Und nennst mich Philoktet, bin ichs wohl nicht.

Philoktet, einer der Anführer der griechischen Streitmächte gegen Troja, wurde von den Griechen zehn
Jahre zuvor während ihrer Fahrt nach Troja auf der verlassenen Insel Lemnos ausgesetzt. Aufgrund einer
Wunde war er für die Griechen damals nicht mehr von Nutzen und nun stellt er, trotz der Wunde, die nach
zehn Jahren tatsächlich noch stärker stinkt, wieder einen Nutzen für sie dar. Sein faulender Fuß hatte
zunächst den Erfolg der Griechen im Krieg ermöglicht, doch wegen jenes faulenden und stinkenden Fußes
wurde Philoktet unbrauchbar für den Dienst. Was ist Philoktet anderes als ein Ausgeschlossener? Er wurde
nicht nur aus dem Kreis der Trojafahrer, sondern aller Menschen ausgestoßen. Solang es den Begriff
„Feind“ gibt, scheint die Notwendigkeit der Lüge, die Notwendigkeit eines Opfers zum Erreichen des Sieges
gerechtfertigt.

In this sensitive time hört man häufig von Politikerinnen und Politikern, nicht nur im Kriegsfall, sondern in
jeder Situation, in der klagende Bürgerinnen und Bürger verstummen sollen, um ihre Pflicht und die von
ihnen erwartete Rolle für ihr Land zu erfüllen. „In this sensitive time gibt es keinen Raum für Erbarmen oder
Reue, keinen Raum für den Einzelnen und seine Bedürfnisse, keinen Raum für Beschwerden und Zweifel
…“, erklärte der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani bei den Proben zu seiner Inszenierung von
Heiner Müllers „Philoktet“ am Deutschen Theater Berlin im Herbst 2019. Klassische Literatur spiegelt die
tatsächliche Barbarei der Welt im Stoff wider und ihre mögliche Schönheit in der Form; diese Maxime scheint
im Philoktet erfüllt.1 Warum passt die Handlung einer antiken Tragödie so vollkommen in die Zeit Heiner
Müllers? Und auch in unsere Zeit, obwohl die Zeit des Krieges, um den es geht, schon lange vorbei ist?! Der
Grund ist, dass sich Machthaber die Strategie, Bürgerinnen und Bürger aufzufordern, ihre Konflikte und ihre
Kritik am System beiseitezulassen und für ihre Heimat zu kämpfen, weiterhin nutzbar machen. Ist es nicht
furchtbar, dass Propagandainstrumente wie „Feindbilder“ und „getötete Helden“ noch immer funktionieren?
Aus diesen Gründen entschied sich Koohestani, Müllers Stück wieder auf die Bühne zu bringen. In seiner
Inszenierung spielt die Mobilkamera eine wichtige Rolle, die sich wie ein Geier um alles dreht, alles
überwacht, ohne Scham abwartet, und wenn ihr Opfer vor Ungerechtigkeit und Schmerz brüllt, kommt sie
sofort heruntergefahren, schwebt dicht neben ihm und zeigt es mitleidlos in Großaufnahme, während es mit
dem Tode ringt und sich allmählich dem Abgrund nähert. Der Geier tut nichts, weder hilft er, noch greift er
an. Er verletzt sein Opfer nicht, seine Vorliebe gilt nicht dem frischen Fleisch. Er beobachtet Philoktet
schweigend, wartet geduldig auf dessen Tod, bis Philoktet sich von seinem Schmerz verabschiedet, bis
seine Leiche zu verwesen beginnt, dann stürzt er sich auf sie zum Fraß. Wie alle Medien lässt sich die
Mobilkamera von nichts berühren außer von Elend, Lüge und Propaganda. Sie wirkt in der Aufführung wie
ein Hilfsmittel für den Machthaber, um seinem Opfer nachzustellen, dessen Leben unter Kontrolle zu haben
und davon zum richtigen Zeitpunkt zu profitieren. Nach dem Tod des Philoktet hilft die Kamera Odysseus,
seine Version der Ereignisse aufzunehmen, gefaked als Live-Aufzeichnung, als Propaganda also, um die
Truppe durch den Tod des Helden zu motivieren.

In vielerlei Hinsicht erinnert mich das Schicksal von Müllers Philoktet an Maxim Gorki, der seine Heimat in
this sensitive time 1921 auf Drängen Lenins verlassen musste. Da die ideologischen Differenzen mit der
etablierten Regierung immer klarer hervortraten und auch ein erneuter Ausbruch seiner Krankheit drohte,
wurde er ausgeschlossen. In this sensitive time wurde sein Schreiben einerseits als bedrohlich, andererseits
als überflüssig angesehen. Sein Schreiben passte den Machthabern nicht, es stank ihnen geradezu; ebenso
erging es Heiner Müller, der 1961 vom Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde. Wie Philoktet
und Müller wurde Gorki ausgestoßen. Die Art der Selbst-Erniedrigung ist wohl allen Ausgeschlossenen
bekannt, die sich jahrelang mit Zweifeln über Rückkehr und Selbstschuld herumschlagen. Im Gegensatz zu
Philoktet gab Gorki schließlich auf und sah sich gezwungen, ein Mittel zum Zweck für Stalin zu sein. Konnte
er nach seiner Rückkehr 1931 überhaupt noch Maxim Gorki sein? Wie Odysseus brauchte Stalin Gorki für
den Aufbau einer sowjetischen Kultur, er war damals wohl von der Möglichkeit überzeugt, Gorkis
verwesende Beine zu heilen. Die kommunistische Propaganda profitierte weitgehend von Maxim Gorkis
Rückkehr und letztendlich auch von seinem rätselhaften Tod. Wie Odysseus trug Stalin Gorkis Sarg bei der
Beerdigung und verkündete dann selbst, „Feinde des Volkes“ hätten Gorki vergiftet. Die Ärzte wurden zum
Tode verurteilt und erschossen. Interessanterweise wurde unter anderem Genrich Jagoda, der ehemalige
Chef des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, beim sogenannten dritten Moskauer Schauprozess von
1938 angeklagt. Er erklärte: „Wenn Gorki am Leben geblieben wäre, hätte er seine Stimme des Protests
gegen uns erhoben. Das konnten wir nicht zulassen.“ In einigen Publikationen2 wird Stalin selbst für den Tod
Gorkis verantwortlich gemacht, da er dem Schriftsteller schon seit 1935 mit zunehmendem Misstrauen
begegnete. Der Wahrheitsgehalt all dieser Anschuldigungen bleibt ungeklärt. So wie es der Tod des
Philoktet, dem bloß zwei Zeugen beiwohnten, sein Erzfeind und sein Mörder, wohl für die Griechen blieb.

Brutale Folter

Der Text beginnt mit der Ankunft von Odysseus und Neoptolemos, Sohn des toten Achill, auf Lemnos. Die
Griechen benötigen Philoktet und seinen unfehlbaren Bogen dringend, damit die Truppe den Kampf gegen
Troja fortsetzen kann. In Koohestanis Inszenierung landet Odysseus in einer rostigen Badewanne – mit der
Aufschrift „Death From Above“ – wie in einem Helikopter auf der Bühne, die zum Teil von einer riesigen
Wand verdeckt ist. Neoptolemos tritt durch ein erleuchtetes Tor auf die in Dunkelheit gehüllte Bühne, in der
Hand einen Laubbläser, der wirkt wie ein Speer. Beide landen auf der Insel in schmutzigen Uniformen und
begegnen einem Philoktet mit wild zerzaustem Haar und zerrissener Kleidung. Sie scheinen aus einer
modernen Welt zu kommen, mit Laubbläsern und Helikoptern, Philoktet dagegen tritt barfuß auf, mit dem
Bogen über der Schulter. Vor der Wand führen sieben in den Boden eingelassene Gitterroste in die dunkle
Höhle, in der Philoktet in Einsamkeit lebt. Als Odysseus die Insel von seinem Helikopter aus beschreibt und
sich den Zustand Philoktets ausmalt, hindert ihn die Wand daran, die dunkle Seite von Philoktets Leben im
Exil zu sehen. Je stärker sich die Insel in den zehn Jahren veränderte, die Quellen versiegten, die Fische
verschwanden, umso gestaltloser wurde Philoktet. Durch die zehnjährige Isolation auf der verlassenen Insel
ist er nicht nur in der Einsamkeit, sondern in seinem Hass gegen Odysseus und alle Griechen gefangen und
überlebte nur aufgrund seines Durstes nach Rache an Odysseus. Er ist trunken vor Zorn, und kann keine
Ruhe finden, bis Odysseus von der Erde getilgt ist.

Odysseus ist bewusst, dass Philoktet weder mit Worten überredet noch durch Gewalt überwältigt werden
kann, deswegen wählte er den junge Neoptolemos aus, ihn nach Lemnos zu begleiten, damit dieser
Philoktet täusche und zur Rückkehr bewege. Neoptolemos, der bei Philoktets Aussetzung auf der Insel nicht
dabei war, trifft Philoktets Hass auf die Griechen nicht. Der Machtpolitiker Odysseus setzt Neoptolemos als
Köder ein, genau wie Stalin, der – dem Essay „Die sieben Tode des Maxim Gorki“ von Gustaw
Herling-Grudzi?ski zufolge – P. P. Krjutschkow3 einsetzte, um Gorki zur Rückkehr in die Heimat zu
bewegen, genau zu dem Zeitpunkt, als Gorki beabsichtigte, seine sowjetische Staatsbürgerschaft
aufzugeben.

Sobald Odysseus den Köder mit seinem Auftrag alleinlässt, hebt sich die Wand und Neoptolemos tritt in
Philoktets Welt ein. Auf symbolische Weise verbindet eine Kette Neoptolemos Schuhe mit Philoktets
verwesendem Fuß, ihre Schicksale sind miteinander verknüpft. Mit einer Lüge gewinnt Neoptolemos
Philoktets Vertrauen, dieser freundet sich mit ihm an, aber die Freundschaft und Philoktets Hoffnung sind
von kurzer Dauer. Sein verwestes Bein erinnert ihn an den Zustand des Ausgestoßenseins. Die Tatsache,
dass Neoptolemos aus einer anderen Welt mit ganz anderen Sorgen, Leiden, Bedürfnissen stammt,
schmerzt Philoktet so sehr, dass er sich sofort wieder in die Tiefe seiner Höhle zurückzieht, und so tritt sein
ganzes Elend im Exil zum Vorschein.

Nicht nur Odysseus, auch Neoptolemos kümmert sich nicht um Philoktets Wunde, untersucht nicht, wie
schlimm sie in den zehn Jahren geworden ist. Sie fragen ihn nicht, wie er sich in der Zwischenzeit ernährt
hat, wie sehr seine Wunde schmerzt. Sie haben keine Zeit, sich seinen Zorn, seine Schwierigkeiten und
Klagen anzuhören, sie haben keine Medikamente, keinen Verband dabei, um ihn zu behandeln. Sie tragen
nur das Netz, den Strick und den Laubbläser mit sich. So ist die Gesellschaft eingerichtet, zweckrational und
unmenschlich.

Ich kehre zu meiner ersten Frage zurück: Wonach haben Ausgeschlossene eigentlich Sehnsucht? Nach der
Schwierigkeit, oder wie Philoktet nach der Lüge, nach dem „süßen Leben in der blutsaufenden
Gemeinschaft“. In Philoktets Erinnerung gibt es keine gute Person, nichts Schönes aus der Vergangenheit,
in seinem inneren Bildarchiv gibt es kein schönes Bild von der Heimat außer das „Grüne“ auf seiner
Heimatinsel Melos. (Unter den Inseln schön wie keine mir. Wie lang hab ich das Grüne nicht gesehn. Aus
dem wir unsre schwarzen Schiffe schnitten.) Geblieben ist ihm einzig die Muttersprache, die ihn an die Lüge
und Täuschung erinnert. Seine Erinnerung verweilt nicht lang beim Heimweh, sondern kreist intensiv um den
Augenblick, als er gezwungen wurde, das Schiff zu verlassen, und allein auf Lemnos zurückblieb. Schuld an
seinem Elend ist Odysseus. Warum aber versuchte niemand aus seiner Mannschaft oder seiner Familie
jemals ihm zu helfen? Im Verlauf der gesamten zehn Jahre kam niemand zu ihm, niemand half, seine
Wunde zu heilen, niemand kam, um ihn zu holen, niemand machte sich Sorgen um ihn, während er die
ganze Zeit darauf hoffte, ein Schiff zu sehen, um in die Heimat zurückzufahren. Was wünschte er sich von
dieser Heimat, die ihn schon lange vergessen hatte? Falls er seine Rache durch den Mord an Odysseus
vollziehen würde – könnte er seinen Landsleuten verzeihen? Könnte er wieder in die Gesellschaft
aufgenommen werden?

Wenn ein Ausgeschlossener an Heimweh leidet, seine Muttersprache entbehrt, keinen Ausweg aus seiner
Einsamkeit sieht, führt die Abwesenheit einer Gesellschaft um ihn herum dazu, dass all seine Emotionen um
ihn selbst kreisen, nach innen gerichtet sind. Einerseits stellt die Einsamkeit für Philoktet eine Chance zur
Individuation dar. Er steht außerhalb des Kreises, hatte genug Zeit darüber nachzudenken, wie es dazu
kommen konnte, von Beginn an. Er entdeckt neue Empfindungen, entwickelt eine andere Wahrnehmung als
zu dem Zeitpunkt, als er zusammen mit seiner Mannschaft kämpfte. Die Welt dreht sich nun allein um ihn. In
der ersten Begegnung mit Neoptolemos beklagt Philoktet seine Isolation auf Lemnos, seinen Hass auf die
Griechen und sein verlorenes Ich. (Im Aug der Geier säh ich mich vielleicht/ Doch bringt mir nur der Pfeil die
nah genug/ Der blind macht ihren Blick zugleich für meinen./ Nicht vor dem Sterben säh ich mein Gesicht/
Und länger nicht als einen Augenblick lang.) Er sorgt sich nur um sich selbst. Neoptolemos hingegen
berichtet ihm aus der Welt, der Gesellschaft, von der Situation vor den Toren Trojas und vom Ende des
Helden Ajax, der wie Neoptolemos von Odysseus um sein Erbe, seinen Preis betrogen wurde und sich
daraufhin selbst tötete. Odysseus hatte nicht damit gerechnet, dass sich Philoktet verändert hat und ihm sein
Land, seine Landsleute, die Gefahr für Troja, das gemeinsame Ziel, der unausweichliche Krieg nichts mehr
wert sind. Philoktet denkt gar nicht daran, seinem Land zu dienen. Er ist schlicht kein Teil mehr des sozialen
Netzes. Deswegen kann Odysseus, für den das Individuum bloßes Mittel zum Zweck ist, Philoktet nicht
davon überzeugen, wieder für seine Heimat zu kämpfen.

Ich weiß von Städten nichts, ist eine Stadt hier?/Und so viel sind sie mir. Auch glaub ich keine./ Gebild aus
Worten und Wohnung für Träume/ Falle, von blinden Augen ausgestellt/ In leere Luft, Gewächs aus faulen
Köpfen /Wo sich die Lüge mit der Lüge paart /Sie sind nicht, Lüge euer Grünzeug auch /Kahl ist mein
Erdkreis und so will ich euren.

Andererseits kann der Einzelne sich nicht aus der Gemeinschaft ausschließen. Die Augen der Anderen sind
Ausgang der Selbstbegegnung, die Augen der Anderen sind ein Spiegel des Selbst. Ohne Gesellschaft,
ohne Ohren, die einen hören, ohne Augen, die einen ansehen, bleibt Freiheit eine Illusion. Philoktet könnte
zwischen Gehen und Bleiben wählen – aber hat er überhaupt eine Wahl? Nicht nur seine Wunde quält ihn,
auch die ganze Welt, die Natur, in der alles leicht wie eh und je vonstatten geht, die Vögel, die sich paaren,
die Welle, die den roten Stein umarmt, fallen ihm zur Last. Seine Situation gleicht einem Flüchtling, der auf
einem Sandstrand mit atemberaubender Aussicht liegt und die Leidenschaft und Freude der anderen als
empörend und brutal empfindet. Nach dem Verlust seiner Identität versucht Philoktet, sich in den Augen
seines Gesprächspartners zu sehen, sich ein neues Selbstbewusstsein zu erschaffen, aber in Neoptolemos‘
Blick erkennt er sich nicht wieder, ebenso wie man sich selbst auf einer Fotografie fremd sein kann, als
könne das Abbild die eigene Identität rauben. Zu derartigen Konsequenzen führt Isolationsfolter.

Du hast zwei Augen, zeig mir mein Gesicht./Du nimmst mir mein Gesicht mit deinen Augen./ Nimm deine
Augen weg, sie lügen, Grieche./ Nimm deine Augen weg, eh ich mein Bild/ Aus deinen Augen grab mit
meinen Nägeln./ Oder lügt mein Blick und ich selber bin/ Nur mein Gedächtnis noch an mich Vergangnen

Dieser Vers verweist auf Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“: „Der Einzelne hat zwei Augen, die Partei hat
tausend Augen. Der Einzelne hat seine Stunde, aber die Partei hat viele Stunden.“ Wenn das System das
Individuum zerstört, kann es sich kein Leben ohne Gemeinschaft vorstellen. Deswegen können viele
Exilierte im Ausland kein Leben als Individuum führen, keine Zugehörigkeit zu einem anderen Land
entwickeln, da sie in einem System und unter einer Ideologie aufwuchsen und erzogen wurden, die
Individualität nicht duldet. Also wartet der Ausgeschlossene weiterhin verzweifelt in seiner dunklen Höhle, mit
einem zwiespältigen Verhältnis zum Draußen, zum Licht, das ihm aus der Isolation heraushelfen könnte,
aber die Angst vor der erneuten Ablehnung und das Misstrauen machen es ihm unmöglich auszubrechen.
Als Neoptolemos versucht, das Vertrauen des Philoktet zu erschleichen, um ihm den Bogen aus der Hand
zu schwatzen, erzählt er ihm von ihrem gemeinsamen Feind. Nicht vor Sehnsucht nach der Heimat, nach
der Lüge oder der blutsaufenden Gesellschaft, sondern allein aus der Zerstörung des Individuums heraus
vertraut ein Ausgeschlossener wie Philoktet trotz allen Misstrauens und seinen Erfahrungen mit den
Griechen derart naiv seinen Landsleuten und glaubt wieder an die Lüge. Zunächst muss er sich eine
Identität durch die Selbstbegegnung verschaffen4 und erneut in die Falle der Gemeinschaft geraten.
Aufgrund seines Nicht-Seins benötigt er die Begegnung mit den anderen auf seinem Weg zu sich selbst.
Doch als Neoptolemos sich über sein Schicksal beschwert, verliert Philoktet rasch sein Vertrauen: Mit vielen
Worten sagst du mir ein Wort./ Zum zweitenmal den Geiern geben willst du/ Mich, weil dir graut vor dem
Gestank der Wunde /Der mich den Geiern gab zum erstenmal. /Gib meinen Bogen aus der Hand und geh.

Philoktet wurde aufgrund des Gestanks seiner Wunde ausgestoßen und will dies nicht noch einmal erleben.
In einigen Momenten wird auch ein Widerspruch in ihm sichtbar, wenn er vorsichtig aus seiner Höhle
heraustritt und fleht, man möge ihn nicht allein lassen, einen Augenblick später jedoch seine Meinung ändert
und sich wieder in die Höhle zurückzieht, als würde sein Körper mit den eigenen Bedürfnissen und
Leidenschaften, mit seinen schlechten Erinnerungen und seinem Hass auf die Landsleute in Konflikt
geraten. Auf metaphorische Weise entäußerst sich in seinem Körper die Sehnsucht oder das Heimweh, als
wolle dieser ihn trotz seines Widerwillens und Hasses wieder in die Arme seiner Feinde treiben.

Gebt mir ein Schwert, ein Beil, ein Eisen. Haut mir/ Die Beine ab mit einem Eisen, daß die/ Nicht gegen
meinen Willen mit euch gehen/ Reißt mir den Kopf vom Leib, daß meine Augen/ Nicht nachgehn euch und
euerm gehnden Segel/ Daß meine Stimme nicht, lauter als Brandung/ Zum Strand euch folgt und eurem
Schiff aufs Meer./ Haut mir die Hände von den Armen auch/ Eh sie euch anflehn stimmlos um den Platz/ Auf
eurer Ruderbank, in eurer Front/ Reißt mir, daß nicht die roten Stümpfe noch/ Das Ungewollte tun, vom
Rumpf die Arme./ goldene Kette unserer Menschlichkeit

Philoktets einziger Ausweg, dem inneren Zwang zur Rückkehr und seiner Sehnsucht nach der Gemeinschaft
und dem Kontakt zu seiner heimatlichen Welt zu entkommen, ist sich sämtliche Köperteile abzuschlagen, es
bleibt ihm schließlich nichts anderes übrig als abzutreten, die totale Auflösung.

Der Widerstand des Körpers zwingt ihn zur Passivität, während sein Widerstand gegen Odysseus und gegen
seinen eigenen inneren Zwang merklich an Kraft verliert. Zehn Jahre lang hegte Philoktet gewalttätige
Fantasien darüber, wie er seinen Erzfeind umbringen würde. Als der Moment gekommen ist, seine Rache
auszuüben und seinen Feind Odysseus mit dem wieder erhaltenen Bogen zu töten, setzt er sie nicht in die
Tat um. Er droht Odysseus mit Selbstmord, beschreibt diesen in allen Einzelheiten, vollzieht aber auch diese
Handlung nicht. Als Odysseus ihm Gewalt androht, beschimpft ihn Philoktet lediglich.

Noch während er mit seinem Feind streitet, begreift Philpoktet indes, wie er seine Passivität In der
Dringlichkeit des Krieges nutzen kann. Ihm ist bewusst, wie er Odysseus und den Griechen am meisten
schaden kann: durch Zeitvergeudung. Odysseus muss sofort an die Front zurück, jede Sekunde zählt,
Philoktet indes schildert in aller Ruhe seine schlimme Lage, sein Elend, seinen grenzenlosen Hass. Er
verliert nicht nur den Bezug zur Gesellschaft, zu den Griechen, sondern auch zur Zeit, seine Wahrnehmung
der Zeit, „Zeit, Mörderin“, ist ganz anders als die der Griechen im Krieg, die Zeit dehnt sich für ihn. (Behalt
den Bogen, bessre Waffe ist Die Zeit mir. Keine Hand beweg ich und/ Ein Grieche stirbt. Und wieder stirbt
ein Grieche/ Und keine Hand. Zeit, Mörderin, alterslose). Er findet seine Macht im Nichtstun, doch diese
Strategie funktioniert nicht lang und Odysseus lässt ihn schließlich ohne den Bogen zurück, dieses Mal fleht
er die Griechen nicht an, ihn mitzunehmen, kämpft nicht darum, seinen Bogen zurückzubekommen. (Geht
mit dem Bogen, den ich nicht mehr brauch/ Laßt mich, der sich nicht brauchen läßt von euch mehr) In
Koohestanis Inszenierung kommt Neoptolemos allein zu Philoktet zurück und gibt ihm seinen Bogen, doch
Philoktet weigert sich ihn anzunehmen. Neoptolemos versucht es erneut und legt den Bogen in die Hand
Philoktets, doch dieser lässt ihn auf den Boden fallen, („Nichts bin ich, seit ich mir entgangen bin/ Euch zu
entgehn, auf meiner eignen Spur./ Behalt, wirf weg oder zerbrich was mein war.“) Der Bogen ist nicht nur ein
Mittel, um Odysseus umzubringen, er dient ihm auch zur Nahrungsbeschaffung. Ohne Bogen wird er vor
Hunger sterben. Und genau das ist Philoktets Wunsch, wie Herman Melvilles Bartleby, alle Kommunikation
und Nahrung zu verweigern. Mit zwei Augen allein kann er nicht allein weiterleben, er kann auch nicht als
vollständiges Individuum handeln, aber ihm fehlt auch der Mut, sich selbst umzubringen. (Warum hat mir der
Gott verweigert Augen/Zu sehen meine eignen sehnden Augen). Er braucht die Augen anderer, aber er ist
sich bewusst, diese Augen sind sein Feind. Nach der Rückkehr Neoptolemos und Odysseus fleht Philoktet
sie an, ihn zu töten. Er gibt Neoptolemos freiwillig seinen Bogen, hält einen Rachemonolog und bedroht
Odysseus. Dies verleitet Neoptolemos schließlich dazu, Philoktet von dieser brutalen Folter zu befreien.
Aber das ist noch nicht das Ende für Philoktet. Er konnte nicht vorhersehen, dass noch seine Leiche dem
Krieg dienen würde.

Propaganda

Koohestani zufolge sind Iranerinnen und Iraner regelmäßig mit einer neuen Art der Medienpropaganda
konfrontiert: „Wir leben in einer ‚DDR-Situation‘ in Iran. Schauprozesse,-Live5“ Schaugeständnisse,
erfundene Dokumente über Spione mit konkreten Einzelheiten, das alles hat eine klare Aussage: Ihr seid
alle unter Kontrolle. Der Spruch „Death From Above“ – angelehnt an den Film „Apocalypse Now“ von 1979 –
steht auf dem Badewannen-Helikopter und auf der Mobilkamera. Als Philoktet Neoptolemos den Bogen
überreicht und damit sein Vertrauen gibt, schaut er zur Kamera: Hast du noch ein Schiff? Er bemerkt, dass
Neoptolemos nicht allein auf der Insel gelandet ist, und auf symbolische Weise hilft die Kamera dabei, die
Augen des Philoktet zu trüben. Die Kamera lässt Philoktet nicht allein, spioniert ihm überall nach, dringt in
seine Höhle, in seine Privatsphäre ein. Er fühlt sich gekränkt, ohnmächtig und unfrei. Wie Philoktet sagt:
mein Feind hat kein Gesicht, denn kein Kameramann ist auf der Bühne anwesend, die Kamera wird von
außen kontrolliert.

Als Odysseus begreift, dass sein Köder und sein Netz aus Lügen und Drohungen Philoktet nicht von seinem
Rachevorhaben abbringen können, setzt er seine letzte Strategie ein, bringt sich selbst im Lebensgefahr und
legt sich als Opfergabe nieder: Ists nicht in unsern, ists in euren Sieg/ Die Toten essen wohl vom Lorbeer
nicht/ Mein Tod in deiner Hand färbt meine Rede. Er tritt aus dem Kreis, aus dem „Wir“ heraus, und betont
damit, dass er dieselbe Rolle wie Philoktet in der Gesellschaft spielt. Auch Odysseus denkt, man müsse sich
für sein Land opfern. Seine oberste Priorität in Bezug auf die Heimat liegt in der Dringlichkeit des Krieges.
Eine Rechtfertigung für alle weiteren politisch motivierten grauenvollen Taten und Lügen, für die
Missachtung des Wertes eines einzelnen Menschenlebens, für Betrug und Mord. Das rührt Neoptolemos
und er stellt sich aus freiem Willen zum ersten Mal auf die Seite Odysseus. Nationalismus funktioniert hier
einwandfrei und verwandelt den jungen moralischen Neoptolemos in einen Mörder.

Außer dem Bogen gibt es keine Waffen, keinen Speer, kein Schwert auf der Bühne, sie alle werden durch
die Mobilkamera und die Handycam (die Neoptolemos mit sich führt) verkörpert. Susan Sontag bezeichnet
die Kamera als eine Sublimierung des Gewehrs6 und ebenso funktioniert die Kamera in dieser Inszenierung
als Propagandainstrument und Waffe. Als Neoptolemos den Mord begeht, steigt er aus der Höhle mit einer
Handycam und einer Fackel in der Hand. Wie eine Waffe richtet er die Handycam auf Odysseus, als dieser
der Mobilkamera seine Version der Geschichte erzählt. Aber Neoptolemos‘ Waffe ist zu klein im Vergleich zu
Odysseus‘ Mobilkamera.

Der Held muss Held bleiben. Odysseus kommt als Repräsentant einer Zweckrationalität auf die Idee, dass
auch die Leiche des Philoktet noch dem Kriegsziel dienen kann, wenn man ihn als Opfer der Trojaner
ausgibt. Odysseus erfindet eine neue Version des Geschehens, ein tragisches Ende des Philoktet, in der er
das Angebot der Trojaner, gegen Gold für Troja zu kämpfen, abgelehnt habe. Angesicht seiner Weigerung,
den Verrat zu begehen, hätten die Trojaner ihn umgebracht. In dieser Geschichte wird Philoktet als echter
Grieche rehabilitiert, das Schwanken des Helden wurde gestrichen. Aber warum tragen sie die Leiche mit
sich? Warum müssen die Leichname Saddam Husseins und Bin Ladens gezeigt werden? Warum musste
das Video von Saddam Husseins Exekution im Internet veröffentlicht werden? Welche Rolle spielen die
Leichname. „Sehen ist glauben. Wir glauben an das, was wir sehen“, meint Koohestani. Deswegen erzählt
Odysseus starr seine erfundene Geschichte in die Kamera, seine Augen verraten keine menschliche
Regung oder Scham. Außerdem nimmt die Mobilkamera den Mord an Philoktet nicht auf. Alle drei Figuren
befinden sich in der Höhle, die Mobilkamera wird plötzlich ausgeschaltet und wir hören nur den Schrei des
Neoptolemos, als er Philoktet mit dem Speer ermordet. Nach dem Mord macht Neoptolemos Fotos von der
Leiche, als Beweis für die Griechen. Sie zeigen uns, was sie wollen und wir dürfen nur die manipulierten
Filme anschauen und glauben, dass sie die ganze Wahrheit sind. Nachdem Odysseus seine Geschichte
erzählt hat, führt er Neoptolemos‘ Hand mit der Handycam von sich weg und richtet sie auf das Publikum.
Das Publikum wird passiver Zeuge dieses grausamen Geschehens, und Neoptolemos ist zugleich Täter und
Opfer; Opfer seiner eigenen kindlichen und nationalistischen Schwäche.

[1]
  Peter Hacks, „Unruhe angesichts eines Kunstwerks“, in: Das Poetische – Ansätze zu einer
postrevolutionären Dramaturgie, Berlin, Suhrkamp 1978

[2]
      http://www.der-unbekannte-gorki.de/

[3]
  P. P. Krjutschkow war 1938 einer der 21 Angeklagten im dritten Moskauer Schauprozess. Ihm wurde
vorgeworfen, dass er in Genrich Jagodas Auftrag an der Ermordung Gorkis und dessen Sohnes beteiligt
war.

[4]
  Sammlung Metzler, Band 197, Gania Schulz, S. 77.
„Er kann keine Identität als Selbstbegegnung verschaffen, weil der Tod des Feindes, den er herbeiführt,
zugleich das Ende der Selbstbeziehung des Hassenden bedeutet.“

[5]
      https://www.deutschestheater.de/programm/a-z/philoktet/

[6]
      Susan Sontag, Über Fotografie. Frankfurt. a. M., Fischer, 2011, S.20.

 Afsane Ehsandar, geboren 1981 im Iran, studierte Drama und Literatur an der Soure Universität in Teheran
und arbeitete als Autorin für Radio und Bühne und als Lektorin für verschiedene Verlage. 2014 kam sie nach
Deutschland. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Quelle: https://www.theaterderzeit.de/2020/01/extra/38369/komplett/

Abgerufen am: 22.12.2021
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