MORDE IM BRAUNEN BERLIN - Eine Kriminalitätsgeschichte 1933-1945 - Regina Stürickow
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Regina Stürickow MORDE IM BRAUNEN BERLIN Eine Kriminalitätsgeschichte 1933–1945
VO RWOR T 6 KAPITEL I 8 Die Jahre 1933 bis 1936 Einleitung 10 Der Kommunist und die „Hilfspolizei“ 1./2. März 1933 16 Die Seelentrösterin 1. Januar / 14. Januar 1935 22 Ein fast perfekter Mord Mitte Mai 1935 / 13. August 1935 28 50 Pfennig für Erna 25. August 1935 34 Der Untermieter 23. Juli 1936 40 KAPITEL II 46 Die Jahre 1936 bis 1939 Einleitung 48 Raubmord in der Schillerstraße 20. August 1937 54 Irmas Baby 21. September 1937 60 Der Tod der Kolonialwarenhändlerin 8. Januar 1938 68 Die Hehlerin und ihr Dieb 18. März 1938 74 Mein Komplize Helmut 31. März 1939 80 4
Inhal t KAPITEL III 84 Die Jahre 1939 bis 1943 Einleitung 86 Szenen einer Ehe 28. Juli 1941 92 Tödliche Spiele 27. November 1941 98 Doppelmord in Dahlem 4. Februar 1942 104 Der hungrige Hugo und die Giftnatter 25. Mai 1942 110 Leichenpuzzle am Orankesee 27. Mai 1942 118 KAPITEL IV 124 Die Jahre 1943 bis 1945 Einleitung 126 Steffi und der SS-Mann 2. Januar 1943 132 Der Miesmacher 26. Februar 1943 140 Die Nymphomanin und der Deserteur 30. Juni 1943 146 Todesermittlung in Trümmern 22. November 1943 152 Literatur und Quellen 158 5
Vorwort „Morde im Braunen Berlin“ weckt zwangs- materielle Überleben, müssen Zimmer unter läufig düstere Assoziationen: millionenfacher vermieten, um ihre eigene Miete zahlen zu Massenmord an Juden, an Sinti und Roma, können oder sind gezwungen, kleine unrenta- an Kommunisten und politisch Andersden- ble Kolonialwarenläden mehr schlecht als recht kenden jeglicher Couleur, an Homosexuellen, aufrechtzuerhalten, weil ihre Rente nicht zum psychisch Kranken sowie an den sogenannten Leben reicht. Auch das zusätzliche Geld von Berufsverbrechern. Hier soll es indes nicht um der Wohlfahrt ändert daran nicht viel. Ihre Le- den von einem verbrecherischen System legi- bensbedingungen sind zum Teil trostlos. timierten Mord im Namen eines verbrecheri- Kneipenwirtinnen oder Inhaberinnen klei- schen Regimes gehen, sondern um „Alltagskri- ner Geschäfte werden auch zwischen 1933 minalität“, um Eifersucht, Habgier, Rache sowie und 1945 immer wieder Opfer von Raubüber- um Lustmorde. fällen oder -morden. Die Täter, meist Jugend- Die in diesem Buch geschilderten Mordfälle liche, gehen dabei oft von der irrigen Annah- spiegeln die soziale und wirtschaftliche Realität me aus, dass diese Frauen keinen Widerstand in Berlin zur Zeit der nationalsozialistischen leisten und zudem viel Geld haben müssen. In Herrschaft wider. Sie vermitteln einen Einblick aller Regel erbeuten die Täter aber nur weni- in die Lebensverhältnisse der „kleinen Leute“, ge Mark. Die Kripo jener Jahre hat es weni- zeigen ihre Sorgen und Nöte fernab der politi- ger mit spektakulären, raffiniert eingefädelten schen Realität auf. Verbrechen zu tun, als vielmehr mit milieube- Mit „Berufsverbrechern“ hat es die ehema- dingten Taten, als das Resultat sozialer Des- lige Mordinspektion, die jetzt Kriminalgrup- integration, denn die sinkende Arbeitslosig- pe M heißt, nur selten zu tun, denn von jeher keit führt nicht zwangsläufig dazu, dass jeder werden die meisten Morde im Familien- und von dem, was er verdient, auch leben kann. Bekanntenkreis verübt, sind also oftmals reine Die Fotos aus dieser Zeit von der strahlenden Beziehungstaten. Vielfach handelt es sich um „deutschen“ Großfamilie sind nicht mehr und Familientragödien, ausgelöst durch widrige Le- nicht weniger als Propaganda. bensumstände, Eifersucht oder Alkoholismus. Das Nationalsozialistische Regime wendet Für die „kleinen Leute“ hat sich das Leben 1933 viel Energie auf, um die Polizei unter sei- nach 1933 nicht verbessert. Die Behauptung, ne Kontrolle zu bringen, was in Bezug auf die dass es in jenen Jahren den Menschen besser Schutzpolizei auch gelingt. Die altehrwürdige gegangen ist, dass die Arbeitslosigkeit über- Kriminalpolizei aber, besonders die von Ernst wunden war, erweist sich beim näheren Hin- Gennat gegründete Mordinspektion, arbeitet sehen als falsch. Viele Menschen hausen noch relativ unbehelligt weiter, denn sie wird kaum immer in umgebauten ehemaligen Läden, ohne in den „Kampf gegen die Berufsverbrecher“ Wasseranschluss und ohne Toilette. Oder in miteinbezogen – als diese werden die Einbre- Kellerwohnungen, ebenfalls ohne fließendes cher und Geldschrankknacker betrachtet, die Wasser und ohne elektrisches Licht. immer wieder rückfällig werden. Ein Serie- Auch die Art der Verbrechen und ihre Mo- neinbrecher wird selten zum Mörder, sondern tive haben sich kaum geändert: Alleinstehen- er plant seinen Coup so, dass er nicht erwischt de, meist ältere Frauen, deren Männer im wird. Einbrecher sind auch so gut wie nie be- Ersten Weltkrieg gefallen sind, kämpfen ums waffnet. 6
Der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) ob bei der nicht bedingungslos regimetreue Beam liegt die Verfolgung von Juden, Sinti und te entlassen werden. Jene Beamten werden der Roma, Regimegegnern und Homosexuellen. Korruption und der Bestechlichkeit beschul Dennoch gibt es immer wieder Konkurrenz digt und es kommt auch zu Verfahren. Einige zur Kriminalpolizei, denn häufig lassen sich landen im KZ, es gibt auch Selbstmorde. Auch „normale“ Delinquenz und Straftaten mit poli gegen den berühmten Ernst Gennat wird ein tischem Bezug nicht klar voneinander trennen. Verfahren eingeleitet, vermutlich wegen Be Auch die Verfolgung von „normalen“ Verbre stechlichkeit, es verläuft aber im Sande. Kurz chen durch die Kriminalpolizei hat politische vor Beginn des Krieges stirbt Gennat eines na Aspekte, soll es doch im totalitären Staat ei türlichen Todes. gentlich kein Verbrechertum (mehr) geben. Nach 1939 erlebt die Kripo eine der größ Das macht die Arbeit der Kripo zwischen 1933 ten Krisen ihrer Geschichte. Ihre Reihen sind und 1945 nicht leichter. ohnehin schon ausgedünnt, aber immer mehr Dieses Buch ist in vier Kapitel eingeteilt: Polizeikräfte werden in die besetzten Gebie Die Jahre von 1933 bis 1936 sind für weite te geordert, sodass an der „Heimatfront“ sogar Teile der Bevölkerung von vorsichtigem Opti längst pensionierte Beamte in den Dienst zu mismus geprägt. Vor den Olympischen Spielen rückgeholt werden müssen. gibt sich das Regime gemäßigt. Reichspropa Ab 1943 verschärft sich die Lage sogar noch, gandaminister Goebbels will der Welt ein die Kriminalitätsrate steigt, aber immer weni „Land des Lächelns“ präsentieren. Der bösarti ger Verbrechen werden aufgeklärt. Delikte wie ge Mr. Hyde verwandelt sich vorübergehend in Körperverletzung, Einbruch und Diebstahl den gutmütigen Dr. Jekyll. werden nicht mehr bearbeitet. Die Kripo wird Die Zeit zwischen 1936 und 1939 ist von ei im zerstörten Berlin handlungsunfähig. ner Verschärfung der Repressalien gegen un Jede Zeit hat ihre Verbrechen, aber die Ver liebsame Bevölkerungsteile durch die Gestapo brechen zur Zeit des Dritten Reiches in Berlin gekennzeichnet, und damit von zunehmender sind ohne die Bedingungen, unter denen die Unsicherheit. In den Reihen der Kriminalpoli Ermittler zu dieser Zeit arbeiten mussten, nicht zei kommt es zu einer zweiten Säuberungswelle, zu verstehen. 7
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1933 bis 1936 9
Kriminalpolizei und Kriminalität 1933 bis 1936 Für die Berliner Polizei beginnt bereits gut ein maligen Leiters der Berliner Müllabfuhr, Kurt halbes Jahr vor der sogenannten Machtergrei- Daluege. Diesem fehlt zwar jedwede Kenntnis fung ein neues Zeitalter: Am 30. Mai 1932 ent- der Polizeiarbeit, dafür hat er in der SS schnell lässt Reichspräsident Paul von Hindenburg den Karriere gemacht. Seine Aufgabe wird es sein, glücklosen Reichskanzler Heinrich Brüning und die Schutzpolizei auf die neue Linie im Kampf ernennt mit Franz von Papen einen erklärten für eine „Volksgemeinschaft ohne Verbrecher“ Gegner der Weimarer Republik zum Kanzler. einzuschwören. Neue Gesetze sollen „Recht und Von Papen hebt das unter Brüning durchgesetz- Ordnung“ wiederherstellen, denn nach Ansicht te Verbot von SA und SS auf, entlässt am 20. Juli der Nationalsozialisten sind Polizei und Justiz in 1932 die von dem Sozialdemokraten Otto der „Systemzeit“, wie sie die Weimarer Republik Braun geführte preußische Landesregierung abfällig nennen, zu milde vorgegangen. und jagt gleichzeitig die Berliner Polizeifüh- Die nationalsozialistische Ideologie sieht den rung, den Polizeipräsidenten Albert Grzesinski, Menschen nicht als Individuum, sondern als seinen von den Nazis – insbesondere in deren „Glied der völkischen Gemeinschaft“, als einen Kampforgan „Der Angriff “ – immer wieder dem Staat gegenüber zur Treue verpflichteten heftig attackierten jüdischen Vizepräsidenten „Volksgenossen“. Wer sich nicht gemeinschafts- Dr. Bernhard Weiß sowie den Kommandeur der konform verhält, wird als „Volksschädling“ aus Berliner Schutzpolizei, Magnus Heimannsberg, der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Das aus dem Amt. Von Papen sorgt auch dafür, dass Individuum hat gegenüber dem Staat zwar viele bekennende Sozialdemokraten entweder in die Pflichten, aber keine Rechte. Provinz versetzt oder nicht mehr befördert wer- Die Grundlage für diese Rechtsauffassung den. Mit dem „Preußenschlag“ ist der Weg für liefert die am 28. Februar 1933 erlassene die NSDAP geebnet und eine erste Säuberung in „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, den Reihen der Polizei vorweggenommen. die die Grundrechte der Weimarer Verfassung Die Machtübernahme durch die Nationalso- außer Kraft setzt. Wenige Tage später erklärt zialisten am 30. Januar 1933 hat für die Arbeit Hermann Göring in einem Runderlass, dass der Kriminalpolizei zunächst kaum einschnei- mit eben dieser Verordnung auch alle Be- dende Konsequenzen, denn das Hauptaugen- schränkungen der Polizei durch Gesetze des merk der neuen Machthaber gilt zunächst Reiches und der Länder hinfällig sind, die der Schutzpolizei, die möglichst rasch gefügig der Durchführung der Verordnung im Wege gemacht werden soll. Als kommissarischer stehen. Magnus von Levetzow, Berlins neuer preußischer Innenminister und somit Herr Polizeipräsident, legt noch nach und fordert über die Ordnungshüter legt Hermann Göring die Kriminalpolizei auf, das „gewerbsmäßige die Umstrukturierung der preußischen Polizei Berliner Verbrechertum zu vernichten“. Der Anfang Februar 1933 in die Hände des ehe- Polizeiwillkür ist damit Tür und Tor geöffnet. 10
Einleitung Kaum einen Monat nach der Macht Bei der Kriminalpolizei gibt es zunächst nur ergreifung ernennt Hermann Göring am wenige Veränderungen. Auch wenn offizielle 22. Februar 1933 Einheiten von SA, SS und Zahlen fehlen, kann davon ausgegangen wer Stahlhelm zur „Hilfspolizei“, kurz HiPo den, dass kaum mehr als ein Dutzend Krimi genannt, die schon bald eine unrühmliche nalbeamte aus politischen Gründen entlassen Rolle spielen wird. Vor Selbstbewusstsein werden. – Von Papen hat 1932 die Vorarbeit strotzend, marschieren SA- und SS-Trupps, geleistet. Vor allem der SPD nahestehende die zwar keinerlei Qualifikation, dafür aber Beamte werden versetzt, den Dienst quittieren Waffen vorzuweisen haben, als Hilfspolizisten müssen nur wenige. Der der SPD angehören durch die Straßen und verbreiten Angst und de Rudolf Lissigkeit beispielsweise, einer der Schrecken. Mit Schwarzen Listen ziehen die bekanntesten Kommissare der Mordinspek selbst ernannten Ordnungshüter vornehm tion, wird in die Provinz „befördert“. Beamte lich in den von Kommunisten bevorzugten hingegen, die während der Weimarer Republik Gegenden in Gruppen von Haus zu Haus auf wegen ihrer Sympathien für die NSDAP den der Suche nach Andersdenkenden jedweder Dienst quittieren mussten, werden zum Teil Couleur sowie nach Juden. Diejenigen, die wieder eingestellt. Zwar würden die neuen sie finden, verschleppen sie in quasi illegale, Machthaber die altgedienten Kriminalkom meist in Kellern untergebrachte Konzentra missare gerne loswerden, sie begreifen jedoch tionslager und Privatgefängnisse. Hier wird sehr schnell, dass sie auf die hochqualifizierten gedemütigt, gefoltert und gemordet. Doch die Kriminalisten nicht verzichten können, denn Hilfspolizei überspannt den Bogen und wird schon im August 1933 sukzessive aufgelöst. Dessen ungeachtet gehen SA-Trupps wei Von der Müllabfuhr zur Polizei: Polizeigeneral terhin auf Menschenjagd und unterhalten Kurt Daluege (links) mit SS-Führern. 3. von Privatgefängnisse. links Heinrich Himmler, 3. von rechts Rein- hard Heydrich. 11
1933 bis 1936 es fehlt an Ausbildern für die im Aufbau begrif Hinzu kommt die Unzufriedenheit in fene Geheime Staatspolizei (Gestapo), bringen nerhalb der Kriminalpolizei mit schlechter doch die künftigen Gestapoleute keinerlei Bezahlung und mangelnden Aufstiegschancen. kriminalistische Vorkenntnisse mit. Die ständige Finanznot, in der sich das Land Die Mehrheit der Kriminalisten begrüßt Preußen zur Zeit der Weimarer Republik die „neue Zeit“ wohl eher und hofft auf kon befindet, lässt die Neuschaffung von Stellen krete Verbesserungen. Eine Vielzahl der in für höhere Beamte nicht zu, was in der Praxis den 1930er-Jahren aktiven Kriminalbeamten bedeutet, dass viele nicht einmal den Rang des ist noch während der Kaiserzeit zur Kripo Kriminalkommissars erreichen, sondern in der gekommen und hat sich mit der liberalen Position des Kriminalassistenten, eigentlich Rechtsauffassung der Weimarer Republik nie der Eingangsstufe in den höheren Dienst, das abfinden können. Pensionsalter erreichen. 12
Einleitung Die Veränderungen innerhalb der Berliner Kriminalpolizei“ hervorgegangen. Chef der Kripo beschränken sich auf den organisatori Kriminalgruppe M ist Ernst Gennat. schen Bereich: Zwischen Mai und Dezember Auch im Arbeitsalltag der ehemaligen 1933 werden die früheren Inspektionen A Mordinspektion, die unter ihrem Gründer bis G zu drei Kriminalgruppen zusammen Gennat über die Grenzen Berlins hinaus Be gefasst: Die Kriminalgruppe B (Betrug), die rühmtheit erlangt hat, ändert sich unter dem Kriminalgruppe E (Zentralinspektion zur Naziregime zunächst nur wenig. Die Kripobe Bekämpfung des gewerbsmäßigen Einbruchs amten waren schon in der Zeit der Weimarer und Diebstahls) und die Kriminalgruppe M Republik als äußerst sensible Individualisten (Gewaltverbrechen). Letztere ist aus der berüchtigt, die sich nicht gerne in ihr Hand früheren Mordinspektion sowie den Inspek werk pfuschen lassen. Zunächst müssen sie tionen „Sittlichkeitsdelikte“ und „weibliche noch bei Laune gehalten werden, denn ihr Fachwissen wird gebraucht. Gennat ist davon überzeugt: „Die beste Kriminalitätsprävention ist gute Polizeiarbeit“. Nach knapp dreißig Jahren Berufserfahrung als Kriminalkommissar hält das Urgestein der Berliner Kripo nichts von Zwangsmaßnah men. Gennat setzt auf schnelle Aufklärung durch effektive Arbeit. Die neuen Machthaber setzen weniger auf rasche Aufklärung, als viel mehr auf „Ausmerzung des Verbrechertums“. Dabei ist die Debatte um den Umgang mit den „Gewohnheits-“ bzw. „Berufsverbrechern“ nicht neu. Die Debatte ins Rollen brachte bereits das 1926 erschienene umstrittene Buch „Der Berufsverbrecher. Ein Beitrag zur Straf rechtsreform“ des Kriminalisten Dr. Robert Heindl, den Kurt Tucholsky, selbst Jurist, als einen „Schädling der Kriminalistik“ bezeich nete. Dass die Studie des Geheimrats Heindl seinerzeit auf fruchtbaren Boden fiel, beweist die Tatsache, dass sie in drei Jahren sieben Auflagen erreichte. Heindl stellte die These auf, dass der weitaus größte Teil der Krimina lität auf das Konto von „Berufsverbrechern“ gehe. Diese Kriminellen gingen ihren Taten nach, wie andere Menschen einem normalen Beruf. Zu dieser Gruppe zählt Heindl vor al lem die Einbrecher. In Deutschland, so meint Die Berliner Mordinspektion zu Beginn der 1930er-Jahre. Vorne in der Mitte steht Ernst Gennat. 13
1933 bis 1936 er, agierten etwa 8 000 solcher „Berufsverbrecher“. Gelänge es, diese in Vorbeugehaft zu nehmen, so wäre damit der Löwenanteil an der Kriminalität bekämpft. Das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ vom 24. November 1933 tritt am 1. Ja nuar 1934 in Kraft. Danach kann ein als „gefährlicher Gewohnheits verbrecher“ Verurteilter in zeitlich unbegrenzte Sicherungsverwah rung genommen werden. Schon am 13. November 1933 ergeht vom preußischen Innenministerium ein geheimer Erlass über die Anwendung vorbeugender Polizeihaft gegen „Be rufsverbrecher“, demzufolge Personen, die bereits mehrfach zu Gefängnisstra fen verurteilt worden sind und aller Wahrscheinlichkeit nach vom Erlös aus ihren Straftaten leben, in unbefristete Vorbeugehaft genommen werden kön nen. Sexualstraftäter und Personen, die nicht als „Berufsverbrecher“ gelten, von denen die Polizei aber vermutet, dass sie in Zukunft schwerere Straftaten bege hen könnten, sollen ebenfalls interniert werden. Für diesen Personenkreis findet man die Bezeichnung „Gewohnheits verbrecher“. Vollstreckt wird die Haft vornehmlich in Konzentrationslagern. Am 10. Februar 1934 ordnet das Bewegungsfreiheit und somit ihre Bürgerrech preußische Innenministerium die planmäßige te weitgehend einschränkten, wie z. B. eine Überwachung der auf freiem Fuß befindli nächtliche Ausgangssperre, das Verbot, die chen „Berufsverbrecher“ an. Danach können Stadt zu verlassen oder sich an bestimmten allen als „Berufsverbrecher“ betrachteten Orten aufzuhalten, das Verbot, Autos oder Personen Auflagen gemacht werden, die ihre Motorräder zu benutzen. Sogar das Halten von Hunden kann ihnen untersagt werden. Wer die Auflagen nicht befolgt, dem droht Obwohl der Mörder von Erna Vogel bereits Vorbeugehaft. im Juni 1936 verurteilt wurde, erfolgte die Vor 1933 machten spektakuläre Verbrechen Hinrichtung erst im November. Sollte eine selbst in der Tagespresse Schlagzeilen und sorg Hinrichtung in der Zeit der Olympischen ten für steigende Auflagen, die ermittelnden Spiele vermieden werden? Kommissare wurden von der Öffentlichkeit ver ehrt wie Filmstars. Ab 1933 durften die Ermitt 14
Einleitung Die Politik des Vertuschens und Ver schweigens von Verbrechen lässt sich auf die Dauer jedoch nicht durchhalten. Das Propa gandaministerium muss einsehen, dass die Kriminalpolizei auf die Unterstützung des Publikums angewiesen ist, besonders wenn es sich um Sexualverbrechen an Kindern handelt. Als im August 1935 die 12-jähri ge Erna Vogel verschwindet, bringen die Zeitungen ausführliche Beschreibungen und an allen bekannten Orten der Stadt hängen Fahndungsplakate, zudem ist eine hohe Belohnung ausgesetzt. Der Täter wird letztlich überführt, wenn auch durch Zufall. Unmittelbar vor den Olympischen Sommerspielen möchte man dann aber doch von Mord und Totschlag lieber nichts hören. So wird über einen neu erlichen Frauenmord im Juli 1936 mit Rücksicht auf das am 1. August begin nende sportliche Großereignis nicht berichtet. Eine weitere Umstrukturierung nach 1933 betrifft die Politische Polizei. Die Zuständigkeit hierfür obliegt zunächst der Politischen Polizei, der Abteilung IA des Polizeipräsidiums. Im April 1933 wird diese aus dem Polizeipräsi dium herausgelöst und sie entsteht in Form der Gestapo neu. ler in der Presse nicht mehr genannt werden, Ob es sich bei einem Kapitalverbrechen am liebsten hätte man die Berichterstattung um einen politischen Mord handelt, ist nicht über Verbrechen ganz unterbunden. Nachdem immer klar und eine Sache der Interpretation. Propagandaminister Goebbels in den Morgen So wird der Mord an einem Kommunisten zeitungen von Überfällen auf Liebespärchen durch einen SA-Mann im März 1933 nicht im Grunewald gelesen hatte, soll er einen als politischer Mord behandelt, sondern als Tobsuchtsanfall bekommen haben. Schließlich „gemeiner“ Mord beziehungsweise Totschlag. bemühe er sich um ein „sauberes Deutschland“ Welches Motiv in diesem Fall schwerer wiegt, ohne Verbrechen und die „instinktlose“ Kripo die politische Gegnerschaft oder die Rache mache ihm mit fast täglichen Pressemitteilun übereifriger Hilfspolizisten, ist schwer zu gen über Verbrechen seine Arbeit zunichte. klären. Von nun an müssen alle Pressemitteilungen So ist die Polizeiarbeit in dieser Zeit stets des Polizeipräsidiums zuerst dem Propagan vor dem politischen Hintergrund des Regimes daministerium vorgelegt werden, das letztlich zu sehen, das alle Lebensbereiche unter seine entscheidet, was veröffentlicht werden darf. Kontrolle zu bringen versucht. 15
Der Kommunist und die „Hilfspolizei“ (1./2. März 1933) Der Erlass, mit dem Hermann fünf fluchen vor sich hin, klingeln den Mieter Göring SA- und SS-Angehörige der Ladenwohnung im Erdgeschoss heraus und zu „Hilfspolizisten“ befördert lassen sich die Haustür aufschließen. Es müssen hat, ist noch keine zehn Tage einige Minuten vergangen sein, bis sie endlich alt, als es auf der Fischerinsel im Hausflur des handtuchschmalen Hauses ste- zu einer Mordtat kommt, deren hen. Angeblich hören sie, wie im dritten Stock Umstände nie vollständig geklärt eine Wohnungstür zugeschlagen wird. Im Licht werden. Obwohl der Fall offenbar einer Stablampe und mit gezogenen Waffen politisch motiviert ist, nimmt die poltern sie die altersschwache, steile Treppe 2. Reservemordkommission die Ermittlungen auf. hinauf und bummern zuerst an der linken Tür: „Polizei! Sofort aufmachen!“ Der Mieter namens Köller öffnet zögernd. Der späte Heimkehrer ist er offensichtlich nicht, wie sein zerknitter- In der Nacht vom 1. auf den 2. März 1933 ziehen ter Schlafanzug verrät. „Wohnen auf der Etage fünf der neuen Polizeihelfer, die zwar keinerlei Kommunisten?“, will der SA-Mann Metelski Qualifikation, dafür aber Waffen vorzuweisen wissen. Wortlos zeigt Köller auf die Wohnung haben, durch eines der ältesten Viertel der Stadt. gegenüber, und schon hämmern die Fäuste „In der jetzt bewegten Zeit ist es üblich“, so an die gegenüberliegende Tür: „Aufmachen, der 25-jährige Helmut Markus in der späteren Polizei!“ – doch niemand öffnet. Stattdessen ruft Vernehmung, „dass von den Angehörigen der jemand aus dem Fenster der besagten Wohnung SA Streifen ausgeführt werden, da wiederholt in den Hof: „Ist das wirklich Polizei?“ Köller Überfälle auf Parteigenossen und SA-Leute bestätigt. „Ja, ja, das ist Polizei.“ vorgekommen sind.“ Der Fall soll sich folgen- „Weg vom Fenster!“ Die Stimme kommt dermaßen abgespielt haben: Gegen 01.15 Uhr vom Flurfenster eine halbe Treppe höher, und biegen die fünf „Hilfspolizisten“, Helmut Markus schon kracht ein Schuss, der haarscharf am und Richard Schulz sowie die SA-Männer Hans Kopf des Mannes, der aus der Wohnung in Metelski, Johannes Wild und Max Lehmann von den Hof gerufen hat, vorbeigeht. Holz splittert der Rittergasse in die Petristraße ein. Markus vom Fensterrahmen und bleibt im Mauerwerk geht als Vorhut voraus und bemerkt vor dem stecken. Dann öffnet sich die Tür doch noch Haus Nr. 8/9 einen Mann, der, als er die braune einen Spalt. Hans Metelski glaubt im Licht der Uniform erblickt, in seine Tasche greift. Eine Stablampe den Lauf einer Waffe zu erkennen Waffe, vermutet Markus, und ruft mit einem und schießt sofort in Richtung Tür. In dem schrillen Pfiff auf zwei Fingern seine Kameraden Moment, in dem die Tür zugeschlagen wird, herbei. Der Verdächtige verschwindet im Haus krachen weitere Schüsse. Wenigstens einer da- und schließt die Haustür hinter sich ab. Die von geht durch die geschlossene Tür. Richard 16
Der Kommunist und die „Hilfspolizei“ Schulze, der Schütze, wird später aussagen, Der zweite Mann, Arthur Pannier, der sich er habe verhindern wollen, dass von drinnen in der Wohnung befindet, ist unverletzt. Er ist auf seine Kameraden gefeuert wird. Da es der Mann, der aus dem Fenster gerufen hat. Er ihnen nicht gelingt, die Tür aufzubrechen, wird festgenommen. Hans Metelski behauptet, benachrichtigt einer von ihnen das Polizei er habe mit der Stablampe vor der Tür gestan revier, das auch gleich zwei Beamte schickt. den, den Pistolenlauf gesehen und Pannier Sie öffnen die Tür und finden dahinter den sofort wiedererkannt, denn am 31. November schwer verletzten Bernhard Wirsching. Er 1931 sei er von diesem in der Inselstraße an hat einen Brustschuss erlitten und stirbt auf geschossen worden. Das Gericht habe Pannier dem Weg in die Rettungsstelle. Wer von den im Februar 1932 dennoch freigesprochen. Aber fünf SA-Leuten welchen Schuss abgegeben wo ist die Waffe, die Metelski gesehen haben hat, bleibt unklar. Helmut Markus sagt später will? Bei der Durchsuchung der Wohnung, aus, dass er sich nicht schuldig fühle, da er die nur aus der Küche, die man gleich durch der Überzeugung gewesen sei, dass es sich bei die Wohnungstür betritt, und einem Zimmer dem Mann um einen Kommunisten gehandelt besteht, werden keine Waffen gefunden. habe. Das habe er aus dessen Verhalten vor Die Hauptmieterin der Wohnung, die der Haustür geschlossen. Die Möglichkeit, 44-jährige Martha Preiss, kann über ihre dass der Mann nur ein harmloser Mieter war, der seinen Schlüssel aus der Tasche ziehen und ins Haus gehen wollte, zieht er gar nicht Görings Truppe: Im Frühling 1933 treten zu erst in Betracht. Hilfspolizisten ernannte Berliner SA-Leute zu einem „Waffenappell“ an. 17
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Der Kommunist und die „Hilfspolizei“ beiden Untermieter, denen sie im Februar 1932 provisorisch an und Wirsching geht barfuß zur ihr einziges Zimmer vermietet hat, nicht viel Tür. Als Pannier aus dem Fenster nach dem sagen. Sie weiß nur, dass beide arbeitslos sind. Nachbarn ruft, fällt ein Schuss und verfehlt ihn Ob die beiden mit den Kommunisten sympa um Haaresbreite. Jetzt ist Pannier sicher. Das thisieren, wisse sie nicht genau. ist keine Kripo! Wirsching geht dennoch zur Arthur August Pannier, der 36-jährige Tür und öffnet sie einen Spalt, jetzt krachen gebürtige Hamburger, im Protokoll wird er gleich mehrere Schüsse. Wirsching kann die als „Dissident“ bezeichnet, ist in der Tat kein Tür noch zuschlagen, bricht dann aber zusam Unschuldsengel, sondern wegen meist politisch men. motivierter Vergehen mehrfach vorbestraft. Panniers Darstellung der Ereignisse unter Versuchte Gefangenenbefreiung, Landfrie scheidet sich von der der SA-Leute, stimmt mit densbruch, unerlaubter Waffenbesitz und sogar den Aussagen der anderen Zeugen allerdings Mordversuch stehen auf der Liste. Die letzte überein. Strafe hat er 1928 verbüßt. Straftaten kommen Pannier stürzt in sein Zimmer und ruft aus für ihn, betont er, heute nicht mehr infrage. Er dem Fenster um Hilfe, nach der Polizei und sei weder der Mann gewesen, der in der Nacht nach einem Rettungswagen. Wenig später häm schnell ins Haus gegangen sein soll, noch habe mern wieder Männer an seiner Zimmertür. er eine Waffe. Panniers Aussage zufolge ist der Diesmal ist es wirklich die Polizei. Während sie Abend folgendermaßen verlaufen: den schwer verletzten Wirsching zur Rettungs Gegen 18.00 Uhr kommt er mit höllischen stelle in der Alexandrinenstraße transportie Schmerzen vom Zahnarzt nach Hause. Seine ren, bringen sie Pannier in die Wohnung von Wirtin bietet ihm eine Tasse Kaffee an, doch er Köller. Die SA-Leute bewachen ihn. Metelski will nichts weiter als sich hinlegen. – Der später stellt sich vor Pannier und hält ihm die ganze vernommene Zahnarzt wird eine schmerzhafte Zeit eine Waffe an die Brust. Zahnoperation bestätigen und auch Martha „Woher kennen Sie Metelski?“, will der Preiss kann die Richtigkeit von Panniers Anga Ermittler wissen. ben bezeugen. „Metelski ist im November 1931 angeschos Gegen 22.00 Uhr kommt, so Pannier, sein sen worden und hat mich als den Schützen be Zimmergenosse Bernhard Wirsching nach zichtigt, obwohl ich ein Alibi hatte. Im Prozess Hause. In der Wohnung gibt es Automatengas, am 17. Februar 1932 bin ich freigesprochen und Wirsching hat nur zwei Sechser, also zwei worden. Der wirkliche Täter ist inzwischen 5-Pfennig-Stücke. Für den Automaten brau ermittelt und zu zweieinhalb Jahren verurteilt. chen sie aber einen Groschen, ein 10-Pfennig- Metelski ist aber noch immer davon überzeugt, Stück. Ihre Wirtin ist schon ausgegangen, und dass ich es war.“ Wirsching hat keine Lust, noch einmal mach „Kennen Sie noch mehr von den SA-Leuten unten zu gehen. So klingelt er beim Nachbarn von gestern?“ Köller, der tatsächlich wechseln kann. „Den Namen Markus habe ich gehört. Im Als das Gaslicht wieder brennt, legt Wir Prozess hat ein SA-Mann namens Markus als sching sich ebenfalls ins Bett, um zu lesen. angeblicher Zeuge ausgesagt.“ Auch Pannier liest im Bett. Dann pocht und Auf die Frage, welcher politischen Richtung hämmert es mitten in der Nacht an der Tür. er angehöre, erklärt Pannier: „Sofort aufmachen, Kriminalpolizei!“, brüllt jemand. – „Das ist bestimmt keine Kriminalpo lizei, die haben viel zu junge Stimmen!“, kon Die Fischerinsel ist keine „feine Wohnge- statiert Pannier. Außerdem ist er sich keiner gend“. Heinrich Zille nahm dieses Foto der strafbaren Handlung bewusst. Sie ziehen sich Köllnischen Straße um 1900 auf. 19
1933 bis 1936 Die Kripo zwei felt an der Aussage Panniers. Vor allem die Angabe, sie hätten von 22.00 bis 01.15 Uhr gelesen, hält sie für unglaubwürdig. „Lesen Sie abends immer so lange?“, will der Beamte wissen. „Ja, solange das Gas brennt, lesen wir.“ Der 40-jährige Emil Köller ist von Beruf Nadler, er stellt Drahtobjekte wie Vogelkäfige oder Lampen schirmgestelle her. Köller bezeugt, dass die Männer „Aufmachen Kriminalpolizei“ gerufen haben, und nicht etwa „Hilfspolizei“ oder „Polizei“, wie sie in ihrer Vernehmung be teuern. Fünf SA- Leute seien dann in seine Woh nung gestürmt und hätten nach anwesen den Personen gesucht. Ob im Haus Kommunisten wohnen, sei er nicht „Zurzeit keiner. Früher war ich in der KPD, gefragt worden. Er hätte die Frage auch nicht zahle aber seit Juni 1932 keine Beiträge mehr. beantworten können. Im Juni 1932 bin ich in der Fischerstraße von einem SA-Mann angeschossen worden und war acht Wochen im Krankenhaus. Daher Aus dem Gefängnis bittet Arthur Pannier auch meine Gehbehinderung. Der Täter ist nie einen Bekannten um einige persönliche ermittelt worden.“ Gegenstände. 20
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