Geisteswissenschaft und postmoderne Philosophie im Dialog
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Yeshayahu Ben Aharon – Vortrag, Colmar 1. Juni 20071 Geisteswissenschaft und postmoderne Philosophie im Dialog Beobachtungen über die Spiritualisierung des Denkens 2 Blog „Event and Initiation“, 04. Januar - 1. Teil Liebe Freunde, Zunächst möchte ich Ihnen sagen wie sehr es mich freut, daß ich heute mit ihnen zusammen sein kann. Lassen sich mich ergänzen, daß dies mein erster Arbeitsbesuch in Frankreich ist. Aber merkwürdigerweise, obwohl ich weder französisch spreche noch lesen kann, habe ich immer die Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens in Frankreich im 20 Jahrhundert und auch heute sehr genau verfolgt. Und insbesondere beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit französischem Denken und französischer Philosophie. Und ich möchte Sie in diesem Vortrag darauf aufmerksam machen, welche Rolle französisches Denken in dem unsichtbaren spirituellen Drama unserer Zeit spielt. Ich habe in meinen Büchern über „Das spirituelle Ereignis des 20ten Jahrhunderts“ und „Die neue Erfahrung des Übersinnlichen“ – beide inzwischen auch ins Französische übersetzt – darauf hingewiesen, was im 20. Jahrhundert hinter den Kulissen der Weltereignisse stattfand. Beide Bücher wurden zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben. Ich habe darin meine geisteswissenschaftlichen Untersuchungen über die esoterischen, über- und untersinnlichen Realitäten beschrieben, die nur durch moderne geisteswissenschaftliche Forschungsmethoden erfasst werden können. Bis in dei 60er Jahre wurde wenig Licht auf der Erde erzeugt – und so viel Finsternis. Nicht, daß die Finsternis erzeugenden Kräfte und Ereignisse seither zurückgegangen wären, im Gegenteil sie wachsen exponentiell an. Aber die gute Neuigkeit ist, daß in allen Bereichen des Lebens, des Denkens, der Wissenschaft, der Kunst und des sozialen Lebens in den 60er Jahren neue Kräfte der Hoffnung begonnen haben zu fließen. In meinen Büchern habe ich die verborgenen Quellen beschrieben, aus denen diese geistigen Kräfte strömen. Und einige dieser seltenen und wertvollen Lichtstrahlen gingen aus der französischen Kreativität in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hervor. Während der gesamten Europäischen Katastrophe des 20sten Jahrhunderts – vor, zwischen und nach den beiden Weltkriegen und während des kalten Krieges – fand genau hier in Frankreich eine sehr intensive und entscheidende intellektuelle, aber auch kulturelle und politische Debatte statt. Die Kräfte die im Denken arbeiten waren trotz ihres Scharfsinns noch nicht stark genug um soziale und politische Realitäten zu durchdringen. Während viele glaubten so „revolutionär“ und radikal zu sein, konnten sie nie wirklich zu neuen sozialen Ideen und gesellschaftlichen Formen durchbrechen. Jedoch, auf dem Feld der Philosophie war das anders. Hier gab es Einiges an echter Kreativität, die tatsächlich versuchte neue Wege zu beschreiten. Das letzte Jahrhundert hatte eine gewaltige Aufgabe, verbunden mit den tiefsten und schicksalhaftesten Auswirkungen im Guten wie im Schlechten. Diese Aufgabe kann natürlich auf verschiedene Weise beschrieben werden. Jedoch für unser Vorhaben heute Abend, da wir diese Aufgabe vom Gesichtspunkt der Entwicklung des Denkens aus betrachten, können wir sie verallgemeinernd nennen: die Spiritualisierung des Bewusstseins, oder genauer, die Spiritualisierung des Intellekts (und des Denkens). 1 Teile des Vortrags wurden in YBA´s Blog veröffentlicht. Der vollständige Text steht unter http://www.dialogos.oslo.no/doorstodialogue/wp-content/uploads/2009/03/lecture_in_colmar.pdf Für die Übersetzung wurde diese Fassung verwendet, Absätze und Hervorhebungen wurden von dort übernommen. Anm.: Der Vortrag war damals auf Deutsch gehalten worden; das Transkript wurde von Christine Ballivet und Carol Bergin auf Englisch übersetzt und von YBA überarbeitet. 2 http://eventandinitiation.blogspot.com/2009/01/lecture-in-colmar-1st-june-2007.html Übersetzung 1. Teil (inkl. “Exkursion nach Deutschland”) von Johannes Lauterbach 1
Dies ist ein Ausdruck den Rudolf Steiner häufig verwendete. Sein ganzer Impuls, die größten Anstrengungen seines Willens und seiner Liebe wurden in diese Tat gegossen. Und sein Leben lang hoffte er, daß freie Menschen dasselbe tun würden was er anstrebte zu tun: sich selbst wahrhaft umzuwandeln! Er hatte aufrichtig gehofft, daß dies wenigstens von einer kleinen Anzahl Menschen bereits zu Beginn des 20sten Jahrhunderts erreicht werden würde, daß es dann von immer mehr Menschen im Laufe des Jahrhunderts aufgegriffen würde um eine gewisse intensive Kulmination am Ende des Jahrhunderts zu erreichen und in umgewandelter Weise kraftvoll die Weltbühne des 21. Jahrhunderts als welt-verändernde kreative Kraft zu betreten. Es genügt heute nicht mehr, wenn eine Person etwas alleine tut, selbst wenn es der größte Eingeweihte ist. Denn Andere dürfen nicht mehr länger einfach nur geführt oder in seine Fußstapfen gestoßen werden – es sei denn wir sprechen von Impulsen des Bösen. Das Gute kann nur aus der Tiefe freier menschlicher Herzen und Köpfe hervorspringen, die sich gegenseitig helfend und verstehend zusammenarbeiten. Und wenn man von diesem Gesichtspunkt aus auf die Welt heute schauen, der Anthroposophie eingeschlossen, kann man sicher sagen: nun denn, wir sind eindeutig erst am aller ersten Anfang! Wir sind darum alle herzlich eingeladen wieder neu zu beginnen. Wenn wir wirklich verstehen was oben gesagt wurde, sind wir aufgerufen uns selbst als echte Anfänger zu sehen. Immer mehr Menschen sollten verstehen, daß der Zeitgeist heute neue Anfänger sucht, und äusserst angewidert und ermüdet von so vielen „Wissenden“ ist, die ständig Verwüstungen in unserem sozialen, spirituellen und wirtschaftlichen Leben anrichten. Diese Spiritualisierung des Intellekts ist der erst und unvermeidbare Schritt, der als Grundlage einer weiteren Umwandlung der menschlichen Natur und Gesellschaft erforderlich ist. Er ist die Voraussetzung für die Spiritualisierung unseres sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Lebens. Dies ist unser Hauptansatzpunkt, einfach weil wir in den letzten Jahrhunderten denkende Wesen geworden sind. Alles was wir tun fangen wir vom Denken aus an und falsches Denken wird sofort eine Quelle moralisch-sozial zerstörerischer Kräfte, während wahrheitsgemäßes Denken eine aufbauende und heilende Kraft wird. Aus diesem Grund bezeichnete Steiner sein sogenanntes „nicht-anthroposophisches“ Buch, „Die Philosophie der Freiheit“, als seine wichtigste spirituelle Schöpfung. Er sagt, durch dieses Buch, sofern es richtig verstanden und praktiziert wird, könne jede Person, ohne irgendein spirituelles Vorwissen, oder Glauben, von ihrem alltäglichen Denkbewusstsein, Wahrnehmungsbewusstsein, von täglicher moralischer Tätigkeit und sozialen Erfahrungen ausgehend beginnen. Jede/r kann von hier aus beginnen, wo er/sie im realen Leben steht. Und ich habe die Erfahrung gemacht, früher alleine und jetzt auch mit Freunden und Studenten in Israel, daß die Philosophie der Freiheit, wenn man sie in der richtigen Weise nimmt, uns tatsächlich starke Werkzeuge gibt um diese Spiritualisierung zu verwirklichen und ins Bewusstsein zu bringen. Und dies war mein eigener spirituell-wissenschaftlicher Entwicklungsweg vom 21sten zum 35sten Lebensjahr. Nachdem ich mit Steiners allgemeinem anthroposophischen Werk begonnen hatte konzentrierte ich mich genau auf sein philosophisch-soziales Werk. Für den Aufbau der Harduf- Gemeinschaft auf der einen, und für meine geistige Forschung auf der anderen Seite, suchte ich nach dem verborgenen Strom der Entstehung der Anthroposophie, ihre lebendige übersinnliche Fortsetzung. Wie kann Steiners Ausgangspunkt für das Denken kontinuierlich aktualisiert, in den Strom des sich entwickelnden Zeitgeistes gebracht werden? Das war meine brennende tägliche Frage. Ebenso waren mir die regressiven Kräfte, die auch innerhalb seiner Hinterlassenschaft am Werk sind, bekannt. Daher war ich mir frühzeitig bewusst, daß ich meinen eigenen Weg bauen musste während ich ihn beschritt und dieser nicht einfach da draussen gegeben war/ist. Und wenn man auf diese Weise sucht, muss man Michaels Fußspuren in der Geschichte und im heutigen geistigen, kulturellen und sozialen Leben finden. Das ist der Grund warum ich intensiv die neuen Entwicklungen in den Wissenschaften, der Kunst, dem sozialen Leben und auch im Denken und in der Philosophie im Verlauf des gesamten 20sten Jahrhunderts verfolgt habe. 2
Dann fand ich, durch das Leben selbst, durch meine Arbeit – dies gilt für meine eigene Erfahrung, man kann das nicht verallgemeinern -, daß immer, wenn ich nach einer Möglichkeit suchte um nach 1925 – nach Steiners Tod – den Weg fortzusetzen, der zu einer weiteren Entwicklung des Denkens und der Spiritualisierung des Intellekts führen würde, dies zu dem Abgrund führte, der sich mit den letzten beiden deutschen Denkern öffnete – dem (konvertierten) Juden Edmund Husserl und seinem national-sozialistischen Schüler Martin Heidegger – durch die Verwüstung der europäischen Kultur im 2. Weltkrieg und in die 50er und 60er Jahre, wie oben angemerkt. (Man kann über mein Ringen um Erkenntnis in dieser Frage in der Einleitung zur deutschen Ausgabe meines Buches: „Dei neue Erfahrung des Übersinnlichen“ nachlesen.) Und es was im Folgen der tragischen Schritte Husserls und Heideggers, daß ich zur französischen Philosophie kam; denn die französischen Denker waren die begeistertsten und aufnahmebereitesten Schüler des deutschen Denkens. Darum, um einige zentrale Persönlichkeiten der französischen Philosophie vorstellen zu können, muss ich erst den entscheidenden Wendepunkt in der geistigen (spirituellen) Geschichte Deutschlands zusammenfassen. Eine Exkursion nach Deutschland3 Der erste deutsche Denker dem unmittelbar klar war, daß die Zeit Goethes und des deutschen Idealismus für immer vorbei war und sie nicht wiederbelebt werden konnte, wurde im wahrsten Sinne des Wortes Wahnsinnig und verlor den Verstand über seine Versuche, neue unvorhergesehene Räume für die Spiritualisierung des Denkens zu finden. Dies war – natürlich – der große und tragische Nietzsche. Und es ist bedeutsam als historisches Symptom und Schlüssel zu dem sich zusammenbrauenden Unwetter das zu der deutschen Tragödie führte, daß genau in diesen Jahren – dem Ende der 80erJahre des 19ten Jahrhunderts – Steiner an seiner philosophischen Dissertation „Wahrheit und Wissenschaft“ als Grundlage der „Philosophie der Freiheit“ arbeitete. Als letztere 1894 veröffentlicht wurde, schrieb er seiner engen Freundin, Rosa Mayreder, wie sehr er die Tatsache bedauerte, daß Nietzsche sie nicht mehr lesen konnte, denn – so Steiner - „er würde sie wirklich verstanden haben“. Nun, Edmund Husserl (1859 – 1938) war ein Zeitgenosse Steiners, er studierte ebenfalls Philosophie in Wien bei Franz Brentano, ein, oder zwei Jahre nachdem Steiner dort studiert hatte, wahrscheinlich im Wintersemester 1881/1882. Sie wären sich sozusagen beinahe in Brentanos Klasse begegnet. Und in der Tat hätte das Karma nicht deutlicher sprechen können, denn Husserl strebte danach, Brentanos Denken weiterzuentwickeln und baute seine Phänomenologie in der Richtung von Steiners „Philosophie der Freiheit“. Aber Husserls Radikalität war nicht radikal genug, er überwand die tieferen Grenzen der traditionellen Kant`schen Philosophie nicht. Dies ließ eine klaffende Lücke, einen Abgrund im deutschen Denker vor, während und nach dem 1. Weltkrieg, der entscheidenden Zeit für die europäische und deutsche Geschichte. Nun kam das Jahr, in dem Deutschlands Schicksal und damit das Europas entschieden wurde: 1917. In diesem Jahr wurde Lenin von Luddendorf in einem versiegelten Waggon aus seinem Exil in Zürich nach Moskau geschmuggelt um dort die bolschewistische Revolution im Osten zu organisieren und die USA traten von Westen her in den Krieg ein. Mitteleuropas Schicksal lag in der Waagschale, diese neigte sich immer schneller zum Schlimmsten und Steiner initiierte die soziale Dreigliederung als letzten Rettungsversuch. Nun starb Brentano 1917. Steiner veröffentlichte einen „Nachruf“ auf Brentano in seinem Buch „Von Seelenrätseln“, in dem Philosophie, Anthropologie und Anthroposophie, zum ersten Mal in einer vollständig modernen und wissenschaftlichen Weise zusammengebracht wurden, ohne irgendwelche theosophischen Rückstände. (z.B. ist es frei von traditionellen okkulten Begriffen und Formulierungen). Dieses Buch zeigt deutlich: Steiner ist nun bereit, seine wirkliche Lebensaufgabe als moderner Geisteswissenschaftler und gesellschaftlicher Erneuerer zu beginnen. Aber alle seine neuen Initiativen brachen eine nach der anderen zusammen, bis zu seinem Tod im März 1925. 3 Anm. Übers.: dieser Teil fehlt im Blog 3
Der Rest ist bereits äussere Geschichte… Nach Steiners Tod konvertiert Max Scheler – ein originärer und freier Schüler Husserls, der Steiner begegnet war und ihn schätzte – 1927 zum Katholizismus; im selben Jahr in dem Martin Heideggers einflussreiches Werk „Sein und Zeit“ erscheint. Heidegger verkörpert in seinem Schicksal als letzter deutscher Denker das Schicksal seines Volkes. Er konnte weder – berechtigterweise – mit Phänomenologie zufrieden sein, noch sich dem neuen Impuls öffnen, der in Richtung der Philosophie der Freiheit arbeitete. Darum wandelte er Husserl`s Phänomenologie rückwärts anstatt vorwärts um, um eine mächtige und hoch suggestive „Umstülpung“ der „Philosophie der Freiheit“ im deutschen intellektuellen Leben zu erzeugen. Zwischen Husserl und Heidegger spielt sich die Tragödie des spirituellen Lebens in Deutschland in den späten 20er und frühen 30er Jahren ab, bis dann Heidegger 1933 seine berüchtigte Antrittsrede als neu gewählter Rektor der Freiburger Universität ablieferte mit der er sich als begeisterter Nazi präsentierte. (Er unterstützte später auch die „Exkommunizierung“ seines alternden Lehrers nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ von 1935; zu seinem eigenen Glück starb Husserl 1938). Die Entscheidung, die bereits 1917 gefallen war, wurde nun vollständig sichtbar gemacht und damit das Verhängnis Deutschlands und ganz Europas. Seit Nietzsches und Steiners Zeit gibt es eine sehr deutliche entweder/oder Situation: das Denken kann entweder mit dem Zeitgeist, oder stark gegen ihn gehen. Und Heideggers unzweifelhafte Größe wurde massiv mobilisiert, um Michaels am meisten entgegengesetzten Widersachergeist zu dienen. Aber nur ein abstrakt denkender Intellektueller, oder ein religiöser Fanatiker würde heutzutage glauben, daß er im Voraus den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge kennt. (Und Anthroposophie wird manchmal auch in dieser Weise aufgefasst.) Aus praktischer Sicht, zeigt gerade der Fall Heideggers genau die tatsächlichen Schwierigkeiten die einem begegnen, wenn man danach strebt durch reale Erfahrung den Unterschied zwischen den beiden zu erkennen, insbesondere wenn sie von der Schwelle reflektiert und abgelenkt werden. Wenn man die Schwelle als Spiegelfläche sieht, dann erscheint das eine als unter der Schwelle stehender, polarer Bruder, sogar als Zwilling – tatsächlich umgestülpt, um ein Gegenbild zu erzeugen, ein gespiegelter Gegensatz seines über der Schwelle stehenden Originals! Hier möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine bedeutsame Tatsache lenken, die für meine Arbeit über die Jahre sehr hilfreich war: indem man mit dem heutigen Denken in verschiedenen Gebieten ringt entdeckt man, daß man nicht nur dadurch reich belohnt wird, daß man echte michaelische Inspirationen findet, sondern auch durch die schmerzhafte Aufdeckung von Gegenströmungen; diese können uns – aus erster Hand – genau deshalb eine Menge über Michaels wirkliche Intentionen sagen, weil sie des exakte Gegenteil anstreben! Nun, wenn wir von dieser Warte aus die Dinge betrachten können wir vielleicht beginnen, dieses Rätsel zu verstehen - nämlich warum Heidegger der vielleicht einflussreichste Philosoph in der europäischen und insbesondere französischen Philosophie des 20sten Jahrhunderts war und warum Levinas sagte – und er war ein enger persönlicher Student Heidegger`s in Freiburg: „Wir müssen es zugeben, unglücklicherweise waren wir alle Heideggers Studenten“. (Dies ist nicht die Gelegenheit um auf Heideggers Philosophie im Einzelnen einzugehen, dies Aufgabe müsste vielleicht in Deutschland bearbeitet werden. Es könnte aber eine interessante und zeitgemäße Studie sein…) Das französische philosophische Jahrhundert 4 Blog „Event and Initiation“, 04. Januar - 2. Teil Wie oben erwähnt wurde, finden wir seit den Zwanziger- und Dreißigerjahren, zwischen den Kriegen und während des kalten Krieges und später den Beginn einer großen Reihe von französischen Denkern, die ihren Ausgangspunkt alle in der Assimilierung der deutschen Philosophie hatten. Das frischeste Nahrungsangebot für französische Denker kommt von dem 4 http://eventandinitiation.blogspot.com/2009/01/anthroposophy-and-post-modern.html Übersetzung 2. Teil von Gabriele Kühne 4
großen deutschen viergliedrigen „Götterdämmerungsstrom“ Hegel, Nietzsche, Husserl und Heidegger. Lassen Sie uns nun kurz einige von ihnen einladen und einführen. Doch erinnern Sie sich freundlicherweise daran, dass diese Einführung nur episodisch, sporadisch und fragmentarisch sein kann, eine augenblicklich vorbeihuschende Beschriftung, markiert auf einen engen und schnell vergehenden Pfad… Vielleicht kann ein Beginn gemacht werden mit einem weiteren Menschen jüdischer Herkunft, Henri Bergson, ein Zeitgenosse Steiners, von Deleuze aus der Vergessenheit zu neuem Leben erweckt, der besonders sein erstes Buch Materie und Gedächtnis von 1896 (zwei Jahre nach der Philosophie der Freiheit) als einen seiner Hauptausgangsgspunkte benutzte. Und dann haben wir – mehr oder weniger in der gleichen Generation – den großen Phänomenologen Merley Ponty, dessen Buch Die Phänomenologie der Wahrnehmung eine ausgezeichnete Studie der Sinneswahrnehmung und des wahrnehmenden Bewusstseins ist und der später die Grenzen der Wahrnehmung zunehmend in das Übersinnliche schob, indem er sich bemühte die Sinneswahrnehmung und die Körpererfahrung in spirituelle Erfahrung umzuwandeln. Dann kann man vom etwas anderen Pol den „dunklen“ Maurice Blanshot nehmen, dessen Schriften über „Der Raum der Literatur“ eine starke Faszination durch das Jahrhundert ausübte und dann sind wir bereits bei dem äusserst einflussreichen Sartre!. Sartre verwandelte die grundlegende Ontologie Heidegger`s in den phänomenologischen Existentialismus und schrieb sein Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ während des Krieges als Antwort auf Heideggers Sein und Zeit von 1927. Lesen Sie nur mal zum Beispiel das Kapitel über „den Blick des Anderen“ in diesem Buch und Sie werden eine sehr exakte und brillante phänomenologische Erforschung der Wahrnehmung und des Wesens des Anderen und der Beziehung zu ihm finden, welche ohne etwas vergleichbar Vorhergehendes in der Geschichte der Philosophie oder der Wissenschaft ist. Nach dem Kriege sehen wir den Strom des französischen Strukturalismus auftauchen, unter anderen mit Levi-Strauss und seiner Schule. Sie hatten bis in unsere Zeit hinein einen ausgesprochen fruchtbaren Einfluss in der Anthropologie, Soziologie, im Studium der Mythen und der alten Kulturen. Doch das war nur ein Prolog, der die Bühne vorbereitete zu dem, was ab den Sechzigerjahren die wirklich aufregenden 30 Jahre – Sechziger-, Siebziger-, Achtzigerjahre – werden sollten, in denen man nacheinander das Auftauchen der leuchtenden, brillantesten Stars über dem intellektuellen Horizont Frankreichs sieht, heute weltberühmt, doch damals war alles am Anfang; ich bin sicher, Sie sind alle mit diesen bemerkenswerten Namen vertraut…Namen wie?... Namen wie…?(Keine Antwort und Gelächter im Saal) Zuerst lassen Sie uns einen weiteren Menschen jüdischer Herkunft nennen; ja, sie sind noch überall zu finden, trotz einiger Anstrengungen… ich meine Jacques Derrida, ein in Algerien geborener Franzose. Er ist heute der ziemlich berühmte, doch nicht immer wirklich verstandene, Begründer einer philosophischen Strömung, die er „ Dekonstruktivismus“ nannte. – Derrida war Foucaults Gegener, stand jedoch – aus großer Distanz - mehr auf gutem Fuß mit Deleuze. Seine Bemühungen richteten sich auf die Dekonstruktion und Demontage des zentralistisch- Zentralisierenden, des Vater-Gottes, der monotheistischen Kräfte, die in der vergangenen und gegenwärtigen Philosophie und Literatur wirkten; nicht als ein Ziel an sich, sondern als ein Mittel, die peripheren Kräfte aufzudecken, die in der Sprache und im Geschriebenen wirken. Er entdeckte und beschrieb einige der gestaltenden Strategien der dezentralisierten, peripheren Kräfte, die in der Geisteswissenschaft „ätherisch gestaltende Kräfte“ genannt werden und enthüllte die Textur des Textes, das Weben des Textes durch die Webkunst der Sprache hindurch. Der späte Derrida ist zunehmend von Levinas beeinflusst und wendet seine Aufmerksamkeit auf ethische, politische und religiöse Untersuchungen, indem er die Probleme der radikalen Andersartigkeit, des transzendenten Anderssein des Anderen als einen unüberbrückbaren Unterschied studiert. Er starb am 9. Oktober 2004 und hat einen ständig wachsenden Einfluss auf seinen Umkreis, der sich weit ausdehnt, zum Beispiel wird er stark in den amerikanischen Kontinenten wahrgenommen. 5
Derrida ist einer der wenigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der als kulturelle Persönlichkeit außerhalb des philosophischen Milieus bekannt wurde. Der Begriff „Postmoderne“ wird zum ersten Mal als ein philosophisches Konzept in François Lyotard's „Das postmoderne Wissen“ von 1979 geprägt. Inspiriert durch Kants Idee der Erfahrung und Erkenntnis des Erhabenen (ein Teil von Kants Kritik der Urteilskraft), versucht er ein nicht- positivistisches „ereignisreiches“ Konzept der Erkenntnis und Kunst zu schaffen und es auf soziale und politische Gedanken/Ideen zu übertragen. Wir könnten hier auch andere Namen genannt haben zum Beispiel den wirklich brillanten Paul Virilio, ein originärer Denker der modernen und postmodernen Technologie, des Militärs, des Urbanismus und der Architektur, dessen Schriften viele Felder inspiriert haben. Und dann, wie könnten wir Jean Baudrillard auslassen, der letzten März verstarb, ein scharfsinniger Beobachter und Kritiker der elektronischen Kommunikation, der globalisierten Medien und des Fernsehens, der auch einen kurzen und bemerkenswerten Text über den „Geist des Terrorismus“ nach den Terrorattacken auf das World Trade Centre in New York am 11. September 2001 geschrieben hat. Und dann kommen wird zu Emmanuel Levinas (wir haben ihn oben erwähnt in Verbindung mit seinem Lehrer Heidegger). Ein in Litauen geborener Jude, der nach dem Krieg ein orthodoxer Jude wurde und der den Rest seines Lebens die Gebote und die Thora achtete, ist er neben Derrida der meistbekannte französische Philosoph unserer Zeit, und sein Einfluss wächst auch heute noch beständig. Er führte auf bahnbrechende und radikale Weise den Begriff des „Anderen“ ein, nicht durch die Phänomenologie wie von Husserl, Heidegger oder Sartre entwickelt, sondern durch bemerkenswerte Konzepte wie „das Gesicht des Anderen“ und „die Sterblichkeit des Anderen“ für den ich von Urzeit her verantwortlich bin. Dieser Weg, so glaubte Levinas, ist der einzige Weg, eine Gegen-Kain-Kraft zu entwickeln, was die wahre Mission des Judaismus ist, die durch die westliche Philosophie, das Christentum und die mitteleuropäische Kultur unterdrückt wurde. Er suchte, Abel auferstehen zu lassen und eine Antwort auf Kains uranfänglichen Brudermord zu finden, den er im europäischen und im globalen Maßstab im 20sten Jahrhundert sich wiederholend erlebte, insbesondere in der Vernichtung der Juden (ursprünglich Abelsöhne) durch die Deutschen (moderne Kainssöhne) und in jeder und jeglicher Verfolgung der Schwachen wo immer sie auch sind. Das bildet die Essenz seines Gedankens: Ich bin meines Bruders Hüter! In dieser Weise versuchte Levinas einen neuen religiös-moralischen Impuls in den philosophischen und kulturell-politischen Diskurs und in das Bewusstsein der Welt nach dem Holocaust zu bringen. Und vielleicht die letzte dieser großen Persönlichkeiten, die nun erwähnt werden sollte, da unsere Zeit kurz ist, wäre Alain Badiou, der noch heute lebt und arbeitet, ein militanter Leninist (genau genommen Maoist-Leninist), der als Schüler Sartre`s und des französischen Philosophie-Gurus der Psychoanalyse, Jacques-Marie-Émile Lacan anfing und der sich ein Leben lang bemühte, ein Gegenspieler Deleuzes zu werden. Er ist der ziemlich einsame und letzte Stern, der noch in dem Dämmerlicht eines wahrhaft wunderbaren, französischen, philosophischen Jahrhunderts scheint. Badiou schrieb für Studenten eine ausgezeichnete Einführung in seine Gedankenwelt, mit dem Titel Ethik : Ein Essay über das Begreifen des Bösen, und nur um Ihnen ein Beispiel seiner verschiedenen Interessenfelder zu geben, er schrieb das beste Buch über Paulus, das ich in der neueren Literatur gelesen habe; ja, das gehört zu der seltsamen und kühnen Symptomatik unserer Zeit: ein nicht bekehrbarer französischer Maoist-Leninist schreibt das beste Buch über Paulus! Und diese sind nur die klarer gekennzeichneten Namen in der Geschichte, die am stärksten sichtbaren Planeten, die auf dem Hintergrund einer ganzen spirituell-kulturellen europäischen und französischen, historischen Konstellation leuchten, verursacht durch die Zerstörung Europas im letzten Jahrhundert und durch das Vakuum, das durch das Verschwinden des deutschen Denkens geschaffen wurde. Diese sind einige der sichtbareren Repräsentanten von Dutzenden von kreativen und originellen Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern im 20.Jahrhundert, die in Frankreich lebten. 6
Aber nun war da der eine, der so kühn und inspirierend in seiner Originalität war, das er in einer Art und Weise alle anderen überragte, so dass Deleuze sagte: „Der Autor, der Die Archäologie des Wissens schrieb, gibt uns die Möglichkeit zu hoffen, dass wahre Philosophie wieder möglich sein wird.“ Und er meinte Michel Foucault. „Foucault ist Goethe näher als Newton“ schreibt Deleuze (in seinem guten Buch Foucault), weil wie für Goethe „das Licht-Wesen ist die ein streng unteilbarer Zustand ist, ein a priori, das einzigartig fähig ist, Sichtbarkeiten dem Auge und zugleich den anderen Sinnen zu öffnen“, so ist Foucaults neues Konzept der Sprache und des Denkens: ihr eigentliches Wesen ist die nicht wahrnehmbare Kraft, die überhaupt alle Diskurse sichtbar und möglich macht. Und das ist der Grund, warum Foucault den Weg für den wahrlich bedeutendsten französischen Denker des 20.Jahrhunderts vorbereiten und öffnen konnte, nämlich für Gilles Deleuze selbst. Auch der sonst vorsichtige und eher zurückhaltende Derrida rief in seiner Ansprache bei Deleuzes Begräbnis aus,: „ Der Autor von Differenz und Wiederholung (eines von Deleuzes Hauptwerken) ist der großartige Philosoph des Ereignisses.“ Wie eine Sonne, die all die intellektuellen Sterne in Frankreich überstrahlt, sie aber auch in ihren Zusammenhang stellt, ihnen ihre historische Gestalt gibt und das Denken auf seinem Weg in die Flugbahn und Richtung seiner zukünftigen kosmischen Bestimmung und Konstellation hebt, verdient Deleuze völlig die Aussage Foucaults:“ Das ganze philosophische 20. Jahrhundert wird eines Tages das Deleuzische Jahrhundert genannt werden.“ Und an anderer Stelle: „…ein Blitzsturm wurde geschaffen, der den Namen von Deleuze tragen wird: neues Denken ist möglich; Denken ist wieder möglich!“ Es war Deleuze - allein und zusammen mit seinem Mitstreiter und Mitautor Felix Guattari - der tatsächlich auf die zukünftige Rolle und Aufgabe der Philosophie in allen seinen Schriften hinwies. Greifen wir aphoristisch eine Aussage heraus, die – von dem in diesem Vortrag vorgebrachten Standpunkt aus gesehen – als symptomatischer Wegweiser in die Entwicklungsgeschichte der Philosophie eingeschrieben werden kann. Wir finden sie in seinem letzten Buch Was ist Philosophie?, das er zusammen mit Felix Guattari geschrieben hat. Da finden wir diese Aussage: „Der alleinige Zweck der Philosophie ist es, sich dem Ereignis würdig zu erweisen“. Diese gewaltige Umwandlung der Rolle der Philosophie durch Deleuze ist ein Ergebnis eines gemeinsamen Projektes, zu dem jeder der oben erwähnten Denker beigetragen hat - angefangen mit Heidegger, derals Erster das „Ereignis“ als einen zentralen philosophischen Begriff thematisierte. Wegen unserer Beschränkung hier genügt es zu sagen, dass Deleuze mit diesem Begriffein kompliziertes und vielschichtiges Geschehen ausdrückt, das er in seinen Werken über drei Jahrzehnte hin wiederholt beschrieb und variierte. Ein wenig in unsere Worte übersetzt kann dieses “Ereignis” verstanden werden als pulsierende Systole und Diastole, ein Atmen von immanentem Leben, der immer sich ereignende Inkarnations- und Exkarnationsprozess in jedem einzelnen Element und in jeder einzelnen Sache, in Raum, Zeit und Bewusstsein. Deleuze erfasste das Leben und die Sensibilität als überall in Natur, Kultur und Kosmos existierend, mit und ohne organisch-körperliche oder materielle Basis. Wenn wir seine Aussage in diesem Sinne neu formulieren, können wir sie also folgendermaßen ausdrücken: Der alleinige Zweck der Philosophie ist es, sich der ständig pulsierenden, atmenden, vibrierenden Bewegung des universellen, immanenten Lebens würdig zu erweisen. ******* Gilles Deleuze stürzte sich am Abend des 4.Novembers 1995 aus dem Fenster des dritten Stockes zu Tode, als er auf seinem Totenbett lag. Das geschah gerade eine oder zwei Stunden nach einem anderen tragisches Ereignis, das für uns in Israel einen wichtigen und schmerzhaften Augenblick der Selbsterkenntnis bezeichnetet, dem schockierenden Mord an Premierminister Yitzhak Rabin; Rabin und Deleuze verschieden gemeinsam an dem selben bitteren Abend des 7
4.Novembers 1995, womit noch ein weiteres, ernüchterndes Zeichen in dem ohnehin schon zu dunkel gezeichneten Kalender der Ereignisse des 20.Jahrhundert hinzugefügt wurde. Zwei beinahe gleichzeitig geschehende Ereignisse: in Israel ein politischer Mord, der den letzten großen Friedensbemühung ein Ende setzte – in den engen Grenzen natürlich, wie Politiker heute den Ausdruck Frieden verstehen, doch immerhin war es subjektiv ein wirklich ehrlicher Schritt von Rabins Seite – einen so genannten Frieden in Israel-Palästina zu errichten; und dann der Selbstmord von Gilles Deleuze nach sehr langer Krankheit. Das Ende des letzten „Friedens“- Versuchs und das Ende der letzten und größten Philosophie der 20.Jahrhunderts kamen so seltsam zusammen, obwohl sie natürlich äußerlich gesehen ganz ohne Beziehung zueinander sind. Und doch, für mich, ich meine nun persönlich, von meinem individuellen Standpunkt zu jener Zeit, konnte ich nicht anders, als diese zwei Ereignisse als innerlich verbunden zu erleben; dies ist nicht eine Interpretation, überhaupt keine Spekulation war daran beteiligt; darum sage ich nachdrücklich, dies war ein Erlebnis. Ich erlebte, dass in einer noch unbekannten Weise beide miteinander verbunden sind. Es würde indessen heute zu weit gehen, das zu entwickeln, was herausgekommen wäre, wenn ich im Laufe der Zeit die Natur dieser Verbindung zwischen den beiden Ereignissen hätte erforschen können, was uns mehr in die esoterisch-politische Richtung gebracht hätte, während wir uns heute hauptsächlich mit dem Schicksal des Denkens und seiner Spiritualisierung beschäftigen. (Ende Blog Eintrag) 8
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