Was nebenbei noch so hängen bleibt - BR

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                                                      Maya Götz

                            Was nebenbei noch
                             so hängen bleibt
              Oder die Frage, wie Menschen vom Fernsehen lernen, ohne es zu merken

Es ist hinlänglich bewiesen, dass       hen Mittelalter, um symbolisch die      Was antworten Kinder auf diese Fra­
Kinder und Jugendliche vom              »Munt«, also die Herrschaft über die    ge? Eine repräsentative Befragung
Fernsehen lernen, Förderliches          Tochter an den Ehemann weiterzuge­      unter 6- bis 12-Jährigen2 ergab, dass
und auch so manches, was nicht          ben.1 Ab dem 14. Jahrhundert setzte     rund die Hälfte der Kinder der Mei­
unproblematisch ist. Vieles davon       sich dann in vielen europäischen Län­   nung ist, »der Vater« führe die Braut
kann explizit abgefragt werden und      dern praktisch durch, dass sich Braut   zum Altar, etwa 30 % wissen es nicht
die Lernprozesse werden bewusst         und Bräutigam vor der Kirche trafen,    und nur rund 15 % antworten »der
wahrgenommen. Anderes findet in         dort ein Teil der Zeremonie stattfand   Bräutigam«. Je älter die Kinder wer­
Prozessen statt, die dem Bewusst-       und die beiden dann gemeinsam zur       den, desto häufiger meinen sie, es sei
sein zumindest nicht direkt zugäng-     Hochzeitsmesse in die Kirche gingen     der Brautvater, besonders die Mäd­
lich sind. Dieser Artikel versucht      (Shahar 1981, S. 86). In der heutigen   chen. Während es mit 6 bis 7 Jahren
anhand eingängiger Beispiele und        Zeit ist der Ablauf der Heiratszere­    noch 30 % sind, sind es mit 8 bis
spielerischer Metaphern zentrale        monie sicherlich im Einzelfall ver­     9 Jahren bereits 51 % und mit 10 bis
Phänomene nachzuzeichnen.               handelbar. Eine informelle Umfrage      12 Jahren 60 %, die den Brautvater
                                        unter 20 Pfarreien ergab, dass es hier­ als traditionell Deutsch angeben (vgl.

L
                                        zulande nach wie vor nur in einigen     Abb. 1).
        assen Sie mich mit einer di­    wenigen Gemeinden üblich ist, dass      Wie kommt es, dass sich hier vie­
        rekten Frage anfangen: Wie      der Brautvater die Braut zum Altar      le Menschen so sicher sind, obwohl
        geht die Braut in Deutschland   führt. Traditionell treten Mann und     es nicht der hiesigen Tradition ent­
traditionell zum Altar?                 Frau gemeinsam vor Gott, um das         spricht? Zu einem vermutlich nicht
Um die Frage zu beantworten, stel­      Ehegelöbnis abzulegen. Dennoch ist      geringen Teil sind es die Bilder aus
len Sie sich jetzt vermutlich ein Bild  in der Imagination vieler Erwachse­     Filmen aus dem angloamerikani­
vor – richtig? Sie sehen vor Ihrem      ner (z. B. bei der IZI-Tagung 2009)     schen Raum. In Großbritannien, den
inneren Auge ein Brautpaar und eine     das Bild vom Brautvater, der die        USA und Kanada wartet der Bräu­
Kirche – richtig? Schauen Sie sich      Braut zum Altar führt, als »traditio­   tigam traditionell mit Trauzeugen
doch einmal diese innere Repräsen­      nell Deutsch« präsent.                  und Brautjungfern am Altar und der
tation genauer an. Wie geht die                                                        Brautvater bringt ihm die Braut
Braut zum Altar? Vermutlich                                                            an die Seite. Durch die Domi­
werden Sie sagen: »In Weiß.«                                                           nanz des angloamerikanischen
– Richtig. Vielleicht hören Sie                                                        Films in unserem Kino- und
einige Töne einer bestimmten                                                           Fernsehangebot übernehmen
Melodie? Den sogenannten                                                               Kinder dieses Bild. Da für
Hochzeitsmarsch bzw. »Treu­                                                            Mädchen mit zunehmendem
lich geführt« aus Wagners Oper                                                         Alter romantische (US-ame­
Lohengrin – richtig. Wer geht                                                          rikanische) Filme besonders
neben der Braut? Der Vater?                                                            bedeutsam werden, steigt hier
Nein, eigentlich nicht. Tradi­                                                         die Zahl so deutlich an. Ein ty­
tionell geht in Deutschland der                                                        pisches Beispiel des Lernens,
Vater nicht neben der Braut. Abb. 1: Befragung unter Kindern und Jugendlichen: »Wer ohne es zu merken. Zwar kön­
Es gab diese Tradition im frü­ führt die Braut zum Altar?«                             nen wir mit den derzeitigen
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                 23/2010/1                                                                                                                   7

wissenschaftlichen Methoden nicht        wenn es für den Menschen bedeutsam                               ten Studenten, die früh und zum Teil
wirklich verlässlich nachweisen, was     ist, kann in die innere Repräsenta­                              viel zu früh den Film Der Weiße Hai
hier stattfindet, die folgenden Deu­     tion eingehen. Diese Bedeutsamkeit                               gesehen haben. Ein Proband berich­
tungsmuster aus aktuellen Ansätzen       kann durch verschiedenste Momente                                tete in einer Studie zum Thema Angst
aus der Psychologie und den Kommu­       der Mensch-Medien-Beziehung her­                                 vor dem Fernseher (Holler/Bachmann
nikationswissenschaften sowie einige     gestellt werden. Das Bild des Braut­                             2009), er habe den Film mit 6 Jahren
IZI-Studien sollen dem Thema jedoch      vaters beispielsweise steht oftmals                              gesehen. Es geschah aus Versehen,
etwas auf den Grund gehen.               im dramaturgischen Höhepunkt von                                 denn »Opa dachte halt, das sei ein
                                         Filmen. Sind die RezipientInnen mit                              Tierfilm«. Noch heute mit 24 Jah­
                                         der Handlung mitgegangen und ha­                                 ren hat er Angst vor undurchsichti­
         Unser Wissen in
                                         ben sie sich empathisch eingefühlt                               gen Gewässern, obwohl er ein guter
         inneren Bildern
                                         und mit der Heldin oder dem Helden                               Schwimmer ist. Zumindest ein Teil
Ein großer Teil unseres Wissens sind     mitgefühlt, wird diese Szene u. U. zur                           dieses inneren Bildes ist durch den
Formen der inneren Repräsentation.       positiven Erfüllung der Hoffnung und                             Film geprägt. In einer dramaturgisch
Zumindest auf die bewusst zugäng­        der eigenen Gefühle.                                             gut eingebetteten Schlüsselszene ist
lichen können wir durch Evozierung                                                                        eine lange Kamerafahrt unter Was­
zugreifen. Um die Frage »Wie geht                                                                         ser zu sehen. Fast 20 Sekunden lang

                                                                                  © PIXELIO/Rita Köhler
die Braut traditionell zum Altar?« zu                                                                     baut sich dadurch Spannung auf, dass
beantworten, kann der Mensch ­diese                                                                       die Zuschauer dem imaginären Blick
inneren Repräsentationen »hoch­                                                                           eines Hais auf der Suche nach Beute
holen«. Wie das abgespeicherte Wis­                                                                       folgen. Die Musik wird langsam lau­
sen und die Abläufe bei der Evozie­                                                                       ter und präsenter. Dann: Umschnitt
rung beschrieben werden, ist u. a.                                                                        auf die Badegäste am Strand, Schreie,
vom wissenschaftlichen Hintergrund                                                                        blutrote Wasserfontänen und an die
des Beschreibenden abhängig. Eine                                                                         Oberfläche kommt ein riesiger Hai
etablierte, wenn auch etwas meta­                                                                         mit einer zunehmend zerfleischten
phorische Beschreibung ist die der                                                                        Frau. Diese emotionalisierte Szene
inneren Bilder (Hüther 2009; Klemm                                                                        knüpft an tieferliegende Ängste der
2003a, 2003b). Aufbauend auf einem                                                                        Hilflosigkeit im Wasser an, an die
Erlebnis bilden die Menschen die­                                                                         dunkle, unerkannte und damit un­
se inneren Repräsentationen, eine                                                                         ausweichliche Gefahr jenseits des
Art visuelle Vorstellungen, die vor                                                                       Sichtbaren, der der schutzlose, fast
dem inneren Auge betrachtet werden       Menschen produzieren innere Bilder. In ihnen                     nackte Körper ausgesetzt ist. Was
können und verschiedene Wahrneh­         sind Erfahrungen mit verschiedenen Wahr-                         hier passieren kann, ist eine Form
                                         nehmungsqualitäten gespeichert, in Episoden
mungsqualitäten aufweisen (visu­         verpackt und mit Gefühlen verbunden                              der medialen Traumatisierung. Diese
ell, akustisch, olfaktorisch, haptisch                                                                    Angst ist zwar keine wirkliche To­
und geschmacklich). Sie sind meist                                                                        desangst, denn Medienerlebnisse sind
mit einer Handlungsepisode kombi­        Lernen durch emotional besondere                                 para­soziale Erlebnisse (Horton/Wohl
niert und mit Gefühlen (emotiona­        Fernseherlebnisse                                                1956), dennoch bietet die Loslösung
le Marker) verbunden. Ab ca. dem         Menschen lernen aus emotional be­                                vom direkten Handlungszwang und
4. Lebensjahr kommen Worte zu den        deutsamen Erlebnissen besonders gut                              Leidensdruck – schließlich werden wir
Bildern hinzu. Dieses so gespeicherte    (u. a. Roth 2003, S. 303). Fernsehen                             nicht wirklich vom Hai attackiert –
Konglomerat ist in seinen einzelnen      bietet viele solcher emotionalen Mo­                             einen spezifischen Erfahrungsraum,
Momenten amodal verknüpft. So ist        mente und kann entsprechend wirk­                                in den sich Zuschauende wie in ein
es z. B. auf das Wort »Provence« nicht   sam werden.                                                      Rollenspiel eindenken und mitfühlen
nur möglich, sich violette Felder vor­   Noch ein Beispiel: Stellen Sie sich                              bzw. sich hineinprojizieren können. In
zustellen, sondern sie zu riechen, den   vor, es ist Sommer. Sie schwimmen in                             diesem Sinne kann auch ein Fernseh­
warmen Wind zu spüren etc. Dieses        einem See. Hören Sie auch manchmal                               erlebnis – wenn wahrscheinlich auch
imaginär »ganzheitliche« Empfinden       die Töne der Musik des Films Der                                 nur in seltenen Ausnahmefällen – ein
kann dabei auf einem realen Besuch       Weiße Hai? Schauen Sie sich nach                                 für ein Trauma typisches Diskrepanz­
in der Provence begründet sein oder      einer großen Rückenflosse an der                                 erleben auslösen. Der bedrohlichen
auch nur auf einer starken Imagina­      Wasseroberfläche um oder sehen Sie                               Situation stehen keine individuellen
tion z. B. durch Erzählungen, Bilder,    sich selbst in der Unterwasseransicht?                           Bewältigungsmöglichkeiten gegen­
ein Lavendelkissen etc. Fernsehen,       Dann geht es Ihnen wie den befrag­                               über und es dominiert das Gefühl von
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intensiver Furcht, Hilflosigkeit und    Bräutigam, der ihr erwartungsvoll          jetzt schwer macht. Sie fühlt sich in
schutzloser Preisgabe. Es wäre ge­      entgegenblickt, der sie jetzt quasi        ihren Möglichkeiten eingeschränkt,
genüber den schrecklichen Dingen,       neu und in einer anderen Rolle sieht.      möchte aktiv, sportlich und hand­
die Menschen widerfahren können,        Eine Inszenierung von Bewunderung,         lungsorientiert sein, ohne Streitereien
unangemessen, den Begriff Trauma        tief empfundener Liebe, Verheißung         unter Mädchen. Wie das gehen soll,
überzustrapazieren. Dennoch kann        und nicht zuletzt Begehren. Hinzu          konnte sie sich früher nicht vorstellen.
es – wie gesagt in absoluten Ausnah­    kommen die bewundernden Blicke             In ihrer eigenen Identitätsentwick­
mefällen – durch unerwartete, völlig    der Freundinnen (Brautjungfern), der       lung kann sie aber einen Moment
überfordernde Bilder und Szenen,        besten Freunde (Trauzeugen), der Fa­       ausmachen, der alles verändert hat:
die mit besonders starker Furcht und    milie und der Gemeinde, die in der         Als sie den Film Die Wilden Kerle
Grauen erlebt werden, auch durch        Kirche für ihren Einmarsch anerken­        gesehen hat.
ein Fernseherlebnis zu einer dauer­     nend aufsteht, und noch vieles mehr,       »Und dann hat mir der Film gesagt, in
haften Erschütterung des Selbst- und    was dicht an bekannte und kritisierte      mir steckt noch was Besseres drin …
Welterlebens kommen. Diese Rezep­       Phänomene weiblicher Sozialisation         Da war nämlich auch ein Mädchen,
tionserfahrungen können vorhandene      anschließt (zusammenfassend bei            die war zuvor immer total schüchtern
innere Repräsentationen überlagern      Rendtorff 2003; Kühnl/Schultheis           und so, und das war ich auch.«
bzw. erweitern. Das Ergebnis: Selbst    2010). Trotz oder gerade auch paral­       Für Leonie war der Film wie ein
mit dem verlässlichen Wissen, dass      lel und ergänzend zum Erleben von          Heureka-Erlebnis, ein Erkenntnis­
in deutschen Süßwasserseen keine        Kompetenz und Eigenständigkeit von         moment, in dem sie eine Perspektive
Haie leben, kommt das Bild der Un­      Frauen heute ist es attraktiv, sich die­   für sich und ihre Suche erkannte: die
terwasserkamerafahrt auf die Beine      sen Fantasien zumindest kurzzeitig         Filmfigur Vanessa. Das Kinoerlebnis
gelegentlich wieder »hoch«.             im Freiraum einer fiktionalen Film­        war für sie das Schlüsselerlebnis, in
                                        geschichte »hinzugeben«. Insofern ist      dem sie sich wiedererkannte und eine
Lernen durch emotional starke           es nicht nur eine Frage der Genre­         Perspektive für ihre Selbstkonstruk­
Bilder und Sequenzen                    vorlieben, dass Mädchen sich mit           tion entwickelte. Ein Mädchen, das
Bilder, die sich so in die Memorie­     zunehmendem Alter sicherer sind,           seine Wildheit auslebt, sich beweist,
rung »einbrennen«, lassen sich zu       dass es der Vater ist, der die Braut       verantwortlich und anerkannt ist und
Recht als starke Bilder bzw. Sequen­    zum Altar führt. Diese Vorstellung         nur noch mit Jungen spielt. Dieses
zen bezeichnen. Sie zeichnen sich bei   knüpft an Werte und Orientierungen         Kinoerlebnis verändert Leonie: Im
fiktionalen Stoffen aus durch           an, die tief in ihrem »Doing Gender«       darauffolgenden Sommer gibt sie sich
a) ihre narrative Einbindung, die sie   liegen, symbolisiert Dinge, die kaum       ebenfalls nur mit Jungen ab, schneidet
durch den Kontext emotionalisiert,      auszusprechen sind, und gibt ihnen         ihre Haare kurz und zieht sich wie ein
b) eine emotional prägnante Inszenie­   Bilder von dem, was richtig und er­
rung, die eine Involvierung nahelegt    strebenswert ist.3
und
c) ihre prägnante Symbolisierung, in    Lernen durch Identitätsangebote
der sie Wünsche und Erfahrungen,        und Lesarten
Hoffnungen und Ängste der Men­          Fernsehen und Film können dabei
schen widerspiegeln und ihnen eine      nachhaltig zum Teil des Selbstbildes
spezifische Repräsentation geben.       werden. Ein Fallbeispiel aus einer
Das Bild des Einmarschs der Braut       Studie zur Bedeutung von Medienfi­
im angloamerikanischen Film ist         guren im Rahmen der Identitätsent­
z. B. mehr als nur der Höhepunkt der    wicklung von Mädchen und Jungen:
Geschichte. Aus der Perspektive der     Leonie, 10 Jahre, wird eine Assozia­
Frau steht der geleitende Brautvater    tionskarte vorgelegt, auf der »Mäd­
auch für Wertschätzung und Aner­        chen-Sein« steht. Frei und spontan
kennung durch den Vater. Sie ist nun    erzählt sie: »Das mag ich eigentlich
nicht mehr »sein kleines Mädchen«,      manchmal überhaupt nicht.« Schon
sondern er erkennt symbolisch ihre      seit Jahren hadert sie mit ihrem eige­
Selbstständigkeit und den erotischen    nen Mädchen-Sein. Sie möchte kein
Partner an, was gerade für den Va­      »typisches Mädchen« sein, schon gar
ter oft eine krisenhafte Erfahrung      nicht so, wie die ehemalige »Freun­
ist (Flaake 2003). Es ist aber nicht    din«, die sie verraten hat und ihr das
nur der Brautvater, sondern auch der    Leben in der Nachbarschaftsclique
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Junge an. Der Film gibt ihr die Ori­      rungswelten aufgreift. Mädchen sind             gerechtigkeit, Versagen, Gemein­
entierung, nach der sie gesucht hat.      in ihrer Kommunikation mit anderen              schaftsbildung, Individualität, dem
Bei genauerem Hinsehen wird im In­        auch manchmal widerständig. Sie ha­             Umgang mit unhaltbaren Idolbildern
terview aber auch deutlich, dass ihre     ben in ihrer geschlechterspezifischen           usw. Damit legt er bestimmte Lesar­
Deutungsmuster davon, »wie Jungs          Sozialisation gelernt, ihre aggressiven         ten (vgl. Hall 1992) des Inhalts nahe,
sind«, und vor allem »wie Mädchen         Impulse nicht durch körperliche Kab­            d. h. verschiedene Menschen werden
sind«, sehr dicht, zum Teil wortwört­     beleien oder im Wettkampf, sondern              ihn verschieden verstehen, es wird
lich aus dem Film übernommen sind.        eher verbal und auf der psychischen             aber eine Interpretation vorzugswei­
Hierzu gehört auch, dass Mädchen          Ebene auszutragen. Dies deuten wir              se nahegelegt: Junge-Sein ist etwas
eigentlich nur dann wirklich gut und      gesellschaftlich als »zickig«. Insofern         Tolles und bedeutet Freundschaft,
cool sind, wenn sie sich an die Jungs     stellt der Film dies nur etwas stereo­          Abenteuer, Wettkampf, Herausfor­
anpassen. Jungen hingegen dürfen          typisiert und überzogen dar. Auch die           derung etc. Dies sind Momente, die
sich auf gar keinen Fall Mädchen          Farbe Rosa ist die kollektiv akzep­             für Leonie ausgesprochen attraktiv
annähern.                                 tierte Farbe für Mädchen, die genutzt           sind, die sie aber dauerhaft in Konflikt
Der Film bzw. die Filmreihe Die Wil­      wird, um sie eindeutig als »nicht Jun­          mit ihrer eigenen Geschlechtlichkeit
den Kerle zelebriert das Junge-Sein.      ge« zu kennzeichnen. Setzt der Film             führen werden. Letztendlich ist sie ein
Dazu gehört neben Fußball und Zwei­       die Farbe Rosa zur Kennzeichnung                Mädchen und leidet ja auch gerade
radfahren besonders auch die Abgren­      von Mädchen-Sein und Weiblichkeit               unter der zu engen Geschlechterde­
zung vom Mädchen-Sein. Mädchen            überzogen ein, dann liegt das nicht             finition.
werden dabei über-stereotypisiert         jenseits der Realität. Er lässt nur             Auf das Bild mit den inneren Bil­
und vor allem im ersten Film nur auf      einfach aus, dass die »rosa Phase«              dern übertragen wird durch den Film
ihre Vorliebe fürs »Zurechtmachen«        von Mädchen meist vor dem Grund­                bereits vorhandenes, sozusagen war­
reduziert. Mädchen sind zickig, an­       schulalter liegt und es viele Mädchen           tendes Wissen aktiviert und kommt
stellig und höchstens zum Zujubeln        gibt, die Rosa nicht mögen. Der Film            in Bewegung, und zwar in potenziell
der »richtigen Kerle« geeignet. Kenn­     stereotypisiert, überzieht und stellt           angelegte Bahnen. Andere innere,
zeichen des Mädchen-Seins ist die         vereinfacht dar. Dennoch greift er              bisher wartende Bilder schließen sich
Farbe Rosa, die für Jungen, die rich­     gemeinsam getragenes Wissen auf,                ihm an und es entsteht der Eindruck:
tige Jungen sein wollen, unbedingt zu     was den Film in seiner Handlung für             »Ja, genau so ist es.«
vermeiden ist.
So positiv und wichtig es für Leonie
war, endlich die Symbolisierung eines
aktionsbetonteren Mädchen-Seins ge­
funden zu haben, so schwierig wird
es nun, sich selbst als Mädchen mit
ihren eigenen Identitätsfacetten zu in­
tegrieren. Eigentlich lackiert sie sich
gerne die Nägel und benutzt auch mal
Haarspray etc., aber genau das passt
jetzt nicht mehr und bringt sie letzt­
endlich in die nächste Identitätskrise.
Denn es ist eben nicht nur die Figur
Vanessa, die sie übernimmt, sondern       Vorhandenes Wissen wird aktiviert und die neuen Bilder werden besonders dann gut übernom-
auch die stereotypen Deutungsmus­         men, wenn sie den bisherigen »sitzenden« Informationen ähneln bzw. ein Anschluss (gemeinsames
                                          Marschieren, Bahnung typischer Pfade) möglich ist
ter von Mädchen- und Junge-Sein.
Im Bild der Karten: Heureka kommt
selten allein.                            Leonie überhaupt erst glaubhaft und             Mit dem aktivierten Wissen werden
Aber warum funktioniert dieser Me­        humorvoll macht.                                dann eventuell Kategorien gebildet,
chanismus der Stereotypisierung           Auf der Basis dieses gemeinsam                  wie Schachteln oder Dateien, und mit
selbst bei einem so reflektierten         geteilten Wissens (Mädchen sind zi­             einer Überschrift versehen. Leonie
und selbstbewussten Mädchen wie           ckig, auf ihr Äußeres fokussiert, lie­          bildete mit dem Film sozusagen die
­Leonie, die es doch eigentlich besser    ben Rosa etc.) erzählt der Film aus             Schachteln »So sind Mädchen« und
 wissen müsste?                           einer klar geschlechterspezifischen             »So sind Jungen«. Die Kennzeich­
 Zunächst »funktioniert« der Film so      Perspektive – nämlich aus der von               nung von Menschen findet unter der
 gut, weil er bereits vorhandene Erfah­   Jungen – die Geschichte von Un­                 Oberkategorie »Geschlecht« statt, die
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                                                                                             enten kommen kann. Beim Product
                                                                                             Placement fördert allein die mehrfa­
                                                                                             che, unauffällige Präsentation eines
                                                                                             Logos die positivere Einstellung zur
                                                                                             Marke. Dies passiert insbesondere
                                                                                             dann, wenn das Placement mehrfach
                                                                                             unauffällig dargeboten wird, die Zu­
                                                                                             schauer den Beitrag aufmerksam und
                                                                                             interessiert verfolgen und die Beein­
                                                                                             flussung nicht bemerken (Schemer/
                                                                                             Matthes/Wirth 2007). Der vermutete
                                                                                             Grund hinter derartigen Effekten: Je
                                                                                             öfter ein Reiz verarbeitet wird, desto
                                                                                             besser wird die Bahnung im implizi­
                                                                                             ten Gedächtnis, was wiederum dazu
                                                                                             führt, dass die Verarbeitung leichter
                                                                                             und flüssiger wird. Das Bekannte ist
Medien bieten Kategorisierungen, hier die Bilder vom Junge-Sein und typischen Mädchen-Sein   uns sympathischer, es sei denn, wir
                                                                                             haben es als problematisch eingestuft.
sich in 2 polarisierte und aus Leonies        Mal gesehen, gelesen oder gehört,
Perspektive hierarchisierte Gruppen           beurteilen Menschen sie als wahrer Lernen durch den kommunikativen
(Jungen besser, Mädchen nicht so              und glaubwürdiger als beim ersten Umgang mit dem Medien­inhalt im
gut) teilen. Dieses so gebildete und          Mal. Wir halten eine zweimal gehörte Alltag
abgespeicherte Wissen war dann im             Information sogar oft für wahrer als Natürlich ist es nie nur der Medien­
Interview leicht abrufbar. Auf die            eine andere, dieser widersprüchlichen text, der die inneren Bilder prägt,
Assoziationskarte »Mädchen-Sein«              Information (zusammengefasst u. a. sondern vor allem die individuelle
zitiert Leonie dann nahezu wortwört­          bei ­Dechêne et al. 2010). Durch die Perspektive und der soziale Kontext
lich den Film und ist sich auch sicher,       häufige und immer wieder ähnliche des Individuums. Gerade in der An­
dass Mädchen so und Jungs so sind.            Repräsentation haben Informationen eignung von Medieninhalten kann
Das heißt, Fernsehen, wenn es in die          eine größere Chance, für unseren dies hoch bedeutsam sein. Medien
Sinnperspektive der Menschen passt,           Wissensaufbau bedeutsam zu wer­ entfalten ihre Bedeutung in manchen
kann Erfahrungen bündeln und kate­            den. Bestimmte Darstellungsformen Fällen erst in der Kommunikation mit
gorisieren. Diese Kategorien gehen            und Bedeutungssetzungen werden so anderen. Die Castingshows Deutsch­
dann ins Weltwissen ein.                      kultiviert und für uns schnell selbst­ land sucht den Superstar (DSDS) und
                                              verständlich, d. h. sie werden im All­ Germany´s Next Topmodel (GNTM)
Lernen durch die Anhäufung                    tag nicht mehr hinterfragt. Einmal werden beispielsweise häufig in der
ähnlicher Repräsentationen                    erworbene innere Bilder sind gewis­ Familie gesehen und schon während
Innere Repräsentationen können                sermaßen widerständig gegen Infra­ der Rezeption wird über die Inhalte
durch ein einziges Medienerlebnis             gestellung und Veränderung. Einmal gesprochen. Am nächsten Tag sind
geprägt sein, häufig sind es aber auch        da, schlagen sie sozu­
wiederkehrende Momente in den Me­             sagen Wurzeln. Diese
dienrepräsentationen, die unser Welt­         Prozesse können sogar
wissen prägen. Weil »immer wieder«            jenseits unserer be­
im Film der Vater die Braut zum Altar         wussten Wissensauf­
führt, scheint dies der Normalfall zu         nahme stattfinden. Der
sein. Manchmal kultiviert uns schon           sogenannte »MME«
allein die Häufigkeit, mit der bestimm­       (Mere-Exposure-Ef­
te Dinge gezeigt und erzählt werden.          fekt) z. B. weist nach,
Diese Prozesse sind nicht immer den           dass es allein durch die
bewussten Teilen unseres Gedächt­             mehrfache Darbietung
nisses zugänglich, sondern sind im            von Personen, Situa­
impliziten Bereich gespeichert. Nach­         tionen oder Dingen zu
zuweisen ist z. B. der »Truth-Effekt«:        einer positiveren Ein­ Durch die Häufung und Wiederkehr des immer wieder Ähnlichen
Wird eine Information ein zweites             stellung beim Rezipi­ erscheint es uns glaubhafter und positiver
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sie das Thema Nr. 1 in der Schule.             dig, eigenwillig, interpretieren um,                       Götz, Maya: Begeisterung bei den Kindern, Be­
                                                                                                          sorgnis bei den Eltern. In: TelevIZIon, 12/1999/2,
Über DSDS z. B. reden 82 % der 9-              sind aber auch anfällig und überneh­                       S. 54-63.
bis 19-Jährigen am nächsten Tag auf            men Dinge in ihre inneren Bilder, die                      Götz, Maya; Cada, Julia: Die Creme von Lillifee
dem Schulhof. Inhaltlich geht es u. a.         die Sicht auf sich und die Welt ver­                       »riecht nach Rosa«. In: TelevIZIon, 22/2009/2,
                                                                                                          S. 30-35.
darum, »wer sich blamiert hat, wer             zerren. Insbesondere im Bereich des
                                                                                                          Hall, Stuart: Encoding/Decoding. In: Centre for
gut war, wer es verdient hat weiter­           Kinder- und Jugendfernsehens haben                         Contemporary Cultural Studies (Hrsg.): Culture,
zukommen und wer nicht« (Mädchen,              Medienschaffende hier eine nicht zu                        media, language. London: Routledge 1992, S. 128-
16, Realschule). In dieser Kommu­                                                                         138.
                                               unterschätzende Verantwortung. Vie­
                                                                                                          Holler, Andrea; Bachmann, Sabrina: »Albträume
nikation werden Werte abgeglichen              les sehen die jun­gen Zuschauenden                         hatte ich lange«. Wo gemeinsames Fernsehen über­
und Identitäts- und Selbstinszenie­            das erste Mal im Fernsehen und das                         fordert. In: TelevIZIon, 22/2009/1, S. 44-47.
rungsmomente unter den Freunden                kann prägend sein. Qualität heißt hier                     Horton, Donald; Wohl, Richard: Mass communica­
diskutiert. Gerade bei den Jüngeren                                                                       tion and para-social interaction: Observations on
                                               vor allem Reflexion darüber, welche                        intimacy at a distance. In: Psychiatry, 19/1956/3,
ist es durchaus üblich, Teile aus den          Bilder, Informationen und Geschich­                        S. 215-29.
Castingshows nachzuspielen. Sie sin­           ten Kinder und Jugendliche in ihrer                        Hüther, Gerald: Männer – Das schwache Geschlecht
gen allein vor dem Spiegel Lieder,             Entwicklung fördern, ihnen helfen,                         und sein Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Rup­
                                                                                                          recht 2009.
machen Gesangscontests oder spie­              sich selbst und ihre Umwelt zu ver­
                                                                                                          Klemm, Ruth E.: Die Kraft der inneren Bilder. Ent­
len Catwalk auf Kindergeburtstagen             stehen und die sie bei der Gestaltung                      stehung, Ausdruck und therapeutisches Potential.
(s. Götz/Gather in diesem Heft). Die           ihrer Lebenswelt und Zukunft pro­                          Basel: Schwabe 2003a.
anhand der Sendung aufgebauten in­             duktiv unterstützen.                                       Klemm, Ruth E.: The formation of inner pictures –
                                                                                                          an overview. In: TelevIZIon, 16/2003b/1, S. 6-10.
neren Bilder werden so weiter ausdif­
                                                                                                          Kühnl, Iris; Schultheis, Klaudia: Mädchenforschung
ferenziert und vor allem gewertet und                                                                     – aktuelle Ergebnisse, Desiderata, Probleme. In:
mit anderen abgeglichen.                                    ANMERKUNGEN                                   Matzner, Michael; Wyrobnik, Irit (Hrsg.): Handbuch
                                                                                                          Mädchen-Pädagogik. Weinheim und Basel: Beltz
                                               1
                                                   In merowingischer und fränkischer Zeit war die         2010, S. 376-389.
                                                   vorherrschende Eheform die Muntehe. In ihr wurde       Rendtorff, Barbara: Kindheit, Jugend und Ge­
                                                   die Munt – im Sinne von Herrschaft – durch den         schlecht. Einführung in die Psychologie der Ge­
                                                   Vater an den Ehemann übergeben. Dafür wurde            schlechter. Weinheim: Beltz 2003.
                                                   vom Bräutigam ein Muntgeld übergeben (Wett­            Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das
                                                   laufer 1999, S. 86). Die zeremonielle Übergabe         Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt: Suhr­
                                                   der Braut gegen Übergabe des Brautschatzes wird        kamp 2003.
                                                   vielfach als der Ursprung der sich später ent­
                                                   wickelnden Trauungshandlung gesehen. In einer          Schemer, Christian: Wem Medienschönheiten scha­
                                                   Übersetzung des Uplandslagen (1296) heißt es:          den. Die differenzielle Anfälligkeit für negative Wir­
                                                   »… alsdann präsentierte der Vater sein Tochter         kungen attraktiver Werbemodels auf das Körperbild
                                                   dem Werber mit solchen Worten ›Ich gib dir hiermit     junger Frauen. In: Zeitschrift für Medienpsycholo­
                                                   mein Tochter zu ehren zu deinem ehelichen Weib         gie, 19/2007/2, S. 58-67.
Lernen mit Medien findet im sozialen Kontext       auff mitten des schlaffbeths zu Thüren und schüs­      Schemer, Christian; Matthes, Jörg; Wirth, Werner:
statt und wird im Alltag verhandelt                seln zu allem dritten Gelt zu besitzen in fahrenden    Werbewirkung ohne Erinnerungseffekte? – Eine ex­
                                                   und ligenden Gütern und zu aller gerechtigkeit.‹«      perimentelle Studie zum Mere Exposure-Effekt bei
                                                   (Carlsson 1965, S. 255)                                Product Placements. In: Zeitschrift für Medienpsy­
                                               2
                                                   Befragung n= 731 (6-12 Jahre) in der iconkids &        chologie, 19/2007/1, S. 2-12.
                  Fazit                            youth Mehrthemenumfrage, Oktober bis November          Shahar, Shulamith: Die Frau im Mittelalter. König­
                                                   2009, im Auftrag des IZI                               stein/Ts.: Äthenäum 1981.
Menschen lernen vom Fernsehen, be­             3
                                                   Der Eingang von Fernsehinhalten in die inneren
                                                                                                          Wettlaufer, Jörg: Das Herrenrecht der ersten Nacht.
                                                   Bilder ist dabei nicht auf emotionalisierte fiktion­
wusst oder ohne es zu merken. Die Bil­             ale Fernsehmomente begrenzt. Sie finden sich auch
                                                                                                          Hochzeiten, Herrschaft und Heiratszins im Mittelal­
                                                                                                          ter und in der frühen Neuzeit. Frankfurt/New York:
der, Szenen und Deutungsmuster gehen               bei non-fiktionalen Formaten, die durch gelun­
                                                                                                          Campus 1999.
                                                   gene Bilder und Szenen, die den Zuschauenden
in unsere inneren Bilder ein. Wir lernen           prägnante Erkenntnisse bringen, vor allem die          Cards by Hansi Helle
durch die emotionalen und kognitiven               Kognition ansprechen (s. Schlote in diesem Heft)
Erlebnisse beim Fernsehen, steigen in
die Rezeptionsräume ein und nehmen
Identitätsangebote auf. Es entstehen                              LITERATUR
innere Repräsentationen davon, wie             Carlsson, Lizzie: »Jag giver dig min dotter«. Trolov­                    DIE AUTORIN
etwas richtig und normal ist. Fernse­          ning och ätkenskap i den svenska kvinnans äldre his­
hen liefert neue Bilder, differenziert         toria, 2. Bde. Rätthistoriskt Bibliotek/Skrifter utgivna
                                               av institut för rättshistorikt Forskning, Ser. 1, Bd. 8,                            Maya Götz, Dr.
sie aus, kann kategorisieren, fokus­           20. Stockholm: Nordiska bokhandeln 1965/1972.                                       phil., ist Leiterin
sieren, kann deuten, macht Dinge               Dechêne, Alice; Stahl, Christoph; Hansen, Jochim;                                   des IZI und des
kommunizierbar und eben auch ver­              Wänke, Michaela: The truth about the truth: A meta-
                                                                                                                                   PRIX JEUNESSE
                                               analytic review of the truth effect. In: Personality and
handelbar. Natürlich sind es immer             Social Psychology Review, 14/2010/2, S. 238-257.                                    I N T E R N AT I O ­
die Menschen, die etwas aufnehmen              Flaake, Karin: Weibliche Adoleszenz: Zur Sozialisa­                                 NAL, München.
oder ignorieren. Sie sind widerstän­           tion junger Frauen. Weinheim: Beltz 2003.
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