Wer war Charles Darwin? - Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien)
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Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien) Wer war Charles Darwin? Zur Aufklärung über einen Menschen und sein Werk Gleich vorweg: Darwin war nicht der Ent- schied zwischen einem Prozess und einer decker der Evolution und auch nicht der, Theorie sollten sich die Pisa-Tester2 ein- der behauptete, dass der Mensch vom mal hinter die Ohren schreiben. (Sonst Affen abstammt. Beide Missverständnisse könnte man ja noch glauben, dass etwa seines Werkes halten sich jedoch so hart- auch die Schwerkraft eine Theorie sei …) näckig, dass ich meine, sie bei jeder pas- Freilich kommt im Falle der Evolutions- senden Gelegenheit auch als solche ent- theorie noch das (bildungspolitische) Pro- larven zu müssen. Denn auf diese Miss- blem hinzu, dass sie – mittlerweile auch verständnisse stößt man mitunter selbst in Deutschland – von Kreationisten ver- bei an sich gebildeten und auch sonst suchsweise unterwandert wird.3 Und hier durchaus „unverdächtigen“ Zeitgenossen. stehen wir bei einem in den Naturwissen- Sie gehen einher mit einem falschen Bild schaften doch ziemlich einmaligen Phäno- von Evolution und Evolutionstheorie und men: Dass eine 150 Jahre alte, durch un- einer in diesem Zusammenhang schon no- zählige Belege erhärtete Theorie (sic!) über- torischen Sprachverwirrung. Beim Pisa- haupt noch Anlass zu Zweifeln gibt, und Test 2006 hatten Jugendliche im Bereich dass den Predigern pseudowissenschaft- Naturwissenschaften auch diese Frage zu licher Irrlehren, die die Evolutionstheorie beantworten: „Welche der folgenden Aus- buchstäblich verdammen, scheinbar im- sagen trifft am besten auf die Evolutions- mer mehr Menschen in die Arme laufen. theorie zu?“ Mögliche Antworten waren: Mit dieser Theorie ist Darwins Theorie der „A. Die Evolutionstheorie gilt für Tiere, Evolution durch natürliche Auslese oder nicht aber für den Menschen.“ „B. Die Selektion gemeint, die der Engländer in Evolution ist eine Theorie, die durch For- seinem 1859 erschienenen Werk On the schung bewiesen worden ist.“ „C. Die Origin of Species begründete,4 der aber Evolution ist eine wissenschaftliche Theo- eben nicht der Entdecker der Evolution rie, die sich gegenwärtig auf zahlreiche schlechthin war. Dass die Organismen- Beobachtungen stützt.“ Die richtige Ant- arten veränderlich, die heute existierenden wort wäre C gewesen.1 Warum eigentlich Lebewesen Resultate mehr oder weniger nicht B? Egal, eins scheinen die Pisa-Ma- langer Prozesse des evolutiven Wandels cher nicht zu wissen (und mir persönlich sind und in früheren Zeiten andere Lebe- genügt das schon, um ihnen und ihren gan- wesen existiert haben als heute, wurde zen Tests mit Argwohn zu begegnen): schon vor Darwin vermutet, und der ers- Dass nämlich die Evolution keine Theo- te Evolutionstheoretiker im engeren Sinn rie sein kann! Die Evolution ist ein Prozess, war der französische Naturforscher Jean- nämlich der der Veränderung der Organis- Baptiste de Lamarck (1744-1829), der – menarten, eine Theorie hingegen – eben eine interessante historische Koinzidenz – die Evolutionstheorie – soll diesen Prozess sein diesbezügliches Werk ausgerechnet (kausal) erklären. Diesen kleinen Unter- in Darwins Geburtsjahr veröffentlichte.5 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 7
Darwins Verdienst besteht primär darin, Darwins Reise zur Evolutionstheorie dass er einen Mechanismus – eben die na- Alles begann, eigentlich recht harmlos, mit türliche Auslese – gefunden hatte, der den einer Schiffsreise. Am 27. Dezember 1831 Artenwandel hinreichend erklärt. Aller- verließ, nach mehreren gescheiterten Ver- dings enthält seine Selektionstheorie eine suchen, das Vermessungsschiff „Beagle“ Reihe von philosophischen Implikationen, den Hafen von Plymouth. An Bord be- wodurch erst seine revolutionäre Wirkung fand sich der knapp dreiundzwanzigjäh- verständlich wird. So wie die Etablierung rige Charles Darwin, ein begeisterter Na- dieser Theorie einen geistigen Umbruch turforscher, der aber – kurz zuvor in Cam- erforderte, so bedeutete ihre Akzeptanz bridge – ein Studium der Theologie ab- eine geistige Revolution,6 die allerdings solviert hatte. Er sollte dem Kapitän Ge- bis heute nicht abgeschlossen ist. Zwar sellschaft leisten und nebenher interessan- kann „die gesamte Philosophie nach dem ten naturkundlichen Objekten seine Auf- Auftreten der Evolutionstheorie niemals merksamkeit widmen. (Dass er offiziell als mehr das sein …, was sie vorher war“7, Naturwissenschaftler auf die „Beagle“ ein- aber es ist nicht zu übersehen, dass viele geladen wurde, ist eine schöne Legende.) Philosophen (insbesondere im deutschen Die auf drei Jahre geplante Reise, die über Sprachraum) nach wie vor so tun, als ob die gesamte Südhalbkugel der Erde führ- Darwin nie existiert hätte und es die Evo- te, dauerte am Ende fünf Jahre. Insbeson- lutionstheorie gar nicht gäbe. Es ist höchs- dere sollten Küsten in Südamerika vermes- te Zeit, dass sich dies – im Interesse un- sen werden.10 Es kann heute längst kein seres eigenen Selbstverständnisses – än- Zweifel daran bestehen, dass diese Reise dert. Das „Darwin-Jahr“ ist der beste An- nicht allein für Darwins Biographie, seine lass dafür. Wenn der amerikanische Palä- persönliche und intellektuelle Entwicklung, ontologe und Evolutionsforscher George sondern auch für den weiteren Verlauf der G. Simpson anlässlich des 100jährigen Be- Wissenschaftsgeschichte von ganz ent- stehens der Origin of Species die Parole scheidender Bedeutung war und die (Na- ausgab One Hundred Years Without Dar- tur-)Wissenschaften zu neuen Ufern führ- win Are Enough8, dann dürfen wir heute te. mit noch größerem Nachdruck sagen „150 Charles Darwin, Sohn des angesehenen Jahre ohne Darwin sind schon zuviel“! und wohlhabenden Arztes Dr. Robert Wa- Nicht, dass es um Darwin jemals still ge- ring Darwin, kam am 12. Februar 1809 in wesen wäre; aber die ganze Tragweite sei- der englischen Kleinstadt Shrewsbury zur nes Denkens wurde vielfach ignoriert, sein Welt. Sein Vater hatte von dem Jungen, Werk wurde häufig falsch verstanden oder der sich seit frühester Kindheit für Pflan- – buchstäblich – verteufelt.9 zen und Tiere interessierte, keine beson- Was also hat es mit Charles Darwin auf ders hohe Meinung. Er ließ ihn Medizin sich? Worin liegt die Konsequenz seiner studieren, was sich bald als Fehler erwies, Gedankenwelt? Warum ist sein Werk für weil Charles’ sensibles Gemüt – als er an unser Selbstverständnis so wichtig? der Operation an einem Kind teilnehmen musste, lief er davon – diesem Studium nicht gewachsen war und es nach einem knappen Jahr abbrach. Also wurde er zu 8 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
einem Studium der Theologie abkomman- trieben worden, ohne dass deswegen die diert, welches er denn auch nach drei Jah- biblische Schöpfungslehre ernsthaft ins ren erfolgreich beendete. Es muss uns im- Wanken geraten wäre. Erst auf seiner Rei- mer wieder aufs Neue paradox erschei- se kamen Darwin Zweifel an der Schöp- nen, dass jener Mann, der dem Christen- fungsgeschichte, und schon kurz danach tum und überhaupt jeder Religion, wenn- begann er sich Notizen über Artenvielfalt gleich unbeabsichtigt, eine schwere Wun- und Artenentstehung zu machen, die sich de zufügen sollte, ausgerechnet ein Theo- in über zwanzig Jahren dann zu einem logiestudium zum Abschluss gebracht hat- Gedankengebäude verdichteten, das die te und befugt war, fortan ein Priesteramt Welt erschüttern sollte. Darwins privates der Anglikanischen Kirche auszuüben. Das Leben nach der Reise verlief in geordne- hätte er zweifelsohne auch getan, wäre er ten Bahnen – ein typischer Viktorianischer nicht, was ihm der Zufall seines Lebens Lebenslauf. Er heiratete seine Kusine aus bescherte, auf die Weltreise mit der „Bea- sehr wohlhabendem Hause und ließ sich gle“ eingeladen worden. Dass Darwin, der mit seiner Frau in der Nähe von London, schon lange von einer Forschungsfahrt ge- in dem kleinen Dorf Downe auf einem träumt hatte, mitreisen durfte, war aber Landsitz nieder, dem Down House, wo nicht von vornherein selbstverständlich; er sich ungestört seinen wissenschaftlichen zuerst musste sein Onkel die schwerwie- Arbeiten widmen konnte und bereits, im genden Bedenken zerstreuen, die sein Va- Alter von dreiunddreißig Jahren, gewisser- ter dagegen aufgeführt hatte. Man sieht: maßen seinen Alterssitz fand.12 Er unter- Manches Lebenswerk muss, um überhaupt nahm in den ihm verbleibenden vier Jahr- als solches möglich zu werden, zunächst zehnten seines Lebens keine Reisen mehr, Hindernisse beseitigen. Freilich hätte Dar- war niemals gezwungen, einem „Brotbe- win auch als Landpfarrer Pflanzen sammeln, ruf“ nachzugehen, hielt keine öffentlichen Insekten bestimmen und Tauben züchten Vorträge und beteiligte sich nicht an den können – viele Naturforscher seiner Zeit wa- vielen öffentlichen Diskussionen um sein ren hauptberuflich Theologen –, ob ihm aber Werk. Wenn auch Darwin von seiner Welt- unter solchen Voraussetzungen sein „großer reise mit der „Beagle“ nicht mit der Evo- Wurf“ gelungen wäre, ist mehr als fraglich, lutionstheorie im Gepäck nach England einmal ganz abgesehen davon, dass die Evo- zurückkehrte, waren jene fünf Jahre doch lutionstheorie im krassen Widerspruch zu ganz entscheidend für den Weg zu dieser den theologischen Dogmen stand und Theorie. schwerlich von einem Priester ersonnen Zunächst aber sollte man sich daran erin- und vertreten werden konnte. nern, dass Darwin ein Naturforscher mit Als Darwin mit der „Beagle“ losfuhr, war selbst für das 19. Jahrhundert ungewöhn- er, wie die allermeisten seiner Zeitgenos- lich breiten Interessen war. Die Fülle des sen, von der Schöpfung überzeugt. Seine naturkundlichen Materials, das er vor al- naturkundlichen Interessen, die er während lem in Südamerika während seiner Land- des Theologiestudiums maßgeblich ver- aufenthalte sammelte, war gewaltig. Er in- tiefen konnte11, standen nicht im Wider- teressierte sich für geologische Phänome- spruch dazu. Schließlich war ja seit über ne ebenso wie für Fossilien, Pflanzen und zwei Jahrtausenden Naturwissenschaft be- Tiere. Allem, was er beobachtete und sam- Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 9
melte, widmete er größte Aufmerksamkeit, On the Origin of Species ist denn auch, auf Systematik und das Erkennen von Zu- wie er selbst darin schreibt, „nichts wei- sammenhängen stets bedacht. Viele, ja, die ter als eine lange Kette von Beweisen“16 – meisten seiner Werke haben mit Evoluti- Beweisen für den evolutiven Artenwandel on und Evolutionstheorie nichts zu tun als solchen und, vor allem, für die Wir- oder können erst im Nachhinein damit in kungsweise der Selektion. Es wundert da- Verbindung gebracht werden: Ein mehr als her nicht, dass er über zwei Jahrzehnte an 1000 Seiten starker Band über Ranken- dem Werk arbeitete, wenngleich ihm man- fußkrebse, sechs Bücher über botanische che Ideen schon während seiner Weltrei- Fragen, ein Buch über Korallenriffe usw.13 se dämmerten: Man würde sich also „an Darwin als ei- nen herausragenden Wissenschaftler erin- „Als ich mich als Naturforscher an nern, wenn er nie ein Wort über Evolution Bord des ‚Beagle’ befand, war ich aufs geschrieben hätte.“14 höchste überrascht durch gewisse Merk- Und doch sind es in erster Linie die Idee würdigkeiten in der Verbreitung der Tie- der Evolution und ihre Erklärung durch re und Pflanzen Südamerikas sowie die natürliche Auslese, die Darwin unsterb- durch die geologischen Beziehungen lich gemacht haben und hinsichtlich ihrer der gegenwärtigen Bewohner dieses Bedeutung und Tragweite weit über die Erdteils zu den früheren … [Mir] schie- Naturwissenschaften hinausragen. Wie ge- nen diese Tatsachen Licht zu werfen sagt, Darwin war nicht der Entdecker der auf die Entstehung der Arten, das Ge- Evolution, wenngleich er sie – da er von heimnis alles Geheimnisse … Nach mei- seinen Vorläufern zunächst nichts wusste ner Heimkehr …wurde mir immer kla- – sozusagen für sich noch einmal entde- rer, daß sich vielleicht durch Sammeln cken musste. Man erkannte vor Darwin, und Vergleichen aller damit zusammen- dass sich die Erde stetig wandelt und dass hängenden Tatsachen etwas zur Lö- Arten einander ablösen, doch sah man die sung der Frage tun ließe.“17 Arten weitgehend als konstant: sie entste- hen und sterben aus, ohne sich selbst zu „Aus dem Kampf der Natur …“ verändern. „Erst mit Darwin wurde auch Die bedeutendste Schlussfolgerung Dar- diese letzte Rückzugsposition des stati- wins in On the Origin of Species war, dass schen Schöpfungsglaubens unhaltbar. in der Natur keine Absicht, kein planen- Mehr als jeder andere hat er dafür gesorgt, der Geist waltet, sondern die mehr oder dass die Vorstellung von der Veränderung weniger blinde Kraft der Selektion allein der … Arten zur allgemeinen Überzeugung den Artenwandel bewirkt. „Aus dem wurde.“15 Seine „Reise“ zur Evolutions- Kampf der Natur, aus Hunger und Tod“18 theorie, im wörtlichen wie im übertrage- geht demnach die Entstehung immer kom- nen Sinne des Wortes, war freilich ein mü- plexerer Arten hervor. Darwins Metapher hevoller Weg. Der akribische Naturfor- struggle for existence wurde aber – und scher war bestrebt, seine Theorie der na- wird nach wie vor – häufig gründlich miss- türlichen Auslese sehr genau zu belegen, verstanden. Da „struggle“ gemeinhin mit durch eine Fülle empirischer Tatsachen zu „Kampf“ übersetzt wurde, waren – jeden- untermauern. Sein umfangreiches Werk falls im Deutschen – die Missverständ- 10 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
nisse geradezu vorprogrammiert. Die kor- usw. besonders nützlich. Nicht den tap- rektere Übersetzung wäre etwa „Ringen“19 feren Draufgängern ist Erfolg im Leben oder, noch besser, einfach „Wettbewerb garantiert, sondern denjenigen, die, auf ums Dasein“. Denn tatsächlich meinte welche Weise auch immer, relativ länger Darwin nicht einen Kampf „Mann gegen am Leben bleiben. Man darf Darwins For- Mann“, wenngleich ein solcher in der Na- mel vom Überleben der Tauglichsten ohne tur durchaus auch stattfindet, sondern den weiteres auch einmal mit Überleben der Umstand, dass die Individuen jeder Art – Feiglinge übersetzen.21 wohlgemerkt: die Individuen derselben Art Die eigentlich revolutionierende Wirkung und nicht Arten – miteinander um Res- von Darwins Origin of Species ging aber sourcen (vor allem Nahrung) wetteifern. davon aus, dass er die Teleologie verab- Er verwies dabei ausdrücklich auf Pflan- schiedete. Der Theologiestudent Darwin zen, die auch im Wettbewerb (um Licht, war – wen wundert’s – noch davon über- Feuchtigkeit usw.) miteinander stehen, zeugt gewesen, dass sich Vielfalt und Ord- ohne deshalb miteinander zu „kämpfen“. nung der Lebewesen einem intelligenten Darwins zweite Metapher, nämlich survi- Planer verdanken. Er war, wie alle Theolo- val of the fittest, „Überleben der Taug- giestudenten (und nicht nur sie), unter dem lichsten“, die er von dem Philosophen Einfluss des „Naturtheologen“ William Herbert Spencer übernahm20, hat nicht Paley gestanden. Die Naturtheologen, de- minder zu Missverständnissen geführt, ren Ideen in der Antike verwurzelt sind, und zwar (auch ideologisch!) zu ganz gra- deuteten alle Phänomene der Natur als vierenden. Vor allem geistert seit langem Werke Gottes, schöpften aus der Natur die Vorstellung herum, Darwin habe vom zugleich Gottesbeweise, und vermochten „Überleben des Stärksten“ gesprochen, – da die Existenz Gottes für sie nun ein- was, mit Verlaub gesagt, ein ziemlicher mal eine unerschütterliche Tatsache war Schwachsinn ist. Nicht der Riese, der alle – sämtliche an Lebewesen beobachtbaren anderen (Individuen seiner Art) zertram- Strukturen, Funktionen und Verhaltenswei- pelt, ist der Tauglichste! Tauglichkeit be- sen mit einem weisen Schöpfergott in Ein- misst sich am Fortpflanzungserfolg, und klang zu bringen. On the Origin of Species wer dabei besonders erfolgreich ist, ver- war Darwins (späte) Antwort darauf: Die fügt ganz einfach über bestimmte Eigen- zweckvolle Organisation der Lebewesen schaften, die ihn ein wenig „besser“ ma- erklärte er nunmehr ohne Rückgriff auf chen als andere. Der Hase etwa, der et- einen (göttlichen) Planer und bedurfte der was schneller laufen kann als seine Artge- Teleologie als einer universalen, kosmi- nossen, wird mit hoher Wahrscheinlich- schen Zweckmäßigkeit nicht mehr.22 keit tauglicher sein als diese, weil er sich Wiewohl er, als sehr genau beobachten- effektiver vor Feinden zu schützen weiß der Naturforscher, die minutiös aufeinan- (was ihm, falls er nicht aus anderen Grün- der abgestimmten Strukturen und Funk- den frühzeitig hinweggerafft wird, eben ei- tionen der Lebewesen zu erkennen, ja, zu ne durchschnittlich höhere Lebenserwar- bewundern wusste, war sich Darwin dar- tung beschert). Es geht nicht darum, sich über im Klaren, dass doch alles die natür- durch Kraft hervorzutun. Oft sind gerade liche Auslese allein bewirken könne – und Strategien wie Davonlaufen, Verstecken dass die Natur obendrein kein paradiesi- Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 11
scher Garten sei. Sein dynamisches Natur- geschieht – zufällig. Auch wir Menschen bild trägt der Tatsache Rechnung, dass waren nicht von Anfang an geplant und keine Art „perfekt“ konstruiert und sozu- sind, entgegen einer nach wie vor weit sagen für die Ewigkeit geschaffen sei. verbreiteten Ansicht, nicht das Endpro- Daher zog er auch das Aussterben der Ar- dukt der Evolution. ten gebührend in Betracht. Verständlicherweise sorgte Darwin für große Unruhe unter Theologen und ande- „Die Theorie der natürlichen Zuchtwahl ren gläubigen Menschen, wenn auch man- beruht auf der Annahme, daß jede neue che Theologen sein Werk sogar bewun- Varietät und schließlich jede neue Art derten und zugleich optimistisch waren, dadurch hervorgebracht und erhalten dass es die „Wahrheiten“ der Bibel nicht wird, daß sie Vorteile über Mitbewer- erschüttern würde.25 Wie heute die Ver- ber erlangt; daraus ergibt sich fast un- fechter des Konzepts intelligent design vermeidlich der Untergang minder Be- auf breiter Front demonstrieren, fällt es günstigter Formen. Es ist wie bei unse- nach wie vor vielen Menschen schwer, ren domestizierten Tieren und Pflanzen: sich damit abzufinden, dass in der Evolu- wenn eine neue, etwas verbesserte Va- tion kein „planender Geist“ waltet, son- rietät entsteht, so ersetzt sie vor allem dern dass die Entwicklungsgeschichte des die minder verbesserten Varietäten in Lebens auf der Erde vielmehr an die Akti- ihrer Umgebung. Wird sie noch weiter vitäten eines blind und opportunistisch verbessert, so verbreitet sie sich in der wirkenden Chaoten erinnert. Daher ist Nähe und Ferne … und nimmt den Platz nichts in der Evolution für die Dauer be- anderer Rassen in anderen Gegenden stimmt, Krisen und Katastrophen gehö- ein. Das Erscheinen neuer Formen und ren sozusagen zum evolutionären Alltag.26 das Verschwinden alter hängt also … Dass sich viele Menschen damit nicht ab- eng zusammen.“23 finden können oder wollen, ist ein psycho- logisches Problem, das mit der Sinnfrage Mit anderen Worten: In der Natur liegen zusammenhängt, an dieser Stelle aber nicht Aufbau und Zerstörung dicht beisammen, behandelt werden kann. macht Altes Neuem Platz.24 Allerdings verschwindet Altes nicht, damit Neues Die Abstammung des Menschen entstehen kann – Arten sterben, etwa aus Darwins zweites evolutionstheoretisches ökologischen Gründen einfach aus, ohne Hauptwerk erschien 1871 unter dem Titel dass andere Arten an ihrer Stelle geplant The Descent of Man. Hatte er in Origin wären. A posteriori sitzen wir gern dem of Species lediglich angedeutet, „Licht Irrtum auf, dass der stammesgeschichtli- wird auch fallen auf den Menschen und che Wandel der Organismen zielgerichtet seine Geschichte“27, so kam er nun – nach, verläuft, weil wir in erster Linie seine (der- wie immer, akribisch zusammengetrage- zeitigen) Ergebnisse sehen. Ein vorurteils- nen Belegen und stringenten Überlegun- freier Blick auf die Entwicklung des Le- gen – zu der Schlussfolgerung, „daß der bens legt aber die Vermutung nahe, dass Mensch von einer weniger hoch organisier- es auch ganz anders hätte kommen kön- ten Form abstammt“28. Diese Schlussfol- nen. Vieles in der Evolution geschah – und gerung war zum damaligen Zeitpunkt al- 12 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
lerdings nicht mehr neu und revolutionär. dass Schimpansen, Gorillas und Orang- Thomas Henry Huxley, Darwins großer Utans unsere nächsten Verwandten in der Fürsprecher in England, und Ernst Hae- Tierwelt sind. Hier aber ist nicht der Ort, ckel, der sich besondere Verdienste um darauf näher einzugehen. die Verbreitung Darwins in Deutschland Darwins The Descent of Man enthält je- erwarb, hatten die „Affenabstammung“ doch sozusagen einige Besonderheiten, des Menschen längst dargetan. So stellte die mehr als nur flüchtige Aufmerksam- Haeckel in einem Vortrag anlässlich der keit verdienen. In mehreren Kapiteln be- Versammlung der deutschen Naturfor- handelt Darwin die geistigen, sozialen und scher und Ärzte 1863 folgendes fest: moralischen Fähigkeiten des Menschen und weist schlüssig nach, dass unsere „Was uns Menschen … betrifft, so hät- Spezies auch in dieser Hinsicht in der Evo- ten wir also … als die höchst organi- lution tief verwurzelt ist. Über unsere mo- sierten Wirbelthiere unsere uralten ge- ralischen Fähigkeiten lesen wir folgendes: meinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säugethieren, weiterhin in Känguruar- „[Ihr] Grund liegt in den sozialen In- tigen Beutelthieren und noch weiter hin- stinkten, worin die Familienbande mit- auf in der sogenannten Sekundärperiode eingeschlossen sind. Diese Instinkte in Eidechsenartigen Reptilien, und end- sind sehr kompliziert und geben bei nie- lich in noch früherer Zeit, in der Primär- deren Tieren besondere Veranlassung periode, in niedrig organisierten Fischen zu gewissen Tätigkeiten; aber die be- zu suchen.“29 deutungsvollsten Elemente sind Liebe und Sympathie. Das ließ an Deutlichkeit schon nichts mehr Tiere mit sozialen Instinkten haben Ver- zu wünschen richtig. Der heutige Mensch gnügen an der Gesellschaft anderer, lässt sich demnach in den „Stammbaum“ warnen einander in Gefahr, verteidigen des Lebens einfügen und ist mit allen Or- und helfen einander bei vielen Gelegen- ganismenarten in abgestufter Form ver- heiten. Diese Instinkte beziehen sich wandt. nicht auf alle Individuen der Art, son- Darwin war also nicht der erste, der des dern nur auf die von derselben Gemein- Menschen „niedere Abkunft“ herausstell- schaft. Da sie sehr nützlich sind für die te; und weder er, noch irgendein anderer Spezies, sind sie aller Wahrscheinlich- ernsthafter Evolutionstheoretiker hat be- keit nach durch natürliche Zuchtwahl hauptet, dass der Mensch von einem der erworben worden.“31 heutigen Affen abstammt, sondern dass er mit diesen gemeinsame Vorfahren hat. Daraus geht deutlich zweierlei hervor. Er- Darwin bemerkte, „daß irgendein altes stens hat Darwin die Selektionstheorie Glied der anthropomorphen Untergruppe auch auf die evolutionäre Beschreibung der Stammvater des Menschen gewesen und Rekonstruktion sozialer und morali- ist“.30 Mittlerweile sind wir über die Ver- scher Fähigkeiten übertragen. Zweitens wandtschaftsverhältnisse im „Affenreich“ sieht er diese beim Menschen nicht als et- natürlich viel besser unterrichtet, und es was grundsätzlich Neues: Sie finden sich kann kein Zweifel mehr daran bestehen, in Vorstufen auch bei anderen Tieren. Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 13
Als noch wichtiger erscheint mir im vor- aber an eine „Höherentwicklung“ vor al- liegenden Zusammenhang aber folgendes. lem beim Menschen. Er glaubte daher Darwin, der den Wettbewerb überall in der auch, dass, so wie sich das moralische Natur zu „würdigen“ wusste, war sich Gefühl aus sozialen Instinkten entwickelt durchaus darüber im Klaren, dass in der habe, diese durch die Kultur noch bestän- sozialen Evolution kooperatives und hel- dig verbessert werden können. Dieses „mo- fendes Verhalten die entscheidenden An- ralische Argument“ spielte bei seiner Kon- triebskräfte sind. Nur diejenigen, die Dar- zeption der Abstammung des Menschen wins Ideen als „Dschungeldarwinismus“ eine bedeutende Rolle,33 und er sah darin missverstanden und sich nie die Mühe ge- sogar einen Trost für all jene, denen der macht haben, seine Arbeiten wirklich zu Gedanke an die niedere Abkunft des Men- lesen, sondern ihn von vornherein nur schen unwillkommen und unangenehm ideologisch vereinnahmen wollten, haben war. So bemerkte er folgendes: diese sehr wichtigen Aspekte seines Wer- kes völlig übersehen. Hier ist auch noch „Es ist begreiflich, daß der Mensch ei- einmal über den Menschen Darwin zu nen gewissen Stolz empfindet darüber, sprechen. Darwin war Humanist, er war daß er sich, wenn auch nicht durch sei- beispielsweise gegen die Sklaverei (im Vik- ne eigenen Anstrengungen, auf den Gip- torianischen England keine Selbstverständ- fel der organischen Stufenleiter erho- lichkeit), worüber es schon mit seinem Ka- ben hat; und die Tatsache, daß er sich pitän auf der „Beagle“ zu Meinungsver- so erhoben hat, anstatt von Anfang an schiedenheiten und Streitigkeiten kam. Es dorthin gestellt zu sein, mag ihm die ist wahrscheinlich, dass auch sein wissen- Hoffnung auf eine noch höhere Stellung schaftliches Interesse früh unserer Spezi- in einer fernen Zukunft erwecken.“34 es und ihren Fähigkeiten galt und dass er seine (Selektions-)Theorie durch gleich- Wer so schreibt, möchte kein pessimisti- zeitige Beurteilung des menschlichen Ver- sches Menschenbild entwerfen, sondern haltens erstellte.32 Auf die ihm eigene Vor- sieht sich eher veranlasst, demjenigen, der sicht und Zurückhaltung ist der Umstand an den (moralischen) Fähigkeiten seiner zurückzuführen, dass er viele Gedanken Gattung zweifelt, beruhigende Worte zu und Notizen darüber lange Jahre sozusa- spenden. gen unter Verschluss hielt und erst 1871 Es ist keine Frage, dass Darwin die Ab- veröffentlichte. Dabei war es ihm bewusst, stammung des Menschen auf naturalisti- dass er, indem er den Menschen gleich- scher Grundlage erklären wollte – was ihm sam vom Thron stürzte und ihn seiner auch bestens gelungen ist. Auf dieser Grund- Ebenbildlichkeit Gottes beraubte, nicht we- lage bleibt für die viel beschworene Son- nige seiner Artgenossen verletzen würde. derstellung des Menschen in der Welt der Insbesondere ist hier zu erwähnen, dass Lebewesen kein Platz mehr. Gewiss ver- seine Frau ein sehr frommer Mensch war, fügt unsere Spezies über bestimmte, ihr und es muss ihn bedrückt haben, gerade eigene Merkmale, aber schließlich ist jede ihre religiösen Gefühle zu verletzen. der Millionen von Organismenarten ein- Beseelt von der zu seiner Zeit verbreite- malig. Und nach den Ergebnissen der neu- ten Idee des Fortschritts glaubte Darwin eren Evolutionsbiologie, Verhaltensfor- 14 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
schung usw. ist die traditionellerweise an- ell sind wie damals und den denkenden genommene „Mensch/Tier-Grenze“ längst Menschen seit alters beschäftigen: Wer verwischt.35 Aber das wusste schon Dar- sind wir? Woher kommen wir? win und bedauerte, dass seine Schlussfol- Zu den hervorragenden Leistungen Dar- gerung „für viele ein großes Ärgernis sein wins, die in geistesgeschichtlich großen [wird]“.36 Um diese gleichsam zu neutra- Dimensionen zu bemessen sind, gehört lisieren, baute er das „moralische Argu- zum einen die endgültige Ablösung eines ment“ ein und gab sich der Hoffnung hin, statischen durch ein dynamisches Welt- dass dem Menschen noch eine große Zu- bild und (damit zusammenhängend) zum kunft beschieden sein könne. Dies steht zweiten die Verabschiedung des typolo- gewissermaßen im Widerspruch zu der gischen Denkens zugunsten eines Denkens Konsequenz, die sich eigentlich aus sei- in Variationen. Darwin betonte die Einma- ner (Selektions-)Theorie ergibt, nämlich, ligkeit des Individuums innerhalb jeder pointiert gesagt: Die Evolution geht nir- Art39 – und schuf damit die Basis für eine gendhin – und das recht langsam.37 Das Denkweise, die wir besonders heute drin- freilich will noch verkraftet werden. Da gend nötig hätten: Es ist nicht der „statis- Darwin selbst, wie gesagt, vom Fortschritts- tische Durchschnitt“ der zählt, sondern die gedanken inspiriert war und an eine Er- Individualität, das kreative Potential des leuchtung des menschlichen Geistes durch Einzelnen! Im übrigen lernen wir von Dar- den Fortschritt in den Wissenschaften glaub- win, dass die Evolutionstheorie – ganz im te, wäre ihm diese Konsequenz fremd ge- Gegenteil zu ihren sozialdarwinistischen wesen. Aber das wollen wir ihm nicht an- Fehlinterpretationen – dem Rassismus den kreiden. Hätte er gewusst, dass das 20. Boden entzieht. Denn wer eingesehen hat, Jahrhundert der Menschheit zwei Weltkrie- dass alle heute lebenden Menschen sozu- ge bescheren wird, dann hätte er wohl auch sagen auf dem gleichen Stammbaumast seine Idee vom moralischen Fortschritt re- sitzen, also miteinander verwandt sind, vidiert oder zumindest relativiert. und sich obendrein eben nur individuell voneinander unterscheiden, kann rassisti- Noch ein paar (Schluss-)Bemerkungen schen Gedanken nichts mehr abgewinnen. Dass Darwin einer der bedeutendsten Na- Schließlich ist in diesem Zusammenhang turforscher aller Zeiten war, ist nicht zu nochmals auf Darwins „Abrechnung“ mit bestreiten. Ich habe bereits darauf hinge- der Teleologie zu verweisen: Wenn es kei- wiesen, dass er auch unabhängig von sei- nen übergeordneten „Weltenzweck“ gibt, ner Theorie der Evolution durch natürli- dann gibt es auch keine bevorzugten „Ras- che Auslese in den Naturwissenschaften sen“ und Völker; die Evolution hat keine Großes geleistet hat. Dennoch kann es Lieblingskinder. Diese wenigen Bemerkun- heute nicht mehr darum gehen, ihn im Sin- gen mögen genügen, um Darwin und sei- ne einer Hagiographie darzustellen, son- ne Gedankenwelt mit einem (säkularen) Hu- dern als einen Menschen zu sehen, der manismus in Verbindung zu bringen. eingebettet war in das geistige und gesell- Im Anschluss an Darwin erfuhr der Evo- schaftliche Leben seiner Zeit38 – vor de- lutionsgedanke maßgebliche Erweiterun- ren Hintergrund er allerdings Antworten gen. Wenngleich dabei über weite Stre- auf Fragen entwickelte, die heute so aktu- cken bloß ein naiver Evolutionismus sei- Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 15
ne Anhänger fand, so konnte in neuerer det und den Tod unzähliger unschuldiger und jüngster Zeit die Evolutionstheorie auf Menschen bei Vulkanenausbrüchen und verschiedenen Gebieten außerhalb der Bio- Erdbeben in Kauf nimmt. Das Ableben sei- logie, in den Kultur- und Sozialwissenschaf- ner Tochter nahm ihm den letzten Rest ten, fruchtbar gemacht werden.40 religiösen Glaubens. Dem Humanisten Dar- In mancher Hinsicht stehen wir dabei aber win war vor allem die Vorstellung eines stra- wieder am Anfang, weil „antievolutionis- fenden Gottes höchst zuwider.43 Daher tische“ Stimmen eben seit Darwin nicht wandte er sich vom Christentum ab. Sei- verstummt sind und heute, wie es scheint, ne Haltung zur „Gottesfrage“ lässt sich wieder lauter werden. Es sind „Anti-Auf- meiner Meinung nach letztlich zwischen klärer“, die da ihre Häupter recken und einem Agnostizismus und einem Atheis- ihre Stimmen erheben, Moralisten und mus ansiedeln. Ein antireligiöser Fanati- moralische Rigoristen, die partout daran ker war er freilich nicht, so wie ihm jeder festhalten, dass diese Welt von einem in- Fanatismus und Fundamentalismus fremd telligenten Planer gesteuert sei, der das waren. (Kurioserweise unterstützte er das Richtige vorgibt. Pfarrhaus seiner kleinen Gemeinde.) Ich habe Darwin einmal als „stillen Revo- Zugleich war Darwin bemüht, auch das lutionär“ bezeichnet,41 was auf sein zu- Phänomen der Religiosität evolutionstheo- rückgezogenes Leben und sein zurückhal- retisch zu interpretieren und wurde damit tendes Wesen hinweist, aber nicht heißen zu einem Wegbereiter moderner psycho- soll, dass er sich der Bedeutung seiner logischer und evolutionsbiologischer Er- Ideen nicht bewusst war. Auch die Ver- klärungen der Religionen und ihrer Funk- breitung dieser Ideen war ihm durchaus tionen im menschlichen Leben. Das „Ge- wichtig, und gewiss verspürte er Genug- fühl religiöser Ergebung“ sei sehr kompli- tuung über das Echo, das seine Bücher ziert, so meinte er und sah es zusammen- fanden (wobei ihm die Vereinnahmung gesetzt „aus Liebe, vollkommener Unter- durch ideologisch orientierte Richtungen werfung unter ein erhabenes, geheimnis- wiederum nicht behagte). Tatsache ist auch, volles Etwas, einem starken Abhängig- dass seine persönliche Gelassenheit und keitsgefühl, Furcht, Ehrfurcht, Dankbar- sein geordnetes Privatleben im Gegensatz keit, Hoffnung auf ein Jenseits“.44 Er bet- zu den geistigen und gesellschaftlichen tete also den religiösen Glauben ein in die Turbulenzen stehen, die sein Werk hervor- Entwicklung psychischer und geistiger Fä- rief.42 Aus seiner persönlichen Biographie higkeiten des Menschen, die natürlich ist allerdings ein trauriges Ereignis zu er- nichts über die Existenz Gottes aussagt, wähnen, das seine Gedankenwelt entschei- wohl aber über die Metaphysikbedürftig- dend mitprägte: der frühe Tod seiner älte- keit eines verunsicherten Lebewesens in sten Tochter Annie (das Mädchen wurde einer unberechenbaren Welt. Doch selbst im Alter von nur zehn Jahren von einer diese (menschliche) Eigenschaft sah Dar- heimtückischen Krankheit hinweggerafft). win nicht als sprunghaft entstanden an, Schon während seiner Weltreise hatte er sondern fügte sie ein in die Kontinuität der sich gefragt, wie ein gütiger und weiser Entwicklung seelischer Phänomene in der Gott die vielen Grausamkeiten in der Welt Tierwelt: Einen, „wenn auch sehr schwa- zulassen kann, warum er die Sklaverei dul- chen Anklang“ an den Gemütszustand der 16 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
Religiosität sah er „in der treuen Liebe ei- war nicht der Entdecker der Evolution, natur + nes Hundes zu seinem Herrn, die eben- kosmos, Januar 2009, S. 50-51. 6 Vgl. E. Mayr, Darwin’s Influence on Modern falls mit der vollständigsten Unterord- Thought, Scientific American 283 (1), 2000, S.78- nung, einiger Furcht und vielleicht noch 83. anderen Gefühlen verknüpft ist.“45 Das 7 E. Oeser: Psychozoikum. Evolution und Me- sind interessante Worte, die auch in unse- chanismus der menschlichen Erkenntnisfähig- rer Zeit, in der sich viele Menschen von – keit, Berlin 1987, S. 9. nicht nur religiösen, sondern auch staatli- 8 Vgl. G. G. Simpson, This View of Life. The World of an Evolutionist, New York 1963, S. 26 ff. chen – Führern gern „gängeln“ lassen, ihre 9 Satan himself is the originator of the concept volle Bedeutung haben. Man sollte dar- of evolution, so der Kreationist Henry M. Morris. über nachdenken. Zit. in M. Ruse, Darwinism Defended. A Guide Alles in allem: Es ist höchst lohnend, sich to the Evolution Controversies, London 1982, S. mit Darwins Gedankenwelt zu beschäfti- XVIII. gen; sie gehört unserer Gegenwart an! 10 Darwins Reise mit der Beagle wurde jüngst von Jürgen Neffe in einem Zeitraum von sieben Mona- Und es ist an der Zeit, diese Gedanken- ten „nacherlebt“ und ausführlich beschrieben. Vgl. welt richtig zu verstehen und sie von all J. Neffe, Darwin. Das Abenteuer des Lebens, den vielen Fehldeutungen, die ihr anhaf- München 2008. Darwin hatte übrigens die Kosten ten, zu befreien. Ich hoffe, hier in diesem für diese Reise selbst zu berappen – genau gesagt Sinne einen kleinen Beitrag geleistet zu zahlte sein Vater (nur seine Verpflegung ging auf haben. Die folgenden Beiträge tun das Ihre Kosten der Admiralität) –, genoss aber dadurch auf dem Schiff eine relative Unabhängigkeit und hatte zum besseren Verständnis von Darwins als einziges Besatzungsmitglied engeren Kontakt zum Ideen, ihren Voraussetzungen und Kon- Kapitän. Darwins eigener Reisebericht (A Natura- sequenzen. list’s Voyage, London 1839) gehört zu den Klassi- kern der Reiseliteratur. Anmerkungen 11 Zu seinen eigentlichen Lehrern zählten der Geo- 1 Quelle: Der Standard (Wien), 17. 12. 2008. loge Adam Sedgwick und der Botaniker John Ste- 2 Und nicht nur sie, sondern beispielsweise auch vens Henslow. Letzterer allerdings war zugleich auch der Wiener Kardinal Schönborn. Geistlicher. 3 Vgl. z. B. D. Graf, Kreationismus vor den Toren 12 Über Darwins Leben und seine intellektuelle Ent- des Biologieunterrichts?, in: Ch. Antweiler et al. wicklung sind wir sehr gut unterrichtet. Er selbst hin- (Hrsg.), Die (un)erschöpfte Theorie. Evolution terließ eine Autobiographie, die von seiner Enkelin und Kreationismus in Wissenschaft und Gesell- Nora Barlow herausgegeben wurde. Vgl. Ch. Dar- schaft, Aschaffenburg 2008, S. 17-38; Ch. Lam- win, The Autobiography of Charles Darwin, New mers, Vom Streitfall Evolution und dem „Bil- York 1958. (Eine neue deutsche Ausgabe erschien dungsmarkt“, in: Ch. Antweiler et al. (Hrsg.)., ebd., 2008 im Insel-Verlag). Darwins Leben und Werk S. 39-63. Siehe ferner den umfassenden Band U. wird in einer großen Zahl von – teils sehr umfang- Kutschera (Hrsg.), Kreationismus in Deutschland. reichen, teils knapper gehaltenen – Büchern darge- Fakten und Analysen, Berlin 2007. stellt. Unter den neueren Büchern siehe z. B. R. W. 4 Der volle Titel des Werkes lautet: On the Origin Clark, Charles Darwin. Biographie eines Man- of Species by Means of Natural Selection, or the nes und einer Idee, Frankfurt/M. 1985; A. Des- Preservation of Favoured Races in the Struggle mond und J. Moore, Darwin, Reinbek 1994; A. for Life. Verschiedene deutsche Übersetzungen lie- Desmond, J. Moore und J. Browne, Charles Dar- gen vor, unter anderem bei Reclam in Stuttgart. win – kurz und bündig, Heidelberg 2008; J. Gribbin 5 Gemeint ist das 1809 erschienene Werk Philoso- und M. White, Darwin. A Life in Science, London phie zoologique (Zoologische Philosophie). Sie- 1995; J. Hemleben, Charles Darwin mit Selbst- he zur knappen Übersicht F. M. Wuketits, Darwin zeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 2000; Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 17
J. Howard, Darwin. Eine Einführung, Stuttgart 29 Zit. in H. Querner, Stammesgeschichte des 1996; E. Mayr, … und Darwin hat doch recht. Menschen, Stuttgart 1968, S. 26. Im gleichen Jahr Charles Darwin, seine Lehre und die moderne veröffentlichte Huxley sein Buch Man’s Place in Evolutionstheorie, München 1994; F. M. Wuketits, Nature. Darwin und der Darwinismus, München 2005. 30 Ch. Darwin, Anm. 28, S. 200. („Anthropomor- 13 Zur Übersicht siehe F. M. Wuketits, Charles Dar- phe“ Affen = Menschenaffen, einschließlich Gib- win (1809-1882) und seine Verdienste als Natur- bons.) forscher außerhalb der Evolutionstheorie, Naturwis- 31 Ebd., S. 268. senschaftliche Rundschau 62, 2009, im Druck. 32 Vgl. A. Desmond, J. Moore und J. Browne, Anm. 14 E. Mayr, Anm. 13, S. 16. 12. 15 T. Junker und U. Hoßfeld, Die Entdeckung der 33 Vgl. R. T. Pennock, Moral Darwinism: Ethical Evolution. Eine revolutionäre Theorie und ihre Evidence for the Descent of Man, Biology & Phi- Geschichte, Darmstadt 2001, S. 75. Zur Geschichte losophy 10, 1995, S. 287-307. des Evolutionsdenkens vor Darwin siehe auch B. 34 Ch. Darwin, Anm. 28, S. 274. Glass, O. Temkin und W. L. Strauss (Hrsg.), Fore- 35 Vgl. z.B. V. Sommer, Darwinisch denken. Ho- runners of Darwin 1745-1859, Baltimore 1959 rizonte der Evolutionsbiologie, Stuttgart 2007. sowie W. Zimmermann, Evolution. Die Geschichte 36 Ch. Darwin, Anm. 28, S. 273. ihrer Probleme und Erkenntnisse, Freiburg 1953. 37 M. Ruse, Taking Darwin Seriously: A Natura- 16 Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten, Stutt- listic Approach to Philosophy, Oxford 1986, S. gart 1967, S. 638. 203. (Evolution is going nowhere – and rather 17 Ebd., S. 24. slowly at that.) 18 Ebd., S. 678. 38 Vgl. A. Desmond, J. Moore und J. Browne, Anm. 19 Vgl. G. Heberer, Charles Darwin. Sein Leben 12. und sein Werk, Stuttgart 1959. 39 Siehe vor allem E. Mayr, Anm. 12. 20 Vgl. F. Fellmann, Darwins Metaphern, Archiv 40 Vgl. z.B. D. Oldroyd und I. Langham (Hrsg.), für Begriffsgeschichte 21, 1977, S. 285-297. The Wider Domain of Evolutionary Thought, 21 Vgl. F. M. Wuketits, Lob der Feigheit, Stuttgart Dordrecht 1983; F. M. Wuketits und Ch. Antweiler 2008. (Hrsg.), Handbook of Evolution I: The Evoluti- 22 Vgl. F. J. Ayala, In Willam Paley’s Shadow: on of Human Societies and Cultures, Weinheim Darwin’s Explanation of Design, Ludus Vitalis XII 2004; Ch. Buskes, Evolutionär denken. Darwins (21), 2004, S. 53-65. Einfluß auf unser Weltbild, Darmstadt 2008. 23 Ch. Darwin, Anm. 16, S. 476 f. 41 F. M. Wuketits, Charles Darwin. Der stille 24 Siehe auch F. M. Wuketits, Die Selbstzerstö- Revolutionär, München 1987. Der amerikanische rung der Natur. Evolution und die Abgründe des Evolutionsbiologie Rose spricht, durchaus auch zu- Lebens, Düsseldorf 1999. treffend, von Darwin als einem „Revolutionär wider 25 Vgl. F. Gregory, Darwin and the German Theo- Willen“. Vgl. M. R. Rose, Darwins Schatten. Von logians, in: W. R. Woodward und R. S. Cohen Forschern, Finken und dem Bild der Welt, Stutt- (Hrsg.), World Views and Scientific Discipline gart 2001. Formation, Dordrecht 1991, S. 269-278. 42 Siehe auch A. Desmond, J. Moore und J. 26 Siehe auch F. M. Wuketits, (Un-)Intelligent De- Browne, Anm. 12. sign? Bemerkungen zur aktuellen Diskussion über 43 Vgl. Ch. Darwin, Anm. 12. Evolution und Sinn, Aufklärung und Kritik 12 (2), 44 Ch. Darwin, Anm. 28, S. 120. 2005, S. 7-17. Warum das Konzept des intelli- 45 Ebd. gent design keine ernsthafte Alternative zur Evolu- tionstheorie ist, zeigt z.B. auch E. Sober, What is Zum Autor: Wrong With Intelligent Design, The Quarterly Re- Prof. Dr. Franz M. Wuketits, geb. 1955, view of Biology 82 (1), 2007, S. 3-8. 27 Ch. Darwin, Anm. 16, S. 676. lehrt Wissenschaftstheorie mit dem 28 Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen, Schwerpunkt Biowissenschaften an der Stuttgart 1966, S. 262. Universität Wien, ist Vorstandsmitglied 18 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
des Konrad Lorenz Instituts für Evolu- tions- und Kognitionsforschung und im Wissenschaftlichen Beirat der Freien Akademie sowie der Giordano-Bruno- Stiftung. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen „Der freie Wille – die Evolution einer Illusion“(2007) und „Lob der Feigheit“ (2008) (beide bei Hirzel in Stuttgart). Demnächst erschei- nen „Evolution ohne Fortschritt“ und „Charles Darwin und die Frage nach dem Sinn“ (beide bei Alibri in Aschaf- fenburg). Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009 19
Darwin ca. 1850 Die Beagle in der Magellanstraße Die Reiseroute der Beagle Darwins Studierzimmer in Down House Darwin ca. 1878 20 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 15/2009
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