Entwurf eines christlichen Existenzialismus - Entwurf eines christlichen Existenzialismus 2018
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Entwurf eines S A M U E L P F E I FE R christlichen Existenzialismus M eine erste existenzielle Krise dann das Undenkbare, für einen, der doch hatte ich als junger Assistenz- glauben wollte: Gibt es ihn überhaupt? Oder arzt. Damals hatte ich noch hatten doch die Denker von Spinoza über keine Worte für das, was ich durchlebte. Aber Nietzsche bis hin zu Camus und Sartre Recht? es waren genau die Fragen, die Denker über alle Da war keine sinnstiftende Kraft, kein Lenker Jahrtausende beschäftigten, Fragen nach dem des Universums, da war letztlich – nichts. Das Sinn des Lebens, nach Schuld und Sühne, nach Gebet, ist es nichts als ein verlorenes Signal in Originalpublikation: Pfeifer S. (2018): Der Sprung – Entwurf eines christli- Gott und seinem Wirken in dieser Welt. Ich ein leeres All? chen Existenzialismus. Psychotherapie und Seelsorge 1/2018, S. 44 – 48. arbeitete damals auf einer Intensivstation und Ich machte damals ein Experiment: Gott sah fast jeden Tag Menschen sterben. Aber das war eine Enttäuschung, mehr noch, vielleicht Leben und Sterben war ungerecht und folgte gar eine Selbst-Täuschung? Wie wäre es zu le- keiner Regel. Da erlitt ein bekannter Pastor ben mit dem Nihilismus, der Philosophie abso- eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung, Tau- luter Sinnlosigkeit, jenseits von Gut und Böse? sende beteten für ihn, aber er blieb sein restli- Wäre ich dann glücklicher? Würde ein atheis- ches Leben lang deutlich behindert und kehrte tischer Existenzialismus mir das Leben inmit- nicht mehr auf die Kanzel zurück. Und da war ten der menschlichen Schicksale, denen ich als der Raser, der unter Alkohol das Leben einer Arzt Tag für Tag begegnete – würde mich diese jungen Familie ausgelöscht hatte. Da war wohl Loslösung von einer höheren sinn-stiftenden keiner, der für ihn betete, aber seine Frakturen Kraft besser ausrüsten für das Leben? heilten wieder und er verließ das Krankenhaus mit neuen Ideen für ein schnelles Auto. Wo Download von: war da Gottes Gerechtigkeit? Was nützte das www.seminare-ps.net/exist Gebet? Oder ein Gott-gefälliges Leben? Wo war der fürsorgliche Vater im Himmel, der die Ich gestehe – ich hielt das Experiment junge Familie beschützt hätte? nicht lange durch. Zu sehr fehlte mir das, was Hat Gott sich zurückgezogen von dieser ich doch schon mit Gott erlebt hatte, diese an- Welt? Lässt er das Böse frei marodieren? Und dere Seite meiner Existenz. Zu überwältigend
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 2 waren für mich die vielen Hinweise auf einen es zutiefst persönliche Erfahrungen, welche Schöpfer, der letztlich doch hinter unserer einen Philosophen prägte. Kierkegaard’s un- komplexen Welt steht (erst viel später entdeck- erfüllbare Beziehung zu Regine, seine innere te ich das Buch von Karl Jaspers, «Chiffren der Zerrissenheit, sein Schwanken zwischen «Ent- Transzendenz» 1). Doch, es war mir, als müss- weder –Oder», seine existenzielle Erfahrung te ich philosophisch bei null anfangen. Meine der Verzweiflung als «Krankheit zum Tode», existenzielle Erfahrung deckte sich nicht mit die Angst als schreckliche Grundbefindlich- den vertrauten Bibelworten, den tröstlichen keit, die ihn ständig antrieb, das Dasein neu zu Psalmen, den christlichen Andachtsbüchern. überdenken und zu definieren. Heute, als erfahrener Psychotherapeut be- Die Schlüsselfiguren des Existenzialismus gegnen mir immer wieder Menschen, die nicht sind eine relativ große Gruppe von divergenten nur an Symptomen einer psychischen Proble- Denkern / Philosophen/ Schriftstellern, die matik leiden, sondern die letztlich tiefe exis- über die mensch- tenzielle Fragen einbringen. Einer der einfluss- liche Existenz Søren reichsten Psychotherapeuten der Gegenwart nachgedacht ha- Kierkegaard ist der amerikanische Psychoanalytiker Irvin D. ben. Da sind so (1813 - 1855) Yalom, mittlerweile weit über 80 Jahre alt, aber bekannte Namen noch immer ein hervorragender Autor, ein wie Heidegger, großartiger Erzähler und scharfsinniger Beob- Jaspers, Sartre achter seiner Patienten. Sein wichtigstes Buch oder Camus. ist eine Art Lehrbuch mit dem Titel «Existen- Der französische Jean Paul zielle Psychotherapie» (2). In der Therapie be- Existenzialismus Sartre obachte er die folgenden wesentlichen existen- war ausgeprägt (1905 - 1980) ziellen Krisen: atheistisch, doch >> Krankheit, Tod und die existenzielle Angst andere (Søren vor dem Tod. Kierkegaard, Ga- >> Das Dilemma der Freiheit, die einem gleich- briel Marcel) ha- zeitig die Last der Verantwortung auflädt ben auch dezidiert christliche Gedanken ein- und die Möglichkeit des Schuldigwerdens gebracht. Ihre Hauptanliegen sind Fragen rund in sich birgt. um die Bedeutung und den Wert menschlichen >> Isolation: Die Bewußtheit der absoluten Daseins (3). Isolation und dem Wunsch nach Kontakt, In den 50-er Jahren erhielt die Existenz- nach Schutz, danach, ein Teil von etwas philosophie durch die Schriften von Sartre ihre Größerem zu sein. neue Grundlage, die weit über die philosophi- >> Sinnlosigkeit: das Dilemma eines sinnsu- schen Zirkel in den Pariser Cafés hinaus die chenden Geschöpfes, das in ein Universum Gesellschaft massiv beeinflusste. Der Mensch hineingeworfen sei, das keinen Sinn habe. in seinem Nachdenken über seine Existenz er- kennt, dass es keine höheren Werte gibt, keine Existenzialismus – was ist das Mächte, die ihn leiten, keinen Gott, keine In- eigentlich? stitutionen mehr, die seinem Leben Richtung Es ist die schmerzliche Diskrepanz zwischen weisen. sinn-stiftendem Weltbild und persönlicher Er ist nur er selbst, allein mit sich, verein- existenzieller Erfahrung, welche die Grundlage samt, entfremdet von sich selbst und seiner für den Existenzialismus legte. Oftmals waren Welt. Ein tiefes Gefühl der Sinnlosigkeit er- www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 3 füllt sein Dasein, das nur vordergründig durch schirm ab und hinterlässt eine sprachlose Ge- Tagwerk und kleine Vergnügungen übertüncht meinschaft; oder da überfährt ein liebender wird. Liebe ist letztlich keine wirkliche Be- Großvater mit seinem Auto versehentlich den ziehung, nur der Wunsch nach Bestätigung in 3-jährigen Enkel – die Schuld zerfrisst sein Le- seiner Existenz. Und weil es keine Leitlinien ben. mehr gibt, muss er die Last seiner Freiheit tra- Leiden, Krankheit, Tod und Schuld – ir- gen: er kann tun, was er für gut findet und was gendwann gelangt jeder in eine Grenzsituation für ihn stimmt, hat allerdings auch die Last der (5) des Lebens, in der die bisherigen Sinnstruk- Verantwortung für sein Handeln. Er ist in den turen nicht mehr tragen. Da schreibt mir eine Worten Sartres «verdammt zur Freiheit». Frau: «Nach dem ersten Krebs fühlte ich mich Hannah Arendt sah in dieser Philoso- wieder mit Gott gut verbunden. Jetzt nach ei- phie zwei große Linien: «einmal, die rigorose nem weiteren Schicksalsschlag, weiß ich nicht, Ablehnung von allem, das den ‚esprit serie- wie ich wieder mit Gott ins Reine komme. ux‘ repräsentiert und zweitens, die zornige Freundinnen beten für mich. Medizinisch bin Weigerung, die Welt als natürliches, vorher- ich gut versorgt. Ich möchte nur wissen, wie ich bestimmtes Umfeld des Menschen zu akzep- mit allem spirituell umgehe. Stoßgebete helfen tieren.» (4) Und diese grundsätzliche Ent- manchmal. Aber da ist die Angst vor einem fremdung des Menschen trägt in sich auch eine Rezidiv, das Leiden an den Folgen der Chemo- abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit: der Mensch therapie. Irgendwie ist Gott schon da für mich, im Nichts zurückgeworfen auf sich selbst und aber ich weiß nicht wie mit ihm umgehen, seine verzweifelte Existenz. sprechen und meine Krankheit einordnen!» Antithese zur Religion? Drei Formen der Bewältigung Nun könnte man einwenden, eine solche Grenzsituationen sind eine Erfahrung der Philosophie sei doch geradewegs die Antithese Haltlosigkeit, der Ruhelosigkeit, der Erschüt- zu jeglicher religiösen Lebensauffassung. terung und der Desorientierung. In dieser Krise Doch so einfach ist es nicht. Denn wir alle verlieren die Menschen oftmals auch diejenigen werden von existenziellen Fragen heimgesucht. Überzeugungen, Einstellungen und Gewohn- Die christlichen Klischees tragen irgendwann heiten, die ihnen bis dahin eine Orientierung nicht mehr. «Mein Leben ist von Gott vorher- gegeben haben. geplant; wenn ich brav bin, widerfährt mir kein Dabei habe ich mindestens drei Formen der Leid; Gott ist ein liebender Vater, der immer Bewältigung beobachtet: >> Menschen, die die Realität von Gottes Ge- Existenzielle Grenzsituationen genwart derart stark erleben, in guten wie Leiden Scheitern in bösen Tagen, dass sie auch dann an Gott Krankheit Schuld festhalten, wenn um sie herum alles zu zer- Tod Kampf brechen scheint (6). Zufall >> Menschen, die die Existenz Gottes grund- sätzlich ablehnen oder ihn nicht in ihr Le- für mich sorgt und mich immer bewahrt» – benskonzept einbeziehen – Existenzialisten und dann wird eine junge gläubige Frau den- im engeren Sinne. noch vergewaltigt; da stirbt die erst 41-jährige >> Menschen auf der Schattenseite, die trotz Mutter von vier Kindern an Krebs; es stürzt ihres Glaubens das fürsorgliche Eingreifen ein begabter christlicher Leiter mit dem Gleit- Gottes in ihrem Alltag nicht erleben und www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 4 Tabelle 1: Zwölf Thesen zu einem christlichen Existenzialismus These 1: Unsere Existenz ist Teil der geschaffenen Welt These 2: Vergänglichkeit ist untrennbar mit dem Leben verwoben These 3: Leiden ist eine Grundrealität der Existenz These 4: Das Leben ist ungerecht These 5: Existenzielle Angst ist eine Grundbefindlichkeit in existenziellen Krisen These 6: Unsere Freiheit kann beängstigend sein und gibt uns Verantwortung These 7: Aufgabe unserer Existenz ist es, dem Leben einen Sinn zu geben These 8: Alles Leben ist Beziehung These 9: Jenseits der Existenz gibt es Transzendenz These 10: Hoffnung gibt Halt in Leiden und Vergänglichkeit These 11: Weisheitskompetenzen weisen den Weg These 12: Lebensbewältigung erfordert Akzeptanz und existenzielle Gelassenheit dadurch in Zweifel geraten, ohne Gottes gen des Glaubens? Existenz völlig abzulehnen. Über die Jahre habe ich versucht, der Fra- ge nach einem christlichen Existenzialismus Ist Gottvertrauen eine Schönwetter- nachzugehen und diesen in Bezug zu setzen zu philosophie? anderen existenziellen Entwürfen der Philoso- Sicher ist es leichter, an seine fürsorgliche phie. Dabei wurde ich sicher auch durch eigene Begleitung zu glauben, wenn alles gut läuft. Erfahrungen geprägt, doch ich habe versucht, Doch in den Lebensschicksalen unserer Patien- diese auf dem Hintergrund der Literatur in ten oder in den Weltnachrichten und begegnet eine Weltsicht einzubetten, die einerseits die uns ein anderes Bild der menschlichen Existenz schmerzlichen Fragen der Existenz aufnimmt – am Krankenbett, vor dem Scheidungsrichter, und doch auch in einem konstruktiven Span- in Gefängnissen, in Obdachlosenheimen, am nungsfeld zu den Grundaussagen der Bibel Schauplatz eines Terroranschlags, auf einem steht. sinkenden Schlauchboot voller Flüchtlinge, in Ich oute mich hier (sicher nicht überra- der Schlammlawine eines riesigen Erdrutsches. schend) als gläubiger Christ, allerdings als Die Frage ist oft berechtigt: Wo ist Gott? einer, der nicht immun ist gegen Zweifel. Das Wie überbrücken wir das Spannungsfeld macht das Philosophieren nicht so einfach. Ich zwischen dem Gottvertrauen und der oft so finde mich immer wieder in dem Dilemma, das andersartigen persönlichen Erfahrung unseres schon Søren Kierkegaard empfand: inmitten Lebens, unserer Existenz? Warum kollidiert der abgrundtiefen Verzweiflung, dieser Krank- unsere reale Existenz manchmal derart erbar- heit zum Tode, steht doch auch die Erfahrung mungslos mit den Verheißungen und Tröstun- des Glaubens. www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 5 Mit all seinem Denken kann der Mensch unserem Dasein aus. die andere Realität, nämlich die Transzendenz Demgegenüber steht die Gegenthese, die intellektuell nie erfassen und deshalb auch nie nicht nur aus der Vernunft entsteht: Wer die- verleugnen, so er denn intellektuell redlich sein se Welt aufmerksam betrachtet, der kann sich will. Nur wer dies in aller Bescheidenheit ein- den Hinweisen auf eine schöpferische Macht gesteht, macht dann den «Sprung des Glau- nicht entziehen. Das gewaltige Universum mit bens», auch wenn dieser einem Sprung über seinen Milliarden von Galaxien, die Erhaben- den brodelnden Abgrund gleicht (vgl. Seite 10 heit der Berge, die Wunder des Mikrokosmos, dieses Essays). die Schönheit eines Sonnenuntergangs, die In der Folge möchte ich zwölf Thesen für ekstatischen Gefühle in der Liebe, das erste Lä- einen christlichen Existenzialismus entwerfen. cheln eines Babys – sie alle sind Hinweise auf Thesen haben immer etwas Bekenntnishaftes eine hintergründige Wirklichkeit, die über das – hier nun ein Brückenschlag zwischen philo- Sichtbare hinausgeht, sind in den Worten von sophischen Konzepten, Erfahrungen aus der Jaspers «Chiffren der Transzendenz». Psychotherapie und tiefen persönlichen Über- zeugungen. These 2: Vergänglichkeit ist untrenn- bar mit dem Leben verwoben These 1: Unsere Existenz ist Teil der Das Leben, so wunderbar es in den guten geschaffenen Welt Zeiten von Kraft, Vitalität und Schönheit ist – Schon diese erste These ist für den atheis- dieses Leben ist der Vergänglichkeit unterwor- tischen Existenzialisten ein Affront. Sartre be- fen. Selbst der christliche Dichter Jochen Klep- tonte in seinem Entwurf, es gebe nichts, was uns bestim- Wir wachen ängstlich me. Wir sind sozusagen als zwischen Schoß und Grab. Existenz eine «tabula rasa», und es sei unsere Aufgabe, Ein Dunkel löst das andere Dunkel ab. mit unserer Vernunft, die Inmitten liegt ein wirres Spiel von Lichtern. Welt um uns herum zu be- Jochen Klepper greifen und zu gestalten, oft- mals in Versuch und Irrtum. Es gebe keine vorausgehende «Essenz», kei- per formulierte einmal in einem Gedicht (7): ne Schöpfung, kein Wertsystem, das sich von «Wir wachen ängstlich zwischen Schoß einem Schöpfer ableite. Damit schuf Sartre ein und Grab / Ein Dunkel löst das andere atheistisches Glaubensbekenntnis, das auf sei- Dunkel ab / Inmitten liegt ein wirres Spiel ner «Vernunft» beruhte, und sonst nichts. von Lichtern.» Doch es wurde begierig aufgenommen von Und doch liegt es in der Natur vieler Men- allen, die in ihrem Zweifel an Gott zerbrochen schen, dass sie sich am Leben festklammern, waren, die sich rieben an den Machtstrukturen als gäbe es niemals ein Ende. Gesundheit ist der Kirche und des religiösen Establishments, für viele das höchste Gut. Und die moderne die sich eingeengt fühlten von moralischen Medizin hat unzählige Wege gefunden, diese Gesetzen und Verboten. Anstelle einer «Got- Gesundheit zu fördern und zu erhalten, einst- tesoffenbarung» in der Natur setzen sie auf mals tödliche Krankheiten zu heilen und vielen die «Vernunft» und blenden alle Hinweise Menschen zu einer guten Existenz bis ins hohe auf eine komplexe schöpferische Energie hinter Alter zu verhelfen. www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 6 Paradoxerweise sind es gerade auch gläubi- These 3: Leiden ist eine Grundrealität ge Menschen, die unter dem Vorzeichen von der Existenz Heilung und Wundern am Leben festhalten, als gäbe es in der Bibel all die andern Hinweise Die buddhistischen Traditionen betonen auf Vergänglichkeit und Ewigkeit nicht. Wenn das Leiden als zentral im menschlichen Dasein. dann die Krankheit einbricht, sei es durch Die erste der «vier edlen Wahrheiten» lautet: eine Krebsdiagnose, einen Herzinfarkt, eine «Alles Bedingte ist Leid», übersetzt in einen schmerzliche Arthritis oder die ersten Anzei- existenziellen Kontext: «Unsere ganze Exis- chen einer Demenz, so tritt oftmals die Frage tenz ist dem Leiden unterworfen.» Aber auch auf: «Warum lässt Gott das zu?» in den christlichen Quellen findet sich das Bild Demgegenüber stelle ich die These auf, dass des «Jammertals» für das Leben, die Wüste wir nur wissen, dass Vergänglichkeit zu unserer als Tal der Tränen (vallis lacrimarum), in den Existenz gehört, aber dass wir oftmals keine Psalmen das dürre Tal (Ps. 84). Paulus schreibt Antwort auf den Sinn oder Kausalzusammen- im Brief an die Römer: «Denn wir wissen, dass hänge mit unserem eigenen Verhalten, unserer die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick Gottesbeziehung oder dem Einfluss des Bösen seufzt und in Wehen liegt.» (9) finden. Natürlich werden uns vielfältige Er- Schon ein kleines Kind erlebt den Schmerz klärungen nachgereicht, vom Sündenfall im des Lebens mit Bauchkoliken und den ersten Paradies bis zu persönlicher Verantwortung für Zähnen, leidet Hunger, schürft sich später die unsere Befindlichkeit. Knie auf und erfährt schon bald die Kränkung, nicht von allen geliebt zu werden. In den aller- meisten Fällen sind liebevolle Eltern da, die es trösten und ermutigen und doch gibt es auch genügend andere Beispiele früher Traumatisie- rung und Vernachlässigung. Leiden gehört zum Leben – aber im Men- schen ist auch der unbändige Drang nach Be- wältigung des Leidens, nach Trost und Über- windung. Dazu gibt es natürlich auch aus christlicher Sicht viel zu sagen, doch an dieser Stelle soll einmal schlicht darauf verwiesen werden, dass Leiden Teil unserer Existenz ist. These 4: Das Leben ist ungerecht Das Spannungsfeld von Habenden und Fakt ist: Vergänglichkeit, ja selbst der Tod Darbenden, von friedlichen Landschaften ist ein schlichtes Grundgesetz der menschli- und kriegsverwüsteten Städten, von gesunder chen Existenz. Martin Heidegger bezeichnete Lebensfreude und erschöpfter Überforderung das Dasein einmal als ein «Sein-zum-Tode». – die Reihe der Gegensätze liesse sich belie- Und Psalm 90 betet: «Herr, lehre uns beden- big fortsetzen. Das Leben ist ungerecht. Und ken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug selbst im fürsorglichsten Sozialstaat gibt es Un- werden!» (8) gleichheiten; alle Bemühungen zum Ausgleich zwischen den Gegensätzen resultieren wieder in neuen Hierarchien von Oben und Unten. www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 7 Auch Jesus wies bereits auf diese Ungerech- «Was also hat der Mensch davon, dass er sich tigkeit des Lebens hin: «Denn er [Gott] lässt abmüht? Ich habe erkannt, was für eine schwe- seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und re Last das ist, die Gott den Menschen aufer- lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.» legt hat.» (12) (10) Unglück lässt sich nicht immer erklären. Die Frage nach der Ungerechtigkeit des Le- Existenzialismus bedeutet zuerst einmal, bens ist auch in Therapie und Seelsorge allge- diese Brüche im Leben anzunehmen, ohne genwärtig, gerade dort, wo Gott so unverständ- Vorwurf an irgendeine übergeordnete Instanz, lich erscheint (11) und zum verborgenen Gott, im Wissen, dass Leiden zum Leben gehört und zum «Deus abscondidus» wird. Manchen dass das Leben ungerecht ist. Allerdings, und gelingt es, sich gegen die Gegebenheiten ihres hier setzen wir uns vom Existenzialismus ab, Lebens aufzulehnen. Doch nicht wenige Men- werden dann in These 7 bis 12 neue Elemente schen stehen auf der Schat- tenseite, in denen die Frage «Was also hat der Mensch davon, dass er nach Gottes Gerechtigkeit zur sich abmüht? Ich habe erkannt, was für eine existenziellen Grenzsituation wird, an der sie zerbrechen. schwere Last das ist, die Gott den Menschen Wenn Schicksalsschläge ein- auferlegt hat.» Kohelet 3,10 brechen und jede Weiter- entwicklung abrupt stoppen, wenn Krankheit das Dasein schwächt oder beschrieben, die dem Leben auch wieder Hoff- aber die Digitalisierung auf einmal all das über- nung, Sinn und Inhalt geben. flüssig macht, was man früher einmal gelernt Doch da sind noch weitere Gegebenheiten, hat – dann erleben die Menschen das Leben als «Geworfenheiten» unseres Lebens. ungerecht, und nichts kann beispielsweise eine Querschnittlähmung rückgängig machen. These 5: Existenzielle Angst ist ein Die Erklärungen des Lebens sind unzurei- Grundbefindlichkeit in existenziellen chend – das Leben ist ungerecht: Die Dicho- Krisen tomie von Gut und Böse, Glück und Unglück, «Mein Leben ist ein ständiges Minen- die Vorstellung von Gerechtigkeit und Strafe feld!» So beschrieb mir ein 43-jähriger Mann ist letztlich in der personalen Existenz oftmals seine Situation. Er hatte die Arbeit verloren, nicht schlüssig. Die Gleichung «Weil ich gut die Ehe war spannungsreich, er bangte im wört- und richtig lebe, geschieht mir kein Unglück lichen Sinne um seine Existenz. Wollte er ein- und kein Leid» geht nicht auf. Warum-Fragen schlafen, so spürte er das heftige Klopfen seines helfen oft nicht weiter. Viele Fragen, die den Herzens, er hatte das Gefühl, ins Nichts zu fal- Sinn des Lebens erhellen sollen, ergeben letzt- len und wachte oft schweißgebadet aus einem lich keine befriedigende Antwort. Albtraum auf. Deutlicher könnte man Sartres Dies erkannte auch der Autor des Buches Feststellung nicht illustrieren, in der Stimmung Kohelet, eigentlich ein zutiefst existenzielles der Angst offenbare sich dem Menschen un- poetisches Buch in der Bibel. «Ein jegliches mittelbar das Nichts, das er im Innersten seines hat seine Zeit ... geboren werden und sterben, Wesens beständig mit sich trägt. Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen, ... Es sind die Grenzsituationen des Lebens, Lieben und Hassen, Krieg und Frieden ...» die im Menschen oftmals diese abgrundtiefe Und er fragt in klassisch existenzieller Manier: existenzielle Angst auslösen. Dabei ist Angst www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 8 nicht unbedingt schlecht. Funktionale Angst in den Zehn Geboten und in der Goldenen schützt uns (in riskanten Situationen), sie ga- Regel, «Du sollst deinen Nächsten lieben wie rantiert unsere körperliche Unversehrtheit und dich selbst», vorgezeichnet. Und jeder Mensch vermittelt uns innere Sicherheit. hat zutiefst in seinem Herzen ein Wissen oder Wenn aber die Angst diffus und lähmend zumindest eine Ahnung von diesen Leitlinien. ist, dann wird sie dysfunktional. Da ist kein ein- Sartre hat sich zwar in seinem Atheismus deutiger Auslöser, sondern der Gegenstand der gegen diese Regeln aufgelehnt, es ist ihm aber Angst bleibt in den Worten Heideggers «völlig zeitlebens nie gelungen, aus seiner Perspektive unbestimmt» und bezeichnet letztlich «das Leilinien für ein gelingendes Leben zu skizzie- In-der-Welt-sein» (13). In Heideggers Worten: ren. Und Sartre spricht nicht von «Schuld». «Im Wovor der Angst wird das ‚Nichts ist es Doch die Freiheit birgt unweigerlich auch die und nirgends‘ offenbar.» Gefahr des Schuldigwerdens in sich, oft ohne Die Angst vor dem Tod als ultimative böse Absicht, nicht selten in schicksalshaf- Angst gehört hintergründig immer zu unserer ter Verkettung. Freiheit ist eng gekoppelt mit Existenz. In der Psychotherapie eröffnet diese Verantwortung. Meine Freiheit trifft auf ihre Angst Tore zur Unterwelt des Unbewussten. Grenzen, wo sie die Freiheit das Wohlergehen Doch ist sie oft so quälend, dass unsere Ratsu- anderer einschränkt. Somit habe ich Verant- chenden nur nach einer oberflächlichen Lösung wortung für mein Handeln und für «die Welt, suchen. Natürlich kann man die Gefühle mit die ich mir schaffe». Medikamenten lindern. Doch dahinter bleibt Der französische Existenzialist Gabriel die Frage: Was ist es, das mir Angst macht? Was Marcel versteht unter Freiheit, offen zu sein, befürchte ich zu verlieren? Wie gehe ich mit nicht «Freiheit von» Einengungen, sondern den Abgründen meines Lebens um? «Freisein für» etwas. Und diese ist eng gekop- pelt mit einem gläubigen Bezug zu einer Wirk- lichkeit über uns. These 6: Unsere Freiheit kann be- ängstigend sein und gibt uns Verant- Thesen 1 bis 6 reflektieren die oft so wortung schmerzliche und düstere Realität des Le- Wenn es keine Gebote und keine Grenzen bens. In den Thesen 7 bis 12 sollen nun Wege durch eine übergeordnete Macht gibt, dann zur Bewältigung der menschlichen Existenz muss der Mensch letztlich selbst sein Leben ge- aufgezeigt werden. stalten - ohne jede Leitplanken. Niemand sagt ihm, was gut oder schlecht ist. Er ist frei. Aber diese Freiheit kann enorme Ängste auslösen. Er These 7: Aufgabe unserer Existenz ist ist absolut frei, entscheidet selbst, was er ist und es, dem Leben einen Sinn zu geben wozu er sich macht. Ich kann sein, wer ich will Aufgabe unserer Existenz ist es, die Welt ak- und tun und lassen, was ich will. Allerdings er- tiv und positiv zu gestalten. Auch in widrigen weist sich nicht alles als hilfreich und gut. Und Umständen, in traumatischen Erfahrungen, hier habe ich Verantwortung, jedoch ohne mo- im Scheitern und im Verlust ist die existen- ralische Wertung meines Tuns. zielle Verzweiflung, Gebrochenheit und Resi- Ein christlicher Existenzialismus vertritt da gnation nicht der Endpunkt des Daseins. Ein einen radikal anderen Ansatz. Da ist eine letzt- christlicher Existenzialismus ruft auf zu einem lich moralische Instanz, weil da Gott ist. Die «Dennoch», selbst in den Abgründen der Grundzüge der moralischen Leitplanken sind Existenz. Viktor Frankl’s Buchtitel nach seiner www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 9 Entlassung aus dem KZ war programmatisch: Unfall, ein «Es», das da geschieht, ohne Bezug «Trotzdem Ja zum Leben sagen». So wurde zu mir. Doch wenn ich über die Straße renne, er in unserer Zeit zum Vordenker der aktiven um der verletzten Frau zu helfen, in ihr ver- Suche nach Sinn, auch in schwierigen Lebens- schrammtes Gesicht schaue, dann verwandelt umständen. sich das «Es» in ein «Du». Ich nehme Anteil an ihrem Schicksal und trete in eine Beziehung Trotzdem Ja zum Leben sagen ein, sei sie kurz oder später sogar vertieft. Beziehungen definieren uns als Person. Sie Viktor Frankl helfen den Menschen aber auch im Bewältigen des sinnlosen Leids, das sie vielleicht betrof- Frankl plädiert für die Sinngestaltung selbst fen hat. Immer wieder liest man in Interviews in widrigsten Lebenslagen: «Denn das Leben traumatisierter Menschen, wie sehr ihnen Be- erweist sich grundsätzlich auch dann noch als ziehungen geholfen haben, wie sie ihnen das sinnvoll, wenn es weder schöpferisch fruchtbar Gefühl gaben, nicht allein zu sein. noch reich an Erleben ist.» Es kommt darauf Da sind Menschen, an deren Schulter man an, «wie der Mensch zu einer Einschränkung sich ausweinen kann, Freunde, die mitleiden seines Lebens sich einstellt.» Es «eröffnet sich und mittragen. Und gläubige Menschen gehen ein neues, eigenes Reich von Werten, die sicher- noch weiter, indem sie vielleicht sagen, wir wis- lich sogar zu den höchsten gehören.» (14) Und sen, dass Menschen für uns beten, wir fühlen Kierkegaard fordert einen «christlichen He- uns getragen durch diese transzendente spiri- roismus», «das Wagnis zu unternehmen, ganz tuelle Realität, das Auffangnetz des Gebetes man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, der Menschen um uns herum. So entsteht aus dieser bestimmte einzelne Mensch, allein vor Beziehung eine Gemeinschaft, und daraus (oft- Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung mals) Trost und Mitgefühl. und mit dieser ungeheuren Verantwortung.» (15) These 9: Jenseits der Existenz gibt es These 8: Alles Leben ist Beziehung Transzendenz «Das Ich ist nur in Beziehung zu einem Du «Mein ganzes Leben habe ich meinen Wert gegeben» – in diesem Grundsatz (16) sind sich nur aus der Arbeit bezogen, und jetzt bricht eigentlich alle Existenzialisten einig. So ver- mir der Boden unter den Füssen weg. Meine zweifelt einsam das Leben in seiner Geworfen- ganze Existenz ist in Frage gestellt. Und plötz- heit auch ist, der Mensch braucht ein Gegen- lich bricht wieder die Sehnsucht nach einer über, um sich selbst zu spüren, sich selbst zu höheren Macht in mir auf. Was gibt mir noch spiegeln. Es sei das «Erblickt-Werden» durch Kraft und Sinn?» Eine solche Aussage kann den andern, der andere bewirke etwas in mir, zur Sternstunde in einer Psychotherapie wer- doziert Sartre. In der Liebe unterwerfe sich der den (18). Mensch der Freiheit des anderen, merke aber Auch wenn ich verurteilt dazu bin, mein immer wieder, dass ihm das nicht gelinge (17). Leben selbst zu gestalten, wenn Schmerz, Lei- Demgegenüber sieht Marcel Beziehungen den und Vergänglichkeit zu meinem Leben ge- als wichtig an, um aus der distanzierten Passi- hören, so ist da doch etwas über mir, jenseits vität in ein engagiertes Handeln zu kommen. von mir (das bedeutet ja das Wort «transzen- So lange ich nur auf der anderen Straßenseite dent»). Gott mag mich in dieser Welt ausge- eine Radfahrerin stürzen sehe, sehe ich einen setzt haben, ja sein «Angesicht vor mir ver- www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 10 borgen haben», wie der Psalmist klagt, aber was wir mit unseren begrenzten Denkfähigkei- «dennoch suche ich dein Angesicht». Das Le- ten erkennen können. Doch die «Chiffren der bensschicksal folgt existenziellen Grundsätzen, Transzendenz» weisen ständig darauf hin. Es aber in seiner Bewältigung blickt der gläubige ist diese Transzendenz, die zum Bezugsrahmen Mensch auf zu Gott und seinen Verheißungen, der menschlichen Existenz wird, auch wenn die weit über die irdische Existenz hinausrei- viele Ereignisse sinnlos erscheinen. chen. Hier hört agnostische oder atheistische Doch wie überbrückt man den Graben zwi- Philosophie auf. Hier wird der gläubige Den- schen der wissenschaftlichen Erkenntnis (die ker zum «Toren» in den Augen der Welt. Ein Gott ausblendet) und dem persönlichen Glau- solcher christlicher Existenzialismus zieht aber ben. Zwischen diesen beiden Bereichen gibt es DER SPRUNG: Søren Kierkegaard erkannte die Unmöglichkeit, vom be- grenzten Wissen der Ver- nunft zum persönlichen spirituellen Glauben zu gelangen. Nur eine Verän- derung des Denkens, der «Sprung des Glaubens» kann diesen Graben über- winden. nach sich ein aktives Ringen um eine Bezie- keinen fließenden Übergang. Hier hat Kierke- hung zu Gott, die sich letztlich der Vernunft gaard das Konzept des Sprungs formuliert, der entzieht. den Graben zwischen objektiver Vernunft und Wissenschaft ist relativ, ja sie stützt sich auf dem Glauben überwindet. Christsein sei der Forschungsinstrumente, die letztlich transzen- «qualitative Sprung» schlechthin (20). dente und spirituelle Realitäten nicht erfassen können. Derartige «Erkenntnis» ist einem Forscher zu vergleichen, der mit einer Kerze These 10: Hoffnung gibt Halt in den 20 Meter hohen Dom einer Tropfstein- Leiden und Vergänglichkeit höhle zu erleuchten sucht. Es gibt eine Wirk- Die größte Gefahr eines atheistischen Exis- lichkeit, die nicht einer allgemeingültigen tenzialismus ist die Hoffnungslosigkeit. Er und beweisbaren Erkenntnis zugänglich ist. löst den Menschen aus allem heraus was ihn Kierkegaard beobachtete sehr treffend: «Jede halten könnte. Und diese grundsätzliche Ent- Wissenschaft befindet sich entweder in einer fremdung des Menschen trägt in sich auch eine logischen Immanenz oder in der Immanenz in- abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit: der Mensch nerhalb einer Transzendenz, die sie nicht erklä- im Nichts zurückgeworfen auf sich selbst und ren kann.» (19) Es gibt einen Raum über dem, seine verzweifelte Existenz. Führt nicht die www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 11 Akzeptanz von Vergänglichkeit, Leiden und Hoffnung steht die spirituelle Hoffnung: Angst beinahe zwangsläufig in eine Existenz die Ewigkeitshoffnung der Transzendenz ohne Hoffnung? im christlichen Sinn. Sie lässt etwa Paulus Dem widersprechen die menschliche Natur in einer durchaus existenzialistischen Stim- und die Erfahrung aus der Therapie. Menschen mung mit der vollen Akzeptanz des irdi- suchen Hoffnung. Hoffnung ist es, was sie be- schen Leidens folgende Worte schreiben: flügelt, auch in düstersten Lebenssituationen. «Denn ich bin überzeugt, dass die Leiden Hoffnung hat einzelnen Menschen immer wie- dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegen- der geholfen, gegen ihr Schicksal und gegen über der Herrlichkeit, die an uns offenbart ihre existenzielle Verzweiflung zu kämpfen. werden soll.» (22). Und Hoffnung ist eine zentrale Aussage im Kann man in der heutigen Zeit noch eine Rahmen eines christlichen Existenzialismus christliche Hoffnung vertreten? Ist Hoffnung (21). nicht letztlich nur diesseitig, eine Hoffnung auf Hoffnung bedeutet eine Zuversicht, die eine bessere Zukunft durch wissenschaftliche über die Ressourcen unserer persönlichen Erkenntnis und Fortschritt der Menschheit? In Existenz hinausgeht. Doch Hoffnung ist nicht den 1970er Jahren kam es zu einem «säkularen nur «Pie in the sky» (die unerreichbare Torte Hoffnungsenthusiasmus», dem der Theologe in der unsichtbaren Ewigkeit). Ich sehe zwei Jürgen Moltmann sein Buch «Theologie der Hauptlinien: Hoffnung» (23) entgegenstellte. Grundlegend >> Hoffnung entsteht ganz konkret durch war für ihn der Begriff der «Verheissung», die die konstruktive Gestaltung des Lebens in über die positive Veränderung der gegenwärti- dieser Welt: Kranke Menschen hoffen auf gen Welt hinausging. die Fortschritte der Medizin; Hungernde hoffen auf die Versorgung mit Lebensmit- These 11: Weisheitskompetenzen teln; Menschen in Not hoffen auf die Hilfe weisen den Weg durch mitfühlende Menschen. Mindestens so destruktiv wie die Verzweif- >> Doch über diesen menschlichen Wegen der lung ist die Gefahr der Verbitterung. Der Ber- liner Psychotherapeut Mi- Tabelle2: Zehn Weisheitskompetenzen (nach Baumann und Linden 2008) chael Linden beschrieb die 1. Faktenwissen und Problemlösewissen: Situationsanalyse posttraumatische Verbitte- 2. Kontextualismus ist die Fähigkeit, zeitliche und thematische Verbindungen zwi- rungsstörung (24) als eine schen verschiedenen Lebensbereichen und -erfahrungen zu erkennen. Sonderform der Depressi- 3. Werterelativismus berücksichtigt beim Urteil über das Denken und Verhalten anderer deren individuelle Geschichte und Wertvorstellungen. on. Therapeutisch wirksam 4. Ungewissheitstoleranz erlaubt, Unsicherheit auszuhalten und trotzdem entschei- ist für den, der sich darauf den oder handeln zu können Fakten- und Problemlösewissen. einlässt, die Entwicklung 5. Emotionswahrnehmung bedeutet, eigene Gefühle zu registrieren und zu beurtei- len, ob sie der Situation angemessen sind. von Weisheitskompetenzen 6. Serenität / Gelassenheit bezeichnet die Fähigkeit, Emotionen so zu kontrollieren, (25). Uralte Leitlinien für ein dass sie Denken, Handeln und Wohlbefinden nicht übermäßig stören. gelingendes Leben wurden 7. Empathie bedeutet, die Gefühle und das Erleben anderer nachempfinden und sich auf andere einstellen zu können. durch neuere Forschungen 8. Nachhaltigkeit kennzeichnet ein Verhalten, das kurzfristig vielleicht anstrengt, in zehn Grundhaltungen langfristig aber zum Ziel führt. zusammengefasst, die zu 9. Perspektivwechsel beinhaltet, einen Sachverhalt oder Konflikt aus der Sicht an- derer Beteiligter zu betrachten. einer veränderten Sicht des 10. Selbstdistanz ist die Fähigkeit, höherrangige Ziele zu identifizieren und dafür Lebens führen können (vgl. eigene Interessen zurückzustellen. Tabelle 2). www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 12 Die Weisheitskompetenzen schlagen und dann wieder ins Dunkel entschwindet, eine Brücke zwischen Annahmen eines dies- sozusagen «auf leisen Pfoten von Dunkel zu seits-orientierten Existenzialismus und den Dunkel» (28). Man wird erinnert an das zuvor Weisheiten, die bereits in den alttestamentli- zitierte Gedicht «Ecce homo» von Jochen chen Büchern, wie etwa den Sprüchen Salomos Klepper. Doch er geht weiter und formuliert in und dem Buch Kohelet ausformuliert wurden. seiner Schlusszeile: «Ich sehe meine Ziffern rasch verbleichen. Was ich auch schrieb, hat seinen Sinn ver- These 12: Lebensbewältigung loren / Und aus der Wirrnis werden Got- erfordert Akzeptanz und tes Zeichen / als einziger Wert, der morgen existenzielle Gelassenheit gilt, geboren.» Die oben genannten Kompetenzen führen nahtlos hinüber zu einer existenziellen Grund- tugend schlechthin, zur Akzeptanz unserer Schlussfolgerung zerbrechlichen Existenz. Gerade weil Grenz- Christlicher Existenzialismus vertritt in situationen definitionsgemäß «Situationen, in aller Vergänglichkeit des Irdischen eine Ewig- denen Existenz sich unmittelbar verwirklicht, keitshoffnung, die trägt und neue Perspektiven letzte Situationen, die nicht verändert oder eröffnet. Dabei bleibt der christliche Existen- umgangen werden können» ( Jaspers), kann zialist bescheiden: Er ist (in den Worten von aller Aktivismus das Steuer nicht herumreißen. Gabriel Marcel) nicht ein «homo sapiens» Über die Jahrhunderte haben große Denker sondern ein «homo viator», ein Mensch auf und Stammtischphilosophen gleichermaßen dem Weg. Grundlinien der Akzeptanz des Unveränder- lichen formuliert. Berühmtes Beispiel ist das sogenannte «Rheinische Grundgesetz»: «Et es wie et es. Et kütt wie es kütt.» (26) Der christliche Existenzialist Dies gilt auch für heftige innere Konflikte. ist nicht ein «homo sapiens» Henri Nouwen gab in seinen Büchern einen ungeschminkten Einblick in seine inneren sondern ein «homo viator», Kämpfe: «Dass ich meine Gefühle und inne- ein Mensch auf dem Weg. ren Regungen so wenig in der Gewalt habe! Oft muss ich ihnen einfach ihren Lauf lassen nach Gabriel Marcel und kann nur hoffen, dass sie mich nicht zu lange beherrschen.» (27) Gerade Menschen, die in der Grenzsitua- tion einer unheilbaren, ja tödlichen Krankheit stehen, entwickeln oft eine tiefe existenzielle Gelassenheit und erleben für sich zum Grei- fen nah die ersten 6 Thesen einer existenziellen Grundhaltung. Und doch geht ein christlicher Existenzialismus über die lapidare Feststellung hinaus, wir seien einem Hund vergleichbar, der unter einer Laterne durchtrabt, der aus dem Dunkeln ins Licht tritt, dort kurz verweilt www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 13 Endnoten Der Autor 1 Jaspers 1970 2 Irvin D. Yalom 1989 3 Eine gute Einführung geben die Bücher von Noyon und Heidenreich 2012 und Bakewell 2017 4 Hannah Arendt 1947 5 Ein Begriff, den Karl Jaspers (1919) in seiner «Psychologie der Weltan- schauungen» geprägt hat, S. 202 ff 6 So manches Lied von Paul Gerhard oder von Georg Neumark in den kirch- lichen Gesangbüchern zeugt von dieser bedingungslosen Gottesfurcht, Prof. Dr. med. Samuel Pfeifer, Facharzt etwa «Wer nur den lieben Gott lässt walten». 7 Jochen Klepper 2003, S. 14 für Psychiatrie und Psychotherapie, war 25 8 Psalm 90,12 Jahre lang Chefarzt der Klinik für Psychia- 9 Römer 8,22 trie und Psychotherapie «Sonnenhalde» in 10 Matthäus 5,45 11 Seit dem Philosophen Leibnitz als «Theodizeefrage» benannt. Riehen bei Basel / Schweiz. Er hat mehrere 12 Kohelet 3 - der Lesbarkeit halber in unterschiedlichen Übersetzungen Bücher und zahlreiche Artikel im Bereich 13 Heidegger, Sein und Zeit, S. 186-188 von Klinischer Psychiatrie, Psychotherapie 14 Frankl, Ärztliche Seelsorge, S. 92 15 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Vorwort und Seelsorge veröffentlicht, zuletzt mit 16 formuliert von Gabriel Marcel in Anlehnung an Martin Buber Utsch und Bonelli das Buch „Psychotherapie 17 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 344 ff. 18 Sie kann aber auch zum ethischen Spannungsfeld werden, vgl. Pfeifer und Spiritualität“ (Springer). Er ist nun in 2017 freier Praxis tätig und lehrt als Professor im 19 Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 60 Masterstudiengang Religion und Psychothe- 20 Das Konzept hat Kierkegaard vor allem in seiner „Unwissenschaftlichen Nachschrift“ ausformuliert. Einen ausführlichen Überblick gibt Kubsch rapie der Evang. Hochschule Tabor in Mar- 2010. 21 Vgl. Evans 1984 burg. Er ist verheiratet mit Annemarie Pfeifer 22 Römer 8,18 und hat drei erwachsene Söhne. 23 Moltmann 1964 24 Linden 2004 Website: www.seminare-ps.net 25 Baumann und Linden (2008). Weisheitskompetenzen und Weisheitsthera- pie 26 Das Rheinische Grundgesetz, nach Konrad Beikircher 2001 27 Nouwen, 1989, S.46 28 Ein Bild aus dem letzten Buch von Henning Mankell, „Treibsand“, S. 251 www.seminare-ps.net/exist
Samuel Pfeifer – ENTWURF EINES CHRISTLICHEN EXISTENZIALISMUS 14 LITERATURVERZEICHNIS Arendt H. (1946). French Existentialism. The Nation (New Längle A. (2014): Lehrbuch zur Existenzanalyse: Grundlagen. York) 23. Februar 1946. Online verfügbar: https://www. Facultas WUV, Wien. thenation.com/article/french-existentialism/; Zugriff am Linden M. et al. (2004). Die Post-Traumatische Verbitterungs- 08.11.2017 störung (PTED). Der Nervenarzt 85:51-57 Austin M.W. (2013). Kierkegaard: understanding the Christian Mankell H. (2015). Treibsand. Was es heisst, ein Mensch zu father of existentialism. Christian Research Journal. Online sein. Zsolnay, Wien. verfügbar: http://www.equip.org/article/kierkegaard-un- Moltmann J. (1964/2005): Theologie der Hoffnung. Unter- derstanding-the-christian-father-of-existentialism/; suchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen Zugriff am 03.12.2017. einer christlichen Eschatologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Baumann K. und Linden M. (2008). Weisheitskompetenzen und Weisheitstherapie. Pabst, Lengerich. Nouwen H.J.M. (1989). Nachts bricht der Tag an. Tagebuch eines geistlichen Lebens. Herder, Freiburg. Beikircher K. (2001). Et kütt wie et kütt – Das Rheinische Grundgesetz. Kiepenheuer und Witsch, Köln. Noyon A. & Heidenreich T. (2012). Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung. Beltz, Weinheim. Bollnow O.F. (1948). Gabriel Marcel. Christlicher Existen- zialismus. Die Sammlung, 3(7), S. 400-408, 3 (8) und Pfeifer S. (2015): Weisheit als Ressource in der Psychotherapie. 3(9), S. 549-562. Online verfügbar als PDF: http://www. Eine Einführung. Springer, Berlin, Heidelberg. otto-friedrich-bollnow.de/getmedia.php/_media/ Pfeifer S. (2017). Religiöse Patienten und säkulare Therapeuten ofbg/201504/600v0-orig.pdf; Zugriff am 19.10.2017 – ein ethisch-therapeutisches Spannungsfeld. Spiritual Evans C.S. (1984). Existentialism. The philosophy of despair & Care 6:21-29. the question of hope. Zondervan, Grand Rapids MI. Sartre J.P. (1943/2017). Das Sein und das Nichts. Versuch einer Feichtner A. (2016). Existenzielle Verzweiflung am Lebensende. phänomenologischen Ontologie. Rowohlt, Reinbek. Online: http://www.sinnforschung.org/wp-content/up- Sartre J.P. (1947/2016). Der Existenzialismus ist ein Humanis- loads/2016/02/Existenzielle-Verzweiflung-Feichtner-2016. mus. Rowohlt, Reinbek. pdf; Zugriff am 03.11.2017 Schleske M. (2010). Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Frankl V. (1947/2009). Trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psy- Lebens. Kösel, München. chologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel, München. Schnell T. (2017). Psychologie des Lebenssinns. Springer, Berlin Frankl V.E. (2007):. Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logo- und Heidelberg. therapie und Existenzanalyse. Dtv, München. Van Deurzen E. (2013). Existential Counselling & Psychothera- Heidegger M. (1927). Sein und Zeit. Online: https://taradajko. py in Practice. New York: Sage. org/get/books/sein_und_zeit.pdf; Zugriff am 5.11.2017 Yalom I.D. (1989/2010). Existenzielle Psychotherapie. Edition Jaspers K. (1935/1973). Vernunft und Existenz. Piper, Mün- Humanistische Psychologie, Bergisch Gladbach. chen. Jaspers K. (1919). Psychologie der Weltanschauungen. Sprin- ger, Berlin; erhältlich als Nabu Public Domain Reprint. Jaspers K. (1970). Chiffren der Transzendenz. Piper, München. Kierkegaard S. (1843/2014). Entweder – Oder. Dtv, München. Kierkegaard S. (1844/1992). Der Begriff Angst. Reclam, Stutt- Einführungsliteratur gart. in die Philosophie Kierkegaard S. (1848/1997). Die Krankheit zum Tode. Reclam, des Existenzialismus: Stuttgart. Bakewell S. (2017). Das Café der Existenzialisten: Freiheit, Sein Kierkegaard S. (1844/2005). Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Dtv, München. und Aprikosencocktails. C.H. Beck, München. Klepper J. (2003). Ziel der Zeit. Die gesammelten Gedichte. Pieper A. (2014). Søren Kierkegaard. C.H.Beck, München. Luther-Verlag, Bielefeld. Ziegler W. (2015). Sartre in 60 Minuten. Books on Demand, Kubsch R. (2010). Kierkegaards Sprung. MBS-Texte, Nr. 144; Norderstedt. Online: https://www.bucer.de/fileadmin/_migrated/ tx_org/mbstexte144.pdf; Zugriff am 10.11.2017. www.seminare-ps.net/exist
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