Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée* Wertkonflikte in der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung und Praxis
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Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 187 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée* Wertkonflikte in der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung und Praxis** Angewandte Forschung ist nicht nur – wie eine theorieorientierte Wissenschaft – dem Kri- terium der „Wahrheit“, sondern auch jenem der „Nützlichkeit“ verpflichtet. Für eine wissen- schaftlich begründete Praxis gilt dies nahezu in ausschließlichem Maße. Sobald Forschung nützlich sein will, stellt sich die Frage, wem der erhoffte Nutzen zugute kommen soll. Sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch spezifisch in den Organisationen der Wirtschaft und Ver- waltung bestehen vielerlei Interessengegensätze. Daher lässt sich fragen, in wessen Dienst sich arbeits- und organisationspsychologische Forschung implizit oder explizit stellt. Aus der Viel- zahl denkbarer Interessenbindungen wurde in dieser Untersuchung der häufig zitierte Gegen- satz zwischen dem Individuum und der Organisation thematisiert. Am Beispiel von zwei Fach- zeitschriften wurde überprüft, ob die publizierten Forschungsinhalte über einen Zeitraum von 34 bzw. 24 Jahren eher im Interesse der Organisation oder eher im Interesse des Individuums stehen. Für das „Journal of Applied Psychology“ zeigte sich eine durchgehend stabile Themen- auswahl im Interesse der Organisation. Für die „Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsy- chologie“ gilt dies nicht. Sie war als „Psychologie und Praxis“ zunächst eher am Individuum orientiert, stellte dann nach ihrer Umbenennung die Interessen der Organisation in den Vor- dergrund und hat in den letzten Jahren zu einer ausgeglichenen Berücksichtigung beider Inte- ressenlagen gefunden. Value conflicts in industrial and organizational-psychological research and practice Applied research is committed not only to the criterion of the „truth“ – like a theory-oriented science – but also to the criterion of „usefulness“. This applies particularly to scientifically justified practice. As soon as the aim of research is that it be useful, the question arises as to whom is to benefit from it. Both in society generally and specifically in economic and administrative organizations there are various clashes of interests. Therefore, the question can be asked as to who benefits explicitly or implicitly from industrial and organizational psychological research. From the multiplicity of conceivable interest linkages, the frequently quoted contrast between the individual and the organization was named in this study. The contents of two scientific journals were evaluated over a period of 34 or 24 years to discover whether the research documented in them was in the interest of the organization or in the interest of the individual. The „Journal of Applied Psychology“ showed a continuous stable topic selection in the interest of the organization. This does not apply for the „Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie“. Under its previous title „Psychologie und Praxis“ it was aimed primarily at the individual, once it was renamed focused on the interests of the organization and in recent years it has aimed to provide a balanced consideration of both interest positions. ____________________________________________________________________ * Prof. Dr. Dr. h.c. Lutz von Rosenstiel, Jg. 1938, Professor an der Ludwig-Maximilians- Universität München, Institut für Psychologie, Lehrstuhl für Organisations- und Wirtschafts- psychologie, Leopoldstr. 13, D-80802 München. Arbeitsgebiete: Organisationsklima, Soziali- sation in Organisationen, Werte in Organisationen. Dipl.-Psych. Ralph-Michael Woschée, Jg. 1968, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lud- wig-Maximilians-Universität München, Institut für Psychologie, Lehrstuhl für Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Leopoldstr. 13, D-80802 München. Arbeitsgebiete: Personal- fluktuation, Commitment in Organisationen, Lernkultur im Unternehmen. ** Artikel eingegangen: 3.12.2001. revidierte Fassung akzeptiert nach zweifachem Begutachtungsverfahren: 18.12.2001.
188 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie 1. Einführung Der 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1996 (Mandl 1997) fand in München statt und stand unter dem Rahmenthema „Wissen und Handeln“. Die Organisatoren der Tagung hatten dabei eine Podiumsdiskussion zur Ethik innerhalb der Psychologie eingeplant, zu der durch vielerlei Schriften ausge- wiesene renommierte Wissenschaftler aus der Psychologie und aus anderen Fachge- bieten eingeladen wurden. Man rechnete mit hohem Interesse und reservierte daher für diese Veranstaltung den größten Hörsaal der Münchner Universität, das Auditori- um Maximum. Peinlich war dann allerdings der Anblick, der sich insbesondere den von außen eingeladenen Diskutanten bot. Von den weit über 2000 Kongressbesu- chern verloren sich gerade einmal 10(!) in den weitläufigen Bankreihen des riesigen Hörsaals. Ethik scheint für die Psychologie – zumindest aber für die deutschsprachi- gen Wissenschaftler auf diesem Gebiete – „kein Thema“ zu sein, obwohl es mancher- lei ethische Probleme auch aus der psychologischen Grundlagenforschung zu ver- melden gilt (Schuler 1980). Dies sieht in anderen wissenschaftlichen Disziplinen anders aus. Innerhalb der Naturwissenschaften und der Technik werden vehemente Diskussionen darüber ge- führt, ob der Wissenschaftler eine Mitverantwortung dafür trägt, was seine Erkennt- nisse für die Gesellschaft insgesamt, für die Menschen, aber auch für die Erde und ih- re Ökologie bedeuten (Lenk 1991). Durch die auch literarische Darstellung des „Falls Oppenheimer“1 sind die ethischen Probleme und Verantwortlichkeiten der Naturwis- senschaftler angesichts der bedrückenden möglichen Folgen ihres Handelns auch ei- ner breiten Öffentlichkeit bewusst geworden. Technikfolgenabschätzung wird heute unter vielerlei Gesichtspunkten, auch unter ethischen (Dierkes 1988, 1989; Barben/ Dierkes 1991) beschrieben. In der Medizin hat sich – u.a. ausgelöst durch erschreckende medizinische Un- tersuchungen während des Dritten Reiches in den Konzentrationslagern – eine inten- sive ethische Debatte entfaltet (Mitscherlich/Mielke, 1960). So wurden im Kontext des Nürnberger Militärtribunals 10 Regeln, der sog. „Nuremberg Code“ formuliert, in denen möglichst prägnant festgelegt wurde, unter welchen Bedingungen medizini- sche Experimente zulässig sind (Katz 1972a). Derartige Regelwerke haben allerdings in der Medizin eine lange Tradition; ähnliche wurden bereits 1847 in den USA als „code of ethics of the American Medical Association“ formuliert (Katz 1970b). Dass gerade die Medizin hier früh sensibel wurde, überrascht angesichts des Umstandes, dass es hier im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht, nicht und auch nicht angesichts des Umstandes, dass z.B. Menschen ohne ihr Wissen mit den Erre- 1 Bekanntlich geriet der Atomphysiker Jacob Robert Oppenheimer (1904-1967), der als „Vater der Atombombe“ gilt, in subjektiv erlebte ethische Konflikte. Er weigerte sich am Bau der Wasserstoffbombe mitzuwirken, worauf ihm 1954 der Zugang zu geheimen Forschungspro- jekten entzogen wurde. Erst 1963 erfolgte die Rehabilitierung.
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 189 gern einer tödlichen Krankheit infiziert wurden, um an ihnen – dies dann zum „Woh- le der Menschheit“ – ein Therapeutikum zu erproben. Aber auch in den Wirtschaftswissenschaften hat in jüngster Zeit eine intensive ethische Diskussion eingesetzt, die letztlich bereits bei Adam Smith (1759) angelegt wurde und die Begründung des Marktes als ein Ordnungsprinzip auch darin sah, dass dieser als „unsichtbare Hand“ für eine gerechte Regelung zwischen den Interessen ohne eines dirigistischen Zugriffs des Staates zu sorgen in der Lage sei und somit in einer optimalen Weise dem Wohle aller dienen könne (Albert 1973). Zweifel daran, ob durch die Marktwirtschaft in ihrer realen Erscheinungsform ethischen Werten, wie etwa jenen der Gerechtigkeit, gedient wird, haben zugenommen, seit die Kluft zwi- schen Arm und Reich immer größer wird, ein Prozess, der sich nach dem Niedergang der sozialistischen Systeme in Osteuropa dort besonders anschaulich beobachten lässt, und seit die Globalisierung auch deutlich werden lässt, dass die damit in Gang gesetzten Marktprinzipien reiche Länder noch reicher und arme Länder meist noch ärmer machen. Dies lässt auch in der Wissenschaft ethische Diskurse aufbrechen, die z.T. von außen – etwa durch individuelle Globalisierungsgegner und nichtstaatliche Organisationen – ausgelöst wurden. Dabei sei die Verletzung von Prinzipien der sozi- alen Gerechtigkeit nur als ein Beispiel genannt. Andere inhaltliche Felder, etwa das Bewahren der Umwelt und der Artenvielfalt, insbesondere der Schutz des Klimas, ließen sich ebenfalls ins Feld führen. Ebenso in der inhaltlich der Arbeits- und Organisationspsychologie näher ste- henden Betriebswirtschaftslehre hat die ethische Debatte an Intensität zugenommen. Ulrich (1986) plädiert für einen „Diskurs Ethik“ und fordert die „Transformation der ökonomischen Vernunft“. Vielfach wird ein Prinzip der Verantwortung eingefordert (Lenk/Maring 1998). Wie weit verzweigt die inhaltliche Debatte dabei ausgefächert ist, zeigt das Lexikon der Wirtschaftsethik (Enderle et al. 1993) sowie eine kommen- tierte Bibliographie zur wirtschaftsethischen Literatur (Müller 1995). Dabei werden – insbesondere im angelsächsischen Raum – nicht nur ethische Grundlagenprobleme der Volks- und Betriebswirtschaftslehre thematisiert, sondern in einer durchaus pragmatischen Weise auch konkrete Felder wie gesundheitsgefährdende Arbeitsplät- ze, Umweltschutz, Personaleinstellung und Personalentlassung, Diskriminierung be- stimmter Gruppen am Arbeitsplatz, Korruption, Verbot gewerkschaftlicher Organisa- tion, Kinder- und Zwangsarbeit etc. (Brown 1996). Derartige gesellschaftlich sichtbar werdende Probleme lassen sich in der Psy- chologie als einer Grundlagenwissenschaft kaum beobachten. Ihre Forschung berührt zentrale Fragen von Leben oder Tod auch nicht so nachhaltig wie etwa die Medizin. Entsprechend wundert das relative Desinteresse der Psychologie an einer ethischen Diskussion auch weniger, obwohl hier in der Forschung manches einer entsprechen- den Diskussion bedarf, wie z.B. das Belügen von Versuchspersonen, um dadurch zu bestimmten Erkenntnissen zu gelangen, die Induzierung von Angst, die nachhaltige Verletzung des Selbstwertgefühls der Versuchspartner, z.B. in Experimenten nach der Art der Milgram-Studien (Milgram 1963, 1974). Wie aber sieht dies in der Ange-
190 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie wandten Psychologie, speziell in der Arbeits- und Organisationspsychologie aus? Ist nicht hier eine ethische Debatte dringend erforderlich? 2. Psychologische Grundlagenforschung – anwendungsorientierte psychologi- sche Forschung – wissenschaftlich begründete psychologische Praxis In vielen Wissenschaften lässt sich eine parallel laufende Differenzierung des wissenschaftlichen Handelns beobachten. Da gibt es zum einen die Grundlagenfor- schung, der es frei von außerwissenschaftlichen Zwängen und Anforderungen darum geht, bestehende Erkenntnis zu sichern und zu erweitern. Sie ist – pointiert ausge- drückt – allein am Ziel der „Wahrheit“ orientiert. Dass im Zuge dieser Forschung er- arbeitete Erkenntnisse gelegentlich Revolutionen im praktischen Leben auslösten, wie dies z.B. für die Entdeckungen der Elektrizität oder der Atomspaltung gilt, war nicht von den Forschern intendiert. Dies sieht bei anwendungsorientierter Forschung anders aus. Hier kommt ver- mittelt oder unvermittelt die Anregung zur Forschung aus potenziellen Anwendungs- feldern. Die Forschungsergebnisse sollen dort zur Lösung von Problemen beitragen und in diesem Sinne nützlich sein. Es handelt sich dabei also nicht – zumindest nicht grundsätzlich – um die Aufbereitung des in der Grundlagenforschung Erarbeiteten für die Praxis, sondern es wird in den angewandten Forschungsdisziplinen selbst For- schung betrieben, die in ihren Methoden meist nicht grundsätzlich von jenen in der Grundlagenforschung unterschieden sind. Der Unterschied liegt zum einen in der Herkunft der Fragestellung, die bei der Grundlagenforschung in Lücken oder Wider- sprüchen der Theorie des bestehenden Systems der Erkenntnisse liegt, und er besteht im Anspruch auf unmittelbare Nutzung der Forschungsresultate. Davon ist wiederum das wissenschaftlich begründete Handeln in der Praxis ab- zuheben. Hier geht es nicht darum, neue Erkenntnis zu gewinnen, sondern das in der Regel in der Angewandten Forschung, gelegentlich aber auch – eher zufällig – in der Grundlagenforschung erarbeitete Veränderungswissen (Kaminski 1970) im Dienste eines Auftraggebers so zu nutzen, dass sich für diesen erhoffte Problemlösungen er- geben. Selbstverständlich ist diese soeben skizzierte Dreiteilung nicht trennscharf; die Begriffe wurden hier akzentuierend verwendet. So wird häufig bei grundlagenorien- tierten Forschungsprojekten auch am Rande die mögliche Nutzung mitbedacht, was den Forschungsprozess beeinflusst, und auch in anwendungsorientierten Forschungs- projekten erhofft man sich nicht selten eine Differenzierung oder Präzisierung der be- stehenden Theorie. Aber auch beim wissenschaftlich begründeten praktischen Han- deln fallen gelegentlich Daten an, die für die anwendungsorientierte Forschung über- aus nützlich sind und zur Optimierung bestehender Technologien, vielleicht sogar zu Innovationen beitragen können. Die soeben allgemein skizzierte Differenzierung gilt auch in der Psychologie. Hier gibt es – exemplarisch innerhalb der Allgemeinen Psychologie – eine Grundla- genforschung (Witte 1966), die gelegentlich auch als „psychologisch-wissenschaft-
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 191 liche Innovation“ oder gar „Psychologie als Wissenschaft“ (Herrmann 1979), als „Theoretische Psychologie“ (v. Rosenstiel 2000) oder auch als „Theorieorientierte Forschung (Irle 1977) bezeichnet wird. Hier also geht es um den Erkenntnisgewinn um seiner selbst willen, um die „Wahrheit“. Daneben – und in der Psychologie zu- nehmend – gibt es unterschiedlichste Felder anwendungsorientierter Forschung, die meist unter dem Begriff „Angewandte Psychologie“ zusammengefasst werden (Ana- stasi 1973; Witte 1977; Gebert/v. Rosenstiel 2002). Münsterberg (1913), der vielfach als Pionier der Angewandten Psychologie gilt, bevorzugte allerdings den Ausdruck „Psychotechnik“, Irle (1975) spricht von „problemorientierter Forschung“, Herrmann von „psychologisch-technologischer Innovationstätigkeit“. Innerhalb des Studiums der Psychologie dominiert die Darstellung der Grundlagenforschung vor der Diplom- Vorprüfung, während die Angewandte Psychologie – insbesondere in ihren Ausprä- gungen als Klinische Psychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie, Pädagogi- sche Psychologie und Rechtspsychologie – im Abschnitt nach der Diplom- Vorprüfung dominiert. Einigen Vertretern der theorieorientierten Grundlagenfor- schung ist dies ein Ärgernis. Herrmann (1979. 167) etwa betrachtet es als „objektive Schädigung einer wissenschaftlichen Disziplin“, die „skandalös“ sei, wobei „dieser Skandal... nur noch von dem anderen übertroffen wird, dass dieser Zustand kaum zur Kenntnis genommen wird“. Die Forschung in den genannten, aber auch in anderen anwendungsorientierten Disziplinen ist also kontextbezogen und dient dem Ziel, in ausgewählten gesellschaft- lichen Feldern nützlich zu sein und dazu beizutragen, durch spezifische psycho- oder soziotechnische Innovationen bestehende Probleme zu lösen oder das Entstehen von Problemen zu verhindern. Das Verhältnis der theorieorientierten Grundlagendisziplin – z.B. der Allgemei- nen Psychologie – zu den anwendungsorientierten Forschungsdisziplinen – z.B. der Arbeits- und Organisationspsychologie – ist nicht das des Allgemeinen zum Speziel- len. In unterschiedlichen angewandten Psychologien wird jeweils die Interaktion der Person mit einer spezifischen Umwelt – z.B. einer Organisation, in der menschliches Erleben und Verhalten in der spezifischen Ausformung als Arbeit auftritt – themati- siert. Dies wiederum bedeutet, dass das System der Erkenntnisse in den angewandten Disziplinen unter Einschluss ihrer Theorienbildung den Kontext mit einbeziehen muss und dadurch partiell in Nachbarwissenschaften „wildert“. So ist Theorienbil- dung in der Arbeits- und Organisationspsychologie nicht darauf beschränkt, mensch- liches Handeln und Erleben zu thematisieren, sondern dies spezifisch in der Form des Arbeitshandelns, das sich in Organisationen vollzieht, zu modellieren. Damit werden meist bestimmte „Bausteine“ (Klages 1967) aus Nachbarwissenschaften, z.B. der be- triebswirtschaftlichen oder soziologischen Organisationslehre, der Arbeits-, Ingenieurs- oder Rechtswissenschaft herausgebrochen und in die arbeits- und organisations- psychologische Theorie integriert. Zumindest gilt dies für jene Form der heute meist betriebenen Arbeits- und Organisationspsychologie, die sich auf den Gegenstand der Erwerbsarbeit in Organisationen (Ulich 2001; v. Rosenstiel 2000) verengt und z.B. zum einen die Hausfrauenarbeit oder die Arbeit Selbständiger, aber auch Nichtarbeit
192 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie in Organisationen, wie sich dort bildende kulturelle Normen, erotische Beziehungen, Firmenwitze etc., vernachlässigt. Das Studium der Arbeits- und Organisationspsychologie sollte sodann – darauf legt z.B. der Berufsverband Deutscher Psychologen (BdP) großen Wert – als Grund- lage dafür dienen, dass der entsprechend qualifizierte Diplom-Psychologe wissen- schaftlich begründet und fundiert Individuen in der Organisation oder aber die Orga- nisationen selbst zu beraten in der Lage ist, um auf diese Weise Nutzen zu stiften. Während es also in der Angewandten Psychologie als einer bestimmten For- schungsausrichtung gleichermaßen um „Wahrheit“ und „Nützlichkeit“ geht, steht in der Praktischen Psychologie, im wissenschaftlich begründeten Handeln in der Praxis, ausschließlich der Nutzenaspekt im Vordergrund. Da aber in der Gesellschaft keine Interessenharmonie herrscht und vielfach Interessengegensätze zu beobachten sind, stellt sich bei der Postulierung von Nützlichkeit sofort die Frage: „Nützlich für Wen?“ Daraus nun ergeben sich vielfältige Wertkonflikte, auf die nun am Beispiel der Arbeits- und Organisationspsychologie eingegangen werden soll. 3. Auftragsabhängigkeit des Arbeits- und Organisationspsychologen? Arbeits- und Organisationspsychologische Forschung wird nicht selten als Auf- tragsforschung betrieben, wobei derartige Aufträge in der Regel von Unternehmen der Wirtschaft oder der öffentlichen Verwaltung stammen. Derartige Auftragsfor- schung kann unterschiedlich weit reichen und ganz verschiedenartige Größenordnun- gen annehmen. Sie reicht z.B. von einem mehrjährigen Projekt, in dem zwei For- schungsmitarbeiter finanziert werden und das im Auftrag eines Automobilunterneh- mens die Frage zu beantworten sucht, mit welchen Methoden geeignete Ingenieure für die Forschungs- und Entwicklungsabteilung ausgewählt werden können, bis hin zu einer, durch eine Stadtverwaltung mit kargen Sachmitteln geförderten Diplomar- beit, mit deren Hilfe die Wirksamkeit bestimmter Personalentwicklungsmaßnahmen, etwa eines Führungstrainings, evaluiert werden sollen. Ganz offensichtlich ist in die- sen Fällen die anwendungsorientierte Forschung von einem bestimmten Auftraggeber abhängig. Die Forschungsergebnisse sollen diesem nützlich sein, wobei zunächst of- fen bleibt, ob sie auch für andere Organisationen oder Personengruppen nützlich sein könnten oder gar für wieder andere – gemessen an deren Interessen – zum Schaden gereichen können. Die Auftragsabhängigkeit geht in exemplarisch genannten Fällen nicht selten so weit, dass die Forschungsergebnisse exklusiv dem Auftraggeber zur Verfügung stehen oder die Diplomarbeit mit einem Sperrvermerk versehen werden muss und so für andere Interessierte unzugänglich wird. Häufiger allerdings wird die Forschung aus öffentlichen Mitteln finanziert, etwa aus jenen der Hochschule, eines Bundes- oder Landesministeriums, der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder einer anderen forschungsfördernden Stiftung. Hier er- scheint der Forscher grundsätzlich in der Wahl des Forschungsgegenstandes frei; An- träge auf Förderung, die ggf. gestellt werden müssen, werden in erster Linie nach ih- rer wissenschaftlichen Qualität und ihrem Finanzvolumen, dagegen nicht oder nur in
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 193 zweiter Linie nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung bewertet. Dennoch darf man hier eine indirekte Auftragsabhängigkeit vermuten, denn wer anwendungsorientiert forscht, wird darauf hoffen, dass die Forschungsergebnisse genutzt werden, und die- ser Nutzen wird in erster Linie in den Organisationen der Wirtschaft – den Betrieben – oder der öffentlichen Verwaltung – den Behörden – realisiert werden und mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit bei den einzelnen Organisationsmitgliedern oder ihren Interessenvertretern, also Betriebs- oder Personalräten oder den Gewerkschaf- ten. Für die akademische Lehre auf dem Feld der Arbeits- und Organisationspsycho- logie dürfte Ähnliches gelten. Gelehrt wird – das ist meist auch das Interesse der Stu- dierenden – in der Regel das, was später in der Praxis genutzt werden kann, was also konkret gesprochen die Wahrscheinlichkeit der Absolventen steigert, eine angemes- sene Anstellung zu finden oder – falls sie sich selbständig machen – zu Aufträgen verhilft. Für den in der Praxis stehenden Arbeits- und Organisationspsychologen ist dann ohnehin – ganz gleich, ob er freiberuflich tätig oder in einem Betrieb bzw. in einer Behörde angestellt ist – Auftragsabhängigkeit gegeben. Er führt auf Grund seiner Fachkompetenz das aus, was von ihm gefordert wird. Selbstverständlich wird er ge- legentlich die ihm vorgegebenen Ziele in der Verhandlung über den Auftrag zu korri- gieren suchen, z.B. dann, wenn er seiner Fachkompetenz gemäß dem psychologisch wenig informierten Auftraggeber klar machen kann, dass keine geeigneten Methoden für die Erledigung des Auftrags zur Verfügung stehen, dass der Auftrag von falschen – fachlich nicht haltbaren – Voraussetzungen ausgeht und somit das Ziel unrealistisch ist. Er wird vielleicht auch gelegentlich – insbesondere im Gespräch mit Naturwis- senschaftlern, Technikern, Betriebswirten, Juristen – besondere psychologische Ge- sichtspunkte in die Auftragsformulierung einbringen können und dadurch mögli- cherweise gewisse Zielkorrekturen erreichen oder im Extremfall einen Auftrag, den er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, auch ablehnen. An der grundsätzli- chen Auftragsabhängigkeit ändert dies nichts. Es ist auch innerhalb des Faches durchaus umstritten, ob sich an diesem Zustand etwas ändern sollte. Münsterberg (1912, 18) hat dagegen bereits sehr früh Stellung bezogen: „Welches Ziel das bessere ist, .... geht den wirtschaftstechnischen Psycho- logen nichts an.“ Seine Aufgabe sei es, wissenschaftlich ganz bestimmte Kausalzu- sammenhänge zu beschreiben, nämlich jene „zwischen bestimmten zur Verfügung stehenden psychologischen Mitteln und gewissen möglichen Zielen. Die Auswahl zwischen den Zielen belässt er denen, die im praktischen Leben stehen.“ Auch Lewin (1920, 6), obwohl als Person hoch sensibilisiert für politische Konfliktlagen, argu- mentiert ähnlich: „Die Berufs- und Arbeitspsychologie vermag als angewandte Wis- senschaft nur eine ihr gesetzte Aufgabe zu erfüllen, nicht aber sich selbst eine Aufga- be zu setzen.“ Irle (1975) schließt sich diesen Auffassungen an, indem er darauf hin- weist, dass der Psychologe auf Grund seiner Fachkompetenz nicht das Recht habe, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie wollen sollen, sondern dass die Zielset- zung dem demokratischen Prozess bzw. den legitimierten Gremien zu überlassen sei.
194 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie „Es ist Aufgabe einer Gesellschaft, Techniken mit negativen Konsequenzen zu ver- hindern, aber es ist nicht eine Aufgabe der Theoretiker in ihrer Rolle als Theoretiker und der Forscher in ihrer Rolle als Forscher“ (Irle, 40). Allerdings gibt es auch seit Anbeginn der Beschäftigung der Psychologie mit Fragestellungen der Arbeit und des Handelns in Organisationen die explizite Gegen- position, also die Forderung, dass der Psychologe auf Grund seiner Fachkompetenz nachhaltig Einfluss auf die Ziele seiner Forschung nehmen sollte. Rupp (1929) betont etwa, dass die entsprechende Forschung nicht der Wirtschaftlichkeit zu dienen habe, sondern dem Wohl der Menschen, die die Wirtschaft schaffen und tragen. Lipmann (1932) fordert entsprechend in seinem Lehrbuch der Arbeitswissenschaft, dass es gel- te, folgende Fragen aufzuwerfen bzw. zu beantworten: Wie die Bestgestaltung der Arbeit vom Standpunkt des Arbeiters aussehe, welche betrieblichen Realisierungsmaßnahmen auch im Interesse des Arbeiters liegen oder zumindest dessen Interessen nicht verletzen und welche Maßnahmen die Interessen des Arbeiters schädigen können, welche durch Zusatzmaßnahmen den Schädigungen vorbeugen können. Die starke explizite oder implizite Interessengebundenheit arbeits- und organisa- tionspsychologischer Forschung und Praxis wurde besonders intensiv im Rahmen der sog. Kritischen Psychologie marxistischer Ausprägung (Volpert 1973; Groskurth/Volpert 1975; Groskurth/Tietze 1977) betont. Dort wurde – vereinfacht ausgedrückt – dahin gehend argumentiert, dass die Arbeits- und Organisationspsy- chologie innerhalb der Marktwirtschaft eindeutig im Dienste der Interessen des Kapi- tals stehe. Es gehe um die Intensivierung der Arbeit, also das Leistungsziel im Interesse der Kapitaleig- ner und die Stabilisierung bestehender Strukturen, die der Interessenlage des Kapitals entsprächen; dies erfolge durch eine Verbesserung der Arbeitszufriedenheit, wo- durch eine höhere Akzeptanz der gegebenen Verhältnisse gewährleistet werde. Wie hilflos und aussichtslos der Versuch des Wissenschaftlers bzw. des wissen- schaftlich Qualifizierten in der Praxis erscheinen kann, dort bestehende Ziele zu mo- difizieren, hat bereits vor 450 Jahren der Jesuitengeneral Jacob Lainz auf den Punkt gebracht: „Die Spitzfindigkeit der Kaufleute... hat so viele Kunstgriffe erfunden, dass sich kaum ein Durchblick durch die bloßen Tatsachen gewinnen lässt, geschweige denn ein Urteil über die Bewertung... Der Theologe behauptet, es sei seine Sache über Billigkeit oder Unrecht zu befinden, wie sie im Geschäftsleben vorkommt. Der Jurist hingegen glaubt, den Sachverhalt von der Rechtswissenschaft erklären zu sollen. Aber der Geschäftsmann kann – mit einer gewissen Verachtung gegenüber beiden – darauf hinweisen, dass er allein sich in diesen Dingen auskenne, und darum lehnt er es ab, sich dem Urteil unerfahrener Wissenschaftler zu unterwerfen.“, (zitiert nach Blickle 1998, 3).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 195 4. Beispiele für Wertkonflikte Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Arbeits- und Organisationspsychologie für Wertkonflikte keineswegs blind ist. Sie thematisiert derartige Problemlagen relativ häufig in theoriegeleiteten Überlegungen und in empirische Studien; sie bezieht diese Konflikte aber nur selten auf das eigene Fach. So wird – gerade in jüngerer Zeit – besonders häufig die Frage der Gerechtigkeit in Organisationen auch aus psychologischer Sicht thematisiert und zwar meist unter den Aspekten der kommutativen, der distributiven, der konstitutiven und der proze- duralen Gerechtigkeit (Liebig 1998; Müller 1998; Cohen-Charash/Spector in Druck). Insbesondere die zusammenfassende Untersuchung von Cohen-Charasch/Spector demonstriert, wie intensiv in jüngster Zeit gerade die Gerechtigkeitsproblematik und die damit verbundenen Konfliktlagen zum Thema organisationspsychologischer Stu- dien wurde. Die Autoren berücksichtigen in ihrer Metaanalyse 190 Studien, in die insgesamt nahezu 65.000 Versuchspersonen eingebunden waren. Die Klassifikation in eine distributive, eine prozedurale und in eine interaktionale Gerechtigkeit ließ sich stützen. Leistungsverhalten, Zufriedenheit und Bindung an die Organisation erwiesen sich als korreliert mit der wahrgenommenen Gerechtigkeit, wobei der prozeduralen Gerechtigkeit eine besondere Bedeutung zuzukommen scheint. Aber auch andere ethisch relevante Themen finden ein relativ breites Interesse innerhalb des Faches, insbesondere unter dem Stichwort der Verantwortung. So wird untersucht und diskutiert, in welchem Maße ökologische Kriterien in Entscheidungs- prozesse eingebunden werden (Hammerl 1994; Hoff 1998). Man fragt nach ethischen Grundlagen des Führungshandelns (Berkel 1998) und untersucht das entsprechende Bewusstsein bei Studenten der Wirtschaftswissenschaften (Löhr 1998) und bei Füh- rungskräften (Kaufmann et al. 1986). Psychodiagnostische Verfahren zu ethischem Verhalten in Organisationen werden entwickelt (Moser/Hertel 1998) und Konzepte für eine ethisch orientierte Personalentwicklung (Hohner 1998) zur Diskussion ge- stellt. Aber auch ethische Perspektiven bei der Personalauswahl (Schuler 1996) oder der Entlassung (Kieselbach 1998) finden Interesse. Die Erarbeitung von Kriterien für eine humane Gestaltung der Arbeit (v. Rosen- stiel/Weinkamm 1980; Hoyos 1998) hat in der Arbeitspsychologie eine lange Tradi- tion, die bereits vor der Humanisierungsdebatte ansetzte. Hier wird insbesondere dar- auf verwiesen, dass es nicht selten zu Konflikten zwischen verschiedenen Humanisie- rungskriterien kommt und diese insgesamt unter bestimmten Bedingungen im Wider- spruch zu den Kriterien der Ökonomie stehen. In all diesen und ähnlichen Untersu- chungen werden ethische Probleme bei der Arbeit bzw. in Organisationen zum Ge- genstand psychologischer Forschung. Nur selten wird die kritische Analyse jedoch auf die Arbeits- und Organisationspsychologie selbst bezogen, etwa in dem Sinne, dass sie als anwendungsbezogenes Fach Teil oder gar Ursache des Problems ist, das kritisch unter die Lupe genommen wird. Dies wollen wir nachfolgend an einem Bei- spiel – der Wahl der Forschungsthemen – aufzeigen.
196 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie 5. Das Individuum und die Organisation Argyris (1957, 1964, 1975) sieht in der Spannung zwischen dem Individuum und der Organisation die zentrale Thematik der Organisationspsychologie, in der nahezu al- le anderen Fragestellungen subsumiert werden können. Dabei ist diese Spannung – folgt man den Überlegungen von Argyris – nicht aus dem vielbesprochenen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ableitbar, sondern es handelt sich um eine, vom gesell- schaftlichen Kontext relativ unabhängige fundamentale psychologische Dimension. Nach seiner Auffassung sind auf Grund einer in der Natur des Menschen liegenden Entwicklungsdynamik Erwachsene – verglichen mit Kindern – gekennzeichnet durch einen Zustand größerer Unabhängigkeit, ein Mehr an Aktivität, einen größeren Grad an Kontrolle über die eigene Situation sowie eine längerfristige Zeitperspektive. Höhere Ausprägungen auf diesen vier Dimensionen können als Indikatoren der Reife eines Individuums interpretiert werden. Diesen Entwicklungstendenzen stehen nun die Anforderungen formaler Organi- sationen entgegen. Die Organisation erwartet ein hohes Maß an ökonomisch orien- tierter Verhaltensrationalität, ist durch das Prinzip der Arbeitsspezialisierung sowie der hierarchischen Befehlskette und Kontrolle gekennzeichnet. Dadurch wird das In- dividuum in Abhängigkeit und Unmündigkeit gehalten, obwohl dieser Zustand sei- nem Anspruch und seiner Reife als Erwachsener widerspricht. Der Einzelne strebt nach Selbstbestimmung, wird aber der Fremdbestimmung unterstellt, er will ganz- heitlich handeln, wird jedoch einer arbeitsteiligen Ablauforganisation unterworfen, er ist individuell geprägt, muss sich aber Durchschnittsregulierungen fügen etc. Eine Vielzahl der arbeits- und organisationspsychologischen Interventionsmaßnahmen dienten letztlich dem Ziel, den impliziten oder expliziten Konflikt zwischen dem In- dividuum und der Organisation zu mildern. So können Gleitzeitmodelle dazu beitra- gen, der individuellen Prägung des Einzelnen unter einem bestimmten Aspekt Re- chung zu tragen; ein hoher Handlungsspielraum bei der Aufgabenbewältigung ver- mittelt eine gewisse Selbstbestimmung, delegatives Führungsverhalten gestattet dem Einzelnen trotz gegebener Hierarchie ein relatives Maß an Freiheit etc.. Bereits Giese (1927) sah in der Psychotechnik einen Weg zur Reduzierung des genannten Konfliktes, wobei die Objektpsychotechnik die Anpassung der Aufgaben und der Strukturen an den Menschen zum Ziele hatte, die Subjektpsychotechnik da- gegen die Anpassung des Menschen an die betrieblichen Anforderungen. Dabei stell- te bereits Giese mit einem gewissen Bedauern fest, dass die Subjektpsychotechnik, also die Anpassung des Einzelnen an die Organisation gewichtiger und verbreiteter ist als die Objektpsychotechnik, also die menschengerechte Gestaltung der Arbeits- bedingungen. Die Arbeits- und Organisationspsychologie könnte nun durch ihre anwendungs- bezogene Forschung ein Veränderungswissen erarbeiten, das geeignet dafür er- scheint, zur Reduzierung der Spannung zwischen dem Individuum und der Organisa-
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 197 tion beizutragen. Dabei werden jeweils entsprechende Interessengegensätze berührt. Nun sind hier zwei Perspektiven der Betrachtung denkbar, die sich aus der Unter- scheidung zwischen individueller und institutioneller Beratung ergeben. Die For- schungsergebnisse können die Grundlage für eine Beratung des Einzelnen sein, z.B. sich gegen die Anforderungen der Organisation zu behaupten und durchzusetzen. Ein kurzer Blick in arbeits- und organisationspsychologische Fachzeitzeitschriften und Lehrbücher zeigt, dass diese Perspektive eine marginale Rolle spielt. Nur selten fin- det man explizite Hinweise darauf, was der Einzelne unternehmen kann, um seine Gesundheit bei der Arbeit zu schützen, welche Wege dabei helfen, sich dem Vorgesetz- ten gegenüber zu behaupten oder was getan werden könnte, um persönlich berufliche Ziele zu realisieren. Eindeutig dominiert die Fundierung der institutionellen Beratung. Was kann von Seiten der Organisation oder ihres Managements getan werden, um die Leistungsbereitschaft oder die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu steigern? Welche Maßnahmen führen zu einer Verbesserung des Betriebsklimas oder zu einer Erhöhung der Arbeitszufriedenheit in der Belegschaft? Welches Vorgehen ist dafür geeignet, den Wiederstand der Betroffenen bei notwendig erscheinenden Veränderungsprozesse zu reduzieren? Welche psychologisch begründeten Maßnahmen sind dabei hilfreich, die Fehlzeiten- oder Fluktuationsraten zu reduzieren und die Bindung an die Aufgaben, die Arbeitsgruppe oder die gesamte Organisation zu steigern? Die Zahl der Forschungsfra- gen, deren Beantwortung eine institutionelle Beratung wissenschaftlich absichern kann, ließe sich unschwer fortsetzen. Die Kapitelüberschriften verbreiteter Lehrbücher ent- halten die entsprechenden Anregungen. Obwohl die Begründung einer institutionellen Beratung in der Arbeits- und Orga- nisationspsychologie eindeutig dominiert, ist daraus noch nicht ableitbar, ob eher den Interessen der Organisation oder jenen des Individuums gedient werden soll. Es ist ja durchaus denkbar, dass die Entscheider in der Organisation Empfehlungen dafür be- kommen, was getan werden kann, damit der Einzelne seine Arbeitssituation besser mit den Anforderungen des Familienlebens in Übereinstimmung bringen kann, um so zu einer Gleichgewichtsethik (Strümpel 1985) zu finden, welche betriebliche Vorberei- tungsmaßnahmen ihm helfen, die Anpassung an den Ruhestand konfliktfrei zu bewälti- gen, oder durch welche Gestaltung der Aufgaben die Gesundheit des Einzelnen lang- fristig bewahrt werden kann. Auch bei diesen oder ähnlichen Fragen ließe sich ein ge- wisses betriebliches Interesse vermuten, etwa derart, dass Arbeitszufriedenheit oder stabile Gesundheit langfristig der Leistungsfähigkeit oder der Leistungsbereitschaft zu gute kämen und eine sachgerechte Vorbereitung auf den Ruhestand dem Image des Un- ternehmens in der Gesellschaft dienen könnte. Dennoch wird man kaum ernsthaft in Zweifel ziehen, dass derartige Maßnahmen auch, vielleicht sogar primär, im Interesse des Individuums liegen, das dann von der Organisation berücksichtigt werden kann. Bei anderen Themen, z.B. Fragen nach der Wirkung von Anreizen auf die Leistungsbe- reitschaft, nach der Reduzierung individueller Widerstände bei Veränderungsmaßnah- men oder nach den Bedingungen der Akzeptanz von vom Betrieb vorgegebener Ziele stehen wohl eindeutig die betrieblichen Interessen im Vordergrund.
198 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie Unsere Vermutungen gehen nun dahin, dass in der arbeits- und organisations- psychologischen Literatur solche Themen dominieren, die implizit oder explizit im Interesse der Organisation liegen, deren Nutzung in der Praxis also geeignet ist, die Organisation dem Einzelnen gegenüber zu stärken. Derartige Selektionsstrategien erscheinen ethisch durchaus relevant. So schreibt Irle (1975, 39) „... Psychologen, die Theorien in Techniken transformieren ... sind der Gefahr mangelnder Wertfreiheit ihres wissenschaftlichen Agierens am stärksten aus- gesetzt, auch dann, wenn es sich nicht um innerbetriebliche Beziehungen ... handelt, sondern zum Beispiel um konservierende oder innovierende Konstruktionen ... . Die- jenigen, die wissenschaftlich differenzieren, also akademische Lehrer und andere, die wissenschaftliche Erkenntnisse verbreiten, sind dieser Gefahr nur insoweit ausgesetzt, als sie durch Selektionsstrategien die Repräsentation der Wissenschaft verbiegen und verzerren können.“ Die Fragestellung nach Selektionsmechanismen in der Arbeits- und Organisati- onspsychologie könnte grundsätzlich dadurch noch pointierter ausfallen, wenn man danach fragen würde, ob die arbeits- und organisationspsychologische Forschung dort, wo sie im Interesse des Einzelnen durchgeführt wurde, lediglich den „arbeiten- den Menschen“ im Auge hatte, also z.B. seine Arbeitszufriedenheit, seine Selbstver- wirklichungschancen bei der Arbeit, oder ob es auch um den „ganzen Menschen“ geht, z.B. um die Entwicklung und Stärkung seiner außerberuflichen Interessen und Kompetenzen durch die Arbeit oder gar um alle Menschen, also z.B. um die Verbes- serung des Familienklimas, die Intensivierung der Verantwortungsbereitschaft bei der Erziehung der Kinder oder die Aktivierung des gesellschaftlichen und politischen Engagements als Folge der Arbeit (Hengsbach 1980). Hier aber ist von vorneherein klar, dass es – wenn schon das Individuum im Vordergrund steht – in der arbeits- und organisationspsychologischen Literatur fast ausschließlich der einer Erwerbsarbeit nachgehende Mensch in dieser Rolle interessiert. Wird aber durch die Forschung eher seinen Interessen oder jenen der Organisation gedient? Das wollen wir im Folgendem exemplarisch beantworten. 6. Analyse arbeits- und organisationspsychologischer Fachzeitschriften Um diese Frage zu beantworten, führten wir exemplarisch an einer englisch- und einer deutschsprachigen Fachzeitschrift der Arbeits- und Organisationspsychologie eine Analyse aller in den letzten Jahrzehnten publizierten Fachartikel durch. 6.1 Methodisches Vorgehen Die Wahl der wichtigsten Zeitschriften in der Arbeits- und Organisationspsycho- logie fiel nicht schwer. In Studien zum Prestige von Fachzeitschriften in der Arbeits- und Organisationspsychologie wird eindeutig als die bedeutendste englischsprachige Fachzeitschrift das „Journal of Applied Psychology“ (JAP) genannt (Zickar/Highhouse 2001) und als gewichtigste deutschsprachige die „Zeitschrift für Arbeits- und Organisa- tionspsychologie“ (ZfAO) (Schmal/Wiesenhütter 1999). Beide Zeitschriften haben im
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 199 Fach eine lange Tradition. Sie sind thematisch breit angelegt, ihr Fokus richtet sich auf keine speziellen Themengebiete innerhalb der Arbeits- und Organisationspsychologie, sondern alle Themen haben die gleiche Chance veröffentlicht zu werden. Das war für uns ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl der zu analysierenden Zeitschriften, da von vorneherein vermieden werden musste, dass die publizierten Artikel durch die thematische Ausrichtung einer Zeitschrift determiniert sind. Bei der Wahl der Analysemethode einzelner Publikationen entschieden wir uns gegen ein interpretatives Vorgehen, da die Gefahr der subjektiven Urteilsbildung zu groß gewesen wäre. Ein standardisiertes Vorgehen erschien uns valider. Alle Nachweise in den psychologischen Datenbanken PsycINFO (enthält Nach- weise psychologisch relevanter, internationaler Publikationen) und PSYNDEXplus (enthält Nachweise psychologisch relevanter Publikationen von Autoren aus deutsch- sprachigen Ländern) werden nach dem Fachwörterbuch „Thesaurus of Psychological Index Terms“ (APA 2001) verschlagwortet, um präzises und effizientes Suchen in Datenbanken zu erleichtern. Außerdem werden alle Nachweise durch einen „Classifi- cation Code“ (Sachgebiets-Code) einem Sachgebiet zugewiesen. In der neuesten Ausgabe des „Thesaurus of Psychological Index Terms“ (APA) wurden von uns aus der Fülle von Schlagwörtern diejenigen ausgewählt, deren bezeichnete Thematik un- serer Meinung nach entweder eindeutig im Interesse der Organisation liegen (z.B. personnel-selection), oder eindeutig im Interesse der Person liegen (z.B. satisfaction). Die Liste der ausgewählten Schlagwörter zeigt Tabelle1. Tab. 1: Ausgewählte Schlagwörter des „Thesaurus of Psychological Index Terms“ Im Interesse der ... Organisation Person achievement career-development economy coping-behavior employee-absenteeism health employee-characteristics industrial-accidents employee-motivation job-enrichment employee-skills job-security leadership organizational-climate organizational-change safety organizational-development satisfaction organizational-effectiveness stress performance working-conditions personnel-management work-related-illnesses personnel-selection productivity
200 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie Unser Vorgehen bestand nun darin, die Anzahl derjenigen Artikel zu ermitteln, die innerhalb des Sachgebietes Arbeits- und Organisationspsychologie (erfasst durch den Classification Code) mit Begriffen verschlagwortet worden waren, die entweder im Interesse der Organisation, im Interesse der Person oder in beider Interesse stehen. Die Recherche wurde in den psychologischen Datenbanken PsycINFO (nach Artikeln im JAP) und PSYNDEXplus (nach Artikeln in der ZfAO) durchgeführt. Dabei sind wir folgendermaßen vorgegangen: 1. Schritt (Gesamt): Berechnung der Anzahl aller publizierter Artikel einer Zeit- schrift pro Erscheinungsjahr; Artikel im JAP von 1967 bis 2000, da erst seit 1967 nach dem „Thesaurus of Psychological Index Terms“ verschlagwortet wird; Artikel in der ZfAO von 1977 bis 2000, da PSYNDEXplus erst Publikati- onen seit 1977 erfasst. 2. Schritt (A&O): Berechnung der Anzahl publizierter Artikel pro Jahr im Sach- gebiet Arbeits- und Organisationspsychologie; erfasst durch den Classification Code. 3. Schritt (Org): Berechnung der Anzahl publizierter Artikel im Sachgebiet Ar- beits- und Organisationspsychologie mit Verschlagwortung wenigstens eines der Schlagwörter, die im Interesse der Organisation stehen, aber keinem der Schlagwörter, die im Interesse der Person stehen. 4. Schritt (Per): Berechnung der Anzahl publizierter Artikel im Sachgebiet Ar- beits- und Organisationspsychologie mit Verschlagwortung wenigstens eines der Schlagwörter, die im Interesse der Person stehen, aber keinem der Schlagwörter, die im Interesse der Organisation stehen. 5. Schritt (Org/Per): Berechnung der Anzahl publizierter Artikel im Sachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie mit Verschlagwortung wenigstens eines der Schlagwörter, die im Interesse der Person, und wenigstens einem der Schlagwörter, die im Interesse der Organisation stehen. Die nach diesem Vorgehen berechneten Werte zeigt Tabelle 2 (im Anhang). Es ist darauf hinzuweisen, dass durch unsere Auswahl von Schlagwörtern natürlich nicht alle Publikationen in der Arbeits- und Organisationspsychologie erfasst werden konn- ten. Uns war es wichtig, Begriffe zu wählen, die eindeutig einer Interessensicht zu- zuweisen sind. Dadurch mussten einige Begriffe ausgeschlossen werden, wie z.B. „teams“, deren Thematik entweder beiden Interessen dient oder nicht eindeutig einer Sicht zugewiesen werden kann. Daraus ergibt sich, dass wir nur einen Teil der ar- beits- und organisationspsychologischen Publikationen erfassen konnten und nicht sämtliche erschienen Artikel einer bestimmten Interessenlage zuweisen konnten. Es existiert also eine unbestimmte Restgruppe an Publikationen, die man sicherlich nach sorgfältiger Lektüre ebenfalls zuordnen könnte. Wir haben – um Subjektivität auszu- schließen – darauf verzichtet.
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 201 6.2 Ergebnisse Um die berechneten Rohwerte deuten zu können, wurden sie zueinander in Ver- hältnis gesetzt. Zunächst wurde der Prozentsatz publizierter Artikel im Sachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie im Verhältnis zu allen Publikationen pro Jahr berechnet. Von allen im Sachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie erschie- nen Artikeln wurde dann der Prozentsatz jener Artikel berechnet, die im Sinne unse- rer Auswahl von Schlagwörtern im Interesse der Organisation, in jenem der Person und in jenem beider Gruppen stehen. Zur übersichtlicheren Darstellung der Ergebnisse wurden Jahresgruppen gebil- det. Hierbei wurden immer 5 Jahre zu einer Gruppe zusammengefasst. Eine Ausnah- me machen beim JAP die ersten Jahre (1967 bis 1970). Bei der ZfAO mussten die Jahre 1977 bis 1982 zu einer Gruppe zusammengefasst werden, da die ZfAO bis ein- schließlich 1982 unter dem Titel „Psychologie und Praxis“ erschienen ist und insge- samt eine andere Ausrichtung hatte als ihre Fortführung in der ZfAO seit 1983. Die Jahre 1983 bis 1985 wurden bei der ZfAO zu einer ersten Gruppe zusammengefasst, um dann den gleichen Jahresrhythmus wie beim JAP zu erhalten. Die Ergebnisse für die Auswertungen des JAP zeigt Abb. 1, die für die ZfAO Abb. 2. Abb. 1: Prozentuale Häufigkeiten publizierter Artikel im „Journal of Applied Psychology“ (1967 bis 2000, gruppiert) Angaben in Prozent 100 90 80 70 63 59 59 60 60 56 59 54 50 40 36 34 35 33 40 30 30 29 21 17 20 17 12 12 13 18 10 13 10 11 7 8 6 6 0 1967-1970 1971-1975 1976-1980 1981-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 A&O: Artikel im Bereich Artikel Arbeits im Bereich - und und Arbeits- Oraganisationspsychologie (A&O) Organisationspsychologie im im (A&O) Verh ältnis zu allen Verhältnis publizierten zu allen Artikel. publizierten Artikeln. Nutzen Org.: Org: Artikel Artikel im ausschließlichen mit ausschließlichem Interesse Nutzen derfür Organisation im Verhältnis die Organisation zu denzupublizierten im Verhältnis erschienenenArtikeln Artikelim imBereich BereichA&O. A&O. Artikel Nutzen Per.: Per: im ausschließlichen Artikel Interesse mit ausschließlichem derfür Nutzen Person im Verhältnis die Person zu den im Verhältnis zupublizierten publiziertenArtikeln im Bereich Artikel im Bereich A&O. A&O. Artikel im Nutzen Org./Per.: Org/Per: gemeinsamen Artikel Interesse der mit gemeinsamen Organisation Nutzen und Person für Organisation im Verhältnis und Person im Verhzu denzupublizierten ältnis publiziertenArtikeln Artikelim imBereich BereichA&O. A&O
202 Lutz von Rosenstiel, Ralph-Michael Woschée: Wertkonflikte in der Arbeits- und Organisationspsychologie Abb. 2: Prozentuale Häufigkeiten publizierter Artikel in der Zeitschrift „Psychologie und Praxis“ (1977 bis 1982, gruppiert) und „Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie“ (1983 bis 2000, gruppiert) Angaben in Prozent 100 88 90 85 80 76 75 70 60 50 40 40 37 36 30 28 30 25 31 26 20 23 22 21 17 10 14 13 14 0 0 1977-1982 1983-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 A&O: Artikel im Bereich Artikel Arbeits im Bereich - und und Arbeits- Oraganisationspsychologie (A&O) Organisationspsychologie im im (A&O) Verh ältnis zu allen Verhältnis publizierten zu allen Artikel. publizierten Artikeln. Nutzen Org.: Org: Artikel Artikel im ausschließlichen mit ausschließlichem Interesse Nutzen derfür Organisation die Organisation im Verhältnis im Verhältnis zu denzupublizierten erschienenenArtikeln Artikelim imBereich BereichA&O. A&O. Artikel Nutzen Per.: Per: im ausschließlichen Artikel Interesse mit ausschließlichem derfür Nutzen Person im Verhältnis die Person zu den im Verhältnis zupublizierten publiziertenArtikeln im Bereich Artikel im Bereich A&O. A&O. Artikel im Nutzen Org./Per.: Org/Per: gemeinsamen Artikel Interesse der mit gemeinsamen Organisation Nutzen und Person für Organisation im Verhältnis und Person im Verhzu denzupublizierten ältnis publiziertenArtikeln Artikelim imBereich BereichA&O. A&O Beim JAP kann über all die Jahre hinweg eine recht stabile Themenauswahl im Interesse der Organisation beobachtet werden. Die prozentuale Häufigkeit von publi- zierten Beiträgen im Sachgebiet der Arbeits- und Organisationspsychologie lag durchschnittlich bei 54% bis 63% der Gesamtzahl aller Veröffentlichungen im JAP. Von allen Veröffentlichungen im Sachgebiet der Arbeits- und Organisationspsycho- logie erschienen durchschnittlich 29% bis 40% der Artikel mit einer Themenrichtung, die im Interesse einer Organisation stehen. Artikel, die im Interesse der Person ste- hen, erschienen mit einer durchschnittlichen Häufigkeit von 12% bis 21%. Ein anderes Bild zeigt sich bei der ZfAO. In den Jahren 1977 bis 1982, als die Zeitschrift noch „Psychologie und Praxis“ hieß, erschienen nur 25% ihrer Artikel im Sachgebiet der Arbeits- und Organisationspsychologie. Von diesen publizierten Arti- keln waren 37% auf das Interesse der Person und 21% auf das Interesse der Organisa- tion hin ausgerichtet. Seit 1983 wurden zwischen 75% bis 88% aller Veröffentlichungen in der ZfAO dem Sachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie zugeordnet. In den Jahren 1983 bis 1990 standen ähnlich wie im JAP mit durchschnittlicher Häufigkeit von 36% bis 40% Forschungsberichte im Interesse der Organisation im Vordergrund. Doch in den 90er Jahren hat sich das Bild gewandelt, und es kam zu einer Annähe-
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 2, 2002 203 rung der Häufigkeit von Publikationen im Interesse der Organisation und der Häufig- keit von Publikationen im Interesse der Person. Im Vergleich des JAP mit der ZfAO fällt auf, dass in der ZfAO in den Jahren von 1983 bis 2000 Veröffentlichungen im Sachgebiet Arbeits- und Organisationspsycholo- gie, die eher im Interesse der Person stehen, weit häufiger publiziert wurden (im Durchschnitt 22% bis 31%) als im JAP (im Durchschnitt 12% bis 18%). Auch bei den Publikationen, die im gemeinsamen Interesse der Organisation und der Person stehen, lässt sich beobachten, dass in der ZfAO die Publikationsrate zwischen 13% und 17% liegt, während im JAP lediglich zwischen 6% und 11% veröffentlicht wurden. 7. Diskussion Im „Journal of Applied Psychology“, dem bedeutendsten internationalen Publi- kationsorgan der Arbeits- und Organisationspsychologie, zeichnet sich eine stabile Veröffentlichungspolitik ab. In den letzten 34 Jahren dienten die publizierten For- schungsergebnisse im Sachgebiet der Arbeits- und Organisationspsychologie eher dem Interesse der Organisation. Möglicherweise ist dies Ausdruck einer „wirtschafts- freundlicheren“ Kultur, in der es nicht zur Etablierung starker sozialistischer oder so- zialdemokratischer Parteien kam und in der Gewerkschaften zwar vehement für höhe- re Gehälter ihrer Mitglieder eintraten, aber kaum um Mitbestimmungsmodelle ringen und in der man auch keine – die Mitarbeiterinteressen vertretende – Betriebsräte in unserem Sinne findet. Im deutschsprachigen Raum lässt sich eine andere Entwicklung beobachten. Ei- ne systematische Veröffentlichung arbeits- und organisationspsychologischer For- schungsergebnisse setzte erst im Jahre 1983 ein, als aus der Zeitschrift „Psychologie und Praxis“ die „Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie“ entstand, die nun als die bedeutendste Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum für dieses Sach- gebiet angesehen werden kann. In den Jahren vor 1983 gab es kein entsprechendes Organ, das sich ganz der Arbeits- und Organisationspsychologie widmete. Die Vor- läuferschrift „Psychologie und Praxis“ stand allen Bereichen der Angewandten Psy- chologie aus eher praktischem Blickwinkel offen. Betont wissenschaftliche Publika- tionen erschienen verstreut in anderen Zeitschriften, wie z.B. in der „Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie“. Generell kann man in der ZfAO ein höheres Aufkommen von Publikationen mit thematischer Ausrichtung auf die Person beobachten als im JAP. Außerdem scheint es, dass in den 90er Jahren eine ausgeglichene Berücksichtigung beider Interessenla- gen stattfand und sich die ohnehin nicht weit geöffnete Schere langsam schließt. Es ist eine nahe liegende Interpretation, dass das Forschungsprogramm der damaligen Bundesregierung „Humanisierung des Arbeitslebens“, an dem viele Arbeits- und Or- ganisationspsychologen mitwirkten, eine prägende Kraft in dem Sinne hatte, dass die Interessen des Individuums stärker bedacht wurden. Ob die leichte Verstärkung die- ser Tendenz in den 90er Jahren mit dem Beitritt der Neuen Bundesländer zur Bundes- republik Deutschland zusammenhängt, vermögen wir nicht zu beurteilen.
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