"Wir schauen in einen Spiegel und werden verwandelt" Die Heilige Schrift und der Heilige Geist in der Geistlichen Begleitung

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C H R I S T I A N H AU T ER

»Wir schauen in einen Spiegel und
werden verwandelt«
Die Heilige Schrift und der Heilige Geist
in der Geistlichen Begleitung
»Wenn das Meer alle seine Kräfte anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade
nicht spiegeln; auch nur die mindeste Bewegung, so spiegelt es den Himmel nicht rein;
doch wenn es still wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts.«
                                                               Sör en Kier kega ar d

Ich schreibe diese Gedanken auf dem Erfahrungshintergrund einer evan-
gelischen Kommunität. Seit über 20 Jahren lebe ich als Bruder der Chris-
tusträger im Kloster Triefenstein bei Würzburg. Zu uns kommen immer
wieder Menschen als Stille Gäste, die Geistliche Begleitung suchen. Und
die einen inneren Weg gehen, wenn sie sich im geschützten Umfeld unse-
rer Klosteranlage auf Stille und Gebet einlassen. Die Betrachtung der Heili-
gen Schrift1 im Vertrauen auf den Heiligen Geist sehe ich als »Mitte der
Geistlichen Begleitung«.

Die Heilige Schrift als Spiegel

Jeder, der einen Bibeltext liest, bringt seine eigenen Erfahrungen, seine ei-
genen Stärken und Schwächen mit und sieht damit die Geschichte »mit an-
deren Augen« – und erlebt auch die Resonanz des Textes, das was von der
Heiligen Schrift ausgeht, verschieden.

Da ist zum Beispiel eine Pfarrerin, die sich mit Petrustexten aus dem Neuen Testament
auseinandersetzt. Sie hat schon viel Erfahrung und kennt die Orte im Kloster, an denen
sie zur Ruhe kommen kann. Das Steingewölbe der Kellerkapelle, die einen Raum des
Schutzes und der Geborgenheit gewährt, oder der helle Raum der Stille, in dem die
Gedanken »frei« sind und der zum Loslassen und Da-Sein einlädt. Und natürlich die
Natur, die Bäume, das Wasser, die Sonne, der Wind. Die Pfarrerin entdeckt in den
Petrustexten viel vom Versagen des Petrus, von seiner Spontaneität, die ihn in Konflikt
mit der Sichtweise Jesu bringt – der »trotzdem«, »ohne eigentlichen Grund« ihn, den

1    Zur Betrachtung können Textabschnitte oder ganze Kapitel aus der Bibel dienen, aber auch Teile von
     Versen mit Sprachbildern wie »Bei dir ist die Quelle des Lebens« (Psalm 36,10).

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wankelmütigen Simon beruft und zum Petrus, zum Felsen umbenennt. In mir steigen
beim Zuhören ganz andere Bilder auf. Petrus, der Mutige, der sich nicht wie die anderen
Jünger bedeckt hält, sondern rauslässt, was er denkt. Der freilich nicht immer richtig liegt
und sich sogar vor seinem eigenen Mut fürchtet, als er am Feuer im Hof sitzt und plötzlich
Jesus nicht mehr kennen will. Aber die anderen Jünger – sind die nicht viel feiger, weil sie
sich nicht in die »Höhle des Löwen« wagen? Bei mir erkenne ich, warum mich der mutige,
direkte Petrus fasziniert. Bin ich nicht eher sorgfältig zurückhaltend, lieber angepasst als
aus der Reihe tanzend? Und die Pfarrerin – sieht sie den Petrus zu negativ und hat das mit
ihren Defiziten zu tun? Oder idealisiere ich den Petrus, erkenne in ihm was mir fehlt, sehe,
was ich mir wünsche? Wer will das entscheiden, wenn nicht der Heilige Geist?

Paulus schreibt von einer Decke, die über unserem Herzen hängt, wenn
Mose (die Heilige Schrift) gelesen wird2. Offensichtlich gibt es solche »De-
cken«, die wie Filter wirken, auch heute. So finde ich am leichtesten das,
was ich schon kenne. Meine altbewährten Erklärungsmuster, alles was ich
verinnerlicht habe von dem, wie diese Welt funktioniert, all das »bedeckt«
mich bzw. mein Herz. Rein äußerlich gesehen könnte man darum die Be-
trachtung des Wortes Gottes in der Stille mit der Auseinandersetzung mit
irgendwelchen Texten oder gar sinnlosen Klecksbildern vergleichen. Jeder
kann hineinprojizieren, was er will – und auch die Deutung durch den Be-
gleiter ist immer subjektiv gefärbt. Nun sind die Texte der Heiligen Schrift
aber keineswegs »sinnlos« und auch nicht nur »zufällig«. Sie sind im Ge-
genteil außergewöhnlich sinnvoll und können als »Verdichtung« von Lebens-
erfahrung »unter der Wucht der Begegnung mit Gott« bezeichnet werden3. Johan-
nes Calvin nennt die Psalmen eine »komplette Anatomie aller Teile der Seele«4.
Alles was zum Menschsein gehört ist da, alles hat seinen Platz und wird
hingeordnet auf Gott. In der Begegnung mit den tiefen Erfahrungen ande-
rer passiert zweierlei: es weitet sich mein Horizont und ich erkenne mein
spezifisches Profil. So finde ich zu mir selbst – und mithilfe des Geistes
auch zu Gott und meinen Nächsten.

2   »Ja, bis heute liegt eine Decke auf ihrem Herzen, sooft aus Mose vorgelesen wird.« Ich beziehe dieses
    Wort aus 2 Korinther 3,15 als Möglichkeit und Realitätserfahrung auch auf mich und uns Christen,
    kenne ich das doch nur zu gut, dass mir das »offene, echte« Verständnis der Schrift fehlt und mein
    Herz nicht berührt wird. Vgl. zur Komplexität der Sprachbilder in 2 Kor 3 die Kommentare. Hilfreich
    für mich war der Kommentar von Rudolf Bultmann zum Zweiten Korintherbrief, Göttingen 1976,
    Seite 65 bis 101.
3   »Ein biblischer Text erweist sich als Spur des Wortes Gottes darin, dass sich hier die menschliche Si-
    tuation verdichtet unter der Wucht der Begegnung mit Gott.« Ernstpeter Maurer, Karl Barths bibli-
    sche Theologie. Diskussionsthesen, in: Die Bibel und ihre vielfältige Rezeption: Vorträge zu Ehren
    von Detlev Dormeyer, Hrsg. Thomas Pola, Münster 2010, 132.
4   »Mit gutem Grund nenne ich gewöhnlich das [Psalm]buch eine Aufgliederung aller Teile der Seele
    (_i_ok+di omnium animae partium). Denn jede Regung, die jemand in sich empfindet, begegnet als
    Abbild in diesem Spiegel. Ja, hier hat uns der Heilige Geist alle Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtun-
    gen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste, Verwirrungen, kurzum alle Gefühle, durch die Men-
    schen innerlich hin und her geworfen werden, lebensnah vergegenwärtig (Spiritus sanctus ad vi-
    v u m repr aes ent av it) «. Joh a n nes C a lv i n, D er P s a l men kom ment a r. E i ne Au s w a h l.
    Calvin-Studienausgabe Band 6, Neukirchen ²2010, 20f.

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Der Heilige Geist als Begleiter zur Freiheit

Um mich selbst tiefer und neu5 zu verstehen, brauche ich »Hilfe von au-
ßen«, ein Gegenüber, das anders tickt als ich. Paulus schreibt weiter: »So-
bald sie sich aber dem Herrn zuwenden, wird die Decke hinweggenommen. Der Herr aber,
das ist der Geist; und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.«6 Damit ist die Erfah-
rung eines inneren Durchbruchs beschrieben, dass ich »plötzlich« ahne, es
gibt noch ganz andere Dimensionen von Leben, die mir bislang verborgen
geblieben sind. Da leuchtet Freiheit auf. Wenn eingestaubte Decken weg-
genommen werden, ist der Weg offen für neue Gedanken, neue Sichtwei-
sen, neues Leben.

So wie bei einem Selbständigen, der zu uns ins Kloster kam. Seine Frau hat ihn geschickt,
er solle mal über sein Leben nachdenken. Das kommt öfter vor und ist nicht immer die
ideale Startbedingung. Aber er hat sich auf Zeiten der Stille und Betrachtung eingelassen
und hat gelernt, sich tiefer zu verstehen. Er sieht sich als Perfektionist, der keine Fehler
macht – und keine Fehler zugibt. Seine Frau leidet darunter, aber nach 30 Jahren Ehe
kennt sie seine Schwachstellen und hält ihm diese immer wieder unter die Nase. Das
führt zu Spannungen in der Ehe, obwohl er eigentlich ein friedvolles und offenes Mitein-
ander will. Dazu erzählt er mir ein Beispiel: Wenn er von der Arbeit nach Hause fährt und
so in Gedanken ist, dass er eine Autobahnausfahrt zu weit fährt und so später als normal
kommt, dann sagt er das seiner Frau nicht. Denn sie würde ihn dann auslachen und
sagen: Siehst du, es fängt doch schon mit Alzheimer an. Also schweigt er darüber. Er
selbst erkennt an diesem Beispiel, dass etwas nicht stimmt, dass es nicht förderlich für
seine Ehe ist, wenn er sich vor seiner Frau so versteckt. Ich brauche es ihm nicht erklären,
er hat es von sich aus erkannt. Sind da die selbstheilenden Kräfte des Unbewussten am
Werk oder ist es der Heilige Geist?

Paulus beschreibt das Lesen der Schrift »ohne Decke« in 2 Korinther 3 noch
weiter: »Wir alle aber schauen mit aufgedecktem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn wie
in einem Spiegel und werden so verwandelt in die Gestalt, die er schon hat, von Herrlich-
keit zu Herrlichkeit, wie der Herr des Geistes es wirkt.«7 Das Bild vom Spiegel möchte
ich aufgreifen und weiterführen. Es ist nicht egal, wie der Hintergrund ei-
nes Spiegels beschaffen ist, auf welcher Folie ich mich betrachte. Die Hei-
lige Schrift kann und soll mir als »hintergründiger Spiegel« dienen, der
mehr abbildet als nur mein Spiegelbild. Ein Spiegel, der mich zu meinen
tiefsten (teilweise unbewussten) Gedanken führt, aber gleichzeitig auch

5    »Gerade weil dieses Gnaden- und Heilswort des Evangeliums und der mit ihm verbundene Heilige
     Geist ganz von außen kommen, können sie den Sünder in seinem Innersten, in seinem gequälten
     Gewissen, treffen und befreien.« Nach lutherischer Grundüberzeugung lässt sich das äußere Wort
     (der Schrift) nicht von der inneren Erfahrung (des Heiligen Geistes) trennen, sondern die beiden be-
     dingen sich immer gegenseitig, dazu ausführlicher: Berndt Hamm, Luthers Mystik in der Spannung
     von äußerem Wort und innerer Erfahrung, in: Geistlich begleiten. Eine Bestandsaufnahme aus
     evangelischer Perspektive, Hrsg. Dorothea Greiner u. a., Leipzig 2010. Das Zitat findet sich dort auf
     Seite 78.
6    2 Korinther 3,16f, Zürcher Übersetzung (Ausgabe 2007).
7    2 Korinther 3,18, Zürcher Übersetzung (Ausgabe 2007).

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darüber hinaus zur »Gestalt der Herrlichkeit«. Zu einer Gestalt, die jedem
Menschen ins Herz gelegt ist in der Ebenbildlichkeit, die wir aber bei uns
selbst oft nicht vermuten. Wenn wir auf Jesus schauen, sehen wir eine »Ge-
stalt, die das schon hat«, die zum vollen Leben gefunden hat. Wir schauen
in diesen Spiegel und das macht etwas mit uns: wir werden verwandelt.
     Als evangelischer Theologe vertraue ich der Wirksamkeit Gottes durch
sein Wort. Die erste These der Barmer Erklärung von 1934 lautet: »Jesus
Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir
zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben«8. Das
ist gut formuliert. Das Wort Gottes ist »in der Schrift« bezeugt und doch in-
haltlich durch »Jesus Christus« definiert. Wenn ich vom Heiligen Geist
spreche oder schreibe, meine ich eine Person der Trinität, die in der Sache
nicht von der Person Jesus Christus zu trennen ist.
     So ist meine Empfehlung für »Gott und das Leben Suchende« das Be-
trachten von Schrifttexten, die zu einer Begegnung mit dem personalen
Gott hinführen. Das können auch Texte aus der hebräischen Bibel, dem Al-
ten Testament sein. »Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser«, so heißt es
schon im zweiten Vers der Bibel. Ohne den Geist Gottes hat nichts Geschaf-
fenes Bestand: »Du birgst dein Antlitz, sie werden verstört, du ziehst ihren Geist ein,
sie verscheiden und kehren zu ihrem Staub. Du schickst deinen Geist aus, sie sind erschaf-
fen und du erneuerst das Antlitz des Bodens«9. Auch Jesus selbst betont an zentra-
ler Stelle, dass er sich – in der Tradition des Alten Bundes – eins weiß mit
dem Geist Gottes: »So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging,
wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen,
reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die
Stelle, wo es heißt: Der Geist des Herrn ruht auf mir; / denn der Herr hat mich gesalbt. Er
hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Ge-
fangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zer-
schlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er das
Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge wa-
ren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort,
das ihr eben gehört habt, erfüllt.«10
     Damit sind inhaltliche und theologische Kriterien zur Unterscheidung
der Geister genannt. Der Geist Jesu führt in die Freiheit und er richtet die
Niedergedrückten auf. Die wichtigste Tröstung unserer Tage für geplagte
Menschenkinder ist – nach meiner Erfahrung – der Zuspruch von Gott, »ge-
liebt« und »als Kind angenommen« zu sein und »gesehen zu werden« und
»Bedeutung zu haben« – und zwar gerade dann, wenn ich lerne, nieman-
dem mehr etwas vorzumachen sondern zu den Grenzen meiner Person zu
stehen.

8  Zitiert nach dem evangelischen Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelisch-lutherischen Kirchen in
   Bayern und Thüringen, München ²1995, 1578.
9 Psalm 104,29f, nach der Übersetzung von Martin Buber.
10 Lukas 4,16–21, Zürcher Übersetzung (Ausgabe 2007).

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An Stillen Tagen zu dem Jesuswort: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das
Leben (Joh 14,6) nahm eine beruflich sehr erfolgreiche Frau teil, eine »starke« Frau. Sie
war es gewohnt, »hart« zu arbeiten und durch ihren Lebensstil konnte sie viel leisten. Die
Stille (oder der Heilige Geist) hat sie zu einer Auseinandersetzung mit ihrer schwachen
Seite geführt. Ihr wurde klar:«Ich lebe ungesund«. In den Tagen hat sie eine Gestalt
getöpfert und »Meine schwache und meine starke Seite« genannt. In der Abschlussrunde
sagte sie dazu: »Ich weiß nicht, welche Seite die andere mehr stützt: die starke Seite die
schwache oder die schwache Seite die starke«. Dieser Satz hat mich beeindruckt. Trotz
ihrer »Stärke« hat sie die Erkenntnis zugelassen: Es könnte sein, dass die schwache Seite
für die starke wichtig ist. Ich will das zuspitzen: dass ich mehr lebe, wenn ich verletzlich
und bedürftig bin als wenn ich funktioniere.

Folgen für die Geistliche Begleitung

Weil der Heilige Geist hinter allem Leben steckt, kann es keinen Gegensatz
zwischen der Wahrheit der Schrift und dem Weg zum Leben geben. Ich persön-
lich muss zugeben, dass ich darin doch einen Konflikt empfunden habe,
mit dem ich nicht zurechtkam. Deshalb habe ich geistliche und pastoral-
psychologische Begleitung gesucht. Der konkrete Anlass war ein seelsor-
gerliches Gespräch mit einer Frau, die so aus ihrem Leben erzählte, dass
»mein Bauch« mir deutlich sagte: die muss aus der Beziehung raus, die Be-
ziehung ist tödlich für diese Frau. Gleichzeitig war es aber meine klare
Überzeugung aus der Lehre der Schrift, dass es meine Aufgabe als Seelsorger
sei, eine vor Gott geschlossene und verantwortete Beziehung »zu schüt-
zen«. Das ist womöglich die Kehrseite einer starken Orientierung an der
Schrift, dass die Gefahr besteht, die Wahrheit der Schrift zu betonen und
nicht mehr den konkreten Menschen vor mir zu sehen, in seiner Einzigar-
tigkeit und mit seiner eigenen Lebensgeschichte.
    Es ist mir in der konkreten Situation nach meiner Erinnerung gelungen
so undeutlich zu reden, dass ich keins meiner Prinzipien verletzen musste,
dass ich aber der Frau auch kaum helfen konnte, außer sie Gott anzuver-
trauen. Für mich selbst allerdings wollte ich Klarheit für den »Wiederho-
lungsfall«. Das hat mich zu einer mehrjährigen Aus- und Fortbildung bei
Pater Frielingsdorf geführt, am Institut für Pastoralpsychologie und Spiri-
tualität der Hochschule St. Georgen11. Dort lernte ich meine Muster und
Denk- und Reaktionsweisen klarer zu benennen und ich lernte die jesuiti-
sche Lehre von der »Indifferenz« kennen. Neben der Wahrnehmung »Was
bringe ich mit und was der, der Begleitung sucht?«, ist mir heute die
Grundhaltung der Indifferenz das Wichtigste bei der Geistlichen Beglei-
tung. Ich verstehe das so, dass Gottes Wille weiter ist als meine Vorstellun-
gen und dass auch hier vor allem (und nur) der Heilige Geist wissen kann,

11 Aufmerksam wurde ich durch das Buch: Karl Frielingsdorf, Vom Überleben zum Leben, aktualisierte
   Auflage Ostfildern 2008.

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was jetzt in dieser konkreten Lebenssituation für einen bestimmten Men-
schen das Beste ist. Der Gedanke »Ich kann das gar nicht wissen« entlastet
mich zunächst und gibt mir zumindest einen »Zeitgewinn«. Auf der einen
Seite will ich mich nicht ganz vor der Aufgabe, mein Gegenüber in seinem
Fragen und Suchen zu begleiten, drücken. Auf der anderen Seite darf ich
dem, der ja Begleitung und nicht Weisung sucht, das eigene Hören auf Gott
nicht abnehmen.
     Nun haben wir im Kloster einen Ort des Gebetes mit Räumen der Stille,
das ist ein ganz großes Geschenk und offensichtlich schätzt der Heilige
Geist solche Räume. Menschen, die sich auf die Stille einlassen, bleiben
nicht unberührt von Eindrücken. Bei der Begleitung stellt sich eine wesent-
liche Frage: Ist in dem, was der oder die Begleitete gehört hat und ins Ge-
spräch mitbringt die Wirkung des Geistes Jesu zu vernehmen oder klingt
das Gehörte nach anderen Stimmen? Das ist die Rückmeldung, die ich als
Begleiter zu geben habe. Wenn es irgend angemessen ist, werde ich die Un-
terscheidungskriterien benennen, an denen ich die Stimme des Geistes zu
erkennen meine12. Manchmal ist das nicht möglich oder auch nicht nötig.
Immer aber will ich den Prozess unterstützen, den Paulus beschreibt: »Wir
alle aber schauen mit aufgedecktem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spie-
gel und werden so verwandelt in die Gestalt, die er schon hat, von Herrlichkeit zu Herr-
lichkeit, wie der Herr des Geistes es wirkt.«

BRUDER CHR ISTI A N H AUTER, geboren 1962, evangelisch-lutherischer Pfarrer, Prior der Christusträ-

ger Bruderschaft mit Hauptsitz im Kloster Triefenstein (bei Würzburg). Er ist neben seinen
Aufgaben als Prior auch in der Begleitung von Gästen tätig. www.christustraeger-bruderschaft.org

Ich habe eine Kraft in meiner Seele,
mit der ich Gott empfange.
Ich bin mir so gewiss wie ich lebe,
dass mir nichts so nahe ist wie Gott,
ja, dass er mir näher ist
als ich mir selber bin.
Meister Eckhart

12 So ergab sich mit der Pfarrerin im Eingangsbeispiel ein offenes Gespräch zu meinen Eindrücken. Sie
   schätzt den Gedankenaustausch und kann meine Eindrücke gut mitnehmen und weiter bewegen.
   Eine »Lösung« gibt es da nicht, aber sehr wohl eine wachsende Sensibilität zur Eigenwahrnehmung
   vor Gott.
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