Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechts-konvention - Heiner Bielefeldt

 
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Essay

        Zum Innovationspotenzial
        der UN-Behindertenrechts-
        konvention
        Heiner Bielefeldt
Impressum                                   Der Autor

  Deutsches Institut für Menschenrechte     Prof. Dr. Heiner Bielefeldt ist Direktor
  German Institute for Human Rights         des Deutschen Instituts für Menschen-
  Zimmerstr. 26/27                          rechte.
  D-10969 Berlin
  Phone (+49) (0)30 – 259 359 0
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  www.institut-fuer-menschenrechte.de

  Gestaltung:
  iserundschmidt
  Kreativagentur für PublicRelations GmbH
  Bonn – Berlin

  Essay No. 5
  3. aktualisierte und erweiterte Auflage
  Juni 2009

  ISBN 978-3-937714-81-3
  (PDF-Version)

  © 2009 Deutsches Institut
  für Menschenrechte
  Alle Rechte vorbehalten

  Gedruckt auf 100 % Altpapier
Essay

Zum Innovationspotenzial
der UN-Behindertenrechts-
konvention
Heiner Bielefeldt
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

    Zum Innovationspotenzial der
    UN-Behindertenrechtskonvention

      Menschenrechtskonventionen dienen dem                 zite abzielt. Sie gibt zugleich auch wichtige
      „Empowerment“ der Menschen. Sie leisten               Impulse für eine Weiterentwicklung des inter-
      dies, indem sie Ansprüche auf Selbstbe-               nationalen Menschenrechtsschutzes. Darüber
      stimmung, Diskriminierungsfreiheit und                hinaus hat die Konvention gesamtgesell-
      gleichberechtigte gesellschaftliche Teil-             schaftliche Bedeutung, insofern sie deutlich
      habe formulieren, sie rechtsverbindlich ver-          macht, dass die Anerkennung von Behinde-
      ankern und mit möglichst wirksamen                    rung als Bestandteil menschlichen Lebens
      Durchsetzungsinstrumenten verknüpfen.                 und Zusammenlebens zur Humanisierung der
                                                            Gesellschaft beiträgt.
      In keiner internationalen Menschenrechts-
      konvention kommt dieser Empowerment-
      Ansatz so prägnant zum Tragen wie in der              Bewusstsein der Würde
      Konvention über die Rechte von Personen mit
      Behinderungen, die im Dezember 2006 von               Voraussetzung jedes menschenrechtlichen
      den Vereinten Nationen verabschiedet wor-             Empowerment ist das Bewusstsein der
      den ist (im Folgenden die „Konvention“).1 Die         Menschenwürde – der eigenen Würde und
      Konvention signalisiert nicht nur eine Abkehr         der Würde der anderen. Alle UN-Men-
      von einer Behindertenpolitik, die primär auf          schenrechtskonventionen, also auch die
      Fürsorge und Ausgleich vermeintlicher Defi-           Behindertenrechtskonvention, bekräftigen

      1   Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat mit der Resolution vom 13.12.2006 den Text der
          Menschenrechtskonvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen zur Ratifikation freigegeben.
          Bundestag und Bundesrat haben dem Ratifikationsgesetz Ende 2008 zugestimmt. Seit dem 26. März 2009
          ist die Konvention für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Die Konvention und
          die den Entstehungsprozess betreffenden Dokumente können im Internet unter www.un.org/esa/socdev/
          enable/ abgerufen werden. Zur Entstehungsgeschichte der Konvention siehe auch Theresia Degener,
          Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen, in: Vereinte Nationen 3/2006, S. 104-110.

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Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

in ihren Präambeln den inneren Zusammen-                ten die Rede, insofern dieser Begriff an
hang zwischen der „Anerkennung der inhä-                entscheidenden Stellen des Konventions-
renten Würde“ und den „gleichen und                     textes immer wieder aufgegriffen wird.
unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder               Hinzu kommt, dass die Würde – sehr viel
der menschlichen Familie“.2 Auf diese Weise             direkter als in anderen Menschenrechts-
wird zunächst festgehalten, dass die Men-               konventionen – auch als Gegenstand not-
schenwürde (wie immer sie in der religiös,              wendiger Bewusstseinsbildung angespro-
weltanschaulich und kulturell pluralisti-               chen wird. Vor allem die Betroffenen selbst
schen Weltgesellschaft ansonsten inter-                 sollen in der Lage sein, ein Bewusstsein ihrer
pretiert werden mag) den tragenden Grund                eigenen Würde („sense of dignity“) auszu-
der menschenrechtlichen Gleichheit, d.h.                bilden.5 Da Selbstachtung indessen ohne die
des Prinzips der Nicht-Diskriminierung, bildet.         Erfahrung sozialer Achtung durch andere
Außerdem wird im Blick auf die Menschen-                kaum entstehen kann, richtet sich der An-
würde der herausgehobene Stellenwert der                spruch der Bewusstseinsbildung letztlich
Menschenrechte als „unveräußerlicher“                   an die Gesellschaft im Ganzen. Dement-
Rechte einsichtig: Es handelt sich um grund-            sprechend nimmt die Behindertenrechts-
legende Rechtspositionen, die von der                   konvention die Staaten in die Pflicht, breit
Gesellschaft nicht nach Ermessen zuerkannt              angelegte Programme gesellschaftlicher
(und ggf. auch verweigert oder wieder                   Aufklärung und Bildung zu entwickeln.6
aberkannt) werden können, sondern jedem
Menschen aufgrund seiner Menschen-                      Das Bewusstsein eigener Würde hängt
würde unbedingt geschuldet sind.3                       nicht nur an der inneren Einstellung der
                                                        Menschen, sondern wird auch bedingt
Der Begriff der Menschenwürde ist für den               durch gesellschaftliche Strukturen von Aus-
Menschenrechtsansatz von schlechthin                    grenzung und Diskriminierung, die die alltäg-
fundamentaler Bedeutung.4 In der Behinder-              liche Erfahrung von Menschen mit Behin-
tenrechtskonvention kommt dies beson-                   derungen prägen. „Dazu zählen Stufen vor
ders deutlich zum Tragen. Von der Würde ist             Restaurants für Rollstuhl fahrende Gäste,
nicht nur ungleich häufiger als in anderen              fehlende Gebärdensprachdolmetschung
internationalen Menschenrechtsdokumen-                  von Vorlesungen für gehörlose Studierende,

2   Diese Formel findet sich bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen
    von 1948, die – obwohl sie selbst nur den Status einer nicht rechtsverbindlichen Resolution hat – gleich-
    sam das Mutterdokument der in ihrem Gefolge entstandenen internationalen Menschenrechtskonventionen
    darstellt.
3   Vgl. Dietmar Willoweit, Die Veräußerung der Freiheit. Über den Unterschied von Rechtsdenken und Men-
    schenrechtsdenken, in: Würde und Recht des Menschen. Festschrift für Johannes Schwartländer, Würzburg
    1992, S. 255-268.
4   Vgl. Heiner Bielefeldt, Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte. Studie des Deutschen Instituts
    für Menschenrechte, Berlin 2008.
5   Vgl. Artikel 24 Absatz 1 (a).
6   Vgl. Artikel 8.

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Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

    die zwangsweise Sonderbeschulung für                  Frauen leiden, wenn sie sowohl aufgrund
    behinderte Kinder oder Ampeln ohne akus-              ihres Geschlechts als auch aufgrund von
    tische Signale für blinde Frauen und Män-             Behinderung Diskriminierung erfahren.
    ner“.7 Solche strukturellen Zugangs- und
    Partizipationshindernisse machen es den
    Betroffenen schwer, ein Bewusstsein eige-             Überwindung des
    ner Würde zu entwickeln, müssen sie doch
    den Eindruck gewinnen, dass man sie aus
                                                          Defizit-Ansatzes
    dem öffentlichen Leben fernhält, sie dort
    zumindest für überflüssig hält oder sie gar,          Strukturen gesellschaftlicher Ausgrenzung
    als ob man sich ihrer schäme, bewusst abson-          manifestieren und reproduzieren sich typi-
    dert und im Grenzfall regelrecht versteckt.           scherweise schon in der Sprache –
                                                          etwa wenn Kinder mit Behinderungen
    Aus dem Konventionstext lässt sich erken-             gelegentlich immer noch (wohlmeinend!)
    nen, dass die Unrechtserfahrung gesell-               als „Sorgenkinder“ bezeichnet werden. Die
    schaftlicher Ausgrenzung eine wichtige                Behindertenrechtskonvention markiert einen
    Triebkraft für die Arbeit an der Konvention           grundlegenden Wechsel, indem sie den tra-
    (bei der Behindertenorganisationen aktiv              ditionellen, primär an Defiziten der Betrof-
    beteiligt waren)8 bildet. Die Instrumente             fenen orientierten Ansatz durch einen
    des Rechts sollen dazu beitragen, gesell-             „diversity-Ansatz“ ersetzt, ohne den Problem-
    schaftliche Strukturen, die es Menschen               druck, unter dem Menschen mit Behinde-
    mit Behinderungen erschweren, ein Bewusst-            rungen leiden, in irgendeiner Weise zu
    sein eigener Würde zu entwickeln und auf-             leugnen oder herunterzuspielen.9
    rechtzuerhalten, systematisch zu über-
    winden und eine gleichberechtigte Teilhabe            Der Konvention liegt ein Verständnis von
    der Betroffenen an allen Bereichen des                Behinderung zugrunde, in dem diese kei-
    gesellschaftlichen Lebens zu gewährleisten.           neswegs von vornherein negativ gesehen,
    Besondere Beachtung findet in der Kon-                sondern als normaler Bestandteil mensch-
    vention das Problem der Mehrfachdiskrimi-             lichen Leben und menschlicher Gesellschaft
    nierungen, unter denen zum Beispiel                   ausdrücklich bejaht und darüber hinaus als

    7   Sigrid Arnade, Zwischen Anerkennung und Abwertung. Behinderte Frauen und Männer im bioethischen
        Zeitalter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/2003, S. 3-6, hier S. 3.
    8   Vgl. Degener, a.a.O., S. 109f.
    9   Vgl. Degener, a.a.O., S. 4, die in der Konvention einen „Paradigmenwechsel vom medizinischen zum men-
        schenrechtlichen Modell von Behinderung“ ausmacht.

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Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

Quelle möglicher kultureller Bereicherung                 Die Konvention beschränkt sich indessen
wertgeschätzt wird („diversity-Ansatz“).                  nicht darauf, Behinderung als Bestandteil
Die Akzeptanz von Behinderung als                         der Normalität menschlichen Lebens zu
Bestandteil menschlicher Normalität ist                   begreifen. Sie geht einen Schritt weiter,
nicht zuletzt deshalb von eminenter aktu-                 indem sie das Leben mit Behinderungen als
eller Bedeutung, weil angesichts der wach-                Ausdruck gesellschaftlicher Vielfalt positiv
senden biotechnischen Möglichkeiten zur                   würdigt. Zu den in Artikel 3 aufgelisteten
„Optimierung“ des menschlichen Erbguts                    generellen Prinzipien der Konvention zäh-
die Gefahr besteht, dass Behinderte in                    len u.a. „Respekt für Differenz und Aner-
neuer Weise – als Produkte angeblicher                    kennung von Behinderung als Bestandteil
elterlicher Fehlplanung – stigmatisiert und               menschlicher Vielfalt und Menschlichkeit“.12
womöglich sogar in ihrem Daseinsrecht in                  Die geforderte Anerkennung gilt demnach
Frage gestellt werden. Jürgen Habermas hat                nicht nur den behinderten Menschen und
in seinem Essay „Die Zukunft der mensch-                  ihrer Würde, sondern erstreckt sich auch
lichen Natur“ eindrucksvoll aufgezeigt,                   – und dies ist bemerkenswert – auf ihre
welch gravierende Auswirkungen eine sich                  durch die Behinderung bedingten besonde-
im Zuge technischer Entwicklungen immer                   ren Lebensformen.
mehr durchsetzende „liberale Eugenik“ auf
das Verständnis personaler Autonomie und                  Der „diversity-Ansatz“ führt konsequent
gesellschaftlicher Gleichheit haben kann.10               dazu, dass manche Formulierungen der
Dass Menschen mit Behinderungen von                       Konvention eine Nähe zu den Dokumenten
gesundheitspolitischen Machbarkeits-                      des kulturellen Minderheitenschutzes auf-
phantasien, wie sie durch hochgeschraubte                 weisen. Wenn beispielsweise die Staaten
biopolitische Erwartungen genährt werden,                 dazu verpflichtet werden, die „linguistische
unmittelbar existenziell betroffen sind, liegt            Identität der Community der Gehörlosen“
auf der Hand.11 Gegen die Vision einer künf-              anzuerkennen und zu fördern,13 erinnert
tigen Gesellschaft ohne Behinderung stellt                dies im Wortlaut an die im Rahmen des
die Konvention das Bild einer Menschen-                   Europarats entwickelten Standards zur
welt, in der Behinderte selbstverständlich                Anerkennung der kulturellen Identität von
leben und sich zugehörig fühlen können.                   nationalen Minderheiten. Dahinter steht

10 Vgl. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?,
   Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 2005.
11 Vgl. Arnade, a.a.O., S. 4ff.
12 Vgl. Artikel 3 (d): „Respect for difference and acceptance of disability as part of human diversity and
   humanity”.
13 Vgl. Artikel 24 Absatz 3 (b).

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Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

    die Einsicht, dass die eigenen Kommuni-                 auch durch die sozialen Problemlagen defi-
    kationsformen, die Menschen mit spezifi-                niert, unter denen Behinderte leiden. Ohne
    schen Behinderungen – etwa die Gehör-                   diese gleichzeitige Problemorientierung
    losen – ausgebildet haben, nicht nur ein                stünde die diversity-Semantik in Gefahr,
    Notbehelf sind, mit dem kommunikative                   zu verharmlosenden Sprachregelungen zu
    „Defizite“ kompensiert werden, sondern                  verflachen, in denen die Unrechtserfah-
    genuine Kulturerrungenschaften darstellen,              rungen Behinderter keinen Ort mehr hätten.
    die gesellschaftliche Wertschätzung und
    staatliche Förderung verdienen. Daran zeigt             Ausdrücklich problemorientiert ist bereits
    sich der Paradigmenwechsel, den die Behin-              die Definition von Behinderung in der Prä-
    dertenrechtskonvention darstellt, beson-                ambel. Das Problem – oder, wenn man so
    ders signifikant.                                       will: das „Defizit“ – wird dabei allerdings
                                                            nicht in den betroffenen Menschen verortet,
    Dieser Wechsel in der Einstellung zu Behin-             sondern im ausgrenzenden und diskrimi-
    derung kommt nicht nur den Betroffenen                  nierenden gesellschaftlichen Umgang gese-
    zugute, sondern zugleich der Gesamt-                    hen, den diese Menschen vielfach erleben.
    gesellschaft. Schon die Präambel betont „die            Die entscheidende Formulierung lautet:
    Bedeutung einer Anerkennung der wert-                   „Behinderung resultiert aus der Beziehung
    vollen – bestehenden und potenziellen –                 zwischen Personen mit Beeinträchtigungen
    Beträge, die Personen mit Behinderungen                 und den in Grundhaltungen und Umwelt-
    für eine insgesamt positive Entwicklung                 faktoren bestehenden Barrieren, derart dass
    und die innere Vielfalt ihrer Gemeinschaften            dies die vollständige und wirksame Betei-
    leisten“.14 Eine Gesellschaft, die den Bei-             ligung der Betroffenen auf der Grundlage
    trägen behinderter Menschen Raum gibt                   der Gleichheit mit anderen hindert“.15
    und Aufmerksamkeit widmet, erfährt somit
    einen Zugewinn an Humanität und kultu-                  Behinderung wird in dieser Definition, um
    reller Vielfalt.                                        es in der Sprache der modernen Sozialwis-
                                                            senschaften auszudrücken, als eine gesell-
    Das Verständnis von Behinderung, wie es                 schaftliche Konstruktion verstanden. Zwar
    der Konvention zugrunde liegt, geht aller-              knüpft sie an bestimmte physische, psychi-
    dings nicht vollständig im „diversity-Ansatz“           sche, mentale oder sensorische Beeinträch-
    auf. Komplementär dazu wird Behinderung                 tigungen („impairments“) an. Die Relevanz,

    14 Vgl. Präambel (m): ”Recognizing the valued existing and potential contributions made by persons with dis-
       abilities to the overall well-being and diversity of their communities …“..
    15 Vgl. Präambel (e): ”… disability results from the interaction between persons with impairments and atti-
       tudinal and environmental barriers that hinders their full and effective participation in society on an
       equal basis with others“.

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Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

die solchen natürlichen Beeinträchtigungen             den Übergang vom passiven Erleiden eines
zugeschrieben wird – mit allen stigmatisie-            vermeintlich natürlichen Schicksals hin zur
renden Konsequenzen für die Betroffenen                aktiven Kritik an stigmatisierenden, diskri-
– ist aber gerade kein natürliches Faktum,             minierenden und ausgrenzenden gesell-
sondern Resultat gesellschaftlichen Han-               schaftlichen Einstellungen und Strukturen.
delns. In diesem Sinne wird Behinderung                Knapp und prägnant findet diese Grundein-
gesellschaftlich „konstruiert“.                        sicht in der Formel der „Aktion Mensch“
                                                       (ehemals „Aktion Sorgenkind“) ihren Aus-
Die in der Definition enthaltene Unterschei-           druck: „Man ist nicht behindert, man wird
dung zwischen „impairment“ und „disability“            behindert.“ 17
erinnert an die in der Geschlechterforschung
etablierte begriffliche Differenzierung zwi-           Zwischen den beiden Aspekten des Ver-
schen „sex“ und „gender“: Gleichsam das                ständnisses von Behinderung, wie es in der
Analogon zum Begriff des biologischen                  Konvention formuliert ist – der positiv kon-
Geschlechts („sex“) bildet in der Definition           notierten diversity-Komponente und der
der Begriff der Beeinträchtigung („impair-             kritischen Aufdeckung gesellschaftlicher
ment“); sie stellt das biologisch-natürliche           Konstruktion von Behinderung – besteht
Element dar, das in der Behinderung in der             eine gewisse Spannung. Für das menschen-
Regel mit präsent ist. Die Behinderung als             rechtliche Empowerment der Betroffenen
solche wird indessen nicht in dieser natür-            sind jedoch beide Aspekte unverzichtbar.
lichen (physischen, mentalen, sensorischen             Das Vorgehen gegen strukturelles Unrecht,
etc.) Beeinträchtigung des Individuums                 durch das Menschen daran gehindert wer-
gesehen, sondern (analog zu „Gender“) als              den, ihr Leben selbstbestimmt und gleich-
eine gesellschaftliche Praxis bestimmt, die            berechtigt mit anderen zu leben und ihre
solche Beeinträchtigungen zum Anlass für               kreativen Möglichkeiten zu entfalten,
Zuschreibungen aller Art nimmt.16                      gewinnt seine positive Handlungsperspek-
                                                       tive in der selbstbewussten Forderung nach
Behinderung in diesem Sinne als gesell-                Anerkennung alternativer Lebens- und
schaftlich konstruiert zu begreifen, bildet            Kommunikationsformen, die den Pluralis-
die Voraussetzung dafür, dass man sie als              mus einer modernen freiheitlichen Gesell-
strukturelles Unrecht adressieren kann. Aus            schaft mit prägen.
der Sicht der Betroffenen bedeutet dies

16 Zur Analogie und zur Differenz zwischen der gesellschaftlichen Konstruktion von Gender bzw. von
   Behinderung vgl. Ulrike Schildmann, Geschlecht und Behinderung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,
   B 8/ 2003, S. 29-35.
17 Zitiert nach Arnade, a.a.O., S. 3.

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Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

     Die Forderung sozialer Inklusion                        Ausgrenzung eine freiheitliche und gleich-
                                                             berechtigte soziale Inklusion einfordert.
     Der Begriff der Würde wird in der Konven-
     tion wiederholt in Verbindung zu den                    Diese Orientierung zeigt sich ebenfalls
     Begriffen Autonomie und Unabhängigkeit                  bereits in den allgemeinen Prinzipien, wenn
     gebracht. So findet sich unter den in der               dort die „vollständige und wirksame Parti-
     Konvention aufgelisteten allgemeinen Prin-              zipation und Inklusion in der Gesellschaft“
     zipien das Postulat der „Achtung für die                als Zielsetzung angesprochen wird.20 Kon-
     inhärente Würde, für die individuelle Auto-             krete Gestalt gewinnt dieses Prinzip zum
     nomie, einschließlich der Freiheit, eigene              Beispiel in den Forderungen nach gleich-
     Entscheidungen zu treffen, sowie für die                berechtigtem Zugang zum Arbeitsmarkt,21
     Unabhängigkeit von Personen“.18 Dies ent-               nach Möglichkeiten der Teilhabe am kultu-
     spricht dem klassisch-liberalen Verständ-               rellen Leben22, nach inklusiver Bildung23 und
     nis von Menschenrechten als Rechten                     nach gleichberechtigter Mitwirkung in der
     freier Selbstbestimmung, in der die Würde               Politik.24 Außerdem enthält die Konvention
     des Menschen als eines Verantwortungs-                  das Recht auf eine Staatsangehörigkeit25
     subjekts Anerkennung erfährt. Ungewöhn-                 sowie das Recht auf Ehe und Elternschaft.26
     lich ist es hingegen, wenn in der Konven-
     tion auch die Zielsetzung eines verstärkten             Nach der Konvention gehören individuelle
     Zugehörigkeitsgefühls („enhanced sense of               Autonomie und soziale Inklusion unauflös-
     belonging“) aufgeführt wird.19 Der Begriff              lich zusammen; sie müssen für ein ange-
     des Zugehörigkeitsgefühls kommt meines                  messenes Verständnis zusammen gelesen
     Wissens sonst in keiner internationalen                 und auch in der praktischen Umsetzung
     Menschenrechtskonvention vor und gehört                 der Konventionsverpflichtung stets zusam-
     bislang nicht zum etablierten Vokabular                 men bedacht werden.27 Anders als gelegent-
     des Menschenrechtsdiskurses. Er steht sym-              lich unterstellt wird, stehen Autonomie
     bolisch für eine spezifische Stoßrichtung               und Inklusion nicht nur keineswegs in
     der Behindertenrechtskonvention, die gegen              Widerspruch zueinander. Vielmehr bedingen
     die Unrechtserfahrung gesellschaftlicher                sie einander wechselseitig: Ohne soziale

     18 Vgl. Artikel 3 (a): „Respect for inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make
        one’s own choices, and independence of persons“.
     19 Vgl. Präambel (m).
     20 Vgl. Artikel 3 (c): „… full and effective participation and inclusion in society“.
     21 Vgl. Artikel 27.
     22 Vgl. Artikel 30.
     23 Vgl. Artikel 24.
     24 Vgl. Artikel 29.
     25 Vgl. Artikel 18 Absatz 1.
     26 Vgl. Artikel 23 Absatz 1.
     27 Die Überschrift zu Artikel 19 lautet: „Living independently and being included in the community”.

10
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

Inklusion kann Autonomie praktisch nicht               Der Begriff der Inklusion ist ein Kernbegriff
gelebt werden, und ohne Autonomie nimmt                der Behindertenrechtskonvention und durch-
soziale Inklusion fast zwangsläufig Züge               zieht sowohl als Substantiv wie als Adjek-
von Bevormundung an. Mit anderen Wor-                  tiv den gesamten Text. Ihn mit „Integration“
ten: Erst in der wechselseitigen Verwie-               bzw. „integrativ“ zu wiederzugeben, wie dies
senheit wird klar, dass Autonomie gerade               in der offiziellen deutschen Übersetzung
nicht die Selbstmächtigkeit des ganz auf               geschieht, ist problematisch und wird von
sich gestellten Einzelnen (frei nach Wilhelm           zahlreichen Fachleuten und von den Behin-
Tells Ausspruch: „Der Starke ist am mäch-              dertenverbänden zurückgewiesen.29 Zwar
tigsten allein“) meint, sondern auf selbst-            mag es schwierig sein, die Differenz von
bestimmtes Leben in sozialen Bezügen zielt;            „Integration“ und „Inklusion“ genau zu be-
und im Gegenzug wird deutlich, dass soziale            stimmen – zumal es ganz unterschiedliche,
Inklusion ihre Qualität gerade dadurch                 engere oder weitere Integrationskonzepte
gewinnt, dass sie Raum und Rückhalt für                gibt. Fest steht indessen, dass die Behinder-
persönliche Lebensgestaltung bietet.                   tenrechtskonvention über einen traditio-
                                                       nellen Integrationsansatz hinausweist. Es
Menschen mit Behinderungen haben beide                 geht nicht lediglich darum, innerhalb der
Formen des Unrechts vielfach erlebt: sowohl            bestehenden gesellschaftlichen Systeme
die Ausgrenzung aus Schule, Arbeitsmarkt,              (etwa innerhalb des Schulsystems) gleich-
Politik oder Kultur und sogar die Verweige-            sam die Türen zu öffnen, um nach Maß-
rung von Familienleben und Elternschaft28              gabe des Möglichen für Behinderte Platz zu
als auch die Bevormundung durch totale                 schaffen. Vielmehr ist der Anspruch, die
Versorgungsinstitutionen. Es liegt in der              Gesellschaft und ihre Subsysteme so zu
Natur der Sache, dass das menschenrecht-               verstehen, dass Menschen mit Behinderun-
liche Empowerment von Menschen mit                     gen von vornherein darin selbstverständlich
Behinderungen stets gegen beide komple-                zugehörig sind. Der neue Leitbegriff der
mentäre Formen der Entrechtung – Aus-                  Inklusion signalisiert den geforderten Wan-
grenzung wie Bevormundung – gerichtet                  del hin zu einer selbstverständlichen Zu-
sein muss. Positiv formuliert: Es geht um              gehörigkeit.
soziale Inklusion auf der Grundlage indivi-
dueller Autonomie und damit zugleich um                Mit dieser Akzentsetzung bei einer freiheit-
eine freiheitliche Gestaltung des Zusammen-            lichen sozialen Inklusion wird die Behin-
lebens in Gesellschaft und Gemeinschaften.             dertenrechtskonvention – abgesehen von

28 Vgl. Arnade, a.a.O., S. 3.
29 Vgl. Valentin Aichele, Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll. Ein Beitrag zur
   Ratifikationsdebatte, Policy Paper des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin 2008, S. 11f.

                                                                                                            11
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

     ihrer primären praktischen Funktion des               rungssystemen ist eine Diskriminierung,
     Empowerment der konkret betroffenen                   die gegen Menschenrechte verstößt. Zu
     Menschen – auch für die Menschenrechts-               den Rechten auf Inklusion gehört schließ-
     theorie wichtig. In der Menschenrechts-               lich auch jenes elementare Menschenrecht
     debatte besteht nach wie vor eine Tendenz,            auf Rechtsgemeinschaft, das Hannah Arendt
     die Rechte, die jedem Menschen zukom-                 nach dem Zweiten Weltkrieg im Blick auf
     men, in erster Linie als individuelle Ab-             die Gruppe der „displaced persons“ postu-
     wehrrechte gegen Staat, Gesellschaft und              liert hat30 und dessen Dringlichkeit sich
     Gemeinschaften zu verstehen. Darin steckt             heute vor allem im Umgang mit Asyl-
     die richtige Einsicht, dass die Menschen-             suchenden zeigt. Man könnte zahlreiche
     rechte die unverrechenbare Würde jedes                weitere Beispiele nennen.
     einzelnen Menschen schützen – und zwar
     immer auch gegen etwaige Vereinnahmun-                Nicht der oft beschworene Gegensatz von
     gen des Individuums durch übermächtige                Individuum versus Gemeinschaft bzw.
     Kollektive. Die Abwehrkomponente der Men-             Gesellschaft macht demnach die Pointe
     schenrechte ist und bleibt deshalb auch               menschenrechtlicher Emanzipation aus.
     im Kontext der Behindertenrechtskonven-               Vielmehr steht die durch menschenrecht-
     tion unverzichtbar.                                   liche Individualrechte zu ermöglichende
                                                           freie Gemeinschaftsbildung in der doppel-
     Erstaunlich wenig systematische Beach-                ten Frontstellung gegen autoritäre, bevor-
     tung allerdings findet in der menschen-               mundende Kollektivismen einerseits und
     rechtlichen Fachliteratur die Tatsache, dass          gegen unfreiwillige soziale Ausgrenzun-
     die Menschenrechte ihr kritisches Potenzial           gen andererseits.31 Menschenrechtswidrig
     auch gegen unfreiwillige Ausgrenzungen                wären demnach z.B. Familienformen, die
     aus Gemeinschaften oder der Gesellschaft              auf erzwungener Eheschließung basieren,
     entfalten. Dabei ist auch diese Komponente            Religionsgemeinschaften, die abtrünnige
     im Menschenrechtsanspruch von Anfang                  Mitglieder mit Gewalt bedrohen, oder
     angelegt. Beispielsweise schützen die Men-            Volksdemokratien ohne Pressefreiheit und
     schenrechte vor Ausbürgerung – eine Maß-              ohne Rechte der Opposition. Ebenfalls
     nahme, die autoritäre Regime gern einge-              unter Menschenrechtsgesichtspunkten
     setzt haben, um lästige Kritikerinnen und             inakzeptabel aber wären eine Wirtschafts-
     Kritiker loszuwerden. Auch die (unfreiwil-            politik, die die gesellschaftliche Desinte-
     lige) Exklusion aus den sozialen Siche-               gration von Dauerarbeitslosen tatenlos hin-

     30 Vgl. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 754-770;
        dies, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 2. Aufl. 1974, S. 452ff.
     31 Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998, S. 150ff.

12
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

nähme, oder eben eine gesellschaftliche
Praxis, die Menschen mit Behinderungen                  Inhaltliche Verbürgungen und
vom öffentlichen Leben, beispielsweise aus              Umsetzungsverpflichtungen
dem Regelschulsystem, absondert.
                                                        Die UN-Behindertenrechtskonvention steht
Menschenrechte setzen nicht nur Grenzen                 im Kontext der anderen internationalen
für Gemeinschaften und die Gesellschaft,                Menschenrechtskonventionen, die im Ge-
indem sie unveräußerliche Rechte einzelner              folge der Allgemeinen Erklärung der Men-
Menschen statuieren. Gerade dadurch, dass               schenrechte von 1948 entstanden sind.32
sie jedem einzelnen Menschen die Position               Sie dient in erster Linie dazu, die bereits
eines Subjekts gleichberechtigter Freiheit              bestehenden menschenrechtlichen Stan-
zuerkennen, eröffnen sie über ihre unver-               dards unter dem besonderen Blickwinkel
zichtbare negativ-abwehrende Funktion                   der Menschen mit Behinderungen zu prä-
zugleich auch positive Möglichkeiten,                   zisieren und zu ergänzen. Sie baut also auf
Gemeinschaften und die Gesellschaft im                  den anderen Menschenrechtskonventionen,
Ganzen nach Gesichtspunkten von Freiheit                auf die in der Präambel Bezug genommen
und Gleichberechtigung weiter zu entwi-                 wird,33 weiter auf. Dementsprechend haben
ckeln. Dieses in der Theorie der Menschen-              die Verfasserinnen und Verfasser der Konven-
rechte zu wenig bedachte Potenzial wird in              tion sorgsam darauf geachtet, dass bereits
der Behindertenrechtskonvention deutlicher              existierende Standards nicht etwa durch
als in anderen internationalen Menschen-                schwächere Formulierungen unterminiert
rechtskonventionen zu Wort gebracht. Nicht              werden, sondern im Gegenteil bekräftigt
zuletzt darin besteht die Bedeutung die-                und gelegentlich ergänzt werden.
ser neuen Konvention für die Weiterent-
wicklung der Menschenrechtsdiskussion                   Die Behindertenrechtskonvention wird
im Ganzen.                                              gelegentlich als eine „Spezialkonvention“
                                                        bezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch nicht
                                                        glücklich gewählt. Er ist regelrecht irre-

32 Neben den beiden umfassenden Menschenrechtspakten von 1966 – dem Internationalen Pakt über wirt-
   schaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische
   Rechte – sind insbesondere zu nennen: die Internationale Konvention zur Abschaffung aller Formen
   rassistischer Diskriminierung (1965), das Übereinkommen zur Abschaffung aller Formen der Diskriminie-
   rung der Frau (1979), die Antifolterkonvention (1984), die Kinderrechtskonvention (1989) sowie die Kon-
   vention zum Schutz der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien (1990). All diese Konventionen weisen
   ein hohes Maß an inhaltlicher Übereinstimmung auf – bis hin zu oftmals wortgleichen Formulierungen.
   Dies muss so sein, denn schließlich bilden sie einander ergänzende Komponenten des einen internatio-
   nalen Menschenrechtsschutzes.
33 Vgl. Präambel (b).

                                                                                                               13
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

     führend und kann leicht dahingehend miss-               sche Rechte von 1966 formulierte Verbot,
     verstanden werden, als enthalte die Kon-                Menschen ohne ihren Willen medizinischen
     vention „Sonderrechte“. In Wahrheit geht es             oder wissenschaftlichen Experimenten zu
     indessen gerade um die Verwirklichung der               unterziehen.34 Darüber hinaus beinhaltet
     allgemeinen Menschenrechte. Das „Spezielle“             die Konvention Bestimmungen für beson-
     der Konvention besteht nicht in der Formu-              dere Gefährdungslagen – etwa bewaffnete
     lierung etwaiger Spezialrechte, sondern in              Konflikte oder Naturkatastrophen. Außer-
     der speziellen Perspektive der Behinderten              dem spricht sie das Problem der Mehrfach-
     auf die allgemeinen Menschenrechte. Das                 diskriminierungen an, von denen etwa Frauen
     Gesamtspektrum der Menschenrechte wird                  oder Mädchen mit Behinderungen häufig
     gleichsam unter dem Gesichtspunkt durch-                betroffen sind.35
     gearbeitet, wie Menschen mit Behinderungen
     ihre Ansprüche auf Autonomie, Gleichbe-                 Wie alle Menschenrechtskonventionen
     rechtigung, Inklusion und Teilhabe wirksam              richtet sich auch die Behindertenrechts-
     zur Geltung bringen können.                             konvention in erster Linie an den Staat als
                                                             den Garanten des Rechts, den sie in mehr-
     Die Behindertenrechtskonvention unter-                  facher Weise in die Pflicht nimmt.36 Der Staat
     scheidet sich von anderen Menschenrechts-               ist gehalten, die Menschenrechte zunächst
     konventionen deshalb weniger durch die                  als Vorgabe (und gegebenenfalls als
     materialen Rechte als vielmehr durch die                Grenze) eigenen Handels zu achten; dar-
     spezifische Perspektive von Menschen mit                über hinaus hat er die betroffenen Men-
     Behinderungen, aus der sie diese Rechte                 schen vor drohenden Rechtsverletzungen
     formuliert und ggf. modifiziert. Charakte-              durch Dritte aktiv zu schützen; schließlich
     ristisch sind, wie bereits erwähnt, die wie-            soll er außerdem Infrastrukturmaßnahmen
     derholte Bezugnahme auf den Begriff der                 ergreifen, damit die Menschen von ihren
     Menschenwürde sowie eine besondere                      Rechten auch tatsächlich Gebrauch machen
     Akzentsetzung bei den Postulaten sozialer               können.37 Diese Infrastrukturkomponente
     Inklusion und diskriminierungsfreier Parti-             ist in der Behindertenrechtskonvention aus
     zipation. Ausdrücklich bekräftigt wird das              verständlichen Gründen stark ausgeprägt.
     bereits im Pakt für bürgerliche und politi-             Denn viele der Partizipationshindernisse,

     34 Im Anschluss an das Folterverbot in Artikel 15 Absatz 1 Satz 2 heißt es: „In particular, no one shall be
        subjected without his or her free consent to medical or scientific experimentation.“ (Satz 2).
     35 Vgl. Artikel 6 Absatz 1.
     36 Vgl. insbesondere Artikel 4, der sich ausführlich mit den unterschiedlichen Staatenpflichten beschäftigt.
     37 Diese drei Verpflichtungsebenen – formelhaft zusammengefasst in den Pflichten „to respect, to protect,
        to fulfil“ – werden in der internationalen Menschenrechtsdiskussion seit einigen Jahren unter dem
        Begriff der menschenrechtlichen Pflichtentrias thematisiert. Vgl. dazu Ida Elisabeth Koch, Dichotomies,
        Trichotomies or Waves of Duties, in: Human Rights Law Review 5 (2005), S. 81-103.

14
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

unter denen Menschen mit Behinderungen                 auszugestalten, dass man die Implementie-
leiden, hängen mit physischen oder men-                rung auf nationaler Ebene stärkt. Die Erfah-
talen Barrieren zusammen, deren Überwin-               rung hat gezeigt, dass die Tätigkeit der für
dung breit angelegte staatliche und gesell-            die Überwachung der internationalen Kon-
schaftliche Anstrengungen und auch die                 ventionen zuständigen UN-Ausschüsse
Bereitschaft zur Übernahme von Kosten                  wenig Wirkung entfaltet, wenn sie nicht
verlangt.38                                            rückgekoppelt ist mit Aktivitäten, die in
                                                       den jeweiligen Ländern stattfinden. Es geht
In prozeduraler Hinsicht verpflichten sich             deshalb darum, Institutionen auf nationaler
die Staaten dazu, mindestens alle vier Jahre           Ebene zu schaffen, die – in Verbindung mit
einen Bericht über die Umsetzung der Kon-              den jeweiligen UN-Ausschüssen – die Um-
ventionsverpflichtungen zu verfassen39 und             setzung international verankerter Men-
einem unabhängigen Sachverständigen-                   schenrechtsnormen systematisch begleiten.
ausschuss der Vereinten Nationen („Com-
mittee on the Rights of Persons with Dis-              Die Behindertenrechtskonvention spricht
abilities“)40 zur Prüfung vorzulegen. Mit              in Artikel 33 näherhin drei Ebenen der
diesem Staatenberichtsverfahren knüpft die             nationalen Umsetzung an, die einander
Behindertenrechtskonvention an einen                   wechselseitig ergänzen.42 Es sind dies die
Monitoringmechanismus an, der im Rahmen                Regierung, innerhalb derer die Zuständig-
der anderen Menschenrechtskonventionen                 keitsbereiche klar definiert werden sollen,
zum Teil schon seit Jahrzehnten existiert.             nationale Menschenrechtsinstitutionen,
Neu sind demgegenüber die Verpflichtun-                die ein unabhängiges strukturelles Moni-
gen, die darauf abzielen, eine systematische           toring der Konventionsumsetzung leisten
Überwachung der Umsetzung vor Ort –                    sollen, sowie schließlich die Zivilgesell-
also in den einzelnen Staaten selbst – zu              schaft, zur der insbesondere auch Betroffe-
gewährleisten.41 Die Konvention folgt hier             nenorganisationen gehören. Die Bundes-
der jüngeren Tendenz, menschenrechtliche               regierung hat das Deutsche Institut für
Schutzmechanismen dadurch effektiver                   Menschenrechte damit beauftragt, als

38 Die in der Konvention angesprochenen Infrastrukturmaßnahmen umfassen zum Beispiel öffentliche
   Bewusstseinsbildung, Trainingsprogramme für das Fachpersonal, das mit behinderten Menschen umgeht,
   eine integrative Politik in Richtung auf Schule, Arbeitsmarkt und Kulturleben sowie Angebote der
   gesundheitlichen Rehabilitation. Erwähnt sei auch die Verpflichtung der Staaten zu Erhebung aussage-
   kräftiger statistischer Daten, auf deren Grundlage gesellschaftliche Diskriminierung – insbesondere auch
   indirekte Formen der Diskriminierung – besser erkannt und bearbeitet werden können.
39 Vgl. Artikel 35.
40 Vgl. Artikel 34.
41 Vgl. Artikel 33.
42 Zum Monitoring vgl. Aichele, a.a.O. S. 10f.

                                                                                                              15
Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention

     Monitoring-Stelle43 für die Konvention zu           wicklung des Menschenrechtsdiskurses.
     fungieren.                                          Beachtung verdient insbesondere die starke
                                                         Akzentsetzung auf soziale Inklusion, die
                                                         ausdrücklich vom Postulat individueller
     Fazit: Das innovative Potenzial                     Autonomie her gedacht und von dorther
                                                         von vornherein als eine freiheitliche Inklu-
     der Konvention                                      sion definiert wird. Diese Zielsetzung ist
     Die Bedeutung der Behindertenrechtskon-             zwar nicht per se neu, hat in der Theorie der
     vention besteht zunächst darin, dass sie            Menschenrechte und im Selbstverständnis
     den internationalen Menschenrechtsschutz            der Menschenrechtsbewegung bisher aller-
     auf die besonderen Gefährdungslagen von             dings wenig systematische Aufmerksamkeit
     Menschen mit Behinderungen hin konkre-              gefunden. Die Behindertenrechtskonven-
     tisiert und präzisiert. Dass die Diskriminie-       tion kann insofern dazu beitragen, gewisse
     rung Behinderter als Menschenrechtsthema            Einseitigkeiten im Selbstverständnis und
     in einer eigenen Konvention angesprochen            in der Selbstdarstellung der Menschen-
     und systematisch auf die verschiedenen              rechtsbewegung zu überwinden.
     Lebensbereiche bezogen wird, stellt einen
     wichtigen Fortschritt dar. Dies gilt umso           Schließlich hat die Konvention Bedeutung
     mehr, als die Behindertenrechtskonvention           für die Humanisierung der Gesellschaft im
     den internationalen Menschenrechtsschutz            Ganzen. Indem sie Menschen mit Behin-
     auch in prozeduraler Hinsicht ergänzt,              derungen davon befreit, sich selbst als „de-
     indem sie einen eigenen Monitoring-                 fizitär“ sehen zu müssen, befreit sie
     Mechanismus – entsprechend den Über-                zugleich die Gesellschaft von einer falsch
     wachungsverfahren der anderen Menschen-             verstandenen Gesundheitsfixierung, durch
     rechtskonventionen – etabliert.                     die all diejenigen an den Rand gedrängt
                                                         werden, die den durch Werbewirtschaft
     Die Behindertenrechtskonvention bedeutet            und Biopolitik vorangetriebenen Impera-
     aber weit mehr als eine Ergänzung des be-           tiven von Fitness, Jugendlichkeit und per-
     stehenden Menschenrechtsschutzsystems               manenter Leistungsfähigkeit nicht Genüge
     durch die besondere Berücksichtigung der            tun. In diesem Sinne kommt der „diversity-
     spezifischen Belange Behinderter. Sie gibt          Ansatz“, für den die Behindertenrechts-
     auch wichtige Impulse für eine Weiterent-           konvention steht, zuletzt uns allen zugute.

     43 Vgl. www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle
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