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Policy Paper Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Heiner Bielefeldt
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Policy Paper Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Heiner Bielefeldt
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte I. Eine komplexe Kontroverse verbot nur im Rahmen eines Ausschlusses sämt- licher sichtbarer religiöser Symbole für Lehrkräfte Seit mehreren Generationen leben Muslime in im Schuldienst vertretbar sei, oder ob man spezifi- Deutschland. Allerdings haben sie erst in den letzten sche Regelungen für das islamische Kopftuch erlassen Jahren – nach dem späten Abschied von der allseits könne, von denen andere – zumal christliche – gepflegten Illusion, dass der Islam in Deutschland Symbole nicht betroffen wären. Die Befürworterin- lediglich eine „Gastarbeiter-Religion“ sei – damit be- nen und Befürworter einer spezifischen Kopftuch- gonnen, ihren Anspruch auf gleichberechtigte öf- regelung argumentieren teils mit Hinweisen auf fentliche Präsenz in der Gesellschaft wirksam vorzu- christliche Bezüge in den Landesverfassungen be- bringen. Dadurch ist der Islam hierzulande zu einem ziehungsweise in den Schulgesetzen, um von dort- innenpolitisch relevanten Thema geworden, das nach her eine Differenz in der Behandlung christlicher und den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu- islamischer Symbole zu rechtfertigen; teils stellen nehmend auch von sicherheitspolitischen Gesichts- sie auf den „politischen“ Charakter des Kopftuchs punkten überlagert wird. Die seit Jahren intensiv ab, wodurch dieses sich zum Beispiel von jüdischen diskutierte Frage, ob eine muslimische Lehrerin im oder christlichen Symbolen unterscheide. Die poli- öffentlichen Schuldienst das Kopftuch tragen darf, tische Aussagewirkung des Kopftuchs wird dabei hat in diesem Zusammenhang geradezu den Stellen- gelegentlich in die Nähe der Verfassungsfeindlich- wert einer „nationalen Debatte“ gewonnen. keit gerückt, da das Tragen des Kopftuchs mit der in Artikel 3 des Grundgesetzes verbürgten Gleich- Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem berechtigung von Frauen und Männern unverein- Urteil vom 24. September 20031 die vom Ober- bar sei. schulamt Stuttgart gegen eine Kopftuch tragende Lehramtskandidatin vorgebrachten Ausschlussgrün- Es fällt auf, dass der Streit über das Kopftuch kei- de für nicht zureichend erklärt hatte, bemühen sich neswegs durchgängig entlang etablierter parteipo- derzeit die Landesparlamente um gesetzliche litischer „Lagergrenzen“ verläuft, sondern sich mit- Regelungen der Frage. Das Interesse der Öffent- ten durch die Parteien, aber auch durch die Kirchen lichkeit an diesem Thema ist anhaltend hoch. Die und andere gesellschaftliche Gruppierungen hin- politische Kontroverse ist schon deshalb mittlerwei- durchzieht. Unterschiedliche Einstellungen zur le recht unübersichtlich geworden, weil sich meh- Streitfrage finden sich auch im Umfeld nichtstaat- rere zur Entscheidung anstehende Fragen in der licher Menschenrechts- beziehungsweise Frauen- Debatte überlagern: rechtsorganisationen. Dasselbe gilt für die Äuße- rungen von Musliminnen und Muslimen, die in Zunächst geht es um das Für und Wider eines gene- ganz verschiedene Richtungen gehen können. Man rellen Kopftuchverbots im Schuldienst (eventuell kann in alldem ein Indiz für die Komplexität der darüber hinaus auch in anderen Bereichen des Kontroverse sehen, in der konkurrierende empiri- öffentlichen Dienstes). Im Kreise derjenigen, die ein sche Einschätzungen, gesellschaftspolitische Pro- Kopftuchverbot für notwendig oder sinnvoll halten, gnosen und normative Vorstellungen aufeinander- besteht sodann ein Dissens darüber, ob ein Kopftuch- treffen. 1 BVerfG, 2 BvR 1436/02 (Entscheidung Fereshta Ludin) vom 24. September 2003. 4
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Die strittigen empirischen Fragen betreffen vor allem heit umfasst). Beide Rechte sind sowohl im Grund- die psychologische Wirkung von Kleidung und Be- rechtsabschnitt des Grundgesetzes als auch in meh- kenntnis einer Lehrperson auf Schülerinnen und Schü- reren für die Bundesrepublik Deutschland völker- ler (eventuell abgestuft nach deren Alter) sowie die rechtlich bindenden internationalen Menschenrechts- Einschätzungen zur politisch-ideologischen Instru- konventionen normiert worden – vor allem in der mentalisierung des Kopftuchs im Kampf um die Europäischen Menschenrechtskonvention des Europa- Organisation des islamischen Milieus. Hinzu kommen rates von 1950, im Internationalen Pakt über bür- unterschiedliche Prognosen über die längerfristigen gerliche und politische Rechte von 1966 und im in- Wirkungen eines Kopftuchverbotes auf die Position ternationalen Übereinkommen zur Abschaffung jeder muslimischer Mädchen und Frauen in der Gesellschaft. Form der Diskriminierung der Frau von 1979. Abge- sehen von möglichen Spannungen zwischen der Diejenigen, die ein Verbot des Kopftuchs für Leh- Gleichberechtigung der Geschlechter einerseits und rerinnen im Schuldienst (beziehungsweise auch für der Religionsfreiheit andererseits kann es auch zu anderweitig Tätige im öffentlichen Dienst) befür- Konflikten zwischen zwei Aspekten innerhalb des worten, versprechen sich davon gelegentlich eine Rechts auf Religionsfreiheit kommen, nämlich zwi- heilsame Schutzwirkung gegen einen konservati- schen der „positiven Religionsfreiheit“ der Lehrerin ven beziehungsweise islamistischen Milieudruck, und der „negativen Religionsfreiheit“ von Schüler- der sich zunehmend auch in der Schule bemerkbar innen und Schülern. macht – etwa in Gestalt von Abmeldungen vom koedukativen Sportunterricht. Gegnerinnen und Unter der positiven Religionsfreiheit versteht man Gegner eines Verbots fürchten demgegenüber, dass das Recht, einen religiösen Glauben anzunehmen, zu es – als nicht-intendierte Nebenwirkung solcher bekennen und das eigene Leben (auch in Gemein- Maßnahmen – zu verstärkten gesellschaftlichen Aus- schaft mit anderen) danach auszurichten; mit nega- grenzungen Kopftuch tragender Frauen auch außer- tiver Religionsfreiheit ist demgegenüber das Recht halb des Schuldienstes beziehungsweise des öffent- gemeint, nicht von Staats wegen gegen den eigenen lichen Dienstes kommen wird, wodurch der Druck auf Willen religiöser Einflussnahme ausgesetzt oder muslimische Frauen insgesamt zunehmen würde. gar zu religiösen Handlungen gedrängt zu werden. Hinzu kommt als weiterer menschenrechtlicher An- Über solche schwierigen empirischen Fragen und spruch das Erziehungsrecht der Eltern, das ebenfalls prognostischen Einschätzungen hinaus geht es in sowohl verfassungsrechtlich als auch völkerrechtlich der Kontroverse um das Kopftuch immer zugleich verankert ist. Für die besondere Situation des Lehr- um normative Grundentscheidungen, die das Selbst- amts in einer staatlichen Schule stellt sich außerdem verständnis der Gesellschaft im Ganzen betreffen. die Frage, inwieweit die religiös-weltanschauliche Dazu zählen das Verhältnis von Staat und Religion, Neutralität des Staates Lehrerinnen und Lehrern im der Einfluss der Kirchen und Religionsgemein- Unterricht eine besondere Zurückhaltungspflicht auf- schaften in der Öffentlichkeit, die Erziehung der erlegt, hinter der das Recht auf eigene Religions- Jugend zwischen Elternhaus und staatlicher Schule, ausübung im Dienst eventuell zurückzutreten hat. der angemessene Umgang der Geschlechter mit- einander, Chancen und Grenzen kultureller Plurali- Man wird im Blick auf die empirisch und normativ sierung der Gesellschaft, die politisch-rechtliche komplexe Konfliktlage von vornherein konzedieren Gestaltung der Einwanderung in Deutschland usw. müssen, dass es im Streit um das Kopftuch der Leh- rerin nicht nur eine einzige menschenrechtlich be- Auch aus der Perspektive der Menschenrechte erweist gründbare Position gibt. Dies zeigt sich auch im Urteil sich die Frage nach dem Kopftuch der Lehrerin als des Bundesverfassungsgerichts, das – in ungewohn- kompliziert. Denn es geht dabei um mehrere men- ter Zurückhaltung – unterschiedliche rechtspolitische schenrechtliche Ansprüche, die in Spannung oder Optionen zur Regelung der Streitfrage eröffnet: Widerspruch zueinander geraten können. Im Vor- Dem Gesetzgeber bleibe es überlassen, entweder „die dergrund der Diskussion stehen die Gleichberechti- zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzu- gung der Geschlechter und die Religionsfreiheit nehmen und als Mittel für die Einübung von ge- (die übrigens immer auch die Weltanschauungsfrei- genseitiger Toleranz zu nutzen“,2 oder religiöse 2 BVerfG, Entscheidung Ludin, Randnummer 65. 5
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Symbole angesichts des mit ihnen verbundenen nunft und Gewissen begabt und sollen einander im Konfliktpotenzials eher aus dem Schulleben heraus- Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“7 Die in dieser zuhalten.3 Allerdings verlangt das Gericht, dass in Formel enthaltenen Schlüsselbegriffe „Freiheit – jedem Fall die Gleichberechtigung der Angehörigen Gleichheit – Brüderlichkeit“ (heute würde man statt unterschiedlicher Religionen gewahrt wird.4 Das „Brüderlichkeit“ allerdings „Solidarität“ sagen) Minderheitenvotum zum Urteil stellt demgegenüber stehen für den emanzipatorischen Anspruch des vorrangig auf die religiös-weltanschauliche Zurück- Menschenrechtsdenkens, der sich mit je spezi- haltungspflicht der im staatlichen Schuldienst tätigen fischer Pointierung in jedem konkreten Menschen- Lehrperson ab und schließt von dorther die Mög- recht manifestiert. Die einzelnen Menschenrechte – lichkeit, mit Kopftuch zu unterrichten, von vorn- wie zum Beispiel Religionsfreiheit, Meinungsfrei- herein aus. Bereits im Jahr 2001 hat der Europäische heit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, der Gerichtshof für Menschenrechte die Klage einer Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, demo- Kopftuch tragenden muslimischen Lehrerin aus der kratische Mitwirkungsrechte sowie die verschiedenen Schweiz zurückgewiesen, der mit Hinweis auf die wirtschaftlich-sozialen Rechte vom Recht freier laizistische Verfassung des Kantons Genf die Fort- Gewerkschaftsbildung bis zum Recht auf angemesse- setzung ihrer Lehrtätigkeit mit Kopftuch verboten ne Gesundheit – ergänzen einander in der Aufgabe, worden war.5 Unmittelbar wegweisend für Deutsch- ein der Menschenwürde gemäßes Leben in gleich- land ist diese Straßburger Entscheidung allerdings berechtigter solidarischer Freiheit für jeden Men- nicht.6 schen zu ermöglichen. Obwohl die einzelnen Men- schenrechte in Antwort auf je unterschiedliche historische Unrechtserfahrungen entstanden sind, gehören sie im Blick auf die Würde des Menschen daher normativ zusammen. II. Die „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte Die Menschenrechte bilden somit nicht nur einen zufällig zustande gekommenen „Katalog“ diverser Vor der Klärung der Frage, wie die im Kopftuch- Ansprüche, sondern einen systematischen Zusam- streit aufeinandertreffenden Ansprüche zu einem menhang, aus dem man einzelne Elemente nicht tragfähigen Ausgleich gebracht werden können, ist ohne Schaden für das Gesamtanliegen der Men- es sinnvoll, zunächst die innere Gemeinsamkeit der schenrechte herausbrechen kann. So kann zum einzelnen Menschenrechte in Erinnerung zu rufen. Beispiel das Recht auf Meinungsfreiheit nicht unter Sie erschließt sich im Blick auf die Würde des Missachtung der Justizgrundrechte wirksam werden; Menschen, die in den Menschenrechten Anerken- die Religionsfreiheit kann nur in einer insgesamt nung und Schutz erfährt. Die Menschenwürde, die freiheitlichen Gesellschaft voll zum Tragen kommen; jedem Menschen gleichermaßen zukommt, findet und die Chancen demokratischer Partizipation hän- ihre politisch-rechtliche Anerkennung durch die gen wesentlich von der Verwirklichung des Rechts Garantie gleicher grundlegender Freiheitsrechte. In auf Bildung ab. Man könnte weitere Beispiele nennen. diesem Sinne betont Artikel 1 der Allgemeinen Generell gilt, dass die verschiedenen Menschen- Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Na- rechte nicht nur nebeneinander stehen, sondern tionen von 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich einander bedingen. Für diesen inneren Zusammen- an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Ver- hang hat sich – vor allem seit der Wiener Welt- 3 Vgl. ebd.: „Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vorn- herein zu vermeiden.“ 4 A.a.O., Randnummer 42: „Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten (…) und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren (…).“ 5 EGMR-Entscheidung Nr. 42393/98 im Fall Lucia Dahlab gegen die Schweiz vom 15. Februar 2001. 6 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte räumt den (derzeit 45) Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechts- konvention (EMRK) einen weiten Ermessensspielraum in der Auslegung der Religionsfreiheit ein. Dies ist schon deshalb erfor- derlich, weil sich unter den Mitgliedstaaten sowohl Staaten, die formell noch eine Staatskirche kennen, als auch Staaten mit streng laizistischer Verfassung befinden. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Entscheidung der Schweizer Behörden nicht als Verstoß gegen die Gewährleistung der Religionsfreiheit der EMRK betrachtet, heißt nicht, dass die – stark laizistisch geprägte – Regelung des Kantons Genf für Deutschland Vorbildfunktion hat. 7 Zitiert nach Christian Tomuschat (Hg.), Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz (Bonn: UNO-Verlag, 2. erweiterte Auflage, 2002), S. 39. 6
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen für die Überwachung und Interpretation dieses Pakts von 1993 – der Begriff der „Unteilbarkeit“ der zuständig ist): „Artikel 18 darf nicht dazu benutzt Menschenrechte eingebürgert. „Alle Menschen- werden, um eine Diskriminierung der Frau mit dem rechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen ein- Verweis auf die Gedanken-, Gewissens- und Reli- ander und hängen miteinander zusammen“,8 lautet gionsfreiheit zu rechtfertigen.“10 Im Gegenzug gilt die einschlägige Formel in der Wiener Abschlusser- auch, dass der Einsatz für die Gleichberechtigung der klärung, die seitdem in zahlreichen Dokumenten der Geschlechter in Respekt vor dem Menschenrecht Vereinten Nationen zitiert worden ist. Nur verstanden auf Religionsfreiheit geschehen muss.11 Auch dies als unteilbares Ganzes können die Menschenrechte folgt aus dem Postulat der Unteilbarkeit der Men- ihren freiheitlichen Sinngehalt im Dienste der Men- schenrechte. schenwürde aller konsistent und wirksam entfalten. Um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeu- Damit sind normative Konflikte auf der Ebene der gen, sei betont, dass der gebotene Respekt vor der Menschenrechte keineswegs ausgeschlossen. Auch Religionsfreiheit keineswegs gleichbedeutend ist im Falle eines Konflikts zwischen unterschiedlichen mit dem Respekt vor religiösen Traditionen als sol- menschenrechtlich begründeten Ansprüchen (wofür chen. Denn die Subjekte des Rechts auf Religions- der aktuelle Kopftuchstreit ein Beispiel bietet) kommt freiheit sind allein die Menschen, deren individuelle es aber darauf an, sämtliche im konkreten Fall ein- und gemeinschaftliche Freiheit zur Ausbildung einer schlägigen Menschenrechte von Staats wegen zu religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung, beachten. Mit Blick auf das Postulat der Unteilbarkeit zum Bekenntnis ihres Glaubens und zur Lebens- der Menschenrechte stellt sich dann die schwierige gestaltung nach Maßgabe des eigenen Glaubens Aufgabe, einen Ausgleich zu schaffen, der alle im Streit vom Staat anerkannt und geschützt werden muss. befindlichen menschenrechtlichen Ansprüche im Rah- men des Möglichen maximal zur Geltung bringt.9 Religiöse Traditionen als solche sind hingegen nicht Gegenstand menschenrechtlichen Schutzes. Sie sind Die Isolierung eines bestimmten Menschenrechts auch keineswegs gegen Kritik im Namen der Men- auf Kosten anderer Menschenrechte wäre hinge- schenrechte immunisiert. Wenn das internationale gen mit dem Prinzip der Unteilbarkeit aller Men- Übereinkommen zur Abschaffung jeder Form der schenrechte von vornherein nicht vereinbar und Diskriminierung der Frau in Artikel 5 verlangt, dass würde zu einer Schwächung des Menschenrechts- die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen, „um einen anliegens im Ganzen führen. Wer zum Beispiel die Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltens- Religionsfreiheit isoliert oder ihr einen abstrakten mustern von Mann und Frau zu bewirken“,12 sind Vorrang gegenüber der Gleichberechtigung von zweifellos auch religiös begründete traditionelle Frauen und Männern zuspricht, verdunkelt damit die Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses als Idee der Menschenrechte insgesamt – und stellt mögliche Hindernisse auf dem Wege voller Gleich- damit, gewollt oder ungewollt, zugleich auch den berechtigung kritisch mit angesprochen. menschenrechtlichen Stellenwert der Religions- freiheit selbst in Frage. Bezogen auf die Garantie Der menschenrechtliche Stellenwert der Religions- der Religionsfreiheit im Internationalen Pakt über freiheit hat zur Folge, dass etwaige Beschränkungen bürgerliche und politische Rechte betont der Men- freier Religionsausübung einer besonderen Recht- schenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (der fertigung bedürfen. Nach der Europäischen Men- 8 Zitiert nach Tomuschat (Hg.), a.a.O., S. 87. 9 Im Kontext des deutschen Verfassungsrechts steht dafür der von Konrad Hesse geprägte Begriff der „praktischen Konkordanz“, der auch vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig verwendet wird. 10 Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 28 (zu Artikel 3, angenommen auf der 68. Sitzung des Ausschusses am 29. März 2000, CCPR/ C/21/Rev.1/Anhang 10), Abschnitt 21. Sämtliche Allgemeinen Bemerkungen („General Comments“) des Menschenrechtsausschusses und der anderen menschenrechtlichen Überwachungsausschüsse der Vereinten Nationen werden in Kürze in deutscher Sprache erscheinen, hg. vom Deutschen Institut für Menschenrechte (Baden-Baden: Nomos, 2004). 11 Es wäre beispielsweise ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, wenn sich der Staat eine bestimmte Interpretation religiöser Quellen – etwa eine „frauenrechtsfördernde“ Interpretation des Korans – zu eigenen machen und sie propagieren oder gar vorschrei- ben würde. Denn um der Religionsfreiheit willen darf der säkulare Rechtsstaat selbst keine religiösen Kompetenzen beanspruchen. 12 Art. 5 Abs. a des Übereinkommens lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen.“ Zitiert nach Tomuschat (Hg.), a.a.O., S. 186. 7
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte schenrechtskonvention müssen solche Beschrän- scheiden, ob eine Lehrerin im öffentlichen Schul- kungen gesetzlich geregelt sein, ein im Rahmen der dienst das islamische Kopftuch tragen darf. Dazu demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel verfolgen sind außerdem empirische Kenntnisse und Ein- und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beach- schätzungen – insbesondere zum Kopftuch, seinen ten.13 Im Kontext des Grundgesetzes sind die Voraus- Hintergründen und seiner Wirkung – erforderlich. setzungen für Beschränkungen noch strenger gefasst. Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungs- Dass das Kopftuch ein Mittel zur Unterdrückung der gerichts kann die Religionsfreiheit, die in Artikel 4 Frau und zur symbolischen Festigung einer tradi- des Grundgesetzes ohne Gesetzesvorbehalt gewähr- tionellen Rollenteilung zwischen den Geschlechtern leistet ist,14 überhaupt nur im Blick auf konkurrie- sein kann und in dieser Funktion auch tatsächlich rende Grundrechte oder gleichrangige Verfassungs- eingesetzt wird, steht außer Frage. Bis heute gibt es werte eingeschränkt werden. Dazu zählen zweifellos Staaten, die eine „islamische Kleiderordnung“ (von auch die im Zusammenhang der Kopftuchdebatte deren restriktiven Auswirkungen hauptsächlich relevanten Menschenrechte, nämlich die Gleichbe- Frauen betroffen sind) mit Zwang vorschreiben und rechtigung der Geschlechter, die negative Religions- Verstöße mit harten Strafen ahnden. Hinzu kommt freiheit (von Schülerinnen und Schülern) und das der soziale Druck eines konservativen islamischen elterliche Erziehungsrecht. Allerdings ist dabei Milieus, der sehr viel wirksamer als staatliche Zwangs- zusätzlich zu beachten, dass eine Abwägung zwi- maßnahmen sein kann. Man muss davon ausgehen, schen unterschiedlichen Menschenrechten erst dann dass ein solcher Milieudruck auch in Deutschland stattfinden kann, wenn ein Normenkonflikt tat- existiert und viele Frauen und Mädchen aus isla- sächlich konkret vorliegt oder unmittelbar droht. misch geprägten Familien in ihrer freien Selbstent- Maßnahmen, die bereits weit im Vorfeld einer tat- faltung beeinträchtigt und vor nicht selten tragische sächlichen Konfliktsituation gleichsam präventive Zerreißproben stellt. Er wirkt sich vielfach auch Einschränkungen der Religionsausübung vorsehen, negativ auf das Schulleben aus.15 Dies macht die wären hingegen mit der menschenrechtlichen Be- Vorbehalte gegen das Kopftuch verständlich. Es wäre deutung der Religionsfreiheit nicht vereinbar. Gleich- leichtfertig, entsprechende Abwehrhaltungen pau- zeitig würden sie gegen das Postulat der Unteilbar- schal als „Vorurteile“ zu bezeichnen; denn sie beru- keit aller Menschenrechte verstoßen und damit das hen vielfach auf leidvollen Erfahrungen. Anliegen der Menschenrechte insgesamt schwächen. Es gibt aber auch die Erfahrung, dass muslimische Frauen sich aus religiösen Gründen bewusst und in Freiheit für das Kopftuch entscheiden – zum Beispiel weil sie überzeugt sind, dass der Koran eine ent- III. Das Kopftuch der sprechende Vorschrift enthält.16 Für sie ist das Kopf- Lehrerin als Konfliktfall tuch Bestandteil ihres religiösen Selbstverständ- nisses und ein Element ihrer religiösen Praxis. Viele Die Überlegungen zur Unteilbarkeit der Menschen- dieser Frauen (zum Beispiel Kopftuch tragende rechte sollten dazu dienen, zunächst den normativen Studentinnen an deutschen Universitäten) erwecken Horizont für die Bewertung des aktuellen Konflikt- in ihrem Verhalten und Habitus im Übrigen keines- falls abzustecken. Normative Gesichtspunkte allein wegs den Eindruck, einem traditionellen Verständ- reichen aber nicht aus, um die Streitfrage zu ent- nis der Geschlechterrollen verhaftet zu sein. 13 EMRK, Art. 9 lautet: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Frei- heit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemein- sam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Zitiert nach Jens Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Handkommentar (Baden-Baden: Nomos, 2003). 14 Art. 4 GG lautet: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ 15 Anlass zur Besorgnis geben in diesem Zusammenhang auch die zunehmenden Abmeldungen vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht sowie Weigerungen, an Klassenfahrten teilzunehmen. Dadurch kann der staatliche Bildungsauftrag beeinträchtigt werden, der seinerseits Ausdruck eines Menschenrechts, nämlich des Menschenrechts auf Bildung ist. 16 Die Plausibilität der Berufung auf den Koran, dessen in diesem Zusammenhang einschlägige Verse (vor allem die Verse 24,31 und 33,59) durchaus unterschiedlich interpretiert werden, hat der Staat nicht zu prüfen. Im Zusammenhang der Religionsfreiheit zählt primär die Überzeugung der betreffenden Person. 8
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Das religiöse Motiv in der Entscheidung für das Kinder umfasst.17 Dass in diesem Spannungsfeld von Kopftuch kann sich mit dem Interesse an der Wah- positiver und negativer Religionsfreiheit sowie dem rung kultureller Identität oder auch mit politischem Elternrecht unterschiedliche Rechtsansprüche hart Engagement verbinden. Das Kopftuch kann dabei aufeinander prallen können, lässt sich leicht vor- ein Ausdruck des Protestes gegen Diskriminierungs- stellen. Fest steht in jedem Fall, dass die aktive erfahrungen in der deutschen Gesellschaft sein, Missionstätigkeit eines Lehrers oder einer Lehrerin mit einem spezifisch muslimischen „Modebewusst- während des Schuldienstes ein eindeutiger Verstoß sein“ einhergehen oder als Bekenntniszeichen im gegen die negative Religionsfreiheit und das Eltern- innertürkischen Kulturkampf um Bewahrung, recht wäre. Ein solches Dienstverhalten wäre des- Weiterentwicklung oder Überwindung des kemalis- halb auf keinen Fall hinnehmbar. tischen Erbes fungieren. Innerhalb des politischen Islams gibt es schließlich auch autoritäre Bewe- Umstritten ist hingegen, ob das bloße Tragen des gungen, die das Kopftuch gezielt als Instrument im islamischen Kopftuches im Schuldienst bereits die Kampf gegen die liberale Gesellschaft und die frei- Schwelle zur Verletzung der negativen Religionsfrei- heitliche Verfassung einsetzen. heit und des elterlichen Erziehungsrechts erreicht. Bei der Klärung dieser schwierigen Frage dürfte Das Kopftuch erweist sich deshalb als ein vieldeu- wiederum vieles von den besonderen Umständen des tiges Symbol. Es kann für Unterdrückung der Frau konkreten Falles abhängen: zum Beispiel vom Alter im Namen religiöser beziehungsweise kultureller der Schulkinder, vom Milieu-Umfeld der Schule, von Tradition stehen oder Ausdruck freier religiöser Selbst- der Rolle der Lehrkraft (als Fachlehrerin und/oder bestimmung sein; es kann zur religiösen Lebens- Klassenlehrerin), in erster Linie aber vom Gesamt- führung gehören und gleichzeitig ein politisches verhalten der Lehrerin und ihrer pädagogischen und Bekenntnis darstellen. Die (in der Diskussion übri- kommunikativen Kompetenz. Wollte der Staat Beein- gens von allen Seiten herausgestellte) Vieldeutigkeit trächtigungen der negativen Religionsfreiheit von des Kopftuchs trägt wesentlich dazu bei, dass die Schülerinnen und Schülern sowie des Elternrechts Meinungsbildung im aktuellen Konfliktfall so schwie- allein auf das Tragen des Kopftuches stützen und rig ist. Diese Vieldeutigkeit jedoch praktisch dahin- von dorther einen Ausschluss aus der Lehrtätigkeit gehend aufzulösen, dass eine Kopftuch tragende begründen, ohne das dienstliche Verhalten der betref- Lehrerin im Zweifel entweder als in traditionellen fenden Lehrperson insgesamt zu würdigen, würde er Vorstellungen der Geschlechterrollen verfangen gilt dem Stellenwert der Religionsfreiheit der Lehrerin oder gar unter den Verdacht verfassungsfeindlicher jedenfalls nicht gerecht werden. politischer Agitation gestellt wird, dürfte schwerlich legitim sein. Eine solche Position wäre sachlich nicht Auch bezogen auf das Spannungsfeld zwischen gerechtfertigt und liefe im Ergebnis auf eine Beein- positiver Religionsfreiheit der Lehrerin und negativer trächtigung der Religionsfreiheit der Lehrerin hinaus. Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler gilt, Gerade die Vieldeutigkeit des Kopftuchs spricht des- was oben über Konflikte zwischen der Religions- halb gegen ein generelles Kopftuchverbot für Leh- freiheit und der Gleichberechtigung der Geschlech- rerinnen im Dienst und für das Bemühen um ange- ter gesagt wurde: nämlich, dass sich eine Ab- messene Konfliktlösungen im konkreten Einzelfall. wägung zwischen konkurrierenden Rechtsansprüchen erst im tatsächlichen (oder unmittelbar drohenden) Zusätzlich zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Konfliktfall, nicht schon im Blick auf nur mögliche positive Religionsfreiheit der Lehrerin (das heißt ihr Konflikte rechtfertigen lässt. Staatliche Maßnahmen, Recht, nach Grundsätzen des eigenen Glaubens zu die im Namen der negativen Religionsfreiheit leben) in Konkurrenz zur negativen Religionsfreiheit beziehungsweise des Elternrechts das Kopftuch für der Schülerinnen und Schüler geraten kann. Deren Lehrerinnen bereits im Vorfeld eines tatsächlichen Recht, im Rahmen der staatlichen Pflichtschule Konflikts gleichsam präventiv verbieten, verkürzen nicht gegen ihren Willen religiöser Einflussnahme die positive Religionsfreiheit – und schwächen ausgesetzt zu werden, verbindet sich außerdem mit damit das Menschenrecht der Religionsfreiheit ins- dem elterlichen Erziehungsrecht, das auch das gesamt. In diesem Zusammenhang ist daran zu er- Recht der Eltern auf die religiöse Erziehung ihrer innern, dass mehrere Kopftuch tragende Lehrerinnen 17 Vgl. GG Art. 6 Abs. 2; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 13, Abs. 3; sowie 1. Zusatzprotokoll zur EMRK, Art. 2. 9
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte teils seit Jahren in Deutschland ihren Schuldienst Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler. Die versehen, ohne dass dies zu Beanstandungen durch Erwartung, dass eine Lehrperson die religiös-welt- Eltern oder die Schulleitung geführt hat. anschauliche Neutralität des Staates in ihrem dienstlichen Handeln gleichsam unmittelbar „ver- Ein weiterer Aspekt der Kopftuchdebatte betrifft die körpern“ und sich deshalb jedes sichtbaren religiö- religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, sen Bekenntnisses enthalten muss, wäre indessen die sich auch in der staatlichen Schule niederschla- überzogen.19 Eine solche Forderung leuchtet zwar gen muss. In der Tat gehört die religiös-weltan- ein, wenn sie an Richterinnen und Richter adressiert schauliche Neutralität zu den tragenden Prinzipien ist; denn die Richterfunktion verlangt dem Amts- eines freiheitlichen Rechtsstaates. Sie hat ihren träger beziehungsweise der Amtsträgerin mit guten Grund im Menschenrecht der Religions- und Welt- Gründen ab, bei der Repräsentation staatlicher Ho- anschauungsfreiheit. Aus Respekt vor der gleichen heitsgewalt auf die Demonstration persönlicher religiösen und weltanschaulichen Freiheit der Men- Überzeugungen (und damit auch auf die sichtbare schen ist es dem Staat verwehrt, sich selbst mit einer Symbolisierung religiöser Bekenntnisse zum Beispiel bestimmten Religion – auf Kosten der Anhänger durch ein Kopftuch) zu verzichten. Die Lehrtätigkeit anderer Religionen oder Weltanschauungen – zu in der Schule lässt sich mit dem Richteramt jedoch identifizieren.18 Der freiheitliche Rechtsstaat kann kaum vergleichen. Denn die pädagogische Interak- deshalb kein Konfessionsstaat sein, sondern ist ver- tion in der Schule besteht wesentlich gerade darin, pflichtet, in religiösen und weltanschaulichen Fragen dass Lehrerinnen und Lehrer sich in ihrer Persön- Neutralität zu wahren, um als Heimstätte aller in sei- lichkeit – das heißt auch in ihren persönlichen Über- nem Gebiet lebenden Menschen fungieren zu können. zeugungen – erkennbar präsentieren. Dies spricht dafür, Fragen der Bekenntnisfreiheit im staatlichen Diese Neutralitätspflicht gilt auch für die Institution Dienstverhältnis je nach Tätigkeit differenziert zu der staatlichen Schule. Schon deshalb wäre es pro- regeln und das Tragen des Kopftuches und anderer blematisch, christlichen Symbolen im Raum der religiöser Symbole für Lehrerinnen und Lehrer im Schule gegenüber islamischen Symbolen einen pri- Schuldienst nicht von vornherein zu verbieten. vilegierten Status einzuräumen. Aus der Tatsache, dass die staatliche Schule als solche nicht einer bestimmten Religion oder Weltanschauung ver- pflichtet sein kann, folgt jedoch keineswegs, dass religiöse oder weltanschauliche Bekenntnisse in ihr IV. Schlussfolgerungen generell keinen Ort haben beziehungsweise auf den Rahmen des konfessionellen Religionsunterrichts Die Frage, ob eine Lehrerin mit dem islamischen beschränkt bleiben müssen. Es wäre vielmehr gera- Kopftuch in der staatlichen Schule unterrichten dezu paradox, wenn die Pflicht zur staatlichen kann, wird sicherlich noch lange Zeit für Diskussio- Neutralität, die ja ihrerseits im Menschenrecht der nen sorgen. Dies ist schon allein deshalb zu erwarten, Religionsfreiheit begründet ist, zur Purifizierung des weil sich die unterschiedlichen und politisch teils sehr Schullebens von religiösen beziehungsweise welt- kontroversen Ansichten zu gesamtgesellschaft- anschaulichen Bekenntnissen und Symbolen führen lichen Herausforderungen – zum Umgang mit kul- würde. tureller Vielfalt, zur Gestaltung des Geschlechter- verhältnisses, zum Verhältnis von Staat und Religion Für das Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern im sowie zur Integrationsaufgabe der staatlichen Schu- Dienst ergibt sich aus der staatlichen Neutralitäts- le – in der aktuellen Kopftuchdebatte widerspiegeln. pflicht das Gebot der Behutsamkeit im Umgang mit religiösen und weltanschaulichen Fragen; dies folgt Auch aus menschenrechtlicher Perspektive fällt die bereits aus dem Anspruch auf Respekt der negativen Meinungsbildung in der Sache nicht leicht; denn 18 Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates darf nicht mit einer allgemeinen „Wertneutralität“ verwechselt werden, wie dies oft geschieht; denn sie ist Ausdruck der Achtung der Menschenrechte (näherhin: der Religions- und Weltanschauungs- freiheit), die ihrerseits im Bekenntnis zur Würde des Menschen gründet. 19 Vgl. BVerfG, Entscheidung Ludin, Randnummer 54: „Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.“ Ganz anders liegt der vom Bundesverfassungsgericht 1995 entschiedene Fall des Kruzifixes in bayerischen Schulen, da die Anbringung von Kreuzen in den Klassenzimmern auf ausdrückliche Anord- nung des bayerischen Staates hin zu geschehen hatte. 10
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte mehrere menschenrechtliche Ansprüche stehen willen bereits weit im Vorfeld eines tatsächlichen dabei zur Debatte. Die (positive) Religionsfreiheit Konflikts Beschränkungen der Religionsfreiheit der der Kopftuch tragenden Lehrerin befindet sich – Lehrerin vornimmt, wäre aus der Perspektive der jedenfalls potenziell – in Konflikt mit der Gleich- Menschenrechte hingegen problematisch. berechtigung von Frauen und Männern, mit der (negativen) Religionsfreiheit der betroffenen Schü- Was bleibt ist deshalb der Weg sorgsamer – und lerinnen und Schüler, mit dem elterlichen Erziehungs- gerichtlich überprüfbarer – Einzelfallentscheidungen, recht und mit dem Prinzip der religiös-weltan- die dann zu treffen wären, wenn ein auf konkurrie- schaulichen Neutralität des Staates. Von daher sind rende Rechtsansprüche gegründeter Konflikt tat- durchaus Fallkonstellationen denkbar, in denen das sächlich auftritt oder aus nachvollziehbaren Gründen Recht der Lehrerin auf das Tragen des Kopftuches unmittelbar zu befürchten ist. Dass dies mühsam ist zugunsten anderer Rechte zurücktreten muss. und für die Betroffenen in Schule, Schulverwaltung und Gerichten komplizierte Entscheidungsfragen Das Postulat der Unteilbarkeit der Menschenrechte aufwerfen und enorme Belastung mit sich bringen verlangt allerdings, die Abwägung der Religions- kann, lässt sich nicht bestreiten. Das hohe Gut, das freiheit der Lehrerin gegen etwaig konkurrierende die Menschenrechte darstellen, spricht gleichwohl menschenrechtlich relevante Ansprüche mit der ge- dafür, diesen Weg zu beschreiten und von pauscha- botenen Sorgfalt vorzunehmen und vor allem auf die len Verboten in der Kopftuchfrage abzusehen. Situation eines tatsächlich vorhandenen (oder unmit- telbar drohenden) Normenkonflikts zu beschränken. Eine staatliche Politik, die um der Konfliktprävention 13. Mai 2004 11
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