Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland - Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte Heiner Bielefeldt - Deutsches ...

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Policy Paper

               Zur aktuellen
               Kopftuchdebatte
               in Deutschland
               Anmerkungen aus der
               Perspektive der Menschenrechte

               Heiner Bielefeldt
Deutsches Institut für Menschenrechte
German Institute for Human Rights

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Policy Paper No. 3
Berlin, Mai 2004
Policy Paper

Zur aktuellen
Kopftuchdebatte
in Deutschland
Anmerkungen aus der
Perspektive der Menschenrechte

Heiner Bielefeldt
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

    Zur aktuellen Kopftuchdebatte
    in Deutschland – Anmerkungen aus der
    Perspektive der Menschenrechte
                            I. Eine komplexe Kontroverse                                 verbot nur im Rahmen eines Ausschlusses sämt-
                                                                                         licher sichtbarer religiöser Symbole für Lehrkräfte
                            Seit mehreren Generationen leben Muslime in                  im Schuldienst vertretbar sei, oder ob man spezifi-
                            Deutschland. Allerdings haben sie erst in den letzten        sche Regelungen für das islamische Kopftuch erlassen
                            Jahren – nach dem späten Abschied von der allseits           könne, von denen andere – zumal christliche –
                            gepflegten Illusion, dass der Islam in Deutschland           Symbole nicht betroffen wären. Die Befürworterin-
                            lediglich eine „Gastarbeiter-Religion“ sei – damit be-       nen und Befürworter einer spezifischen Kopftuch-
                            gonnen, ihren Anspruch auf gleichberechtigte öf-             regelung argumentieren teils mit Hinweisen auf
                            fentliche Präsenz in der Gesellschaft wirksam vorzu-         christliche Bezüge in den Landesverfassungen be-
                            bringen. Dadurch ist der Islam hierzulande zu einem          ziehungsweise in den Schulgesetzen, um von dort-
                            innenpolitisch relevanten Thema geworden, das nach           her eine Differenz in der Behandlung christlicher und
                            den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu-              islamischer Symbole zu rechtfertigen; teils stellen
                            nehmend auch von sicherheitspolitischen Gesichts-            sie auf den „politischen“ Charakter des Kopftuchs
                            punkten überlagert wird. Die seit Jahren intensiv            ab, wodurch dieses sich zum Beispiel von jüdischen
                            diskutierte Frage, ob eine muslimische Lehrerin im           oder christlichen Symbolen unterscheide. Die poli-
                            öffentlichen Schuldienst das Kopftuch tragen darf,           tische Aussagewirkung des Kopftuchs wird dabei
                            hat in diesem Zusammenhang geradezu den Stellen-             gelegentlich in die Nähe der Verfassungsfeindlich-
                            wert einer „nationalen Debatte“ gewonnen.                    keit gerückt, da das Tragen des Kopftuchs mit der
                                                                                         in Artikel 3 des Grundgesetzes verbürgten Gleich-
                            Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem               berechtigung von Frauen und Männern unverein-
                            Urteil vom 24. September 20031 die vom Ober-                 bar sei.
                            schulamt Stuttgart gegen eine Kopftuch tragende
                            Lehramtskandidatin vorgebrachten Ausschlussgrün-             Es fällt auf, dass der Streit über das Kopftuch kei-
                            de für nicht zureichend erklärt hatte, bemühen sich          neswegs durchgängig entlang etablierter parteipo-
                            derzeit die Landesparlamente um gesetzliche                  litischer „Lagergrenzen“ verläuft, sondern sich mit-
                            Regelungen der Frage. Das Interesse der Öffent-              ten durch die Parteien, aber auch durch die Kirchen
                            lichkeit an diesem Thema ist anhaltend hoch. Die             und andere gesellschaftliche Gruppierungen hin-
                            politische Kontroverse ist schon deshalb mittlerwei-         durchzieht. Unterschiedliche Einstellungen zur
                            le recht unübersichtlich geworden, weil sich meh-            Streitfrage finden sich auch im Umfeld nichtstaat-
                            rere zur Entscheidung anstehende Fragen in der               licher Menschenrechts- beziehungsweise Frauen-
                            Debatte überlagern:                                          rechtsorganisationen. Dasselbe gilt für die Äuße-
                                                                                         rungen von Musliminnen und Muslimen, die in
                            Zunächst geht es um das Für und Wider eines gene-            ganz verschiedene Richtungen gehen können. Man
                            rellen Kopftuchverbots im Schuldienst (eventuell             kann in alldem ein Indiz für die Komplexität der
                            darüber hinaus auch in anderen Bereichen des                 Kontroverse sehen, in der konkurrierende empiri-
                            öffentlichen Dienstes). Im Kreise derjenigen, die ein        sche Einschätzungen, gesellschaftspolitische Pro-
                            Kopftuchverbot für notwendig oder sinnvoll halten,           gnosen und normative Vorstellungen aufeinander-
                            besteht sodann ein Dissens darüber, ob ein Kopftuch-         treffen.

                            1 BVerfG, 2 BvR 1436/02 (Entscheidung Fereshta Ludin) vom 24. September 2003.

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Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

Die strittigen empirischen Fragen betreffen vor allem   heit umfasst). Beide Rechte sind sowohl im Grund-
die psychologische Wirkung von Kleidung und Be-         rechtsabschnitt des Grundgesetzes als auch in meh-
kenntnis einer Lehrperson auf Schülerinnen und Schü-    reren für die Bundesrepublik Deutschland völker-
ler (eventuell abgestuft nach deren Alter) sowie die    rechtlich bindenden internationalen Menschenrechts-
Einschätzungen zur politisch-ideologischen Instru-      konventionen normiert worden – vor allem in der
mentalisierung des Kopftuchs im Kampf um die            Europäischen Menschenrechtskonvention des Europa-
Organisation des islamischen Milieus. Hinzu kommen      rates von 1950, im Internationalen Pakt über bür-
unterschiedliche Prognosen über die längerfristigen     gerliche und politische Rechte von 1966 und im in-
Wirkungen eines Kopftuchverbotes auf die Position       ternationalen Übereinkommen zur Abschaffung jeder
muslimischer Mädchen und Frauen in der Gesellschaft.    Form der Diskriminierung der Frau von 1979. Abge-
                                                        sehen von möglichen Spannungen zwischen der
Diejenigen, die ein Verbot des Kopftuchs für Leh-       Gleichberechtigung der Geschlechter einerseits und
rerinnen im Schuldienst (beziehungsweise auch für       der Religionsfreiheit andererseits kann es auch zu
anderweitig Tätige im öffentlichen Dienst) befür-       Konflikten zwischen zwei Aspekten innerhalb des
worten, versprechen sich davon gelegentlich eine        Rechts auf Religionsfreiheit kommen, nämlich zwi-
heilsame Schutzwirkung gegen einen konservati-          schen der „positiven Religionsfreiheit“ der Lehrerin
ven beziehungsweise islamistischen Milieudruck,         und der „negativen Religionsfreiheit“ von Schüler-
der sich zunehmend auch in der Schule bemerkbar         innen und Schülern.
macht – etwa in Gestalt von Abmeldungen vom
koedukativen Sportunterricht. Gegnerinnen und           Unter der positiven Religionsfreiheit versteht man
Gegner eines Verbots fürchten demgegenüber, dass        das Recht, einen religiösen Glauben anzunehmen, zu
es – als nicht-intendierte Nebenwirkung solcher         bekennen und das eigene Leben (auch in Gemein-
Maßnahmen – zu verstärkten gesellschaftlichen Aus-      schaft mit anderen) danach auszurichten; mit nega-
grenzungen Kopftuch tragender Frauen auch außer-        tiver Religionsfreiheit ist demgegenüber das Recht
halb des Schuldienstes beziehungsweise des öffent-      gemeint, nicht von Staats wegen gegen den eigenen
lichen Dienstes kommen wird, wodurch der Druck auf      Willen religiöser Einflussnahme ausgesetzt oder
muslimische Frauen insgesamt zunehmen würde.            gar zu religiösen Handlungen gedrängt zu werden.
                                                        Hinzu kommt als weiterer menschenrechtlicher An-
Über solche schwierigen empirischen Fragen und          spruch das Erziehungsrecht der Eltern, das ebenfalls
prognostischen Einschätzungen hinaus geht es in         sowohl verfassungsrechtlich als auch völkerrechtlich
der Kontroverse um das Kopftuch immer zugleich          verankert ist. Für die besondere Situation des Lehr-
um normative Grundentscheidungen, die das Selbst-       amts in einer staatlichen Schule stellt sich außerdem
verständnis der Gesellschaft im Ganzen betreffen.       die Frage, inwieweit die religiös-weltanschauliche
Dazu zählen das Verhältnis von Staat und Religion,      Neutralität des Staates Lehrerinnen und Lehrern im
der Einfluss der Kirchen und Religionsgemein-           Unterricht eine besondere Zurückhaltungspflicht auf-
schaften in der Öffentlichkeit, die Erziehung der       erlegt, hinter der das Recht auf eigene Religions-
Jugend zwischen Elternhaus und staatlicher Schule,      ausübung im Dienst eventuell zurückzutreten hat.
der angemessene Umgang der Geschlechter mit-
einander, Chancen und Grenzen kultureller Plurali-      Man wird im Blick auf die empirisch und normativ
sierung der Gesellschaft, die politisch-rechtliche      komplexe Konfliktlage von vornherein konzedieren
Gestaltung der Einwanderung in Deutschland usw.         müssen, dass es im Streit um das Kopftuch der Leh-
                                                        rerin nicht nur eine einzige menschenrechtlich be-
Auch aus der Perspektive der Menschenrechte erweist     gründbare Position gibt. Dies zeigt sich auch im Urteil
sich die Frage nach dem Kopftuch der Lehrerin als       des Bundesverfassungsgerichts, das – in ungewohn-
kompliziert. Denn es geht dabei um mehrere men-         ter Zurückhaltung – unterschiedliche rechtspolitische
schenrechtliche Ansprüche, die in Spannung oder         Optionen zur Regelung der Streitfrage eröffnet:
Widerspruch zueinander geraten können. Im Vor-          Dem Gesetzgeber bleibe es überlassen, entweder „die
dergrund der Diskussion stehen die Gleichberechti-      zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzu-
gung der Geschlechter und die Religionsfreiheit         nehmen und als Mittel für die Einübung von ge-
(die übrigens immer auch die Weltanschauungsfrei-       genseitiger Toleranz zu nutzen“,2 oder religiöse

2 BVerfG, Entscheidung Ludin, Randnummer 65.

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Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

                                 Symbole angesichts des mit ihnen verbundenen                       nunft und Gewissen begabt und sollen einander im
                                 Konfliktpotenzials eher aus dem Schulleben heraus-                 Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“7 Die in dieser
                                 zuhalten.3 Allerdings verlangt das Gericht, dass in                Formel enthaltenen Schlüsselbegriffe „Freiheit –
                                 jedem Fall die Gleichberechtigung der Angehörigen                  Gleichheit – Brüderlichkeit“ (heute würde man statt
                                 unterschiedlicher Religionen gewahrt wird.4 Das                    „Brüderlichkeit“ allerdings „Solidarität“ sagen)
                                 Minderheitenvotum zum Urteil stellt demgegenüber                   stehen für den emanzipatorischen Anspruch des
                                 vorrangig auf die religiös-weltanschauliche Zurück-                Menschenrechtsdenkens, der sich mit je spezi-
                                 haltungspflicht der im staatlichen Schuldienst tätigen             fischer Pointierung in jedem konkreten Menschen-
                                 Lehrperson ab und schließt von dorther die Mög-                    recht manifestiert. Die einzelnen Menschenrechte –
                                 lichkeit, mit Kopftuch zu unterrichten, von vorn-                  wie zum Beispiel Religionsfreiheit, Meinungsfrei-
                                 herein aus. Bereits im Jahr 2001 hat der Europäische               heit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, der
                                 Gerichtshof für Menschenrechte die Klage einer                     Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, demo-
                                 Kopftuch tragenden muslimischen Lehrerin aus der                   kratische Mitwirkungsrechte sowie die verschiedenen
                                 Schweiz zurückgewiesen, der mit Hinweis auf die                    wirtschaftlich-sozialen Rechte vom Recht freier
                                 laizistische Verfassung des Kantons Genf die Fort-                 Gewerkschaftsbildung bis zum Recht auf angemesse-
                                 setzung ihrer Lehrtätigkeit mit Kopftuch verboten                  ne Gesundheit – ergänzen einander in der Aufgabe,
                                 worden war.5 Unmittelbar wegweisend für Deutsch-                   ein der Menschenwürde gemäßes Leben in gleich-
                                 land ist diese Straßburger Entscheidung allerdings                 berechtigter solidarischer Freiheit für jeden Men-
                                 nicht.6                                                            schen zu ermöglichen. Obwohl die einzelnen Men-
                                                                                                    schenrechte in Antwort auf je unterschiedliche
                                                                                                    historische Unrechtserfahrungen entstanden sind,
                                                                                                    gehören sie im Blick auf die Würde des Menschen
                                                                                                    daher normativ zusammen.
                                 II. Die „Unteilbarkeit“ der
                                 Menschenrechte                                                     Die Menschenrechte bilden somit nicht nur einen
                                                                                                    zufällig zustande gekommenen „Katalog“ diverser
                                 Vor der Klärung der Frage, wie die im Kopftuch-                    Ansprüche, sondern einen systematischen Zusam-
                                 streit aufeinandertreffenden Ansprüche zu einem                    menhang, aus dem man einzelne Elemente nicht
                                 tragfähigen Ausgleich gebracht werden können, ist                  ohne Schaden für das Gesamtanliegen der Men-
                                 es sinnvoll, zunächst die innere Gemeinsamkeit der                 schenrechte herausbrechen kann. So kann zum
                                 einzelnen Menschenrechte in Erinnerung zu rufen.                   Beispiel das Recht auf Meinungsfreiheit nicht unter
                                 Sie erschließt sich im Blick auf die Würde des                     Missachtung der Justizgrundrechte wirksam werden;
                                 Menschen, die in den Menschenrechten Anerken-                      die Religionsfreiheit kann nur in einer insgesamt
                                 nung und Schutz erfährt. Die Menschenwürde, die                    freiheitlichen Gesellschaft voll zum Tragen kommen;
                                 jedem Menschen gleichermaßen zukommt, findet                       und die Chancen demokratischer Partizipation hän-
                                 ihre politisch-rechtliche Anerkennung durch die                    gen wesentlich von der Verwirklichung des Rechts
                                 Garantie gleicher grundlegender Freiheitsrechte. In                auf Bildung ab. Man könnte weitere Beispiele nennen.
                                 diesem Sinne betont Artikel 1 der Allgemeinen                      Generell gilt, dass die verschiedenen Menschen-
                                 Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Na-                     rechte nicht nur nebeneinander stehen, sondern
                                 tionen von 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich               einander bedingen. Für diesen inneren Zusammen-
                                 an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Ver-                    hang hat sich – vor allem seit der Wiener Welt-

                                  3 Vgl. ebd.: „Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht eine striktere und mehr als bisher
                                    distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse
                                    Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vorn-
                                    herein zu vermeiden.“
                                  4 A.a.O., Randnummer 42: „Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und
                                    Weltanschauungsgemeinschaften zu achten (…) und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren (…).“
                                  5 EGMR-Entscheidung Nr. 42393/98 im Fall Lucia Dahlab gegen die Schweiz vom 15. Februar 2001.
                                  6 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte räumt den (derzeit 45) Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechts-
                                    konvention (EMRK) einen weiten Ermessensspielraum in der Auslegung der Religionsfreiheit ein. Dies ist schon deshalb erfor-
                                    derlich, weil sich unter den Mitgliedstaaten sowohl Staaten, die formell noch eine Staatskirche kennen, als auch Staaten mit
                                    streng laizistischer Verfassung befinden. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Entscheidung der Schweizer Behörden nicht
                                    als Verstoß gegen die Gewährleistung der Religionsfreiheit der EMRK betrachtet, heißt nicht, dass die – stark laizistisch
                                    geprägte – Regelung des Kantons Genf für Deutschland Vorbildfunktion hat.
                                  7 Zitiert nach Christian Tomuschat (Hg.), Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz
                                    (Bonn: UNO-Verlag, 2. erweiterte Auflage, 2002), S. 39.

6
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen                     für die Überwachung und Interpretation dieses Pakts
von 1993 – der Begriff der „Unteilbarkeit“ der                     zuständig ist): „Artikel 18 darf nicht dazu benutzt
Menschenrechte eingebürgert. „Alle Menschen-                       werden, um eine Diskriminierung der Frau mit dem
rechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen ein-              Verweis auf die Gedanken-, Gewissens- und Reli-
ander und hängen miteinander zusammen“,8 lautet                    gionsfreiheit zu rechtfertigen.“10 Im Gegenzug gilt
die einschlägige Formel in der Wiener Abschlusser-                 auch, dass der Einsatz für die Gleichberechtigung der
klärung, die seitdem in zahlreichen Dokumenten der                 Geschlechter in Respekt vor dem Menschenrecht
Vereinten Nationen zitiert worden ist. Nur verstanden              auf Religionsfreiheit geschehen muss.11 Auch dies
als unteilbares Ganzes können die Menschenrechte                   folgt aus dem Postulat der Unteilbarkeit der Men-
ihren freiheitlichen Sinngehalt im Dienste der Men-                schenrechte.
schenwürde aller konsistent und wirksam entfalten.
                                                                   Um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeu-
Damit sind normative Konflikte auf der Ebene der                   gen, sei betont, dass der gebotene Respekt vor der
Menschenrechte keineswegs ausgeschlossen. Auch                     Religionsfreiheit keineswegs gleichbedeutend ist
im Falle eines Konflikts zwischen unterschiedlichen                mit dem Respekt vor religiösen Traditionen als sol-
menschenrechtlich begründeten Ansprüchen (wofür                    chen. Denn die Subjekte des Rechts auf Religions-
der aktuelle Kopftuchstreit ein Beispiel bietet) kommt             freiheit sind allein die Menschen, deren individuelle
es aber darauf an, sämtliche im konkreten Fall ein-                und gemeinschaftliche Freiheit zur Ausbildung einer
schlägigen Menschenrechte von Staats wegen zu                      religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung,
beachten. Mit Blick auf das Postulat der Unteilbarkeit             zum Bekenntnis ihres Glaubens und zur Lebens-
der Menschenrechte stellt sich dann die schwierige                 gestaltung nach Maßgabe des eigenen Glaubens
Aufgabe, einen Ausgleich zu schaffen, der alle im Streit           vom Staat anerkannt und geschützt werden muss.
befindlichen menschenrechtlichen Ansprüche im Rah-
men des Möglichen maximal zur Geltung bringt.9                     Religiöse Traditionen als solche sind hingegen nicht
                                                                   Gegenstand menschenrechtlichen Schutzes. Sie sind
Die Isolierung eines bestimmten Menschenrechts                     auch keineswegs gegen Kritik im Namen der Men-
auf Kosten anderer Menschenrechte wäre hinge-                      schenrechte immunisiert. Wenn das internationale
gen mit dem Prinzip der Unteilbarkeit aller Men-                   Übereinkommen zur Abschaffung jeder Form der
schenrechte von vornherein nicht vereinbar und                     Diskriminierung der Frau in Artikel 5 verlangt, dass
würde zu einer Schwächung des Menschenrechts-                      die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen, „um einen
anliegens im Ganzen führen. Wer zum Beispiel die                   Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltens-
Religionsfreiheit isoliert oder ihr einen abstrakten               mustern von Mann und Frau zu bewirken“,12 sind
Vorrang gegenüber der Gleichberechtigung von                       zweifellos auch religiös begründete traditionelle
Frauen und Männern zuspricht, verdunkelt damit die                 Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses als
Idee der Menschenrechte insgesamt – und stellt                     mögliche Hindernisse auf dem Wege voller Gleich-
damit, gewollt oder ungewollt, zugleich auch den                   berechtigung kritisch mit angesprochen.
menschenrechtlichen Stellenwert der Religions-
freiheit selbst in Frage. Bezogen auf die Garantie                 Der menschenrechtliche Stellenwert der Religions-
der Religionsfreiheit im Internationalen Pakt über                 freiheit hat zur Folge, dass etwaige Beschränkungen
bürgerliche und politische Rechte betont der Men-                  freier Religionsausübung einer besonderen Recht-
schenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (der                   fertigung bedürfen. Nach der Europäischen Men-

8 Zitiert nach Tomuschat (Hg.), a.a.O., S. 87.
9 Im Kontext des deutschen Verfassungsrechts steht dafür der von Konrad Hesse geprägte Begriff der „praktischen
   Konkordanz“, der auch vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig verwendet wird.
10 Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 28 (zu Artikel 3, angenommen auf der 68. Sitzung des Ausschusses
   am 29. März 2000, CCPR/ C/21/Rev.1/Anhang 10), Abschnitt 21. Sämtliche Allgemeinen Bemerkungen („General Comments“)
   des Menschenrechtsausschusses und der anderen menschenrechtlichen Überwachungsausschüsse der Vereinten Nationen
   werden in Kürze in deutscher Sprache erscheinen, hg. vom Deutschen Institut für Menschenrechte (Baden-Baden: Nomos, 2004).
11 Es wäre beispielsweise ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, wenn sich der Staat eine bestimmte Interpretation religiöser
   Quellen – etwa eine „frauenrechtsfördernde“ Interpretation des Korans – zu eigenen machen und sie propagieren oder gar vorschrei-
   ben würde. Denn um der Religionsfreiheit willen darf der säkulare Rechtsstaat selbst keine religiösen Kompetenzen beanspruchen.
12 Art. 5 Abs. a des Übereinkommens lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um einen Wandel in den
   sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie
   von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder
   anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen.“ Zitiert
   nach Tomuschat (Hg.), a.a.O., S. 186.

                                                                                                                                                              7
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

                                 schenrechtskonvention müssen solche Beschrän-                      scheiden, ob eine Lehrerin im öffentlichen Schul-
                                 kungen gesetzlich geregelt sein, ein im Rahmen der                 dienst das islamische Kopftuch tragen darf. Dazu
                                 demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel verfolgen               sind außerdem empirische Kenntnisse und Ein-
                                 und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beach-                   schätzungen – insbesondere zum Kopftuch, seinen
                                 ten.13 Im Kontext des Grundgesetzes sind die Voraus-               Hintergründen und seiner Wirkung – erforderlich.
                                 setzungen für Beschränkungen noch strenger gefasst.
                                 Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungs-                    Dass das Kopftuch ein Mittel zur Unterdrückung der
                                 gerichts kann die Religionsfreiheit, die in Artikel 4              Frau und zur symbolischen Festigung einer tradi-
                                 des Grundgesetzes ohne Gesetzesvorbehalt gewähr-                   tionellen Rollenteilung zwischen den Geschlechtern
                                 leistet ist,14 überhaupt nur im Blick auf konkurrie-               sein kann und in dieser Funktion auch tatsächlich
                                 rende Grundrechte oder gleichrangige Verfassungs-                  eingesetzt wird, steht außer Frage. Bis heute gibt es
                                 werte eingeschränkt werden. Dazu zählen zweifellos                 Staaten, die eine „islamische Kleiderordnung“ (von
                                 auch die im Zusammenhang der Kopftuchdebatte                       deren restriktiven Auswirkungen hauptsächlich
                                 relevanten Menschenrechte, nämlich die Gleichbe-                   Frauen betroffen sind) mit Zwang vorschreiben und
                                 rechtigung der Geschlechter, die negative Religions-               Verstöße mit harten Strafen ahnden. Hinzu kommt
                                 freiheit (von Schülerinnen und Schülern) und das                   der soziale Druck eines konservativen islamischen
                                 elterliche Erziehungsrecht. Allerdings ist dabei                   Milieus, der sehr viel wirksamer als staatliche Zwangs-
                                 zusätzlich zu beachten, dass eine Abwägung zwi-                    maßnahmen sein kann. Man muss davon ausgehen,
                                 schen unterschiedlichen Menschenrechten erst dann                  dass ein solcher Milieudruck auch in Deutschland
                                 stattfinden kann, wenn ein Normenkonflikt tat-                     existiert und viele Frauen und Mädchen aus isla-
                                 sächlich konkret vorliegt oder unmittelbar droht.                  misch geprägten Familien in ihrer freien Selbstent-
                                 Maßnahmen, die bereits weit im Vorfeld einer tat-                  faltung beeinträchtigt und vor nicht selten tragische
                                 sächlichen Konfliktsituation gleichsam präventive                  Zerreißproben stellt. Er wirkt sich vielfach auch
                                 Einschränkungen der Religionsausübung vorsehen,                    negativ auf das Schulleben aus.15 Dies macht die
                                 wären hingegen mit der menschenrechtlichen Be-                     Vorbehalte gegen das Kopftuch verständlich. Es wäre
                                 deutung der Religionsfreiheit nicht vereinbar. Gleich-             leichtfertig, entsprechende Abwehrhaltungen pau-
                                 zeitig würden sie gegen das Postulat der Unteilbar-                schal als „Vorurteile“ zu bezeichnen; denn sie beru-
                                 keit aller Menschenrechte verstoßen und damit das                  hen vielfach auf leidvollen Erfahrungen.
                                 Anliegen der Menschenrechte insgesamt schwächen.
                                                                                                    Es gibt aber auch die Erfahrung, dass muslimische
                                                                                                    Frauen sich aus religiösen Gründen bewusst und in
                                                                                                    Freiheit für das Kopftuch entscheiden – zum Beispiel
                                                                                                    weil sie überzeugt sind, dass der Koran eine ent-
                                 III. Das Kopftuch der                                              sprechende Vorschrift enthält.16 Für sie ist das Kopf-
                                 Lehrerin als Konfliktfall                                          tuch Bestandteil ihres religiösen Selbstverständ-
                                                                                                    nisses und ein Element ihrer religiösen Praxis. Viele
                                 Die Überlegungen zur Unteilbarkeit der Menschen-                   dieser Frauen (zum Beispiel Kopftuch tragende
                                 rechte sollten dazu dienen, zunächst den normativen                Studentinnen an deutschen Universitäten) erwecken
                                 Horizont für die Bewertung des aktuellen Konflikt-                 in ihrem Verhalten und Habitus im Übrigen keines-
                                 falls abzustecken. Normative Gesichtspunkte allein                 wegs den Eindruck, einem traditionellen Verständ-
                                 reichen aber nicht aus, um die Streitfrage zu ent-                 nis der Geschlechterrollen verhaftet zu sein.

                                  13 EMRK, Art. 9 lautet: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Frei-
                                     heit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemein-
                                     sam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
                                     Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich
                                     vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen
                                     Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Zitiert nach Jens Meyer-Ladewig, Konvention
                                     zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Handkommentar (Baden-Baden: Nomos, 2003).
                                  14 Art. 4 GG lautet: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses
                                     sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“
                                  15 Anlass zur Besorgnis geben in diesem Zusammenhang auch die zunehmenden Abmeldungen vom koedukativen Sport- und
                                     Schwimmunterricht sowie Weigerungen, an Klassenfahrten teilzunehmen. Dadurch kann der staatliche Bildungsauftrag
                                     beeinträchtigt werden, der seinerseits Ausdruck eines Menschenrechts, nämlich des Menschenrechts auf Bildung ist.
                                  16 Die Plausibilität der Berufung auf den Koran, dessen in diesem Zusammenhang einschlägige Verse (vor allem die Verse 24,31
                                     und 33,59) durchaus unterschiedlich interpretiert werden, hat der Staat nicht zu prüfen. Im Zusammenhang der
                                     Religionsfreiheit zählt primär die Überzeugung der betreffenden Person.

8
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

Das religiöse Motiv in der Entscheidung für das                     Kinder umfasst.17 Dass in diesem Spannungsfeld von
Kopftuch kann sich mit dem Interesse an der Wah-                    positiver und negativer Religionsfreiheit sowie dem
rung kultureller Identität oder auch mit politischem                Elternrecht unterschiedliche Rechtsansprüche hart
Engagement verbinden. Das Kopftuch kann dabei                       aufeinander prallen können, lässt sich leicht vor-
ein Ausdruck des Protestes gegen Diskriminierungs-                  stellen. Fest steht in jedem Fall, dass die aktive
erfahrungen in der deutschen Gesellschaft sein,                     Missionstätigkeit eines Lehrers oder einer Lehrerin
mit einem spezifisch muslimischen „Modebewusst-                     während des Schuldienstes ein eindeutiger Verstoß
sein“ einhergehen oder als Bekenntniszeichen im                     gegen die negative Religionsfreiheit und das Eltern-
innertürkischen Kulturkampf um Bewahrung,                           recht wäre. Ein solches Dienstverhalten wäre des-
Weiterentwicklung oder Überwindung des kemalis-                     halb auf keinen Fall hinnehmbar.
tischen Erbes fungieren. Innerhalb des politischen
Islams gibt es schließlich auch autoritäre Bewe-                    Umstritten ist hingegen, ob das bloße Tragen des
gungen, die das Kopftuch gezielt als Instrument im                  islamischen Kopftuches im Schuldienst bereits die
Kampf gegen die liberale Gesellschaft und die frei-                 Schwelle zur Verletzung der negativen Religionsfrei-
heitliche Verfassung einsetzen.                                     heit und des elterlichen Erziehungsrechts erreicht.
                                                                    Bei der Klärung dieser schwierigen Frage dürfte
Das Kopftuch erweist sich deshalb als ein vieldeu-                  wiederum vieles von den besonderen Umständen des
tiges Symbol. Es kann für Unterdrückung der Frau                    konkreten Falles abhängen: zum Beispiel vom Alter
im Namen religiöser beziehungsweise kultureller                     der Schulkinder, vom Milieu-Umfeld der Schule, von
Tradition stehen oder Ausdruck freier religiöser Selbst-            der Rolle der Lehrkraft (als Fachlehrerin und/oder
bestimmung sein; es kann zur religiösen Lebens-                     Klassenlehrerin), in erster Linie aber vom Gesamt-
führung gehören und gleichzeitig ein politisches                    verhalten der Lehrerin und ihrer pädagogischen und
Bekenntnis darstellen. Die (in der Diskussion übri-                 kommunikativen Kompetenz. Wollte der Staat Beein-
gens von allen Seiten herausgestellte) Vieldeutigkeit               trächtigungen der negativen Religionsfreiheit von
des Kopftuchs trägt wesentlich dazu bei, dass die                   Schülerinnen und Schülern sowie des Elternrechts
Meinungsbildung im aktuellen Konfliktfall so schwie-                allein auf das Tragen des Kopftuches stützen und
rig ist. Diese Vieldeutigkeit jedoch praktisch dahin-               von dorther einen Ausschluss aus der Lehrtätigkeit
gehend aufzulösen, dass eine Kopftuch tragende                      begründen, ohne das dienstliche Verhalten der betref-
Lehrerin im Zweifel entweder als in traditionellen                  fenden Lehrperson insgesamt zu würdigen, würde er
Vorstellungen der Geschlechterrollen verfangen gilt                 dem Stellenwert der Religionsfreiheit der Lehrerin
oder gar unter den Verdacht verfassungsfeindlicher                  jedenfalls nicht gerecht werden.
politischer Agitation gestellt wird, dürfte schwerlich
legitim sein. Eine solche Position wäre sachlich nicht              Auch bezogen auf das Spannungsfeld zwischen
gerechtfertigt und liefe im Ergebnis auf eine Beein-                positiver Religionsfreiheit der Lehrerin und negativer
trächtigung der Religionsfreiheit der Lehrerin hinaus.              Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler gilt,
Gerade die Vieldeutigkeit des Kopftuchs spricht des-                was oben über Konflikte zwischen der Religions-
halb gegen ein generelles Kopftuchverbot für Leh-                   freiheit und der Gleichberechtigung der Geschlech-
rerinnen im Dienst und für das Bemühen um ange-                     ter gesagt wurde: nämlich, dass sich eine Ab-
messene Konfliktlösungen im konkreten Einzelfall.                   wägung zwischen konkurrierenden Rechtsansprüchen
                                                                    erst im tatsächlichen (oder unmittelbar drohenden)
Zusätzlich zu berücksichtigen ist allerdings, dass die              Konfliktfall, nicht schon im Blick auf nur mögliche
positive Religionsfreiheit der Lehrerin (das heißt ihr              Konflikte rechtfertigen lässt. Staatliche Maßnahmen,
Recht, nach Grundsätzen des eigenen Glaubens zu                     die im Namen der negativen Religionsfreiheit
leben) in Konkurrenz zur negativen Religionsfreiheit                beziehungsweise des Elternrechts das Kopftuch für
der Schülerinnen und Schüler geraten kann. Deren                    Lehrerinnen bereits im Vorfeld eines tatsächlichen
Recht, im Rahmen der staatlichen Pflichtschule                      Konflikts gleichsam präventiv verbieten, verkürzen
nicht gegen ihren Willen religiöser Einflussnahme                   die positive Religionsfreiheit – und schwächen
ausgesetzt zu werden, verbindet sich außerdem mit                   damit das Menschenrecht der Religionsfreiheit ins-
dem elterlichen Erziehungsrecht, das auch das                       gesamt. In diesem Zusammenhang ist daran zu er-
Recht der Eltern auf die religiöse Erziehung ihrer                  innern, dass mehrere Kopftuch tragende Lehrerinnen

17 Vgl. GG Art. 6 Abs. 2; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 13, Abs. 3;
   sowie 1. Zusatzprotokoll zur EMRK, Art. 2.

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Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

                                  teils seit Jahren in Deutschland ihren Schuldienst                Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler. Die
                                  versehen, ohne dass dies zu Beanstandungen durch                  Erwartung, dass eine Lehrperson die religiös-welt-
                                  Eltern oder die Schulleitung geführt hat.                         anschauliche Neutralität des Staates in ihrem
                                                                                                    dienstlichen Handeln gleichsam unmittelbar „ver-
                                  Ein weiterer Aspekt der Kopftuchdebatte betrifft die              körpern“ und sich deshalb jedes sichtbaren religiö-
                                  religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates,                sen Bekenntnisses enthalten muss, wäre indessen
                                  die sich auch in der staatlichen Schule niederschla-              überzogen.19 Eine solche Forderung leuchtet zwar
                                  gen muss. In der Tat gehört die religiös-weltan-                  ein, wenn sie an Richterinnen und Richter adressiert
                                  schauliche Neutralität zu den tragenden Prinzipien                ist; denn die Richterfunktion verlangt dem Amts-
                                  eines freiheitlichen Rechtsstaates. Sie hat ihren                 träger beziehungsweise der Amtsträgerin mit guten
                                  Grund im Menschenrecht der Religions- und Welt-                   Gründen ab, bei der Repräsentation staatlicher Ho-
                                  anschauungsfreiheit. Aus Respekt vor der gleichen                 heitsgewalt auf die Demonstration persönlicher
                                  religiösen und weltanschaulichen Freiheit der Men-                Überzeugungen (und damit auch auf die sichtbare
                                  schen ist es dem Staat verwehrt, sich selbst mit einer            Symbolisierung religiöser Bekenntnisse zum Beispiel
                                  bestimmten Religion – auf Kosten der Anhänger                     durch ein Kopftuch) zu verzichten. Die Lehrtätigkeit
                                  anderer Religionen oder Weltanschauungen – zu                     in der Schule lässt sich mit dem Richteramt jedoch
                                  identifizieren.18 Der freiheitliche Rechtsstaat kann              kaum vergleichen. Denn die pädagogische Interak-
                                  deshalb kein Konfessionsstaat sein, sondern ist ver-              tion in der Schule besteht wesentlich gerade darin,
                                  pflichtet, in religiösen und weltanschaulichen Fragen             dass Lehrerinnen und Lehrer sich in ihrer Persön-
                                  Neutralität zu wahren, um als Heimstätte aller in sei-            lichkeit – das heißt auch in ihren persönlichen Über-
                                  nem Gebiet lebenden Menschen fungieren zu können.                 zeugungen – erkennbar präsentieren. Dies spricht
                                                                                                    dafür, Fragen der Bekenntnisfreiheit im staatlichen
                                  Diese Neutralitätspflicht gilt auch für die Institution           Dienstverhältnis je nach Tätigkeit differenziert zu
                                  der staatlichen Schule. Schon deshalb wäre es pro-                regeln und das Tragen des Kopftuches und anderer
                                  blematisch, christlichen Symbolen im Raum der                     religiöser Symbole für Lehrerinnen und Lehrer im
                                  Schule gegenüber islamischen Symbolen einen pri-                  Schuldienst nicht von vornherein zu verbieten.
                                  vilegierten Status einzuräumen. Aus der Tatsache,
                                  dass die staatliche Schule als solche nicht einer
                                  bestimmten Religion oder Weltanschauung ver-
                                  pflichtet sein kann, folgt jedoch keineswegs, dass
                                  religiöse oder weltanschauliche Bekenntnisse in ihr               IV. Schlussfolgerungen
                                  generell keinen Ort haben beziehungsweise auf den
                                  Rahmen des konfessionellen Religionsunterrichts                   Die Frage, ob eine Lehrerin mit dem islamischen
                                  beschränkt bleiben müssen. Es wäre vielmehr gera-                 Kopftuch in der staatlichen Schule unterrichten
                                  dezu paradox, wenn die Pflicht zur staatlichen                    kann, wird sicherlich noch lange Zeit für Diskussio-
                                  Neutralität, die ja ihrerseits im Menschenrecht der               nen sorgen. Dies ist schon allein deshalb zu erwarten,
                                  Religionsfreiheit begründet ist, zur Purifizierung des            weil sich die unterschiedlichen und politisch teils sehr
                                  Schullebens von religiösen beziehungsweise welt-                  kontroversen Ansichten zu gesamtgesellschaft-
                                  anschaulichen Bekenntnissen und Symbolen führen                   lichen Herausforderungen – zum Umgang mit kul-
                                  würde.                                                            tureller Vielfalt, zur Gestaltung des Geschlechter-
                                                                                                    verhältnisses, zum Verhältnis von Staat und Religion
                                  Für das Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern im                  sowie zur Integrationsaufgabe der staatlichen Schu-
                                  Dienst ergibt sich aus der staatlichen Neutralitäts-              le – in der aktuellen Kopftuchdebatte widerspiegeln.
                                  pflicht das Gebot der Behutsamkeit im Umgang mit
                                  religiösen und weltanschaulichen Fragen; dies folgt               Auch aus menschenrechtlicher Perspektive fällt die
                                  bereits aus dem Anspruch auf Respekt der negativen                Meinungsbildung in der Sache nicht leicht; denn

                                   18 Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates darf nicht mit einer allgemeinen „Wertneutralität“ verwechselt werden,
                                      wie dies oft geschieht; denn sie ist Ausdruck der Achtung der Menschenrechte (näherhin: der Religions- und Weltanschauungs-
                                      freiheit), die ihrerseits im Bekenntnis zur Würde des Menschen gründet.
                                   19 Vgl. BVerfG, Entscheidung Ludin, Randnummer 54: „Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse
                                      Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich
                                      auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.“ Ganz anders liegt der vom Bundesverfassungsgericht 1995 entschiedene
                                      Fall des Kruzifixes in bayerischen Schulen, da die Anbringung von Kreuzen in den Klassenzimmern auf ausdrückliche Anord-
                                      nung des bayerischen Staates hin zu geschehen hatte.

10
Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland – Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte

mehrere menschenrechtliche Ansprüche stehen              willen bereits weit im Vorfeld eines tatsächlichen
dabei zur Debatte. Die (positive) Religionsfreiheit      Konflikts Beschränkungen der Religionsfreiheit der
der Kopftuch tragenden Lehrerin befindet sich –          Lehrerin vornimmt, wäre aus der Perspektive der
jedenfalls potenziell – in Konflikt mit der Gleich-      Menschenrechte hingegen problematisch.
berechtigung von Frauen und Männern, mit der
(negativen) Religionsfreiheit der betroffenen Schü-      Was bleibt ist deshalb der Weg sorgsamer – und
lerinnen und Schüler, mit dem elterlichen Erziehungs-    gerichtlich überprüfbarer – Einzelfallentscheidungen,
recht und mit dem Prinzip der religiös-weltan-           die dann zu treffen wären, wenn ein auf konkurrie-
schaulichen Neutralität des Staates. Von daher sind      rende Rechtsansprüche gegründeter Konflikt tat-
durchaus Fallkonstellationen denkbar, in denen das       sächlich auftritt oder aus nachvollziehbaren Gründen
Recht der Lehrerin auf das Tragen des Kopftuches         unmittelbar zu befürchten ist. Dass dies mühsam ist
zugunsten anderer Rechte zurücktreten muss.              und für die Betroffenen in Schule, Schulverwaltung
                                                         und Gerichten komplizierte Entscheidungsfragen
Das Postulat der Unteilbarkeit der Menschenrechte        aufwerfen und enorme Belastung mit sich bringen
verlangt allerdings, die Abwägung der Religions-         kann, lässt sich nicht bestreiten. Das hohe Gut, das
freiheit der Lehrerin gegen etwaig konkurrierende        die Menschenrechte darstellen, spricht gleichwohl
menschenrechtlich relevante Ansprüche mit der ge-        dafür, diesen Weg zu beschreiten und von pauscha-
botenen Sorgfalt vorzunehmen und vor allem auf die       len Verboten in der Kopftuchfrage abzusehen.
Situation eines tatsächlich vorhandenen (oder unmit-
telbar drohenden) Normenkonflikts zu beschränken.
Eine staatliche Politik, die um der Konfliktprävention   13. Mai 2004

                                                                                                                                                     11
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