Zweites Leben für Laptop und Co.
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Zweites Leben für Laptop und Co. Jutta Dieckmann sitzt an ihrem Schreibtisch in der geräumigen Aufbereitungshalle der AfB an der Otto-Stadler-Straße in Paderborn. Mit einem Heißluftfön löst sie Etiketten und Aufkleber von Netzteilen und Adaptern. „Ich sortiere die Netzteile nach Hersteller und Amperezahl“, erklärt sie. Neben ihrem Tisch stehen mehrere Kisten. Sind sie voll, werden sie ins Lager gebracht oder an eine andere AfB-Filiale verschickt. Perfekt getaktetes System Jutta Dieckmann und ihre Kollegen arbeiten nach einem bis ins Detail organisierten und perfekt getakteten System von Abholung, Datenvernichtung, Aufbereitung, Wiedervermarktung und Entsorgung von IT- und Mobilgeräten. Die AfB gilt als Europas erstes und größtes gemeinnütziges IT-Unternehmen – und befindet sich weiter auf strammem Wachstumskurs. Der Betrieb ist darauf spezialisiert, ausgemusterte IT-Geräte von Unternehmen, Versicherungen, Banken und öffentlichen Einrichtungen zu übernehmen und dabei so viele Geräte wie möglich wieder zu vermarkten. Der vom LWL geförderte Inklusionsbetrieb bearbeitet jährlich mehr als 360.000 Geräte, die er von mehr als 700 Unternehmen zur Verfügung gestellt bekommt. Menschen mit Behinderung wie Jutta Dieckmann stellen fast die Hälfte der gut 380 Beschäftigten, am Standort Paderborn sind es 16 von 33 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Fast die Hälfte der Beschäftigten der AfB haben eine Behinderung. Eine von ihnen ist Jutta Dieckmann (links), hier mit einigen Kolleginnen und einem Praktikanten in der Halle der AfB. Foto: LWL/Paul Metzdorf Nachhaltiges Geschäftsmodell Der Markt für diesen Wiederverwendungskreislauf ist größer, als man meint. „Wir arbeiten mit Konzernen wie Thyssen-Krupp, RWE oder Siemens zusammen, aber auch mit regionalen Firmen, Behörden und Institutionen“, sagt Monika Braun. Die AfB- Prokuristin spricht dabei stets von „Partnern“. Und denen kann die AfB durchaus etwas bieten. „Sämtliche Datenträger werden im Rahmen eines zertifizierten Prozesses nach höchsten Sicherheitsstandards gelöscht oder geschreddert. Die Geräte werden per IT-Sicherheitstransport durch unser eigenes Personal mit unserem eigenen Fuhrpark abgeholt und zur nächstgelegenen AfB-Niederlassung transportiert“, erläutert Monika Braun. Neben der
Datenvernichtung werden die Geräte erfasst, getestet, gereinigt, mit neuer Software bespielt und anschließend verkauft – mit bis zu drei Jahren Gewährleistung. Nicht mehr vermarktbare Hardware wird unter höchsten ökologischen Standards zerlegt und recycelt. Der ursprüngliche Eigentümer der Geräte erhält alle relevanten Nachweise zur Datenvernichtung. Fujitsu-Aus als Chance Der Leiter der Paderborner AfB-Niederlassung, Dietmar Mormann, hat alle Arbeitsschritte im Blick. Er kam 2018 vom japanischen Technologiekonzern Fujitsu, als der sein Werk in Paderborn dicht machte. „Ich hatte schon vorher AfB-Gründer Paul Cvilak kennengelernt“, sagt Mormann. „Damals haben wir noch über eine mögliche Kooperation von Fujitsu und AfB gesprochen.“ Dann kam die Schließung des Fujitsu-Standorts. Mormann begriff das als Chance, die AfB nach Paderborn zu holen. „Wir haben dann eine Ausschreibung von Fujitsu gewonnen, eine weitere von Diebold Nixdorf, und dann ging alles ganz schnell“, sagt Mormann. Man fand mit einer 3.200 Quadratmeter großen Halle eines ehemaligen Schulbuch-Verlags eine optimale Immobilie. Der neue Niederlassungsleiter brachte gleich noch eine ganze Reihe ehemaliger Fujitsu-Kollegen mit. „Wir haben 2018 mit zwölf Leuten hier angefangen“, erzählt Mormann. Um dann personell rasch aufzustocken. „Paderborn mit seinen IT-Unternehmen hat einfach das Potenzial.“ Echter Wettbewerbsvorteil Eine Zusammenarbeit mit der AfB ist nicht nur gut für das soziale und ökologische Gewissen, sie kann ein echter Wettbewerbsvorteil sein. „Das durch eine Partnerschaft mit der AfB gezeigte gesellschaftliche Engagement kann am Point-of- Sale unserer Partner kommuniziert und somit als Vertriebsvorteil genutzt werden“, heißt es auf einem Imageflyer des Unternehmens. Der Zusatz „social & green IT“ im
Firmentitel weist darauf hin. Sozial ist die inklusive Ausrichtung der AfB, grün sind etwa Einsparungen von CO2, Rohstoffen und Energie durch die Wiederverwertung der IT- Geräte. Die AfB-Beschäftigten in Paderborn haben zum Teil seelische, körperliche, Seh- oder Hörbehinderungen. Einer von ihnen ist Martin Gasse, der die Verteilung der Hardware am Wareneingang organisiert. Dort werden die firmeneigenen Transporter entladen. „Ich sortiere und erfasse die hereinkommenden Geräte“, sagt er. Die 3.200 Quadratmeter große Halle der AfB in Paderborn, das eines der ersten und zugleich größten gemeinnützigen IT- Unternehmen Europas ist. Foto: LWL/Paul Metzdorf Hauseigenes Warenwirtschaftssystem Bernd Schmelter kümmert sich um die Detailerfassung im
hauseigenen Warenwirtschaftssystem. Und er schaut, ob die Datenlöschung tatsächlich vollständig erfolgt ist: „Ich bin so etwas wie die letzte Instanz.“ Thomas Müller wiederum löscht Server. Gut und gerne 20 pro Tag. Dann sortiert er sie und macht die Enderfassung für den Verkauf. Für ihn ein Traumjob: „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten.“ Die aufbereiteten Server, PCs, Notebooks, Bildschirme, Drucker und Handys werden teilweise im Shop zum Verkauf angeboten. Zum Beispiel von Andy Swanston. Zu seinen Kunden zählen Privatpersonen, vor allem auch ältere Menschen, ebenso wie Steuerberater oder Zahnarztpraxen. Was sie alle am AfB-Shop schätzen, ist die ausführliche und persönliche Beratung. „Und sollte ein Käufer mit seinem Gerät daheim nicht klarkommen, dann fahren wir vorbei und helfen ihm“, sagt Niederlassungsleiter Dietmar Mormann. Das AfB-Konzept baut auf flache Hierarchien. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter duzen sich, vom Firmengründer bis zum Praktikanten. Es gibt eine Niederlassungsleitung, eine Technische Leitung und die Teams – mehr nicht. Im Sommer wird oft gemeinsam gegrillt, der Zusammenhalt ist groß. Mehrmals im Jahr schaut auch AfB-Gründer Paul Cvilak in Paderborn vorbei. Er kennt fast alle Beschäftigten persönlich und nimmt sich Zeit für Gespräche. Seine Vision von 2004 ist längst Wirklichkeit geworden. In Paderborn und anderswo an einem der mittlerweile 18 Standorte in fünf europäischen Ländern. Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
VERSCHOBEN: Die LWL-Messe der Inklusionsunternehmen 2020 Über 160 Inklusionsunternehmen und -abteilungen behaupten sich in Westfalen-Lippe am Markt – darunter auch die Grünbau GmbH. Sie und andere Betriebe dieser Art tragen besonders viel zur Inklusion bei, weil sie mindestens 30 Prozent Menschen mit Schwerbehinderung auf festen Arbeitsplätzen beschäftigen. Wie jedes andere Unternehmen müssen all diese Firmen dennoch erfolgs- und wettbewerbsorientiert arbeiten. Das LWL-Inklusionsamt Arbeit widmet diesen vorbildlichen Unternehmen und dem Thema Arbeit und Inklusion eine eigene Veranstaltung: Die LWL-Messe der Inklusionsunternehmen, die in diesem Jahr eigentlich am 18. März 2020 in der Messe Dortmund stattfinden sollte. Wegen der zunehmenden Verbreitung des neuartigen Coronavirus‘ muss die Veranstaltung nun um ein Jahr verschoben werden: Der neue Termin ist voraussichtlich der 17. März 2021. Mehr Informationen und eine Telefonnummer für Rückfragen findet ihr in der offiziellen Pressemeldung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL). Zahl des Monats: 1,25 Millionen Diese Zahl hat die Aktion Mensch kürzlich mit dem Inklusionsbarometer Arbeit 2018 herausgefunden, einer Studie, die die Lage und Entwicklung der beruflichen Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt untersucht. Damit setzt sich ein positiver Trend fort, denn diese Zahl steigt jedes Jahr weiter
an (2015: 1,15 Mio., 2016: 1,18 Mio., 2017: 1,23 Mio.). Aber woher hat die Aktion Mensch diese Zahl? Ganz einfach: Sie rechnet sie aus zwei verschiedenen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit neu zusammen. Die Bundesagentur für Arbeit selbst veröffentlicht normalerweise nur die Zahl der besetzten so genannten Pflichtarbeitsplätze. Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern müssen in Deutschland nämlich mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung besetzen. Die tatsächliche Zahl der Menschen mit Behinderung, die sie beschäftigen, müssen sie jedes Jahr an die Bundesagentur für Arbeit melden. Nicht ganz so genau betrachtet werden dagegen die kleinen Unternehmen, die weniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen. Die Bundesagentur ermittelt nur alle fünf Jahre durch eine repräsentative Stichprobenerhebung, wie viele Menschen mit Behinderung dort arbeiten. In die jährliche Statistik fließt das nicht ein. Um das genauer zu erheben, addiert die Aktion Mensch in ihrem Inklusionsbarometer die Ergebnisse beider Statistiken. Damit errechnet sich die tatsächliche Anzahl von Menschen mit Behinderung, die eine Stelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Wir rechnen für das Jahr 2018 noch einmal vor: 1,078 Millionen besetzter Pflichtarbeitsplätze + 168.000 Beschäftigte bei Unternehmen mit weniger als 20 Mitarbeitern = 1,25 Millionen Beschäftigte.
„Ich sehe mich als gleichwertig mit meinen Kollegen, wir unterstützen uns gegenseitig“ Herr Weinmann, viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie Sie mit einer so starken Sehbehinderung im Berufsalltag zurechtkommen. Wie machen Sie das genau? Da ich nicht blind bin, kann ich mir mit meiner Restsehkraft in vielen Situationen gut allein weiterhelfen. Und wenn es doch mal schwieriger wird, kann ich ganz auf die Unterstützung meiner sehr hilfsbereiten Kollegen zählen. Die stehen mir immer zur Seite, damit habe ich bisher also wirklich keine negativen Erfahrungen gemacht. Als Hilfsmittel nutze ich Taschenlupen und für die Arbeit am Computer stellt mir mein Arbeitgeber einen speziellen PC mit einem Lupenprogramm zur Verfügung. Das geht also alles ziemlich gut. Es heißt, dass blinde oder fast blinde Menschen – also auch Sie – einen besonders ausgeprägten Tastsinn haben. Stimmt das oder ist das ein Klischee? Ich glaube nicht, dass das ein Klischee ist. Wenn eine Sinneswahrnehmung ausfällt, kann der Körper dieses Defizit ja bekanntlich mit anderen Funktionen kompensieren. Nehmen Sie das Beispiel der Blindenschrift: Wenn ein Sehender versucht, die einzelnen Punkte der Schrift zu ertasten, ist das für ihn sehr schwer und dauert sehr lange. Schaut man dagegen einem
blinden Menschen beim Lesen der Schrift zu, kann man nur staunen, mit welcher Geschwindigkeit er einen Text bewältigt und versteht. Das ist bei mir nicht anders, Tasten ist auf jeden Fall meine Stärke. Setzen Sie das auch in Ihrem Beruf ein? Ja, natürlich! Als Physiotherapeut muss ich ja mit den Händen und Fingern Veränderungen im Gewebe erspüren. Da sehe ich mich durch meinen ausgeprägteren Tastsinn im Vorteil gegenüber Kollegen, die keine Sehbehinderung haben. Das haben die mir auch schon oft bestätigt. Sie konkurrieren also mit Ihren Kollegen ohne Sehbehinderung? Nein, in meinem Beruf im Krankenhaus nicht direkt. Ich sehe mich als gleichwertig mit meinen Kollegen, wir unterstützen uns gegenseitig. Wo ich besser tasten kann, können sie besser sehen und damit andere Anforderungen des Berufs einfacher bewältigen – und mich wiederum dabei unterstützen. Das ist ein sehr harmonisches Miteinander. Ihre Sehbehinderung bringt in Ihrem Beruf also sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich. Wie äußert sich das im Alltag? Zum Beispiel an meinem Einsatzgebiet im Krankenhaus. Das ist aktuell auf eine Station reduziert, weil mir in anderen Gebäudeteilen die Orientierung schwerfällt und diese dort erst noch trainieren muss. Ein großer Vorteil ist wiederum, dass mir wegen meiner Behinderung finanzielle Förderungen des für meinen Wohnort zuständigen Inklusionsamtes zustehen. Dadurch konnte ich schon einige Fortbildungen besuchen, die sonst viel Geld kosten und eher schwer zu finanzieren sind. Diese Möglichkeit haben viele Kollegen so nicht.
Auf der RehaCare-Messe im Jahr 2010 haben Sie unter anderem eine Massage-Station aufgestellt und den vorbeilaufenden Besucherinnen und Besuchern Nackenmassagen angeboten. Abgesehen davon, dass Sie damit eine Kostprobe Ihrer beruflichen Fähigkeiten gegeben haben: Welche Botschaft wollten Sie mit dieser Aktion vermitteln? Ich wollte allen Besuchern der Messe zeigen, dass ein Mensch mit Behinderung ein genauso leistungsfähiger Mitarbeiter oder Kollege sein kann wie jemand ohne Handicap, wenn nur die Voraussetzungen stimmen. Und ich wollte anderen Menschen mit Behinderung Mut machen, ihren beruflichen Weg zu gehen und sich nicht von ihrer Behinderung davon abhalten zu lassen. Dafür habe ich auch gutes Feedback bekommen. Neben der Massagestation habe ich auf einer der Messe-Bühnen zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern ein kleines Übungsprogramm für den Rücken durchgeführt – auch das kam sehr gut bei den Teilnehmern an. Viele hätten mir das vorher nicht zugetraut. Sie sind jetzt im September auf einer weiteren Veranstaltung mit dabei, der Fachmesse ZukunftPersonal dabei. Was dürfen die Besucherinnen und Besucher dieses Mal von Ihnen erwarten – und was erhoffen Sie selbst sich von der Messe? Ich habe dort wieder meinen Stand mit der Massagestation, da muss ich den Vorgaben folgen. So komme ich aber auch am allerbesten mit Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich das mache: Ich möchte mit
den Leuten über das Thema Inklusion und Menschen mit Behinderung reden und dabei aus der Sicht eines Betroffenen sprechen – auch, um Vorurteile auszuräumen. Foto: privat Über unseren Interviewpartner Name: Giselher Weinmann Geburtsjahr: 1961 Wohn-/Arbeitsort: Dinslaken Beruf: Physiotherapeut (Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: hat eine hochgradige Sehbehinderung und konnte deshalb vor über 30 Jahren seine Wunsch-Ausbildung zum Krankenpfleger nicht absolvieren. Er wechselte deshalb in die Physiotherapie und bekam danach eine Anstellung als Masseur und Medizinischer Bademeister. In diesem Beruf arbeitete er drei Jahrzehnte, bevor er sich – parallel zum Job – zum Physiotherapeuten weiterbildete. Heute arbeitet er im St. Vinzenz Hospital in seinem Heimatort Dinslaken unter anderem mit älteren Menschen, die wieder selbstständiger leben möchten.
Die Fachmesse ZukunftPersonal Die ZukunftPersonal gilt als innovativste Fachmesse für Personalmanagement im Europa. Drei Tage lang – in diesem Jahr vom 11. bis zum 13. September 2018 – werden hier neue Ideen und Entwicklungen aus der Branche vorgestellt. Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer, Personalverantwortliche, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Personalabteilungen und Organisationsentwicklerinnen und - entwickler können sich auf der Messe einen Überblick über den Markt an Produkten und Dienstleistungen verschaffen und sich mit Fachkollegen über die aktuellen Trends austauschen – zum Beispiel über Vorträge, interaktive Formate, themenbezogene geführte Touren über die Messe oder direkt an den Ständen der Organisationen und Unternehmen, die dort ausstellen. Auch das LWL-Inklusionsamt Arbeit ist wieder mit dabei und erklärt Interessierten dieses Jahr unter anderem, was Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) ist, wie es funktioniert und warum es für die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt sehr wichtig ist. Tickets für die Fachmesse kosten für einen Tag 80 Euro und für alle drei Tage 125 Euro. „Wir sind eine unfassbar laute Band“ Experimentierfreudig, verspielt, laut: So ist die Musik der Hamburger Krautrock-Band Station 17. In wechselnder Besetzung proben unter diesem Namen seit 30 Jahren Musiker mit und ohne Behinderung, spielen Konzerte und veröffentlichen Alben.
Die Aufschrift „Stop – Hier wird gearbeitet“ an der Tür des Probenraums ist dabei wörtlich zu nehmen, denn die Band ist viel mehr als ein Hobby. Die Musiker sind beim inklusiven Netzwerk Barner 16 fest angestellt und erwirtschaften ihr Einkommen durch ihre Kunst. Wie das klingt und aussieht, erzählt die taz in dieser Reportage. „Die Arbeitgeber werden immer optimistischer“ An einem sicheren Arbeitsplatz den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, mit einem Job, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht: Das wünschen sich die meisten Menschen. Für diejenigen, die mit einer Behinderung leben, ist es aber oftmals viel schwieriger, eine Beschäftigung zu finden, die zu ihren Fähigkeiten passt. Viele Arbeitgeber schrecken trotz des bestehenden Fachkräftemangels davor zurück, Menschen mit Behinderung in ihren Betrieben einzustellen – und das sogar dann, wenn diese Leute hervorragend ausgebildet sind. Welche Faktoren es genau sind, die zu dieser Lage in Deutschland beitragen – das wollte die Aktion Mensch genauer wissen. Die Soziallotterie hat deshalb das so genannte Inklusionsbarometer entwickelt. Ein Interview mit Christina Marx, der Leiterin des Bereiches Aufklärung bei der Aktion Mensch, über diese Studie und über die Situation von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben. Frau Marx, die Aktion Mensch gibt seit dem Jahr 2012 zusammen
mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich ein so genanntes „Inklusionsbarometer Arbeit“ heraus. Was ist das genau, wie funktioniert es und warum haben Sie damit begonnen? Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 als Infografik. Für eine größere Ansicht einfach auf das Bild klicken. Quelle: Aktion Mensch Es gibt eine Vielzahl Faktoren, die verhindern, dass es eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit und ohne Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt. Um diese Einflüsse genauer betrachten zu können, haben wir beschlossen, sie erst einmal zusammenzutragen – und deshalb das Inklusionsbarometer entwickelt. Wir haben dafür 500 mittelständische Unternehmen und 802 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung befragt, wie sie das Klima in ihrer Firma empfinden. Zum Beispiel wollten wir wissen, ob Arbeitgeber Leistungsunterschiede im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung in ihrem Betrieb feststellen, oder ob die Arbeitnehmer passend zu ihren Fähigkeiten und Qualifikationen eingesetzt werden. Die Ergebnisse dieser Umfrage haben wir zusätzlich mit „harten“ Fakten unterfüttert, unter anderem sind hierbei die jüngsten Zahlen aus verschiedenen Quellen eingeflossen, etwa der Bundesagentur für Arbeit. Beispielsweise ist die Dauer der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung oder die Beschäftigungsquote wichtig, um die Situation zu analysieren. Das machen wir jedes Jahr seit 2012
aufs Neue. Das Barometer sagte im Jahr 2015 aus, dass sich die Lage für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in vielen Bereichen verbessert hat. Wie sieht es im Jahr 2016 aus? Das Inklusionsbarometer bringt auch dieses Jahr erst einmal gute Nachrichten: In der Arbeitswelt wird Inklusion immer alltäglicher. Der Grund dafür ist vor allem, dass die Unternehmen die Inklusion als solche positiver einschätzen. Sie sind dabei sogar zum ersten Mal optimistischer als die Mitarbeiter mit Behinderung. Trotzdem: Es gibt weiterhin großen Verbesserungsbedarf. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung hat sich nur leicht entspannt. Ein positives Beispiel: Die Malerwerkstätte Karl Müller. Hier arbeitet seit acht Jahren Ralph Müller, der wie zwei weitere der insgesamt 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehörlos ist. Meisterin Jessica Müller und er verständigen sich hier mit Hilfe einer App auf dem Smartphone. Foto: Aktion Mensch
Können Sie das in Zahlen fassen? Der Gesamtwert des Barometers ist von 101,1 auf 106,7 gestiegen – vereinfacht erklärt bedeutet diese wachsende Zahl eine positive Tendenz. Zugleich ist die Arbeitslosenquote zwar von 13,9 Prozent auf jetzt 13,4 Prozent gesunken, aber sie fällt wesentlich langsamer als die Quote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt insgesamt, die aktuell bei 6,4 Prozent liegt. Die Schere zwischen Arbeitslosen mit und ohne Behinderung geht also weiter auseinander. Auch die Dauer, die Menschen mit Behinderung im Schnitt arbeitslos sind, ist vergleichsweise lang: Sie suchen mehr als 100 Tage länger als Menschen ohne Behinderung nach einem Job. Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass nach wie vor vergleichsweise viele Menschen mit Behinderung arbeitslos sind? Was könnte getan werden, um die Situation zu verbessern? Ganz wichtig ist hier das Thema Barrierefreiheit. Im Moment ist nur die Hälfte der kleinen und mittelständischen Unternehmen barrierefrei – diese Firmen stellen aber in der Summe die meisten Arbeitsplätze. Für eine Verbesserung der Lage wäre es außerdem gut, wenn die Informationen über Förderprogramme transparenter für die Arbeitgeber wären. 96 Prozent der großen Unternehmen kennen die Instrumente und nutzen sie oft auch. Von den kleinen Unternehmen wissen dagegen nur 62 Prozent etwa von der staatlichen Förderung für Mitarbeiter mit Behinderung und nur 53 Prozent nehmen sie auch in Anspruch.
Wenn Ralph Müller oder seine Kollegen einmal etwas Komplizierteres besprechen müssen, nutzen sie meist eine App auf dem Handy: Die hörenden Mitarbeiter können einfach hineinsprechen, was sie sagen wollen, und die App übersetzt das Gesprochene in Schrift. Ralph Müller kann die Informationen ablesen und seine Antworten entweder durch Mimik und Gestik ausdrücken oder sie eintippen. Foto: Aktion Mensch Wer oder was sind Ihrer Meinung nach die größten „Inklusions- Bremsen“ unserer Gesellschaft? Es ist wichtig, bürokratische Hürden abzubauen, aber auch und vor allem die Hürden in den Köpfen vieler Arbeitgeber. Es ist sehr einfach, bei einem potenziellen neuen Mitarbeiter die Behinderung als Defizit zu sehen, anstatt darauf zu schauen, welche Fähigkeiten er mitbringt. Genau das sollten die Mitarbeiter in Personalabteilungen und Chefs aber tun. Dabei ist es egal, ob ein Mensch eine angeborene Behinderung hat oder diese im Laufe des Berufslebens „erworben“ hat. Themen
wie ein betriebliches Eingliederungsmanagement und Gesundheitsförderung werden ja gerade in älter werdenden Belegschaften immer bedeutender. Gibt es etwas, das Menschen mit Behinderung selbst tun können, um ihre Lage zu verbessern? Sie müssen sich auf jeden Fall zutrauen, sich auf Stellen des ersten Arbeitsmarktes zu bewerben. Dabei sind unsere Sondersysteme mit den Förderschulen zurzeit noch ein Hemmschuh. Ich habe aber die Hoffnung, dass mit einem zunehmend inklusiven Bildungssystem auch diese Hürde immer häufiger überwunden wird. Wer früh zusammen lernt, findet es ganz automatisch selbstverständlicher, dass man später auch zusammen arbeitet. Wie müsste für Sie die Unternehmenskultur der Zukunft aussehen, um eine vollständige Inklusion zu erreichen? Eine solche Unternehmenskultur muss den Menschen und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen. Zugleich muss Verschiedenheit als Normalität begriffen werden. Arbeitnehmer mit und ohne Behinderung müssen sich auf Augenhöhe begegnen und dürfen keine Berührungsängste miteinander haben. Eine inklusive Unternehmenskultur braucht vor allem diese Art der Begegnung und ein selbstverständlicheres Miteinander. Das muss heute vielfach erst noch gelernt werden. Aus meiner Sicht sind hier insbesondere die Arbeitgeber gefragt, diese Unternehmenskultur vorzuleben und mit anzustoßen. — Foto: Aktion
Mensch Christina Marx wurde 1970 in Köln geboren. Die Diplom- Dolmetscherin und Kommunikationsberaterin blickt auf rund 20 Jahre Berufserfahrung in der Umsetzung von Projekten im Non- Profit Bereich zurück und ist heute Mitglied der Geschäftsführung der Aktion Mensch. Seit dem Jahr 2013 leitet sie dort auch den Bereich Aufklärung und ist verantwortlich für die dortigen Projekte der Soziallotterie – dazu zählen zum Beispiel Kampagnen, Projekte für Kinder und Jugendliche, Aktionstage und Kooperationen, unter anderem im Sport. Christina Marx ist verheiratet und hat drei Kinder. Hier gibt es weitere Informationen zum Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch. Auf der Seite kann auch die vollständige Studie als PDF heruntergeladen werden.
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