1709,54 Kilometer - ORF.at

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Katharina J. Ferner – Einreichung Bachmannpreis 2021

1709,54 Kilometer

Mir träumt: hundertsechzig Hektar Rennstrecke. Eine Treibjagd durch Schönbrunn. Die
Eichhörnchen bleiben vorsorglich auf den Bäumen. Eine paar Studentinnen haben einen
Fuchs gesichtet, in Laufschuhen machen sie sich auf den Weg. Die Kieselsteine spritzen in alle
Richtungen. Zooesel und Kutschpferde scharren nervös mit den Hufen. Ich sehe die Meute
von der Gloriette aus kommen, ein wilder Haufen, der so gar nicht in die idyllische Aussicht
passt. Es stimmt, ich habe den Fuchs im Labyrinth gesehen, werde ihn den Jägerinnen aber
sicher nicht verraten. Sie sind mit Wasserpistolen und Keschern bewaffnet und rücken stetig
näher. Der Weg auf den Hügel macht ihnen sichtlich zu schaffen. Keuchend kommen sie an,
ein Teil der Munition geht für die gegenseitige Abkühlung drauf. Der Fuchs wird leichtes Spiel
mit ihnen haben. Ob sie wissen, wie so ein Tier aussieht? Wie scheu es sich verhält, wenn es
von Menschen aufgestöbert wird? Von einer Studentin erfahre ich, dass dies nicht ihr erster
Ausflug ist. Das Programm ist Teil ihrer Ausbildung; ein Seminar, das die Studierenden dem
Leben in der Großstadtwildnis näherbringen soll. Tiere aufzuspüren ist eine ihrer Aufgaben.
Sie haben sich zuvor gegen Tollwut impfen lassen. Der Fuchs lässt sich selbstverständlich
nicht blicken. Es ist eine Kohlmeise, die letztlich dran glauben muss.

Mir träumt: siebzehn Hektar Meer. Wir sind in den Zoo eingebrochen, um in der Nacht
zwischen Quallen zu schwimmen. Unser ursprünglicher Plan, ans Meer zu fahren, ist wegen
der Reisebeschränkungen vertagt. An Neujahr hast du plötzlich keine Lust mehr zu warten.
Wir machen uns auf, die dunklen Schwimmanzüge unter den Mänteln verborgen. Du willst
auch Flossen einstecken, was ich zu auffällig finde. Wir rufen ein Taxi. Zum Zoo ist es nicht
weit, aber es gilt immer noch die Ausgangssperre. Wir lassen unsere Mäntel am Eingangstor
hängen und klettern über die Eisenstangen. Der Einbruch ist überraschend einfach. Wir sind
schon so oft hier gewesen, dass wir den Weg zum Aquarium auch im Finstern finden. Mit
Nasenklemmen und Schwimmbrillen ausgerüstet gleiten wir ins Wasser. Die fluoreszierenden
Tiere treiben wie Geister an uns vorbei. Du lachst und hustest Salzwasser. Ich schlage vor,
auch die Pinguine zu besuchen, wenn wir schon hier sind, aber du lehnst ab. Jedes Tier zu seiner
Zeit.

Mir träumt: viertausend Quadratmeter Baustelle. Das Haus des Meeres steht vor der
Insolvenz. Die Stadt will nicht länger für die Tierchen berappen und die Privatanleger suchen
neue Investmentprojekte. Die Tierfreundinnen bündeln noch einmal ihre Kräfte: Aus WG-
Zimmern werden Aquarien und Terrarien, aus den angekündigten Demonstrationen

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Spinnenbefreiungsaktionen. Die Stadt versucht, die Aufrührerischen zu besänftigen. Das
Museum im Treppenhaus soll erhalten bleiben, doch die Fische passen nicht so recht zur
Stadtgeschichte. Schließlich wird entschieden, die genießbaren am Naschmarkt anzubieten.
Auch Reptilien sind bei Gourmets durchaus gefragt, ergeben sie doch ein gepflegtes Mahl.

Mir träumt: hundertachtzig Liter Artenschutz. In meiner Badewanne wächst ein Korallenriff.
Ich schiebe den Schaum zur Seite, will in die Wanne steigen, doch ich finde keinen Platz, wie
sehr ich mich auch drehe und wende. Ich taste nach dem Stöpsel, um das Wasser auszulassen
und greife in einen Seeigel. Die Stacheln schmerzen. Ich bekomme sie nicht heraus, die Hand
entzündet sich, also ab ins Krankenhaus. Aha, im Urlaub gewesen?, fragt der Arzt spöttisch. Nein,
in der Badewanne, antworte ich genervt. Zuhause ist alles unverändert. Ich setze die
Schwimmbrille auf, verschaffe mir einen Überblick, ein Fischschwarm flitzt an mir vorbei. Bis
die Korallenbleiche einsetzt, werde ich die Gartendusche benutzen.

Mir träumt: sechsunddreißig Grad vier Minuten Atemluft. Du kommst per Eisscholle über
den Flugplatz geschlittert, an der Unterseite hast du Kufen befestigt. Ein Relikt aus einer
Gegend, die bald nicht mehr sein wird. Mit Schliff, rufst du begeistert. Eiskristalle rieseln auf
den Boden. Bis wir daheim angekommen sind, passt die Scholle in die Kühltruhe. Du weinst
ein bisschen. So schnell geht die Welt zugrunde. Ich hoffe, wir haben keinen Stromausfall. Im
Notfall können wir die Scholle an den Zoo spenden; es ist immerhin ein Original. Die
Bewohner der Arktisabteilung werden sich freuen. Der Großteil von ihnen hat wohl noch nie
echtes Eis gesehen, leben sie doch in künstlich angelegten Höhlen. Ich überlege gerade, ob
man die Scholle an eine größere Eisfläche andocken kann, der großen Schmelze quasi
entgegenwirken, als unsere Kühltruhe zu piepsen beginnt.

Mir träumt: tausendvierhundert Quadratmeter Rutschmatten. Auf dem Eislaufplatz dreht ein
waschechter Eisbär seine Runden. Ich vermute zuerst ein gelungenes Kostüm, bemerke aber
dann den ungewöhnlich grazilen Gang und die kufenlosen Füße. Der Eislaufverein reagiert
prompt und holt rasch die Kinder vom Eis. Einige weinen; sie können es nicht fassen, dass
ihnen dieses einmalige Erlebnis verwehrt wird. Mit einem echten Eisbären Schlittschuh laufen. Ich
bin am Eis geblieben, stelle aber einen allgemeinen Rückzug fest, auch von den Erwachsenen.
Ich überlege: Wäre es ein Stierkampf und ich eine Torera …, und verwerfe den Gedanken sofort.
Schließlich will ich den Bären weder reizen noch erlegen. Wahrscheinlich ist es am besten
abzuwarten, bis ihn jemand zurück in sein Territorium bringt. Ich wundere mich, wie der Bär
quer durch die Stadt marschieren konnte, ohne aufzufallen. Wie er den Platz gefunden hat. Da

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ruft mir jemand etwas zu: Die Betäubungspfeile wären bereit und ich befände mich in der
Schusslinie. Ich winke dem Bären zum Abschied und wünsche mir, er möge sich beim Fall auf
das Eis kein Schädel-Hirn-Trauma zuziehen.

Mir   träumt:   zweihundertachtzig    Zeichen   Zensur.     Mein     Twitteraccount      hat   sich
verselbstständigt und setzt nun kontinuierlich antifeministische Tweets ab. Endlich wieder am
Herd und Ich koche am liebsten nackt für meinen Mann oder Kindererziehung ist meine einzige
Leidenschaft und so weiter. Innerhalb kürzester Zeit habe ich zahlreiche Follower, vorwiegend
prominente Männer aus der Politik, die mich kennenlernen wollen. Ich müsse auch nicht
kochen, sie würden mich gerne in ein schickes Restaurant ausführen. Andere haben eine
private Köchin, ich könne mich also zurücklehnen, solle aber bitte die Kinder zu Hause lassen.
Verzweifelt versuche ich, die Tweetflut zu stoppen. Die Tasten blockieren. Ich flehe Siri an,
mich auszuloggen, aber sie ignoriert mich. Vielleicht behaupte ich einfach, mein Smartphone
wurde gestohlen. Der Gedanke beruhigt mich ungemein. Ich wickle das Ding in einen
Plastiksack und mache mich auf den Weg.

Mir träumt: fünfzig Zentimeter Wahnsinn. Ein Kater kratzt an meiner Wohnungstür. Ich kann
das Schaben erst nicht zuordnen, suche in der ganzen Wohnung nach der Ursache, da
vernehme ich ein leises Maunzen. Ich schaue durch den Spion, und da sitzt er, orange
gestreift. Ich frage mich, wie er ins Haus gekommen ist. Er trägt kein Halsband und seine
sonst wohl weißen Pfötchen sind voller Erde. Ich öffne die Türe einen Spalt, um zu sehen,
was er will. Er springt auf mich zu, wirft Erdklumpen auf meine Jogginghose und krallt sich
in mein Bein. Das Maunzen wird aufdringlicher, ich spüre, wie sich die Krallen durch den
Stoff bohren, und versuche, den Kater abzuwehren, indem ich wild das Bein schüttle. Er lässt
los, beißt mich aber gleich darauf in die Zehen. Wir rangeln. Die Begegnung endet mit
zerkratztem Gesicht und zerstörter Wohnung. So schnell, wie er gekommen ist, läuft der Kater
wieder zur Tür hinaus. Ich will die Nachbarinnen warnen, traue mich aber nicht auf den Gang.
Stattdessen wähle ich den Notruf.

Mir träumt: sieben Komma fünf Meter Streulicht. Ich bin eine Dompteuse. Während die
anderen Artisten in billigen Hotels absteigen, bleibe ich im Wohnwagen, um näher bei meinen
Gefährten zu sein. Die Löwin schafft es immer wieder, sich davonzuschleichen. Ihre Vorliebe,
in fremden Städten auf Erkundungstour zu gehen, bringt den Zirkus häufig ins Schwitzen.
Heute hingegen scheint sie ganz bei der Sache zu sein. Sie folgt mir gemächlich in die Manege,
wir spulen das übliche Programm ab. Ich verliere einige Wettrennen durch das Zirkuszelt und

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muss zur Strafe durch einen brennenden Reifen springen. Das Publikum lacht wie vorgesehen.
Es hat bereits vergessen, dass die Löwin jederzeit über mein Schicksal entscheiden kann, wenn
ihr danach ist. Das Elefantenbaby löscht schließlich den brennenden Reifen. Es will gar nicht
mehr mit dem Spritzen aufhören und macht uns alle nass.

Mir träumt: fünfundzwanzig Meter Nervenbahnen. Ich fahre mit dem Lift bis ins
Dachgeschoss. Das Licht ist ausgefallen, Grabkerzen leuchten mir den Weg. Es ist der erste
Abend unserer Lesereihe und du trägst die roten Stiefel, die ich so an dir mag, erwartest mich
voller Ungeduld. Ich habe mich im Lift verplaudert; deine Nachbarin hat mir ihre halbe
Lebensgeschichte erzählt. Stündest du nicht schon vor der Wohnungstür, sie wäre die fünf
Stockwerke mit mir wieder nach unten gefahren, um mir auch den Rest – Ich erinnere mich,
wie wir einmal einen Lift anhielten, um darin rumzumachen. Es war ein Paternoster mit
Glasfront, weswegen wir uns nicht trauten, uns vollkommen zu entblößen. Ich erinnere mich,
wie wir einmal in einer Gondel – aber du lässt mir keine Zeit für solche Schwelgereien, das
Publikum sitzt schon im Salon bereit.

Mir träumt: tausendvierhundertachtzig Meter Gipfelstürmer. Eine Wanderung durch das
Raurisertal. Du in Bergschuhen und ich in lockeren Sandalen. Ich beiße die Zähne zusammen,
die Brennnessel reichen mir bis über die Knie. Die Geräusche des Dorfes nehmen ab, je weiter
wir nach oben gelangen, werden abgelöst von Kuhglockengebimmel und plätschernden
Bächen. In einem davon kühle ich endlich meine Beine. Ich schöpfe mir etwas Wasser in den
Mund, dann gehen wir weiter, du voraus, immer auf deine Schritte bedacht, während ich
leichtfüßig über die Wurzeln hüpfe. Waldwege sind mein Spezialgebiet, Sandalen hin oder her.
Als wir schließlich über die Baumgrenze hinweg gestiegen sind, bietet sich uns eine seltsame
Aussicht: Im Tal schweben bunte Wolkenformationen, farbenfrohe Grimassen teilen den
Himmel. Du schlägst dir an die Stirn, wie hast du nur vergessen können. Die FFP2 hat heute
ihre Abschlussfeier, die Feuerwehrfrauen Pinzgaus. Die zweite Wahl allerdings, besser bekannt als:
Reserve.

Mir träumt: zweihundertfünfundneunzig Kilometer Gedankenspiele. Ich übernachte im Haus
deiner Frau im Gästezimmer. Wir begegnen uns erst am Morgen. Ich bin mit dem Zug hängen
geblieben und habe dich angerufen. Es war ein echter Notfall, die Hotels waren allesamt
geschlossen, nicht einmal das Orient wollte mich aufnehmen. Ich habe unruhig geschlafen, die
Situation war mir sehr unangenehm. Deine Frau und ich kannten einander bisher nicht,
reichten nur dich zwischen unseren Städten hin und her. Ihr besprecht Verträge beim

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Frühstück, die Autoreparatur und wer später zur Werkstatt fährt. Das werde ich mir merken:
Wie deiner Frau die Haare ins Gesicht fallen, deine zerkauten Fingerkuppen, den Vorraum mit
den säuberlich aufgereihten Plateauschuhen. Jeden Satz und ihre Stimme, die deinen Namen
mit einer beiläufigen Zärtlichkeit ausspricht, während ich stumm mein Frühstücksei löffle.

Mir träumt: sechsundvierzig Quadratmeter Lebensraum. Ich besichtige eine Wohnung im
Erdgeschoß meines Hauses. Es wäre praktisch, die Möbel einfach in den Lift zu stellen. Die
Wohnung ist etwas geräumiger als meine. Die Sängerin muss sie aufgrund eines längeren
Engagements im Ausland aufgeben. Sie hängt sichtlich an ihrem Zuhause und fängt in der
Küche an zu weinen, als der Vermieter in die Wohnung stürmt, um die letzte Miete zu
kassieren. Ah, wir kennen uns doch, Top zwölf, können Sie sich das denn überhaupt leisten, Einzug
nächsten Monat? Die Sängerin zuckt zusammen. Ich lasse mir nichts anmerken, antworte mit
ruhiger Stimme: mit zwei Jobs, das geht, verschweige aber, dass der Vertrag für den
einträglicheren der beiden Jobs noch fehlt. Ich bedanke mich höflich und verlasse mit ruhigen
Schritten die Wohnung. Draußen zittern mir die Beine, ich brauche dringend frische Luft.
Hinter der Tür höre ich die Sängerin wieder schluchzen. Ich bin mir plötzlich nicht mehr
sicher, ob das mit dem Engagement die ganze Wahrheit ist. Aber was kann ich schon machen.
Sechsundvierzig Quadratmeter sind eindeutig besser als vierunddreißig, irgendwie werde ich
das Geld schon zusammenkratzen.

Mir träumt: vierunddreißig Komma ein Kilometer Kapital. Ich sitze im Bus zum
Bundesrechnungshof. Die Presseabteilung hat eine Stelle ausgeschrieben. Überzeugen Sie uns mit
Konferenzqualitäten. Ich bin unsicher, ob ich im richtigen Bus sitze und steige an der nächsten
Haltestelle aus. Ich trete direkt in eine Lacke, die mir bis über die Knöchel reicht. Die Schuhe
schmatzen fortan bei jedem Schritt. Im nächsten Bus erklärt mir ein Kontrolleur den Weg so
ausführlich, dass ich beinahe den Ausstieg verpasse. Mit leicht verschmierter Schminke schaffe
ich es pünktlich auf die Sekunde. Ein Team wird mir zugeteilt, gemeinsam sollen wir eine
Präsentation vorbereiten. Fieberhaft überlege ich, wie ich die Konkurrenz bezwingen kann.
Aus den Schuhen tropft Wasser. Wir setzen uns in das angrenzende Café, um ungestört zu
sein, die Architektur erinnert mich an mein ehemaliges Schulgebäude. Drei Stockwerke an
Treppen, der Lift nur für Lehrende zugänglich, spiegelglatter Plastikboden. Gleich werde ich
mich in die Toilette einsperren und mich nicht mehr hervortrauen, das Gebäude erst verlassen,
wenn es ruhiger wird und eine Reinigungskraft mich hinter der verschlossenen Tür
hervorkehrt.

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Mir träumt: zweihundertsechsundzwanzig Kilometer Gummischlangen. Wir sind auf
Klassenreise. Das Hostel ist überbelegt und wir warten im Regen auf eine Lösung. Die Hälfte
von uns hat die Schirme vergessen. Wir drücken uns in die Einfahrt eines Möbelhauses. Die
Dame, die das Möbelhaus abschließt, bemerkt unsere Misere und bietet uns an, die Nacht hier
zu verbringen. Unter äußerster Diskretion, versteht sich. Wir dürfen uns je eines der Betten
aussuchen und testschlafen, am Morgen erwarte sie unsere Bewertung. Sie kichert. Wir sind
begeistert und starten sofort eine wilde Polsterschlacht, dass die Federn nur so fliegen.
Danach nehmen wir uns die Badezimmerabteilung vor, lassen Wasser in die großen Wannen
ein und springen von einem Pool in den nächsten. Die Spuren unserer nassen Füße führen
bald kreuz und quer über die flauschigen Teppiche der Wohnzimmerabteilung. Wir spielen
Verstecken in den Schränken. Einige schlafen dort ein, bevor sie gefunden werden. Es gibt
einfach zu viele Möglichkeiten.

Mir träumt: zwei Kilometer Pflastersteine. Ich gehe ins Debakel und bringe einen
Zeitungsartikel mit, um ihn dort an die Wand zu pinnen. Der Artikel ist aus der
Oberösterreichischen Volkszeitung, meine Oma hat ihn mir überreicht. Das schlagzeilenträchtige
Debakel ist ein verlorenes Handballturnier. Die Rieder Mannschaft hat die Schärdinger
ausgestochen und darf nun nach Wien fahren. Ich halte den Zeitungsartikel schützend vor
mich, als ich eintrete. Er wird umgehend auf Datum und Echtheit geprüft. Es kommen
immer wieder Menschen mit gefälschten Ausdrucken, erklärt man mir, und alles für ein
Gratisgetränk. Es gibt schon eine ordentliche Sammlung in der Bar und ein Hinterzimmer
voller Duplikate. Ich betrachte die Wand eingehend, aber die Oberösterreichische Volkszeitung
kann ich nirgendwo entdecken. Ich bekomme ein Bier und jemand aktiviert die Duftsensoren.
Innerhalb kürzester Zeit riecht es wie früher, als in dem Lokal noch geraucht wurde. Das ist
für's Gefühl, erklärt mir ein Gast. Sie haben sogar eine Nebelmaschine. Und tatsächlich, bald sitze ich
in dichten Schwaden und es fällt mir schwer, mein Gegenüber zu erkennen. Ich atme tief ein.
Der Effekt ist nicht derselbe, aber zumindest ein sanftes Kratzen im Hals spüre ich.

Mir träumt: zwei Komma fünf Meter österreichische Spezialitäten. Alle Wiener Kebabstände
verkaufen fortan Kärntner Kasnudeln. Die Bundesregierung spricht von einem Sinneswandel.
Kritiker munkeln von einem neuen Integrationsprogramm. Es bleibt jedoch ungeklärt, wer
oder was hier integriert werden soll. Viele meinen, das klassische Kebab liege einfach nicht
mehr im Trend. Die Ernährung werde regionaler und fleischlose Gerichte würden bevorzugt.
Es folgen zahlreiche Pressekonferenzen mit Kasnudelkonzepten. Bald riecht es in den Wiener
Straßen nach Nudelminze. Spaziergängerinnen berichten von einem neuen Gefühl der

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Leichtigkeit,   einer   angenehmen      Frischenote,    als    habe     soeben      jemand      eine
Taschentuchpackung geöffnet. Österreichs Hauptstadt gilt wieder einmal als Vorreiter.
Kärnten startet einen ambitionierten Exporthandel in die anderen Bundesländer, aber
nirgends ist die Dichte der Kasnudelverkäufer so groß wie in Wien. Und auch die
Mannerfabrik und die Ottakringer Brauerei versuchen sich an neuen Minzprodukten zur
Schaffung heimischer Qualitätsluft.

Mir träumt: einhunderteinundvierzig Kilometer Dünen. Ich beobachte eine Gruppe
Jugendlicher am Strand. Sie fahren mit Discorollern über den Sand, wirbeln in wilden Figuren
Staub auf. Dass so etwas möglich ist. Ich schnappe mir eines der herumliegenden Skateboards und
gleite dahin, als hätte ich nie etwas anderes getan. Mein Talent bleibt nicht unbemerkt, ein
Mädchen nickt mir anerkennend zu. Dosenbier und ein Krug Orangensaft werden in die
Runde gereicht. Als der Krug bei mir ankommt, greife ich ins Leere – er fällt zu Boden. Der
Sand dämpft den Aufprall nicht, es gibt eine Menge Scherben und Fruchtsaft klebt in meinen
Flipflops. Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis jemand die Splitter zusammenkehrt. Mir
wird bewusst, dass ich nur mit einem Morgenmantel bekleidet bin. Plötzlich habe ich das
Gefühl, mein Schamhaar blitzt darunter hervor. Es scheint niemandem aufzufallen, aber ich
fühle mich zunehmend unwohl mit den kehrenden Jungen zwischen meinen Füßen.

Hundertachtzig mal zweihundertzwanzig Zentimeter Nahaufnahme. Im Traum fängst du
mich. Ich wache auf, weil du mich so fest hältst. Dass ich fast in den Abgrund gestürzt wäre,
sagst du erschrocken und umarmst mich sogleich. Deine Augen sind offen. Du lächelst, Nun
können wir endlich die Aussicht genießen, streifst mir Schnee aus dem Haar. Ich soll doch endlich
meine Haube aufsetzen, es sei viel zu kalt hier. Ich ziehe mir einen Polsterbezug über den
Kopf. Das stellt dich einigermaßen zufrieden. Du zupfst noch ein wenig an mir herum, dann
schläfst du weiter.

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