2.1. Chancen für Friedensverhandlungen in

Die Seite wird erstellt Till Keßler
 
WEITER LESEN
2.1. Chancen für Friedensverhandlungen in
     Afghanistan?
      Nicole Birtsch

Die Erkenntnis, dass die Taliban militärisch nicht zu besiegen sind und es
einer politischen Lösung in Afghanistan bedarf, ist international weitgehend
unumstritten; im Land ist das Bild widersprüchlich. Für eine politische Lö-
sung braucht es den politischen Willen innerhalb der afghanischen Regierung
und Machtelite, eine starke verhandlungsbereite Fraktion innerhalb der Tali-
ban, von der Führung bis zur Basis, und nicht zuletzt die Unterstützung oder
zumindest Nichteinmischung der regionalen Akteure und der Staatengemein-
schaft. Während die bisherigen Initiativen der afghanischen Regierung über-
wiegend darauf abzielten, friedensbereiten Taliban eine Rückkehr in ein nor-
males Leben zu ermöglichen, würden in Friedensgesprächen wahrscheinlich
,,harte" Themen wie Machtbeteiligung zur Verhandlung stehen, die u.U. die
Verfassung und die Regierung selbst infrage stellen könnten. Ein Beispiel ist
das Friedensabkommen vom September 2016 mit Hizb-e-Islami, das ihrem
Führer Gulbuddin Hekmatyar Amnestie und politische Rehabilitation gewährt.
Die Taliban sind offiziell bisher nicht bereit zu verhandeln, aber sie halten sich
Optionen für eine politische Lösung offen und versuchen, sich zunehmend als
international anerkannter Akteur zu legitimieren.

Reintegration ohne politische Verhandlungen
2009 hatte der damalige Präsident Hamid Karzai bei seiner Amtsantrittsrede
zur nationalen Versöhnung aufgerufen. Gleichzeitig entschied US-Präsident
Barack Obama, die Truppen in Afghanistan kurzfristig um 30.000 Soldaten
aufzustocken, um die Taliban signifikant zu schwächen und die afghanischen
Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, die Verantwortung für die Sicher-
heit in Afghanistan zu übernehmen. Die Truppenverstärkung war eingebettet
in eine Counterinsurgency Strategy (COIN) mit dem Ziel, Aufstandsführer zu
verfolgen, Aufstandsinfrastruktur zu zerstören und eine legitime Regierung zu
etablieren. In diesem Kontext wurde 2010 der Hohe Friedensrat gegründet und
das Afghan Peace and Reintegration Programme, ein Reintegrationsprogramm
für Kämpfer der unteren Ränge, in die Wege geleitet (vgl. Friedensgutachten
2010, Beitrag 1.1.). Es sollte ihnen ermöglichen, die Waffen niederzulegen,
sich registrieren zu lassen und ohne Sorge, von Sicherheitskräften verfolgt zu
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

werden, zu ihren Familien zurückzukehren. Bis zum dritten Quartal 2015 gab
es 10.578 Reintegrees, 1 die in der Regel zumindest einen Teil ihrer Waffen
abgegeben haben, biometrisch erfasst wurden und finanzielle Eingliederungs-
hilfe erhielten. Die Zahlen sagen aber nichts darüber aus, wie viele Reintegrees
sich später wieder den Taliban oder anderen Milizen anschlossen oder ob sie
alternative Möglichkeiten fanden, ihre Familien zu ernähren. Zwei wesentliche
Komponenten des Programms, die auf die Lösung von Konfliktursachen (Grie-
vance Resolution) und Deradikalisierung (Disengagement) abzielten, wurden
jedoch nicht umgesetzt. Ein Hauptgrund lag vermutlich darin, dass eine Aus-
einandersetzung mit einigen der Faktoren, die zur Mobilisierung von Taliban
führen, wie die als korrupt und nicht legitim angesehene Regierung, die Prä-
senz internationaler Truppen und der Verlust von Angehörigen durch Kampf-
handlungen der afghanischen oder internationalen Sicherheitskräfte, 2 die Re-
gierung an sich infrage stellen könnte.
     Die Aufgabe des Hohen Friedensrates, auf nationaler Ebene Konsens für
Friedensverhandlungen rnit bewaffneten Oppositionsgruppen herbeizuführen,
ist bisher nicht gelungen. Weder in der Regierung noch in der sie umgebenden
Machtelite herrscht Einigkeit darüber, ob die Taliban weiter bekämpft werden
sollen oder ob rnit ihnen verhandelt werden soll. Der Hohe Friedensrat selbst
ist in der Bevölkerung nach wie vor umstritten. Zum einen verzeichnet er kei-
ne wesentlichen Erfolge, zum anderen werden viele seiner Mitglieder, die als
Mudschaheddin oder als Taliban gekämpft haben, rnit Krieg und Kriegsver-
brechen in Verbindung gebracht und sind keine Vorbilder für Versöhnung und
Frieden.
     Nach wie vor nennt die afghanische Regierung vier grundlegende Bedin-
gungen für Friedensverhandlungen: Abschwören von Gewalt, Distanzierung
von terroristischen Gruppen, Anerkennung der Verfassung und Akzeptanz der
erreichten Entwicklungen seit 2001 einschließlich der Menschen- und Frauen-
rechte. Die Regierung verwendet diese vier Aspekte inkonsistent, mal als Vor-
bedingungen, mal als Verhandlungsziele. Das spiegelt ihr Friedensverständnis
wider: Die Taliban erhalten die Möglichkeit, in ein normales Leben zurückzu-
kehren, wenn sie die genannten Bedingungen akzeptieren. Es geht dabei nicht
um eine Verhandlungslösung im Sinne der Auseinandersetzung rnit den An-
liegen der Taliban, sondern um ihre Entwaffnung und Eingliederung in das
bestehende politische System.
    Afghanistan Peace and Reintegration Programme: 2015 Third Quarter Project Progress
    Report. United Nations Development Programme, S. 6, https://tinyurl.com/loxral8.
2   Afghanistan Justice Organization: Drivers of Radicalization to Violent Extrernism in Af-
    ghanistan - A Survey of Taliban Inmates, https://tinyurl.com/mkqr556.

                                                                                       135
NICOLE BIRTSCH

Politische Verhandlungsansätze
 Auch die seit November 2014 amtierende Nationale Einheitsregierung hat
 Friedensgespräche mit den Taliban als Priorität ihrer Regierungsagenda ge-
 setzt. Sie versucht zum einen Gesprächskanäle mit der Talibanführung zu öff-
 nen und zum anderen Afghanistan durch Infrastruktur- und Energieabkommen
 stärker in der Region zu vernetzen, um dadurch ein pragmatisches Interesse der
Region an einem stabilen Afghanistan zu erzeugen. Die Staatengemeinschaft
 unterstützt diese Bemühungen und sieht in einem von Afghanistan geführten
und verantworteten Friedensprozess den einzigen Weg für eine politische Lö-
sung des gewaltsamen Konfliktes zwischen den Taliban und der Regierung.
Außenpolitisch hat Präsident Ashraf Ghani eine Annäherung an Pakistan an-
gestrebt mit dem Ziel, dass das Nachbarland seinen Einfluss auf die afghani-
schen Taliban dazu nutzt, sie durch Anreize und Sanktionen an den Verhand-
lungstisch zu bringen. Die pakistanische Regierung hat zwar signalisiert, einen
gewissen Einfluss auf die Taliban ausüben zu können, es ist aber nicht klar,
wie groß dieser Einfluss wirklich ist und in welcher Rolle Pakistan Friedens-
verhandlungen unterstützen würde.
     Im Sommer 2015 fand ein erstes offizielles Treffen zwischen Vertretern
der afghanischen Regierung und Pakistan-nahen Taliban in Murree (Pakistan)
statt, das bisher einzige. Teilnehmer und internationale Beobachter bewerteten
das Treffen als einen ersten Schritt, um Vertrauen zu bilden und die kritischen
zur Verhandlung stehenden Punkte herauszuarbeiten. Zu einem geplanten Fol-
getreffen ist es nicht mehr gekommen, da kurz vorher bekannt wurde, dass
das legendäre Talibanoberhaupt, Mullah Omar, schon seit 2013 tot ist. Der Er-
nennung seines Nachfolgers Mullah Mansour, der seit 2010 als Mullah Omars
Vertreter die Taliban faktisch geführt hatte, folgten interne Machtkämpfe in-
nerhalb der Taliban. Mit der Zunahme von Anschlägen und der kurzzeitigen
Einnahme von Kundus im Herbst 2015 durch die Taliban sank eine zumindest
geringe Hoffnung auf eine baldige politische Lösung. Die Regierung reagierte
mit verschärfter Kampfandrohung gegenüber den Taliban und Anschuldigun-
gen, dass Pakistan weiterhin die Taliban unterstütze und damit jegliche Frie-
densbemühungen verhindere.
     Die Gründung der quadrilateralen Koordinierungsgruppe, bestehend aus
Afghanistan, Pakistan, China und den USA, war Anfang 2016 ein erneuter
Versuch, die Taliban zu Gesprächen zu bewegen. Sie sollte auch die Koopera-
tion zwischen diesen Ländern stärken, um Friedensgespräche zu ermöglichen.
Dazu zählten sowohl praktische Maßnahmen wie die Gewährung einer siche-
ren An- und Rückreise für gesprächsbereite Taliban wie auch eine taktische

136
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

Kooperation bei der Bekämpfung von Talibanführern und militanten Gruppen,
die keine Gesprächsbereitschaft zeigten. Als die Gruppe einseitig ein erstes
Treffen ankündigte, reagierten die Taliban verärgert über eine Formulierung,
derzufolge die Taliban unter Einfluss von Pakistan stünden. Das Treffen fand
nicht statt. Die Taliban kündeten ihre Frühjahrsoffensive „Omari" an und ver-
übten im April in Kabul einen Anschlag, bei dem mehr als 400 Menschen
getötet oder verletzt wurden. 3 Die afghanische Regierung reagierte darauf mit
zunehmend schärferer Rhetorik und Präsident Ghani drohte, diejenigen Tali-
banführer zu verfolgen, die nicht zu Friedensgesprächen bereit seien. Der qua-
drilaterale Prozess endete mit der Tötung von Mullah Mansour am 21. Mai
2016 durch eine US-Drohne in der pakistanischen Provinz Beluchistan. Er
habe, so der damalige US-Präsident Barack Obama, Friedensgesprächen im
Wege gestanden. Obama folgte mit seiner Freigabe des gezielten Angriffs auf
Mullah Mansour der militärischen Logik, den Gegner zu schwächen und zu
fragmentieren. Aus einer Verhandlungsperspektive hingegen besteht das Risi-
ko, dass eine zunehmende Zersplitterung des Gegners Friedensgespräche eher
erschwert. Die Drohnenangriffe tragen zudem nicht dazu bei, die Regierung
als verlässlichen Verhandlungspartner zu positionieren. Außerdem liegt in der
Phase von Vorgesprächen eine Herausforderung darin, denjenigen Talibanfüh-
rern, die eine Verhandlungsbereitschaft abwägen, glaubwürdig zu vermitteln,
dass die afghanische Regierung den Willen und auch die Autorität hat, Sicher-
heit für die Teilnehmer von (Vor-)Verhandlungen zu garantieren.

Friedensabkommen mit Gulbuddin Hekmatyar
Das Friedensabkommen mit Gulbuddin Hekmatyar und seiner islamistischen
Partei Hizb-e-lslami, das am 22. September 2016 unterzeichnet wurde, wer-
ten die afghanische Regierung und die Staatengemeinschaft als einen Schritt
in Richtung Frieden. Dabei spielt Hizb-e-lslami militärisch keine wesentli-
che Rolle im Kampf gegen die afghanische Regierung und die internationalen
Truppen. Aber die Regierung sendet mit dem Abkommen zwei Botschaften an
die Taliban, die sie zu Verhandlungen motivieren sollen: Erstens wird mit Hek-
matyar ein berüchtigter Gewaltakteur rehabilitiert und politisch integriert, und
zweitens wurden die Verhandlungen von Afghanen in Afghanistan geführt.
    Die Verhandlungen wurden dadurch möglich, dass Hekmatyar seine lang-
jährige Forderung nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen
nicht mehr als Vorbedingung, sondern als Ergebnis von Verhandlungen ge-
3   Afghanistan attack: Kabul suicide blast deaths rise to 64, BBC news, 20.4.2016, https:
    //tinyurl.com/l6h4y3r.

                                                                                     137
NICOLE BIRTSCH

 nannt hat. Sein Interesse an einem Abkommen lag darin, dass die gegen ihn
 verhängten Sanktionen aufgehoben werden und er wieder in den Kreis der
 ehemaligen Mudschaheddinführer, die Afghanistans Politik bestimmen, zu-
 rückkehren und mit seiner Partei die politische Arena bespielen kann. In dem
 Abkommen verpflichten sich Hekmatyar und Hizb-e-Islami, den bewaffneten
 Kampf aufzugeben, Gefangene freizulassen, die Verfassung anzuerkennen und
 ihre Verbindungen zu terroristischen Gruppen zu lösen. Die afghanische Re-
 gierung verpflichtet sich im Gegenzug, Immunität zu gewähren und sich dafür
einzusetzen, dass die gegen Hekmatyar verhängten internationalen Sanktionen
aufgehoben werden. Ein weiterer Kernpunkt des Abkommens ist die Rück-
kehr Hekmatyars und seiner Anhänger, etwa 20.000 Familien, nach Afgha-
nistan. Sie sollen bei der Rückkehr und Integration finanziell unterstützt wer-
den. Hizb-e-Islami Mitglieder erhalten die Möglichkeit, den afghanischen Si-
cherheitskräften beizutreten. Außerdem soll Hizb-e-Islami an der Wahlreform
mitwirken und Kandidaten für Wahlen nominieren können. Hekmatyar wird
zugesichert, dass er gesellschaftlich rehabilitiert und bei wichtigen Staatsent-
scheidungen konsultiert wird. Die UN-Sanktionen gegen Hekrnatyar sind am
3. Februar 2017 aufgehoben worden. Seine Rückkehr wird die Partei Hizb-
e-Islami und damit die islamistischen Kräfte in der Regierung stärken und
das fragile politische Gefüge in Afghanistan beeinflussen. Seine politischen
Widersacher befürchten, dass eine geeinte Hizb-e-Islami unter Hekmatyar die
stärkste Partei werden könnte.
     Regierungsmitarbeiter üben aber auch Kritik an den Zugeständnissen der
Regierung, vor allem daran, dass Hekmatyar rehabilitiert wird, ohne für Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die
afghanische Regierung hat bereits im Jahr 2007 ein Amnestiegesetz verab-
schiedet. Es gewährt nicht nur rückwirkend Amnestie wie für die in Kriegs-
verbrechen verwickelten Mudschaheddinführer und Warlords, die wie der Vi-
zepräsident Abdul Raschid Dostum immer noch an der Macht sind. Es ist auch
anwendbar auf noch in bewaffneter Opposition stehende Individuen und Grup-
pen, die bereit sind, sich einem nationalen Versöhnungsprozess anzuschließen,
und würde auch in Verhandlungen mit den Taliban zur Anwendung kommen
können.
     Eine unmittelbare Auswirkung des Abkommens auf die Verhandlungsbe-
reitschaft der Taliban ist nicht zu erwarten. Denn ein wesentlicher Unterschied
zwischen den beiden Gruppierungen besteht darin, dass Hizb-e-Islami schon
seit Jahren das Ziel verfolgt hat, am politischen System teilzuhaben, und Mit-
glieder des nicht-militärischen Flügels in Regierungspositionen gebracht hat.
Die Taliban dagegen stellen die Legitimität der Regierung und der Verfassung

138
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

infrage. 4 Sie werden eher eine direkte Machtbeteiligung durch Verhandlungen
oder eine Interimsregierung anstreben, als sich über „Wahllisten" für politische
Teilhabe zu legitimieren.

Ausgangssituation für eine politische Lösung
In der Analyse von Friedensprozessen wird oft die Frage gestellt, wann und
unter welchen Bedingungen Konfliktparteien zu Verhandlungen bereit seien.
Eine Situation, in der die Konfliktparteien kaum einen Weg sehen militärisch
zu gewinnen bzw. befürchten müssen, ihre Position, die zu halten mit hohen
moralischen oder materiellen Kosten verbunden ist, zu schwächen, wird in An-
lehnung an William I. Zartmans Konzept des mutually hurting stalemate als
eine mögliche Ausgangssituation für Verhandlungen bezeichnet. 5 Die Wahr-
nehmung und Beurteilung der Konfliktparteien entscheiden darüber, ob eine
solche Situation vorliegt. Ein hurting stalemate führt an sich noch nicht zu Ver-
handlungen. Sondern es ist als weiterer Faktor wichtig, dass sich die beteiligten
Konfliktparteien eine Verhandlungslösung als Ausweg vorstellen können oder
es sogar in ihrem Interesse liegt.
     Während die afghanische Regierung sich darauf konzentriert, den Status
quo zu bewahren und zu verhindern, dass die Taliban Provinzhauptstädte ein-
nehmen, sind die Taliban bestrebt, ihren Einflussbereich auf dem Land aus-
zuweiten und zu festigen. Das kann sich in den nächsten Jahren auf hohem
Gewaltniveau fortsetzen und zu einer weiteren Vertiefung des Stadt-Land-
Gegensatzes führen. Aber unter den gegebenen Umständen kann die Regie-
rung die Taliban nicht besiegen und diese werden umgekehrt Afghanistan mi-
litärisch nicht einnehmen können. Dies könnte als strategischer Stillstand be-
schrieben werden und möglicherweise über kurz oder lang eine Ausgangsbasis
für eine politische Lösung bilden.
     Aktuell greifen sowohl der Sprecher der Taliban als auch US-General Ni-
cholsen, der derzeitige Kommandeur der Mission Resolute Support und Be-
fehlshaber der US-Truppen in Afghanistan, den Begriff Stalemate auf, um die
militärische Lage zu beschreiben und Forderungen abzuleiten: Während der
Sprecher der Taliban in einem offenen Brief an Präsident Trump auf eine sich
für die amerikanischen Streitkräfte verschlechternde Stalemate-Situation ver-
weist und Präsident Trump auffordert, die amerikanischen Truppen abzuzie-
4   Borham Osman: Peace with Hekmatyar: What does it mean for battlefield and politics?, in:
    Afghan Analyst Network, 29.9.2016.
5   I. William Zartman und Alvaro de Soto: Timing Mediation Initiatives. United States Insti-
    tute of Peace, Washington, D.C. 2010, S. 5f.

                                                                                        139
NICOLE BIRTSCH

hen, 6 spricht General Nicholson von einem Stalemate zugunsten der Regie-
rung 7 und bittet den Kongress um mehrere Tausend zusätzliche Soldaten, um
die afghanischen Sicherheitskräfte nicht nur im Hauptquartier, sondern auch
im Feld zu beraten und zu trainieren. 8 Vermutlich werden die afghanischen
Sicherheitskräfte auch mit diesen zusätzlich geforderten internationalen Sol-
daten das Kräfteverhältnis nicht zu ihren Gunsten verändern können.
     Auch wenn die Taliban voraussichtlich mit militärischen Mitteln nicht die
Macht erringen können, haben sie sich eine starke Position erkämpft und es
stellt sich die Frage, was sie zu Verhandlungen bewegen könnte. Dabei könnte
eine Rolle spielen, wie nachhaltig die finanziellen und menschlichen Ressour-
cen sind, die sie benötigen, um ihre Position auszubauen und zu festigen, wie
sich die innere Struktur der Bewegung entwickeln wird und welche Verhand-
lungsoptionen sich dann ergeben.

Einflusssphären der Taliban
Laut dem aktuellen Vierteljahresbericht des US-amerikanischen Spezialin-
spekteurs für den Wiederaufbau in Afghanistan (SIGAR) standen Mitte No-
vember 2016 233 der 407 Bezirke des Landes unter der Kontrolle oder dem
Einfluss der afghanischen Regierung. 41 Bezirke seien in der Hand der Tali-
ban und 133 Bezirke umkämpft gewesen. 9 In den umkämpften Gebieten leben
dem Bericht zufolge etwa 9,2 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevölke-
rung von ca. 32 Millionen. 640.000 Menschen sind im Jahr 2016 aufgrund
des Konfliktes innerhalb des Landes geflohen. Die Taliban kontrollieren Teile
des ländlichen Raumes, während die Regierung sich auf die Verteidigung und
den Schutz der Hauptverkehrsachsen und der urbanen Zentren konzentriert, wo
die Mehrheit der Bevölkerung lebt und die Binnenflüchtlinge Schutz suchen.
Die Taliban haben militärisch zwar nicht das von ihnen angekündigte Ziel er-
reicht, Provinzhauptstädte zumindest zeitweise unter ihre Kontrolle zu brin-
gen. Aber sie infiltrieren zunehmend urbane Zentren und unterhalten Schatten-
regierungen auf Provinz- und Bezirksebene inklusive Besteuerung und Recht-
sprechung. Trotz neuer Taktiken, wie dem Einsatz von „Spezialkräften", und
6     Open letter by Spokesman of Islamic Emirate to the American President Donald Trump,
      25.1.2017, https://tinyurl.com/17g5ogm.
7     Statement for the record by General John W. Nicholson Commander U.S. Forces - Af-
      ghanistan before the senate armed services comrnittee on the situation in Afghanistan,
      9.2.2017, S. 2.
8     Michael R. Gordon: U.S . General Seeks ,a Few Thousand' More Troops in Afghanistan,
      in: New York Times, 9.2.2017, https://tinyurl.com/me24jd5.
9     SIGAR Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction. Quarterly Report to the
      United States Congress, 31.1.2017, S. 89ff.

140
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

besserer Ausrüstung haben die Taliban, deren Zahl auf ca. 30.000 geschätzt
wird, hohe personelle Verluste zu beklagen. In einigen Regionen sind sie in
Kämpfen gegen die regionale IS-Organisation ISIL-K (lslamic State in Iraq
and the Levant-Khorasan Province) gebunden, die seit 2015 in Afghanistan
aktiv ist. Das Kerngebiet des ISIL-K liegt im Osten des Landes. Er setzt sich
u.a. zusammen aus Überläufern von den Taliban, internationalen Kämpfern,
aber auch aus jungen Afghanen, die von dem globalen Charakter der Bewe-
gung fasziniert sind. Ihre Zahl wird auf 2.000 geschätzt. In der Fläche ist der
ISIL-K nicht stark vertreten, aber er kann auf Netzwerke zurückgreifen, um
Angriffe in Kabul durchzuführen, wie z.B. auf eine schiitische Moschee oder
eine von vielen Schiiten besuchte Demonstration im Juli 2016 mit mindestens
80 Todesopfern. 10
     Zu den Haupteinnahmequellen der Taliban zählen nach wie vor Drogen-
handel, Schutzgelder, illegaler Abbau von Lapislazuli, individuelle Spenden
z.B. aus den Golfstaaten und Besteuerung von Ernte und Vermögen. Mul-
lah Mansour hatte außerdem den lokalen Talibangruppen mehr Kompetenz
zugesprochen, lokale Einnahmequellen zu erschließen und für ihre eigene Fi-
nanzierung zu nutzen. Lokale Finanzierungsmodelle machen die Talibanbewe-
gung unabhängiger von internationalen Spendengeldern, um die sie mit ande-
ren militanten Gruppen konkurrieren, tragen zu einer nachhaltigeren Finanzie-
rung bei und ermöglichen den lokalen Kommandeuren mehr Entscheidungs-
freiheit. 11
     Die Taliban weiten ihren Einfluss auch durch lokale Regierungsführung
und Rechtsprechung in den von ihnen kontrollierten Gebieten aus und sind be-
müht, ihr Ansehen in der Bevölkerung zu stärken. Wie stark ihr Rückhalt in der
Bevölkerung ist, ist schwierig einzuschätzen. Während die Taliban sich selbst
als in der Gesellschaft verankerte militärisch-politische Bewegung bezeichnen,
hat in der Bevölkerung die Sympathie für bewaffnete Oppositionsgruppen ste-
tig abgenommen. Die StudieA Survey ofthe Afghan People verzeichnet in ihrer
Umfrage einen Rückgang von 27,5 (2015) auf 16,7 Prozent im Jahr 2016. Als
Grund für den Kampf sehen die Befragten zunehmend ein Ringen um Macht. 12
Die Taliban üben Druck und Gewalt aus, bieten aber z.B. durch ein eigenes lo-
kales Gerichtswesen Alternativen zum Rechtssystem der Regierung, das von
der Bevölkerung als korrupt oder ineffektiv kritisiert wird. Ein weiterer Faktor,
der die Taliban moralisch aufwerten kann, ist ihr Kampf gegen die lokale IS-
10 ISIS Claims Deadly Bombing at Demonstration in Kabul, Afghanistan, in: New York Ti-
   rnes, 23.7.2016, https://tinyurl.corn/lm3h3ve.
11 Taliban Tap New Income Stream: Collecting Bills for Afghan Utilities, in: The New York
   Times, 29.1.2017.
12 A survey of the Afghan People: Afghanistan in 2016, The Asia Foundation 2016, S. 51f.

                                                                                    141
NICOLE BIRTSCH

Organisation und ihre explizite Distanzierung von ISIL-K-Angriffen auf die
schiitische Minderheit in Afghanistan.
     Während die militärische Position der Taliban nach außen für ihre Stärke
spricht, offenbart ein Blick ins Innere ein nuancierteres Bild. Einern Bericht
von Farrel und Semple zufolge, die im November 2016 intensive Gespräche
mit sieben gut vernetzten Talibanmitgliedern führten, haben die Taliban ih-
re Position mit hohen Verlusten erkämpft, doch profitieren davon nicht alle
gleichermaßen. Zudem fehle seit Mullah Omars Tod die spirituelle Führung
und nicht wenige Taliban hätten ihre Orientierung und ihren Glauben an den
bewaffneten Kampf mit seinen vielen zivilen Opfern verloren. 13 Der Bericht
führt weiter aus, dass Mitglieder der Taliban mit Mullah Haibatullah unzufrie-
den sind, der nicht in der Lage sei, eine Vision und Strategie für die Bewegung
zu entwickeln. Das, zusammen mit der Einschätzung, trotz taktischer Erfolge
nicht siegen zu können, erhöhe in der Talibanbasis die Bereitschaft, eine andere
Richtung einzuschlagen. Dies aber nicht unter Führung von Mullah Haibatul-
lah, sondern auf Basis einer breiten Koalition von Taliban, die zu politischen
Verhandlungen bereit sind. 14

Rahmenbedingungen und Anzeichen für Verhandlungen
Bisher hat die neue Talibanführung unter dem religiösen Rechtsgelehrten Mul-
lah Haibatullah Akhundzada und seinen Stellvertretern, Mullah Mohammad
Yaqub, Sohn von Mullah Omar, und Sirajuddin Haqqani, dem Oberhaupt des
für viele Anschläge in Kabul verantwortlichen Haqqani-Netzwerkes, keine
Verhandlungsbereitschaft bekundet. Aber es finden inoffizielle Treffen zwi-
schen Vertretern der afghanischen Regierung und der Taliban statt. 15 Dabei
handelt es sich nicht um politische Verhandlungen, sondern um Gespräche
über Gespräche. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, ob auch die Regie-
rung bereit ist, mit den Taliban eine politische Lösung zu verhandeln. 16 Prä-
sident Ghanis Bemühen um Friedensgespräche mit den Taliban ist in Afgha-
nistans Machtelite, die um ihren politischen Einfluss fürchtet, umstritten. Z.B.
favorisieren einige Mitglieder der Nordallianz, die während des Talibanregi-
mes und 2001 zusammen mit den internationalen Truppen gegen die Taliban
13 Theo Farre! and Michael Semple: Ready for Peace? The Afghan Taliban after a Decade of
   War. Briefing Paper, Royal United Services Institute, January 2017, S. 9f.
14 Ebd., S. 11.
15 Taliban facing financial crises as civilian deaths deter donors, in: The Guardian,
   29.11.2016.
16 Ebd.

142
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

gekämpft haben, nach wie vor eine militärische Lösung. Außerdem macht es
innenpolitisches Machtgerangel der beiden Regierungslager nahezu unmög-
lich, verbindliche Absprachen zu treffen und nationale Strategien umzusetzen.
Die Unterzeichnung des Abkommens mit Hizb-e-Islami z.B. verzögerte sich,
da sich Abdullah Abdullah in seiner Position als Chief Executive nicht ange-
messen in den Aushandlungsprozess einbezogen gefühlt hatte und zudem das
Erstarken der Hizb-e-Islami als politische Konkurrenz fürchtete.
    Über informelle Mittler signalisiert die Talibanführung, dass Gespräche
denkbar wären, betont aber, dass für sie nicht infrage kommt, direkte Verhand-
lungen mit der Regierung zu führen. Sie bezeichnet die Regierung als korrupt
und stellt ihre Legitimität infrage, da die Verfassung vom Westen vorgege-
ben wurde und die Regierung als Marionette der USA nicht unabhängig ent-
scheiden könne. Das Ziel der Taliban ist es, wieder an die Macht zu kommen.
Konkret fordern sie die Aufhebung von Sanktionen und die Freilassung von
Gefangenen im Vorfeld von Verhandlungen als vertrauensbildende Maßnah-
men. Die Talibanführung bezeichnet die internationalen Truppen als wesentli-
chen Grund für den anhaltenden Konflikt und hat US-Präsident Donald Trump
aufgefordert, seine Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Diese Forderung ist
ähnlich wie die Bedingungen der Regierung zugleich als Positionierung und
als Verhandlungsziel zu verstehen.
    Ein Truppenabzug der Staatengemeinschaft in der jetzigen Situation wür-
de den Taliban wahrscheinlich nur kurzfristige taktische Gewinne bringen. Sie
könnten zwar vermutlich ihren Kontrollbereich ausweiten, aber es besteht auch
das Risiko weiterer Zersplitterung, wenn sie nicht mehr durch ein gemeinsa-
mes Feindbild zusammengehalten werden, sondern gegeneinander um Res-
sourcen und Einfluss kämpfen. Das würde sowohl den Aktionsraum für ande-
re in Afghanistan aktive militante Gruppen wie den ISIL-K öffnen als auch
zu einer möglicherweise unkontrollierten Mobilisierung von regierungsnahen
Milizen führen.

Taliban als politischer Akteur
International etablieren sich die Taliban durch die Diskussion über Friedens-
verhandlungen zunehmend als politischer Akteur. Über ihr politisches Büro in
Doha unterhalten sie Kontakte mit Diplomaten und internationalen Organisa-
tionen und speisen ihre Positionen in den internationalen Diskurs ein. In einem
Kommentar auf der Webseite des Islamischen Emirats vom März 2017 beton-
te der Autor, dass das Doha-Büro von der Talibanführung autorisiert sei, nach
einer politischen Lösung zu streben und er forderte, dass es jetzt die Verant-

                                                                           143
NICOLE BIRTSCH

wortung der jeweiligen Seiten sei, das Umfeld für eine friedliche Lösung zu
schaffen. 17 Er führte allerdings nicht weiter aus, wie dieses Umfeld beschaffen
sein muss oder in welchem Format Gespräche denkbar wären.
     Anderen Berichten zufolge wird in der Talibanführung über einen inneraf-
ghanischen Dialog diskutiert, 18 der über Verhandlungen zwischen Regierung
und Talibanvertretem hinausgeht und u.a. Oppositionspolitiker und Stammes-
führer einschließen soll. In diesem Format würden die teilnehmenden Partei-
en traditionell als Gleiche unter Gleichen die Bedingungen für Waffenstill-
standsabkommen und Machtteilung aushandeln. Die Anreiz-durch-Drohung-
Rhetorik der Regierung ermöglichte es der Talibanführung aber bisher nicht,
sich in diesem Sinne auf Augenhöhe als nationaler Akteur und unabhängiger
Verhandlungspartner zu positionieren.
     Die internationale Pugwash-Bewegung hat mehrere Konferenzen organi-
siert, an denen Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft und der Taliban
teilgenommen haben. Ihr Generalsekretär beschreibt als konkretes Ergebnis,
dass die Talibanvertreter, die an den Gesprächen teilgenommen haben, einen
politischen Weg zumindest in Betracht zögen und nicht mehr eine Vormacht-
stellung, sondern eine Machtbeteiligung anstrebten. 19 Die Teilnehmer empfah-
len mehr Austausch zwischen Bevölkerung, Regierung und verhandlungsbe-
reiten Taliban. Aus den Konferenzen und anschließenden Konsultationen mit
Talibanvertretern ist ein Dokument entstanden, das Themen aufgreift, die in ei-
nem möglichen Friedensabkommen relevant sein können: die Aufhebung von
Sanktionen, den Abzug der internationalen Truppen, das Monitoring von Waf-
fenstillstandsabkommen, eine mögliche Verfassungsänderung, Dezentralisie-
rung und Absprachen darüber, wie die jeweiligen Einflussgebiete der Taliban
und der Regierung in einer Übergangszeit verwaltet werden. 20 Die afghanische
Regierung steht diesen Initiativen kritisch gegenüber, weil sie die Taliban als
politischen Akteur legitimieren und die Regierung keine Kontrolle über den
Prozess hat.

17 Stance of the lslamic Emirate Regarding Real Peace, Weekly Comment, 10.3.2017, https:
   //tinyurl .com/lefokvz.
18 Hintergrundgespräche der Autorin mit ehemaligen Taliban und Mudschaheddinführem im
   September (Kabul) 2016.
19 Paneldiskussion mit Paolo Cotta-Ramusino, Generalsekretär der Pugwash Conferences on
   Science and World Affairs, 18.3.2017, Berlin.
20 Some points conceming a possible agreement for the Afghan peace process. Pugwash Con-
   ferences on Science and World Affairs, https://tinyurl.com/ldjzouz.

144
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

Wünsche nach Sicherheit und Vermittlung
Dem Survey of the Afghan People zufolge glauben 63 Prozent der Befragten,
dass ein politischer Prozess zur Stabilisierung des Landes beitragen kann. 21
Dennoch sind die Menschen in Afghanistan in ihrer Haltung gegenüber Frie-
densgesprächen gespalten: Auf der einen Seite scheinen Verhandlungen der
einzige Weg zu sein, den gewaltsamen Konflikt zu beenden. Auf der anderen
Seite werden die Taliban durch Verhandlungen zu einem politischen Akteur
aufgewertet und eine Amnestie würde die Straffreiheit für Kriegsverbrechen
fortsetzen. Für die Bevölkerung zeigt sich der Erfolg eines Friedensprozesses
u.a. daran, wie sich die Sicherheitssituation auf dem Land und in den Städ-
ten verbessert. Es ist allerdings schwierig einzuschätzen, welche anderen Ge-
waltakteure und Faktoren wie organisierte Kriminalität, Land Grabbing oder
Ressourcenausbeutung die Gewaltspirale und Kriegsökonomie befördern wür-
den. Denn neben den Taliban sind weitere militante Gruppen wie ISIL-K, aber
auch regierungsnahe Milizen, lokale Polizeigruppen, Warlords und kriminelle
Banden für die gewaltsamen Konflikte verantwortlich.
    Viele Afghaninnen und Afghanen 22 wünschen sich auf nationaler wie auch
lokaler Ebene Vermittler, die sich für einen Frieden einsetzen. Sie wollen nicht,
dass nur von Eigeninteressen geleitete Gruppen wie bisher die Macht unter sich
aushandeln. Momentan lässt es sich jedoch nicht absehen, ob die Interessen
und Bedenken der Bevölkerung Raum in Verhandlungen finden würden.

Politische Rahmenbedingung schaffen und pragmatische
Kooperationen stärken
Ob die im politischen Raum derzeit als Stalemate bezeichnete Situation zu po-
litischen Verhandlungen führt, hängt nicht nur von dem militärischen und in-
ternationalen politischen Druck auf die Verhandlungsparteien ab, sondern auch
davon, welche Formate und Optionen für einen politischen Lösungsweg vor-
stellbar sind. Die bestehenden Kommunikationskanäle sind vor allem ein Me-
dium für Gespräche über Gespräche, sie gelten aber weder seitens der Regie-
rung noch seitens der Taliban als verbindlich. Um in politische Verhandlungen
zu treten, müssen erst die Verhandlungsparteien identifiziert und die Rahmen-
bedingungen und Formate für Verhandlungen abgestimmt werden. Aufseiten
der Taliban liegt die Herausforderung darin, die Führung, die Kommandeure -
auch die der Splittergruppen - und die Talibanbasis in einen Friedensprozess
21 A Survey of the Afghan People, a.a.O. S. 50.
22 Basierend auf Gesprächen, die die Autorin über Jahre in Afghanistan geführt hat.

                                                                                      145
NICOLE BIRTSCH

einzubinden und auf das Agieren im politischen Raum vorzubereiten. Auch auf
Regierungsseite muss erst einmal ein Konsens über den Willen zu verhandeln
gefunden werden.
     Die bisherigen internationalen Initiativen waren nicht erfolgreich. Die be-
teiligten Länder verfolgen ihre eigenen Interessen und sind daher nicht als
Mittler geeignet. Sie müssen vielmehr miteinander ein Format finden, das es
ihnen erlaubt, Verhandlungen zuzulassen und das mit einem offenen Ausgang
über die zukünftige Regierungsform und -zusammensetzung in Afghanistan.
Russland hat mit Pakistan, China, Iran und Indien kürzlich die Hauptakteure
der Region zu Gesprächen über Afghanistan zusammengebracht. Ein Thema
dabei ist, Mitglieder der Taliban von internationalen Sanktionslisten zu neh-
men. Das ist wichtig, um diesen die Möglichkeit zur Teilnahme an Gesprä-
chen zu geben. Russland möchte eine Vermittlungsrolle einnehmen, indem es
Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ini-
tiiert. Auf der anderen Seite unterstützt Russland die Taliban im Kampf gegen
ISIL-K, um die Ausbreitung der lokalen IS-Organisation in Zentralasien zu
verhindern, aber möglicherweise auch, um über die Taliban Einfluss in Af-
ghanistan nehmen zu können. Solange die USA mit Truppen in Afghanistan
präsent sind, scheint ein Friedensprozess schwer ohne eine Beteiligung der
USA denkbar. Eine von Russland geführte Friedensinitiative liegt wiederum
nicht im Interesse der USA, die bereits angekündigt haben, nicht an einer
von Russland geplanten regionalen Konferenz teilzunehmen. Allerdings gibt
es von der Trump-Administration noch keine konkreten Hinweise auf eine zu-
künftige strategische Ausrichtung in Afghanistan, sodass kurzfristig nicht mit
friedensunterstützenden Rahmenbedingungen zu rechnen ist. Umso mehr kann
Deutschland durch seine in der Region anerkannte Position dazu beitragen, die
Region in einen strukturierten Dialog über Stabilität in Afghanistan einzubin-
den.
     Die nationalen und internationalen politischen Bedingungen scheinen zwar
noch nicht reif für Verhandlungen über Frieden in Afghanistan. Aber auf prag-
matischer Ebene können, auch von Deutschland, lokale Programme gestärkt
werden, die die Kommunikation und den Austausch zwischen den Taliban, der
Zivilgesellschaft und der Regierung fördern, wie z.B. eine gemeinsam koordi-
nierte Durchführung von humanitären und Entwicklungsprojekten in den von
Taliban kontrollierten Gebieten. Ein weiterer Schritt wäre es, nach konkreten
Kooperationsmöglichkeiten zu suchen, durch die schrittweise Vertrauen aufge-
baut werden kann. Dafür bieten sich die Ankündigungen der Talibanführung
an, nationale Infrastruktur- und Energieprojekte, die den Interessen der Bevöl-

146
FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN AFGHANISTAN?

kerung dienen, zu unterstützen 23 und Sicherheit für humanitäre Hilfsorgani-
sationen zu gewähren. 24 Lokale, pragmatische Sicherheitsabkommen könnten
Zug um Zug zur Kooperation und gegenseitigen Vertrauensbildung und zur
Reduzierung von Gewalt beitragen.

23 Statement of Islamic Emirate regarding backing national projects in the country,
   29.11.2016, https://tinyurl.com/mfc59gw.
24 Statement of lslamic Emirate conceming Security for Urgent Humanitarian Relief Work,
   4.3.2017, https://tinyurl.com/koh84sa.

                                                                                  147
Sie können auch lesen