7. Fluchtursachen und "sichere Schutzzonen" in

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1.7. Fluchtursachen und „sichere Schutzzonen" in
     Afghanistan
       Thomas Ruttig

Angesichts rapide steigender Flüchtlingszahlen bei fehlender Aufnahmebereit-
schaft zahlreicher EU-Länder wurde Deutschland 2015 zum mit Abstand größ-
ten Aufnahmeland für Flüchtlinge in Europa. Konfrontiert mit dieser Entwick-
lung sowie mit dem Druck rechtspopulistischer Kräfte verschärfte die Große
Koalition mehrmals Gesetze oder deren Handhabung. Afghanische Flüchtlin-
ge gehören zu jenen Gruppen, die von diesen Maßnahmen besonders betroffen
sind. Die niedrige Anerkennungsquote afghanischer Flüchtlinge benutzte Bun-
desinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) im Oktober 2015 als Begrün-
dung, um auf ein Ende des für Afghanen faktisch existierenden Abschiebe-
stopps zu drängen. Pro Asyl rechnete damals damit, dass etwa 7.000 Afghanen
von solch einer Maßnahme betroffen wären. 1
    Nach EU-Angaben waren über 178.000 (14 Prozent) der 1,26 Millionen
Flüchtlinge, die 2015 in Europa Asyl suchten, Afghanen. 2 Im vierten Quartal
bildeten die Afghanen, nach den Syrern, die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe.
Bei beiden handelt es sich überwiegend um Kriegsflüchtlinge.
    2015 wurden in Deutschland 154.000 afghanische Flüchtlinge registriert.
Aber nur gut 31.000 von ihnen stellten einen Asylerstantrag,3 was 7,1 Prozent
aller Antragsteller entspricht. Das heißt, dass bei Weitem nicht alle Afghanen,
wie auch andere Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, in der Bundesre-
publik auch Asyl beantragen. Manche reisen weiter, andere werden unter der
Dublin-Vereinbarung in Erstaufnahmeländer zurückgeschoben, wieder andere
tauchen unter.
    Die Zahlen afghanischer Flüchtlinge sind also zweifellos hoch und im vier-
ten Quartal 2015 noch einmal stark angestiegen. Allerdings trugen Mitglieder
der Bundesregierung mit der Verbreitung unklarer Angaben dazu bei, dass die-
se öffentlich als noch dramatischer wahrgenommen wurden, als sie es tatsäch-
lich waren. So erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maiziere Ende Ok-
tober 2015: ,,Afghanistan steht im laufenden Monat und auch im Verlauf des
ganzen Jahres inzwischen auf Platz zwei der Liste der Herkunftsländer. Das ist
    Pro Asyl, ,,Bundesregierung will Abschiebungen nach Afghanistan forcieren", 27.10.2015,
    http://tinyurl.com/q3sycxj.
2   Vgl. http://tinyurl.com/hr8ul2k.
3   Vgl. http://tinyurl.com/h99schy.
FLUCHTURSACHEN UND „SICHERE SCHUTZZONEN" IN AFGHANISTAN

inakzeptabel. " 4 Diese Behauptung war zwar .für ganz Europa richtig, aber nicht
für die Bundesrepublik. Hier waren Afghanen über das gesamte Jahr gerechnet
bei den Asylgesuchen nicht unter den wichtigsten drei Herkunftsländern, im
ersten Halbjahr 2015 nicht einmal unter den Top 10. 5 Trotzdem sprach sich de
Maiziere gerade bei abgelehnten afghanischen Asylbewerbern, neben solchen
aus Balkanländern sowie später aus Nordwestafrika, dafür aus, sie verstärkt
in ihr Herkunftsland abzuschieben. Damit signalisierte er den seit Jahren fak-
tisch bestehenden Abschiebestopp der Innenministerkonferenz aufzuweichen.
Im Februar 2016 kam es zu einem ersten Rücktransport von 125 angeblich
freiwillig nach Afghanistan zurückkehrenden Personen. Weitere sollen folgen .
     2015 erhielten in Deutschland nach offiziellen Angaben nur weniger als die
Hälfte (47,6%) aller afghanischen Antragssteller 6 einen Schutztitel entweder
als Kriegsflüchtling, durch politisches Asyl, subsidiären Schutz oder andere
Regelungen. Legt man allerdings, wie von Pro Asyl vorgeschlagen, eine „be-
reinigte Schutzquote" zugrunde, betrüge diese für Afghanen 77,6 Prozent (d.h.
die aus formellen Gründen ohne Entscheidung abgeschlossenen Asylanträge,
z.B. bei Weiterreise oder Rückschiebung des Antragstellers, werden nicht be-
rücksichtigt). Bei dieser Quote wären Afghanen für Schutz in Deutschland so-
wie Integrationsmaßnahmen qualifiziert, von denen sie jetzt zunehmend ausge-
schlossen bleiben. Als Resultat der von der Bundesregierung als schlecht ein-
gestuften „Bleibechancen" ist u.a. die Bearbeitung von Asylverfahren verlang-
samt worden, um neue afghanische Flüchtlinge zusätzlich abzuschrecken. 7 Die
Zahl der erfolgreichen Anträge auf politisches Asyl lag 2015 nur bei insgesamt
48, also bei rund einem Prozent.
    Insbesondere in Unionskreisen wurde der Vorschlag ventiliert, in Afgha-
nistan „sichere Schutzzonen" zur „Schaffung innerstaatlicher Fluchtalternati-
ven" zu deklarieren, in denen sich die Abgeschobenen ansiedeln könnten. Die
Innenministerkonferenz beschloss im Dezember 2015, dass „die Sicherheits-
lage in Afghanistan in einigen Regionen eine Rückkehr ausreisepflichtiger af-
ghanischer Staatsangehöriger grundsätzlich erlaubt". Medien berichteten un-
ter Berufung auf eine interne Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes, die
4   Bundesministerium des Innern, ,,Ministerstatement zur Migrationslage", 28.10.2015, http:
    //tinyurl.com/z3qy634. Zitat aus dem dazugehörigen Video.
5   Nach Angaben des BAMF unter „Aktuelle Zahlen zu Asyl". http://tinyurl.com/z5l98m2.
6   Vgl. http://tinyurl.com/h99schy.
7   Einern Pressebericht zufolge war Ende 2015 bei Afghanen die durchschnittliche Bear-
    beitungsdauer eines Asylantrags mit knapp 14 Monaten dreimal so lange wie bei syri-
    schen Antragstellern. ,,Afghanen sollen vorerst kein Deutsch lernen", Süddeutsche Zei-
    tung, 5.11.2015, http://tinyurl.com/jpfra3q.

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Bundesregierung betrachte fünf der 34 afghanischen Provinzen als sicher. 8 Die
deutsche Botschaft in Kabul bewertete die Sicherheitssituation in Afghanistan
in einem internen, dann aber an die Öffentlichkeit gelangten Bericht als für Ab-
schiebungen nicht geeignet. Darin heißt es u.a., dass die Gefahr für Leib und
Leben in jedem zweiten der etwa 400 afghanischen Distrikte „hoch" oder „ex-
trem" sei, die Bedrohung auch in bisher ruhigeren Gebieten „rasant" wachse
und die Gesamtsituation „auf absehbare Zeit weiterhin auch echte Asylgründe
hervorbringen" werde. 9
    In diesem Kontext argumentierte Innenminister de Maiziere, dass man auf-
grund bereits geleisteter deutscher Entwicklungszahlungen „erwarten" könne,
„dass die Afghanen in ihrem Land bleiben". 10 Diese Argumente wurden auch
von SPD-Politikern aufgegriffen. Gleichzeitig erhöhte die Bundesregierung
den Druck auf die afghanische Regierung, abgelehnte Asylbewerber zurückzu-
nehmen. Diese wies das zunächst durch den Fachminister mit der Begründung
zurück, dass die Sicherheitslage sowie mangelnde Finanzmittel dies nicht er-
laubten.

Kampfhandlungen auf hohem Niveau, viele Distrikte unter
Taliban-Kontrolle
In der Tat steht die Sicherheitssituation in Afghanistan aufgrund ihrer Un-
übersichtlichkeit und Unberechenbarkeit sowie wegen der Reichweite der be-
waffneten Aufstandsbewegung Abschiebungen entgegen. Afghanistan ist ein
Kriegsgebiet. Der Krieg hält bei hoher Intensität an. Die Taliban operieren
weiterhin landesweit, wenn auch je nach Gebiet in unterschiedlicher Intensi-
tät. Ihr militärischer Handlungsspielraum erweiterte sich nach dem Abzug der
meisten westlichen Soldaten. Die Zahl ziviler Opfer verdoppelte sich seit Be-
ginn der Zählung durch die UNO 2009 und stieg über die letzten Jahre weiter
leicht an. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI setzte Afghanis-
tan 2015 auf seinem Global Peace Index auf den vorletzten Platz. US-Präsident
Barack Obama sagte in seiner letzten State-of-the-Union-Rede im Januar 2016
8  Vgl. http://tinyurl.com/jjhhor2; Afghanistans „sichere Gebiete" - das zynische Spiel der
   Bundesregierung, ARD-Magazin Monitor, 17.03 .2016, http://tinyurl.com/joldprs.
9 Zitiert in: ,,Kabul: Plakate warnen Afghanen vor Flucht nach Deutschland", Spiegel online,
   15.11.2015, http://tinyurl.com/omycrv4.
10 Zitiert in: ,,Kann erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben", Die Welt,
   25 .10.2015, http://tinyurl.com/hu687pw.

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FLUCHTURSACHEN UND „SICHERE SCHUTZZONEN" IN AFGHANISTAN

voraus, dass „Unsicherheit [ ... ] über Jahrzehnte in vielen Teilen der Welt an-
halten" werde, darunter „in Afghanistan". 11
     Bis zur zweiten Jahreshälfte 2015 existierten kaum feste Frontlinien, son-
dern die Situation ähnelte einem Flickenteppich. Seitdem operieren die Taliban
zunehmend in großen Formationen und verfestigten in einigen Provinzen ihre
territoriale Kontrolle. Das belegte die Eroberung der Provinzhauptstadt Kun-
dus im Frühherbst 2015, die die Taliban zwei Wochen lang hielten. Ähnlich
konzentriert gingen sie 2015 und 2016 u.a. in den Provinzen Helmand, Faryab,
Badakhschan, Takhar, Baghlan und Ghazni vor.
     Im Jahr 2015 gelang es den Taliban, insgesamt 23 von etwa 400 Distrikt-
zentren zeitweilig oder dauerhaft einzunehmen - mehr als in jedem Jahr seit
2001 -, zwölf davon allein im vierten Quartal. Den afghanischen Regierungs-
truppen gelang es nur in sechs Fällen, sie schnell wieder zurückzuerobern.
Nach der vorsichtigen Schätzung des Autors kontrollieren die Taliban nun-
mehr landesweit mindestens 18 Distrikte. Das sind zwar nur 4,5 Prozent aller
Distrikte, jedoch doppelt so viele wie Anfang 2015.
     Die Sicherheitslage ist aber noch ernster, als es diese Zahlen auf den ersten
Blick nahelegen. Weitere Distriktzentren waren zum gleichen Zeitpunkt heftig
umkämpft; andere wechselten im Verlauf des Jahres mehrmals den Besitzer.
Dazu dürfte noch eine deutlich höhere Zahl von latent Taliban-kontrollierten
Distrikten kommen. Aus diesen wird keine Kampftätigkeit mehr gemeldet; die
Regierung hält oft entweder nur noch das Distriktzentrum oder sogar nur Tei-
le davon. Sie befinden sich vor allem im vorwiegend paschtunisch besiedelten
Ost-, Südost- und Süd-Afghanistan (Zentren Jalalabad, Gardez und Kanda-
har). In einigen Distrikten, v.a. in Ost- und Süd-Afghanistan, hat die Regierung
Distriktzentren an sicherere Orte verlegt. In einem Distrikt in Ghazni gab der
Distriktgouverneur im Dezember 2014 zu, dass hunderte Taliban sich „in der
(Klein-)Stadt" aufhielten. Aus fünf Distrikten in Helmand, Zabul und Uruzgan
kamen Berichte, dass die Regierung nur noch den Amtssitz des Gouverneurs
halte. Parlamentarier berichteten aus ihrer Provinz Logar, dass „die meisten
Gegenden" dreier Distrikte unter Taliban-Kontrolle stünden. Aus einem Dis-
trikt in Kapisa berichtete eine Zeitung, dass es dort die Regierung sei, die „im
Schatten operiere". In weiteren Distrikten verzichten die Taliban darauf, den
letzten Vorstoß zu unternehmen, um nicht Luftangriffe oder größere Gegen-
operationen zu provozieren, oder greifen auf Bitten der örtlichen Bevölkerung
nicht an, um Zerstörungen zu vermeiden. Insgesamt liegt die Zahl der von Ta-
liban kontrollierten oder akut bedrohten Distrikte zwischen 60 und 100.
11 The White House, ,,Remarks of President Barack Obama - State of the Union Address As
   Delivered", 13.1.2016, http://tinyurl.com/zaw6f6e.

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     In den von ihnen kontrollierten bzw. beeinflussten Gebieten unterhalten die
Taliban einfache Verwaltungsstrukturen, einschließlich einer vergleichsweise
 populären Gerichtsbarkeit sowie eines Steuersystems. Die Zahl relativ ruhi-
 ger urbaner Gebiete mit nur wenigen Anschlägen - wie etwa Masar-e Scha-
rif - nahm 2015 ab. Hauptursache ist der systematische Einsatz terroristischer
Mittel durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen, zu denen v.a. die
Islamische Partei unter Führung Gulbuddin Hekmatyars sowie Ableger des
,,Islamischen Staates" in Afghanistan und Pakistan zählen. Obwohl die Tali-
ban von einem militärischen Sieg im Gesamtkonflikt immer noch weit entfernt
sein dürften, haben die Regierung bzw. lokale Machthaber, deren Loyalität zur
Zentrale ohnehin selten gegeben ist, nur in wenigen Provinzen noch die Ober-
hand. Dazu zählen Kabul, Panjshir, Bamian, Balkh und Herat.
     Zu dieser Situation trägt die dortige Schwäche der Regierungstruppen so-
wie die oft nur noch symbolische Präsenz einer Regierungsverwaltung bei. Da
die Kontrolle über das jeweilige Distriktzentrum als das formale Kriterium für
die Kontrolle über einen Distrikt gilt, lassen diese Angaben offen, wer welchen
Anteil der ländlichen Gebiete und damit des Gesamtterritoriums Afghanistans
kontrolliert. In der Praxis sind sie oft eine Art Niemandsland. Für die Sicher-
heit der Bevölkerung und potenzieller Rückkehrer aus Europa ist diese Realität
vor Ort aber von hoher Bedeutung. Selbst wenn die Regierung offiziell noch
ein Distriktzentrum oder größere Teile eines Distrikts kontrolliert, kann die
Sicherheitslage für Zivilisten extrem bedrohlich sein.
     Insgesamt gesehen ist offensichtlich, dass in Afghanistan derzeit keine
ständig oder längerfristig sicheren Gebiete existieren. Es ist auch auszuschlie-
ßen, dass „sichere Zonen" gefahrlos eingerichtet werden könnten. Schon mit
bis zu 140.000 Soldaten der International Security Assistance Force (ISAF)
und damals etwa 300.000 regulären bewaffneten Kräften der afghanischen Re-
gierung war es nicht gelungen, die Aufstandsbewegung zu schlagen oder we-
nigstens zurückzudrängen und für Sicherheit zu sorgen. Nach dem Abzug der
ISAF und mit den ca. 13.000 verbleibenden Soldaten der Nachfolgemission
Resolute Support Mission (RSM) ist dies noch viel weniger realistisch. Durch
den 2015 beschlossenen „Rückzug vom Rückzug" haben sich die Kampfbe-
dingungen für die Taliban zunächst tendenziell wieder verschlechtert. Doch
mit einer westlichen Truppenstärke so deutlich unter dem früheren ISAF-
Niveau kann mittelfristig kaum mehr als ein militärisches Patt erreicht werden,
was den Konflikt höchstwahrscheinlich und auf absehbare Zeit auf dem derzei-
tigen Niveau belassen wird. Allerdings haben die Taliban für 2016 vermehrte
Angriffe auf urbane Zentren angekündigt.

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FLUCHTURSACHEN UND „SICHERE SCHUTZZONEN" IN AFGHANISTAN

Prekäre Wirtschaftslage, verbreitete Armut, labile
Institutionen
Die prekäre, volatile Sicherheitssituation ist nur ein Teil einer dreifachen Krise,
die auch die Wirtschaft und die Institutionen Afghanistans betrifft. Zwar hatte
Afghanistan nach dem Sturz der Taliban nach Angaben der Weltbank ein „be-
merkenswertes Wachstum" zu verzeichnen, das Bruttosozialprodukt pro Kopf
der Bevölkerung liegt aber immer noch unter dem aller anderen Länder in der
Region. Die soziale Kluft in Afghanistan hat ein ungekanntes Ausmaß erreicht,
das sich in den sehr niedrigen Einstufungen beim multidimensionalen Armuts-
index und der Gender-Gerechtigkeit durch die UNO widerspiegelt. 12 Selbst
nach Regierungsangaben leiden ca. ein Drittel der Afghanen unter Hunger, ein
weiteres Drittel ist davon dauerhaft bedroht. 13 Nach Weltbankangaben stam-
men 85 Prozent des afghanischen Gesamthaushalts aus externen Zuschüssen, 14
wie lange diese noch gezahlt werden, ist unklar.
     Die Unterordnung der Entwicklungszusammenarbeit unter die Aufstands-
bekämpfung führte zu einem extrem unausgewogenen Verhältnis zwischen mi-
litärischen und zivilen Ausgaben sowie zu einer nicht auf Armutsüberwindung
gerichteten Verteilung der EZ-Gelder. In den USA lag für den Zeitraum 2001-
2012 das Verhältnis der militärischen zu den zivilen Ausgaben von insgesamt
etwa 440 Milliarden USD bei 16:1, für Deutschland 2010 bei etwa 9:1. 15 Zu-
dem verweist die Weltbank darauf, dass nur 38 Cent jedes Dollars die lokale
afghanische Wirtschaft erreichten. Bei Berücksichtigung der Sicherheitsausga-
ben sinkt diese Quote weiter auf 14 bis 25 Prozent. Erhebliche Summen blie-
ben in den klientelistischen Netzwerken der Eliten hängen. Mit dem Abzug
der ausländischen Kampftruppen gingen ein Absinken der Entwicklungshil-
12 Auf dem Index für menschliche Entwicklung steht Afghanistan auf Rang 171 von 188 Län-
   dern, bei der Geschlechtergleichheit auf Rang 152 von 155 untersuchten Ländern. Human
   Development Report 2015, Briefing note for countries, Afghanistan, http://tinyurl.com/j6
   4t8de.
13 lslamic Republic of Afghanistan, ,,Country Position Paper for RIO +20", Juni 2012. Das
   Papier ist als Entwurf gekennzeichnet, steht aber auf der Webseite des afghanischen Au-
   ßenministeriums. http://tinyurl.com/j3so3ks.
14 Vgl. World Bank: Afghanistan in Transition: Looking Beyond 2014, Volume 2: Main Re-
   port, Mai 2012, http://tinyurl.com/gnabr24.
15 Anthony H. Cordesman: The U.S. Cost of the Afghan War: FY2002-FY2013, Center for
   Strategie and International Studies, Washington 2012, http://tinyurl.com/9fj8d9g; Tilman
   Brück, Olaf J., de Groot und Friedrich Schneider: Eine erste Schätzung der wirtschaftli-
   chen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan, Deutsches Institut für
   Wirtschaftsforschung 2010, http://tinyurl.com/j8t9ns9.

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fezahlungen, ein Schrumpfen der Wirtschaft, der Privatinvestitionen und der
Staatseinnahmen einher. 16
     Zugleich bleiben die politischen Institutionen Afghanistans schwach. Prä-
sident und Regierung hatten nach dem umstrittenen Ausgang der Präsiden-
tenwahl 2014 erhebliche Legitimitätsdefizite. Die gegenseitige Blockade der
beiden Lager um Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah in der unter US-
Druck zustande gekommenen Nationalen Einheitsregierung beschleunigte die-
sen Prozess noch. Die Gewaltenteilung funktioniert nicht, der Rechtsstaat ist
schwach. Die Justiz gilt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen und
ist von der Exekutive abhängig. Der Präsident und sein Apparat dominieren
auch die angeblich unabhängigen Wahlinstitutionen. Die Demokratisierung in
Afghanistan wurde früh gestoppt, die Rolle der UNO als multilaterales und
nicht in erster Linie militärisches Interventionsinstrument untergraben und die
Entwicklungszusammenarbeit militarisiert - ein negativer Präzedenzfall auch
für andere internationale Konflikte. Nach 2001 nur ansatzweise entwaffnete re-
gionale Gewaltakteure - Warlords und ihre Feldkommandeure - beherrschen
heute Schlüsselstellungen in Regierung, Parlament, Justiz, Sicherheitskräften
und Wirtschaft und dominieren - u.a. über den islamistisch dominierten Rat
der Islamgelehrten (Ulema) - auch unter der neuen Regierung den öffentli-
chen Diskurs. Jede abweichende Meinungsäußerung kann als „unislamisch"
diffamiert werden. Seit Ende 2015 erhöhen die sogenannten Jihadi-Führer, im
Bündnis mit dem ambitionierten Ex-Präsidenten Hamid Karzai, der laut Ver-
fassung nicht noch einmal kandidieren darf, den politischen Druck auf die Re-
gierung und verlangen Neuwahlen oder eine Übergangsregierung.
    In diesem Kontext ist die Aufstandsbewegung, zumindest in ihrer Entste-
hung nach 2001 , mehr Symptom denn Ursache der inneren Konflikte. Die
Schwäche seiner Institutionen und der Rechtsstaatlichkeit trägt dazu bei, dass
der afghanische Staat nur sehr eingeschränkt in der Lage ist, die körperliche
Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen sowie sie vor
Bedrohungen, Einschüchterung und Verfolgung zu schützen. Im Zusammen-
spiel mit der akut prekären Sicherheitslage schaffen diese Faktoren für viele
Menschen zusätzliche Anreize, über ein Verlassen Afghanistans nachzuden-
ken.

16 Vgl: Thomas Ruttig, ,,Einiges besser, nichts wirklich gut: Afghanistan nach 34 Jahren
   Krieg - Eine Bilanz", in: Hubert Thielicke (Hrsg.), Am Ende nichts? Krieg in Afghanis-
   tan - Bilanz und Ausblick, Heft Eurasien #1, WeltTrends, Potsdam 2014, S. 11-21.

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FLUCHTURSACHEN UND „SICHERE SCHUTZZONEN" IN AFGHANISTAN
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Fluchtursachen
Die zeitweilige Aussetzung der Registrierung ankommender Flüchtlinge durch
die deutschen Behörden führte dazu, dass diesen keine umfassenden oder re-
präsentativen Angaben darüber vorliegen, aus welchen Gründen Afghanen
2015 nach Deutschland geflohen sind. Die Zahlen sind laut Pro Asyl „mit
großer Vorsicht zu genießen": Unter den ca. 1,1 Mio. Registrierten im Jahr
2015 gebe es „eine hohe unbekannte Zahl an Doppel- und Fehlregistrierun-
gen". Die Bundesregierung konzediert ebenfalls, dass die Zahl der Registrie-
rungen um „bis zu 20 Prozent höher liegt als die Zahl jener, die sich tatsächlich
weiterhin in Deutschland aufhalten und noch keinen Asylantrag stellen konn-
ten". 17
    Von ersten Stichproben abgesehen sind weder ihre regionale, ethnische
noch soziale Zusammensetzung, inklusive ihres Bildungs- und Ausbildungs-
standes, bekannt, noch woher genau sie gekommen sind. Für umfassende wis-
senschaftliche Untersuchungen ist es angesichts der unklaren Größenordnun-
gen, der regionalen Verteilung in Deutschland sowie des differenzierten Ver-
haltens der Flüchtlinge (freiwillige Registrierung und/oder Asylantrag, Unter-
tauchen, Weiterreise, Weiter- oder Rückschiebung entsprechend der Dubliner
EU-Richtlinien, etc.) und den daraus folgenden Problemen des Zugangs zu
früh. Daher können belastbare Aussagen zur sozialen Zusammensetzung oder
zu den jeweiligen Fluchtgründen zurzeit noch nicht getroffen werden.
    Bei der Betrachtung der vorliegenden Quellen, inklusive der zahlrei-
chen Reportagen über und Interviews mit Flüchtlingen, fallen allerdings ei-
nige Aspekte auf: Viele afghanische Flüchtlinge scheinen alleinreisende junge
Männer oder sogar oft Minderjährige zu sein. Es gibt aber auch eine erhebli-
che Zahl von Flüchtlingsfamilien. Viele der jungen afghanischen Flüchtlinge
scheinen zur ethnischen Minderheit der meist schiitischen Hazara zu gehören,
Paschtunen unterrepräsentiert zu sein. Hazaras wurden in Afghanistan histo-
risch aus ethnischen und religiösen Gründen diskriminiert. Ihre institutionelle
und rechtliche Diskriminierung wurde nach 2001 zwar beseitigt, in der Gesell-
schaft sehen sie sich aber häufig weiter mit Diskriminierung konfrontiert. Das
benachbarte Pakistan scheidet als Zufluchtsort aus, denn dort sind die Hazaras
(sowohl jene der dort seit Ende des 19. Jahrhunderts ansässigen Gemeinschaf-
ten als auch neue Flüchtlinge) seit Jahren Ziel zahlreicher Anschläge sunniti-
scher Terrorgruppen - Einzelfälle ereigneten sich auch in Afghanistan. Akut
bedroht sind in Afghanistan überdies die dort illegale christliche Minderheit
sowie Menschen nicht heterosexueller Orientierung. Hier greift selbst staat-
17 Pro Asyl, ,,Fakten, Zahlen und Argumente", http://tinyurl.com/zw9ouue.

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 lieber Schutz nicht, da dies auch offiziös als „nichtislamisch" bewertet wird.
Deshalb besteht bei ihnen ein spezifischer Fluchtdruck.
     Zudem wird zunehmend deutlich, dass viele der afghanischen Flüchtlinge
 bereits als Flüchtlinge bzw. illegale Immigrantinnen und Immigranten in Iran,
 Südeuropa oder Russland lebten, bevor sie nach Europa weitergereist sind.
Aus Iran fliehen Afghanen offenbar zunehmend, da sie vom dortigen Regime
 systematisch für regimetreue Milizen in Syrien zwangsrekrutiert werden.
     Der Mangel an belastbaren Informationen betrifft nicht nur die nach
Deutschland Eingereisten, sondern auch die weitaus größere Gruppe aus Af-
ghanistan Ausgereister. Zum einen meldet sich dort niemand ab, der beabsich-
tigt, sich ohne Visum oder Einladung als Flüchtling auf den Weg nach Europa
zu machen. Darüber hinaus gibt es in Afghanistan nur Ansätze eines Meldewe-
sens und selbst jene internationalen Organisationen, die mit Flüchtlingsfragen
befasst sind, geben zu, dass sie trotz aller Anstrengungen nicht in der Lage
sind, verlässliche Angaben zu machen. Richard Danziger, der damalige Lei-
ter des Kabuler Büros der International Organisation for Migration (IOM),
die zum UN-System gehört, erklärte im September 2015 in einem Interview:
„Um ehrlich zu sein, können wir nicht über Zahlen sprechen. Wir kennen die
Ankunftszahlen in Europa. Wir haben uns alle möglichen Informationsquellen
angesehen: etwa Passanträge, wir haben mit den [Behörden auf den] Flughäfen
gesprochen; wir haben Büros an der Grenze mit Iran, also haben wir uns an-
gesehen, ob es mehr Abschiebungen gegeben hat, was bedeuten könnte, dass
sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen. Wir waren aber nicht
in der Lage, irgendetwas daraus abzuleiten, das uns wirklich Informationen in
die Hand gibt." 18
     Trotzdem gelangten Zahlen aus Regierungsquellen darüber, wie viele Af-
ghanen angeblich 2015 ihr Land verließen, an die Öffentlichkeit. Die Tages-
zeitung Die Welt veröffentlichte im September 2015 Zahlen aus einem norma-
lerweise geheimen Bericht des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums
illegale Migration (GASIM), nach dem „monatlich [ ... ] bis zu 100.000 Af-
ghanen" ihr Land verließen. 19 Es ist allerdings nicht bekannt, auf Grundlage
welcher Quellen die deutschen Behörden auf diese Zahlen kamen. 20 Sie verfü-
18 Das Interview war von der Südasien-Korrespondentin der ARD Sandra Petersmann in Ka-
   bul geführt und Mitte Oktober nur in Auszügen bei der ARD veröffentlicht worden (hier:
   http://tinyurl.com/njt8f38). Petersmann stellte AAN das Gesamt-Interview zur Verfügung;
   es kann hier gehört werden: http://tinyurl.com/zy4pltr.
19 Im GASIM arbeiten verschiedene deutsche Behörden zusammen, namentlich die Bundes-
   polizei, das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Verfas-
   sungsschutz, das Bundeskriminalamt und der Bundesnachrichtendienst.
20 Bei Recherchen zu diesen Angaben wurde deutlich, dass die IOM offensichtlich zu den

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FLUCHTURSACHEN UND „SICHERE SCHUTZZONEN" IN AFGHANISTAN

gen jedenfalls bei Weitern nicht über die Infrastruktur und Erfahrung vor Ort,
wie etwa die zuständigen Organisationen wie die IOM und das weitere UN-
Systern. Es besteht daher Grund anzunehmen, dass es sich um Sekundär- und
dabei wahrscheinlich um afghanische Quellen handelt, die allerdings nicht für
ihre Präzision und Zuverlässigkeit bekannt sind. Zudem werden im GASIM-
Bericht verschiedene Personengruppen vermischt, nämlich Passantragsteller -
deren Zahl tatsächlich sprunghaft gestiegen war - und potenzielle Flüchtlinge.
Auslöser des Ansturms auf neue afghanische Pässe war jedoch eine Verfügung
der Regierung zur Umsetzung einer Bestimmung im internationalen Flugver-
kehr, 21 der zufolge die weit verbreiteten handgeschriebenen Pässe für ungültig
erklärt wurden. Unter den Passantragstellern waren zudem sicherlich auch vie-
le Stipendiaten, Kranke und ihre Verwandten, die zur Behandlung ins Ausland
reisen, sowie Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten mit den Hauptzielen
Iran oder Golfstaaten. Zwar hat es den Anschein, als verdienten viele Flücht-
linge in Iran das Geld für die Weiterreise nach Europa. Tatsächlich gibt es diese
Arbeitsmigration von Afghanistan nach Iran jedoch seit Jahrzehnten. Sie voll-
zieht sich wohl meistens als Pendelbewegung zwischen dem ausländischen Ar-
beitsort und Afghanistan, wie man in Kabul im Falle der Arbeitsmigrantinnen
und Arbeitsmigranten nach Iran und in Flügen Kabul-Dubai regelmäßig be-
obachten kann. 22 Unter diesen Umständen wirken die kolportierten Aussagen
des GASIM-Berichts entweder oberflächlich recherchiert oder als politische
Panikmache - oder beides.
     Gleichzeitig bleibt in der Diskussion ein Aspekt völlig unbeachtet: der
Ausbau staatsnaher paramilitärischer Verbände in Afghanistan mit Unterstüt-
zung westlicher Regierungen, darunter trotz offizieller Dementi auch die Bun-
desregierung. Die ohne Kontrolle agierenden Milizen führen zunehmend Über-
griffe auf lokale Bevölkerung aus - zusätzlich zu Drohungen der Taliban gegen
alle Afghanen, die für die Regierung arbeiten oder mit ihr kooperieren. Beides
kann teilweise als politische Verfolgung bewertet werden.
    Ein weiterer asylrelevanter Aspekt ist, dass Journalisten, zusätzlich zu den
von den Aufständischen ausgehenden Gefahren, zunehmend von Regierungs-
   Quellen des GASIM-Berichts gehörte. Allerdings haben die deutschen Behörden, im Ge-
   gensatz zu IOM, daraus Schlussfolgerungen und auch Zahlenangaben abgeleitet.
21 Vgl. http://tinyurl.com/z7rr6rd.
22 Der Autor fliegt diese Route seit dem Jahr 2000 mehrmals im Jahr und hat fast bei jedem
   dieser Flüge informell junge Afghanen über ihre Ziele befragt. Trotz der oft ausbeuteri-
   schen Arbeitsbedingungen am Zielort gilt die Arbeit in den Golfstaaten als lukrativ, da
   sie gerade für Jugendliche aus ländlichen Gebieten (mit ihrer oft noch zu großen Teilen
   subsistenzwirtschaftlichen Struktur) eine beinahe konkurrenzlose Quelle monetären Ein-
   kommens bieten. Eine Weiterreise von dort nach Europa erscheint unwahrscheinlich.

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 angehörigen bedroht werden, die ebenfalls oft bewaffnete Kräfte mobilisieren
 können.
     Klar ist, dass eine grundlegende Ursache für die Flucht einer höheren Zahl
 von Afghanen als je zuvor seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Fehlschlag
 der von den USA geführten Intervention von 2001 besteht. Zunächst in der Be-
völkerung mehrheitlich positiv als Befreiung wahrgenommen, blieb eine Reihe
von teils nur proklamierten, teils tatsächlich angegangenen Zielen unerreicht.
In Afghanistan ist ein Friede nicht in Sicht und das Land gehört nach wie vor
zu den ärmsten und unsichersten der Erde.
     Nach den Ursachen der Massenflucht von Afghanen im Jahr 2015 befragt,
sprach der bereits zitierte (nunmehr frühere) Afghanistan-Chef von IOM von
einer „Mischung aus Unsicherheit und der schlechten Wirtschaft[slage]. Das
eine verstärkt das andere. [... ] Niemand [unter den Afghanen] sagt, ich ver-
lasse das Land nur wegen der Unsicherheit oder nur, weil er bessere Lebens-
möglichkeiten sucht."
     Danziger verwies auch auf „familiären Druck auf junge Leute", die als
,,Anker" für ihre Familien ins Ausland geschickt werden, um einen Anlauf-
punkt zu haben, falls sich die Situation im Land weiter verschlechtern sollte.
Das ist nicht überraschend: Afghanistans ältere Generationen haben seit 1973
nicht weniger als neun meist gewaltsame Regimewechsel erlebt, von denen
einige große Fluchtbewegungen auslösten: infolge des sowjetischen Einmar-
sches Ende 1979, nach dem Afghanen für viele Jahre mit bis zu sechs Millio-
nen Menschen - ohne Binnenflüchtlinge - zur größten Flüchtlingsbevölkerung
der Erde wurden, sowie nach der Machtübernahme der Mudschahedin (1992)
und der Taliban (1996).
     Die schlechte Wirtschaftslage scheint also als individuelle Unsicherheit
produzierendes Substrat zu wirken; hinzu kommt die beschriebene Situation
der Gewalt. Die politischen und militärischen Rückschläge 2015 für die af-
ghanische Regierung -darunter der Taliban-Erfolg in Kundus - unterminierten
das bereits geringe Vertrauen großer Teile der Bevölkerung in die afghanische
Regierung und wirkten als Auslöser für die breite Fluchtbewegung. Für diese
Gesamtsituation tragen die westlichen Regierungen als politisch entscheiden-
de Akteure seit der Bonner Afghanistan-Konferenz 2001 sowie als zentrale
Geberstaaten die Hauptverantwortung. Das grundlegende Scheitern der ISAF-
Mission sowie dessen systematische Negierung durch die westlichen Regie-
rungen, einschließlich der Bundesregierung, sind eine zentrale, wenn auch in-
direkte Ursache der derzeitigen afghanischen Massenflucht. Gleichzeitig wird
das mit dem Scheitern einhergehende weitgehende Desinteresse der europäi-
schen Gesellschaften, Parlamente und Regierungen am angeblich „hoffnungs-

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FLUCHTURSACHEN UND „SICHERE SCHUTZZONEN" IN AFGHANISTAN

losen Fall Afghanistan" von der Bundesregierung nun genutzt, um die Verant-
wortung auf Afghanistan abzuwälzen.

Verantwortung wahrnehmen, Zuflucht gewähren
Aus dem Scheitern des Westens in Afghanistan erwächst eine besondere Ver-
antwortung, sich um die Opfer dieses dauerhaften Konflikts zu kümmern. Das
schließt die Aufnahme afghanischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland und Eu-
ropa ein, auch wenn die Intensität des dortigen Kriegs nun Syrien prioritär
erscheinen lässt. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, sind erhebliche finan-
zielle Mittel notwendig, was allerdings nicht auf Kosten der Gelder für Ent-
wicklungszusammenarbeit (EZ) gehen darf - insbesondere, wenn mit solchen
Programmen Fluchtursachen vor Ort bekämpft werden sollen. Norwegen ist
einen anderen Weg gegangen. Es hat die Mittel für die Entwicklungszusam-
menarbeit in Afghanistan gekürzt. Diese werden nun für afghanische Flücht-
linge in Norwegen verwendet. Auch für das kommende Jahr sind Kürzungen
im Umfang von insgesamt 4,2 Milliarden Kronen geplant, die den Hilfsorga-
nisationen dann nicht mehr zu Verfügung stehen. 23 Auch in anderen Geber-
ländern wird dieser Weg diskutiert, so zum Beispiel in Schweden, Dänemark
und den Niederlanden. 24 Aber es wäre illusorisch anzunehmen, dass damit in
kurzer Zeit Lösungen erreicht werden könnten.
    Die prekäre Gesamtlage in Afghanistan, mit ihrer Verquickung der militä-
rischen, politischen und wirtschaftlichen Krise, schließt die Möglichkeit sta-
biler sicherer Zonen aus. Dazu ist das Muster territorialer Kontrolle beider
Kriegsparteien zu kleinteilig, fließend und oft schon zwischen Tag und Nacht
nicht klar abgrenzbar. Menschen können überall Opfer von Kriegshandlungen
beider Seiten werden, wie die weiterhin steigende Zahl ziviler Opfer belegt.
Dabei geht es sowohl um Taliban-Attacken in „regierungskontrollierten" Ge-
bieten als auch um zunehmende Übergriffe durch bewaffnete reguläre und ir-
reguläre Regierungskräfte und Milizen.
    Hinzu kommen logistische und innenpolitische Hürden. Zum einen besteht
angesichts neuer regionaler Konflikte, die in den Vordergrund der Aufmerk-
samkeit westlicher Gesellschaften und Regierungen gerückt sind, ohnehin kei-
ne Bereitschaft zur Entsendung zusätzlicher Truppen nach Afghanistan. Dies
23 „Norway makes deep aid cuts to fund refugee costs next year. Targets NGOs, UN", Deve-
   lopment Today, 13.4.2016: http://tinyurl.com/gl2tmv4.
24 „UN alarmed by Denmark development aid cuts", The Local, 12.11.2015: http://tinyurl.co
   m/zc4pk95. ,,Sweden considers redirecting 60% of aid budget to refugee crisis", theguar-
   dian, 5.11.2015: http://tinyurl.com/pvbj63q.

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gilt auch für die Bundesrepublik: Unter dem gegenwärtigen Mandat - Trai-
ning durch Polizisten und Bundeswehr, Unterstützung afghanischer Kräfte ge-
gen die Taliban durch Spezialeinheiten - und im gegenwärtigen Umfang von
etwa 1.000 Soldaten, sind zusätzliche Schutzfunktionen nicht umsetzbar. Zu-
dem muss bezweifelt werden, ob westliche und afghanische Truppen selbst in
größerer Stärke in der Lage wären, Schutzzonen dauerhaft zu sichern. Gerade
diese Truppen könnten verstärkt zu besonderen Angriffs- und Anschlagzielen
für die Aufständischen werden. Wie bereits ausgeführt, waren schon die ISAF-
Truppen mit einer Stärke von bis zu 140.000 Soldaten nicht in der Lage, die
Aufstandsbewegung entscheidend in ihren Operationen zu behindern. Je mehr
etwaige begrenzte Sicherheitszonen vom Rest des Landes abgeschottet wür-
den, desto weniger wären sie wirtschaftlich lebensfähig. Konzeptionell wären
solche Zonen daher nichts anderes als die Reproduktion des bei der Aufstands-
bekämpfung letztendlich gescheiterten Modells der Provincial Reconstructi-
on Teams (PRT), nur mit weniger ausländischen Truppen und unter Verwen-
dung anderer Terminologie. Solch ein Ansatz kollidierte darüber hinaus auch
mit der Sicherheitsdoktrin der afghanischen Regierung, die die Kontrolle des
Gesamtterritoriums beansprucht. Eine offizielle Klassifikation von Gebieten
unterschiedlicher Sicherheitsniveaus dürfte diesem Bestreben entgegenlaufen
und ist schon deshalb unrealistisch. Das gleiche gilt für eine „weichere" Vari-
ante von „sicheren Zonen" ohne ausländischen Schutz.
    Die Diskussionen um die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen und
um die Einrichtung „sicherer Zonen" weichen daher der europäischen Verant-
wortung aus und ignorieren die Realität des andauernden Krieges in Afghanis-
tan: Die Sicherheitslage im Kriegsgebiet Afghanistan hat sich verschlechtert,
nicht verbessert, und Einschüchterung und politische Verfolgung sind keine
Seltenheit. Stabilität und Sicherheit werden dort auf absehbare Zeit nicht zu er-
reichen sein. Die deutsche Flüchtlingspolitik darf sich vor dieser Realität nicht
drücken, sondern sollte sie endlich zur Kenntnis nehmen und den fliehenden
Afghaninnen und Afghanen dauerhaft den nötigen Schutz gewähren.

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