31 Ed - Berliner Festspiele
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Die Editionsreihe der Berliner Festspiele erscheint bis zu sechsmal jährlich und präsentiert Originaltexte und Kunstpositionen. Bislang erschienen: Edition 1 Hanns Zischler, Großer Bahnhof (2012) Christiane Baumgartner, Nachtfahrt (2009) Edition 2 Mark Z. Danielewski, Only Revolutions Journals (2002 – 2004) Jorinde Voigt, Symphonic Area (2009) Edition 3 Marcel van Eeden, The Photographer (1945 – 1947), (2011 – 2012) Edition 4 Mark Greif, Thoreau Trailer Park (2012) Christian Riis Ruggaber, Contemplatio I–VII: The Act of Noting and Recording (2009 – 2010) Edition 5 David Foster Wallace, Kirche, nicht von Menschenhand erbaut (1999) Brigitte Waldach, Flashfiction (2012) Edition 6 Peter Kurzeck, Angehalten die Zeit (2013) Hans Könings, Spaziergang im Wald (2012) Edition 7 Botho Strauß, Kleists Traum vom Prinzen Homburg (1972) Yehudit Sasportas, SHICHECHA (2012) Edition 8 Phil Collins, my heart’s in my hand, and my hand is pierced, and my hand’s in the bag, and the bag is shut, and my heart is caught (2013) Edition 9 Strawalde, Nebengekritzle (2013) Edition 10 David Lynch, The Factory Photographs (1986–2000) Georg Klein, Der Wanderer (2014) Edition 11 Mark Lammert, Dimiter Gotscheff – Fünf Sitzungen / Five Sessions (2013) Edition 12 Tobias Rüther, Bowierise (2014) Esther Friedman, No Idiot (1976–1979) Edition 13 Michelangelo Antonioni, Zwei Telegramme (1983) Vuk D. Karadžić, Persona (2013) Edition 14 Patrick Ness, Every Age I Ever Was (2014) Clemens Krauss, Metabolizing History (2011 – 2014) Edition 15 Herta Müller, Pepita (2015) Edition 16 Tacita Dean, Event for a Stage (2015) Edition 17 Angélica Liddell, Via Lucis (2015) Edition 18 Karl Ove Knausgård, Die Rückseite des Gesichts (2014) Thomas Wågström, Nackar / Necks (2014)
Edition 31 Berliner Festspiele 2021 Angela Rosenberg Pragmatiker auf heißem Boden Gerhart von Westerman, Kunstmanager und erster Intendant der Berliner Festwochen. Eine Recherche Die Edition ist eine Publikation der Berliner Festspiele.
Biografie ANGELA ROSENBERG ist Kuratorin, Kunsthistorikerin und Autorin. Sie forscht zu künstlerischen Interventionen in Muse- en und Sammlungen und entwickelte zusammen mit Künstler*innen neue Präsentationsmethoden für das Humboldt Lab Dahlem im Museum für Asiatische Kunst und im Ethnologisches Museum der Staatlichen Museen zu Berlin. Bis 2010 leitete sie die von Künstler*innen kuratierte Serie in der Temporären Kunsthalle Berlin. Für die Berliner Festspiele hatte sie 2017 das Kuratorische Manage- ment der Ausstellung von Philippe Parreno im Gropius Bau inne. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit befasst sich mit den kulturpolitischen Implikationen in der heutigen Kunst- und Auss tel lungsp roduktion. Ihre Schriften und Essays über zahlreiche Künstler*innen finden sich in interna tionalen Kunstmagazinen und Museumspublikationen. Seit 2017 leitet sie das Mentor*inn enprogramm an der Academy of Fine Arts in Helsinki.
Pragmatiker auf heißem Boden Gerhart von Westerman, Kunstmanager und erster Intendant der Berliner Festwochen. Eine Recherche 1951 fanden die Berliner Festwochen und die Internationalen Film festspiele (Berlinale) zum ersten Mal statt. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stand Berlin im Zentrum der Spannungen zwischen Ost und West. Die Stadt war ein Trümmerfeld. Das Grundgesetz wurde 1949 verkündet, die Deutsche Demokratische Republik in Ostberlin prokla- miert und Berlin in das Europäische Wiederaufbauprogramm der USA aufgenommen. Die Stadt, in der die ersten Berliner Festwochen statt- fanden, war bereits geteilt. Selbstbewusst präsentierte sich das Festi- val in vielen unterschiedlichen kulturellen Institutionen im westlichen Teil der Stadt, um Offenheit, Kreativität und Vielseitigkeit zu suggerieren. Die Anfangsjahre der Berliner Festwochen lassen sich unter einem spezifischen Gesichtspunkt betrachten, der in dieser Publikation dar- gestellt wird. Anhand von Festivalprogrammen der ersten drei Jahre, einschlägiger Fachliteratur, Akten aus dem Archiv der Berliner Künste, dem Bundesarchiv, dem Landesarchiv Hannover und weiteren Quellen werden die berufliche Vorgeschichte, die ideologischen Auffassungen und die künstlerische Arbeit des ersten Intendanten der Berliner Fest wochen, Gerhart von Westerman, durchleuchtet und auf Verstrick ungen mit dem Nationalsozialismus überprüft. Die personellen, orga nisatorischen und inhaltlichen Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Nachkriegsjahren klangen nämlich auch in den ersten Programmen der Berliner Festwochen nach. Neben dem prominenten Intendanten steht in diesem Text daher außerdem die Programmgestaltung und Besetzungspolitik im Fokus: Wie deutsch bzw. international war das Programm, um der Welt zu zeigen, dass Deutschland den Naziterror und die damit verbundene kulturelle Verarmung hinter sich gelassen hatte? Inwiefern erfüllte das Programm die Interessen der westlichen Alliierten? Wer wurde eingeladen nach den zerstörenden Jahren des nationalsozialistischen Regimes und dem Ausschluss unzähliger Kul- turschaffender? Und schließlich, wer akzeptierte die Einladung und kam nach Berlin – und wer lehnte sie ab? 3
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Abgeholzter Tiergarten mit Reichstag. Gerhart von Westerman (*1894 Riga, †1963 Berlin) war promovierter Komponist, Manager und Musikschriftsteller. Der erste Intendant der Berliner Festwochen (1951-1962) bekleidete bereits in der Weimarer Republik und während der NS-Zeit Schlüsselpositionen im Kultur betrieb. Früh erkannte von Westerman die Bedeutung des Rundfunks für das Musikleben. Seit 1925 war er in führender Position beim Rund- funk in München tätig, von 1930 bis 1933 als stellvertretender Inten- dant und von 1933 bis 1935 als Abteilungsleiter. Von 1935 bis 1939 wechselte er als Sendeleiter zum Berliner Kurzwellensender. Wenige Monate arbeitete er als Intendant des Reichssenders Saarbrücken, von dort wurde er im selben Jahr noch nach Berlin engagiert, um die Nachfolge des geschassten Hans von Benda anzutreten, der den Posten als Generalmusikdirektor, nach Differenzen um eine Ein ladung Herbert von Karajans, aufgeben musste. Von 1939 bis 1945 und wiederum von 1952 bis 1959 stand er als künstlerischer Leiter und erster Geschäftsführer dem Berliner Philharmonischen Orchester vor. Machtbewusst taktierend beanspruchte er den Titel des Intendanten für sich, jedoch zu NS-Zeiten ohne Erfolg, da ihm Joseph Goebbels 4
diesen Titel verwehrte, um dem Orchester in letzter Instanz selbst vorzustehen. Neben seiner Tätigkeit als Orchestermanager war von Westerman 1942 bis 1945 als Gruppenleiter für die Programmsparte „Ernste Musik“ beim Rundfunk zuständig. Von Westerman war außer- dem in diversen Ausschüssen tätig, um die staatlich verordnete NS-Kulturpolitik durchzusetzen. Unter anderem war er als Mitglied des vorbereitenden Ausschusses im Reichsministerium für Volks aufklärung und Propaganda (ProMi) an der Verteilung von Geldern an Komponist*innen beteiligt. Als Autor veröffentlichte von Wester- man in frühen Jahren kurze Texte und betätigte sich als Herausgeber, in den Nachkriegsjahren unterrichtete er kurze Zeit Musiktheorie am Konservatorium für Musik in Oldenburg und erarbeitete die auf lagenstarken Nachschlagewerke „Knaurs Konzertführer“ (1951) und „Knaurs Opernführer“ (1952). Bereits im Mai 1933 trat Gerhart von Westerman der NSDAP bei (Mit- gliedsnummer 1726871).1 Eine Porträtserie aus dem Deutschen Rund- funkarchiv zeigt ihn 1942 mit Parteiabzeichen am Revers, ebenso ein 5
vermutlich früher aufgenommenes Ausweisfoto aus dem Bundes archiv. Das Eintrittsdatum in die NSDAP wird von Wissenschaftler*in- nen als Indiz dafür gesehen, wie überzeugt die Mitglieder zu dem Zeitpunkt ihres Beitritts waren. In der Regel unterscheiden Histori- ker*innen zwischen überzeugten Nazis, die schon ab 1920 eintraten, denen, die 1933 als Opportunisten hinzukamen und jenen, die mit dem Parteibeitritt 1937 ihrer Karriere Aufschwung verliehen. Ob es sich bei von Westerman um eine „Parteileiche“ handelte, die nur den Mitgliedsbeitrag zahlte, um beruflich zu profitieren, ist im Grunde irrelevant, da die Parteimitgliedschaft in jedem Fall für ihn von gro- ßem beruflichen Nutzen war, sie bescheinigte ihm politische Zuver lässigkeit und ermöglichte Verhandlungen auf höchster Ebene. Gänzlich unantastbar machte ihn die Parteizugehörigkeit jedoch nicht: Im Mai 1940 musste er sich vor der Partei gegen Anschuldigun- gen verteidigen, er stünde „in gleichgeschlechtlichen Beziehungen mit dem Parteigenossen Jacob Meyer“.2 Der gebürtige Deutschbalte Gerhart von Westerman erwarb erst 1928 die deutsche Staatsbürgerschaft. Patriotisch und linientreu lieferte er auf Anfrage eine Vielzahl von Nachweisen für seine natio- nalistische Grundeinstellung. Demnach trat er 1917, nach der Ein- nahme der Stadt Riga 1917 durch die 8. deutsche Armee, bereits mit 23 Jahren in den deutschen Polizeidienst ein. Er war darüber hinaus ein ausgewiesener Kenner der deutschen Kultur. Das reichte den nationalsozialistischen Behörden allerdings nicht aus, für die Mit- gliedschaft in der Reichskulturkammer (RKK) musste er vorschrifts gemäß einen „Ariernachweis“ erbringen. Auf dem Formular für die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG) erwähnt er „ein Bild des Füh- rers“, das er 1935 anlässlich seines 10-jährigen Dienstjubiläums als Geschenk erhielt. Vom Militärdienst war er aufgrund seiner Tätigkeit für das Orchester freigestellt. Er erhielt jedoch trotzdem 1944 das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse für seine Tätigkeit als Gruppenleiter beim Rundfunk.3 Erstaunlich ist eine Information aus seinen Bewer- bungsunterlagen für die Tätigkeit beim Berliner Philharmonischen Orchester vom 31. Mai 1939. Dort wird er neben seiner Parteizuge hörigkeit als „Förderndes Mitglied der SS“ genannt. Als solches unter- stützte man die SS finanziell ohne am aktiven Dienst teilzunehmen. Die „Parteistatistische Erhebung“ von 1939 gibt darüber hinaus Aus- kunft über Gerhart von Westermans Mitgliedschaften in vier politi- schen Organisationen: Deutsche Arbeitsfront, NS-Volkswohlfahrt, Kolonialbund und Reichskulturkammer.4 Eine unbeschriebenes Blatt bzw. eine „Parteileiche“ war von Westerman also nicht. 6
DAS „REICHSORCHESTER“ Als Propagandainstrument ist die Bedeutung des Berliner Philharmo- nischen Orchesters für das NS-Regime nicht zu unterschätzen. Die finanziell unabhängige GmbH wurde ab 1933 staatlich subventioniert und sollte sich als „Reichsorchester“ für die Stärkung der Seele des Volkes durch deutsche Musik einsetzen. Die Berliner Philharmoniker wurden zum Wahrzeichen für die Nationalkultur. Und sie profitierten von vielen Privilegien: Fortan wurden die Musiker nach einem Sonder- klasse-Tarif bezahlt, einige erhielten vom Propagandaministerium wertvolle Musikinstrumente als Leihgabe, viele Konzertreisen fanden in Zügen der Wehrmacht statt und die Musiker, ebenso wie Gerhart von Westerman, erhielten den Status „U.K.“ („unabkömmlich“), womit sie von jeder militärischen Verpflichtung freigestellt waren. Von Westermans Aufgaben umfassten nicht nur künstlerische, son- dern vor allem organisatorische Tätigkeiten im Zentrum der NS-Kul- turpolitik. Ihm oblag die Planung der Philharmonischen Konzerte, die Durchführung von Pflichtaufführungen und anbefohlenen Konzer- ten, zum Beispiel anlässlich einer Feierstunde der NSDAP zu Hitlers Geburtstag am 19. April 1942, der im Anschluss Joseph Goebbels Fest- rede folgte. Zu hören war Beethovens 9. Sinfonie mit dem Schlusschor „Ode an die Freude“. Von Westerman kümmerte sich auch um die Beziehungen des Orchesters zur Reichsführung, zur Reichsmusik kammer, zur Berliner Konzertgemeinde, zur NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, zum Reichspropagandaministerium und anderen Gruppen des Staats- und Parteiapparates. Der kanadische Autor Misha Aster beschreibt in „Das Reichsorchester“ das Verhältnis des Orchesters zum Dritten Reich als „symbiotisch“, eine „Beziehung aus wechselseitiger Abhängigkeit und Unterstüt- zung“. Von Westerman hatte als professioneller Manager und Quasi- Intendant zwischen dem Orchester und der NS-Bürokratie vermittelnd gewirkt. Er war, wie auch die anderen Orchestermitglieder, ein Staats- diener geworden, mit einem elementaren Unterschied: Mit seiner Parteizugehörigkeit demonstrierte von Westerman eine Systemkon- formität, die zwar seiner Position entsprach, innerhalb des Orchesters gehörte er damit aber einer Minderheit an. Von den 101 Orchester mitgliedern traten nur zwanzig Prozent in die NSDAP ein. 7
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Platz der Akademie, Ruinen des Schauspielhauses (links) und des französischen Doms. Nur vier jüdische Musiker gehörten dem Ensemble an: der Konzert- meister Szymon Goldberg, der Erste Geiger Gilbert Back und die bei- den Solocellisten Nicolai Graudan und Joseph Schuster, die alle zwischen 1934 und 1935 aus Deutschland emigrierten. Zwei weitere, jüdisch verheiratete Musiker wurden trotz des „Arierparagraphen“ geduldet: der Klarinettist Ernst Fischer und der Violinist Bruno Stenzel. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil in der Musik, die als Ausdruck der sogenannten deutschen Seele galt, die Rassengesetze besonders sorgfältig eingehalten wurden und Sondergenehmigungen für den Verbleib der Musiker erwirkt werden mussten. Über das Musikprogramm der Philharmoniker entschied die Partei: Die Reichsmusikkammer (RMK), eine der Abteilungen der RKK, war die zentrale Institution zur Überwachung des Musikprogramms. Die Mitgliedschaft in der RMK war obligatorisch und Voraussetzung für die Ausübung eines Berufs im Bereich Musik. Zu den Hauptaufgaben der RMK gehörte es, Berufsverbote gegen jüdische Musiker durch zusetzen. Ab 1935 wurden „Vierteljuden“ und ihre Ehepartner aus 8
der Reichskulturkammer ausgeschlossen, ab 1938 wurde ihnen der Besuch jeglicher deutscher Kulturveranstaltungen untersagt. Die Reichsmusikstelle im Propagandaministerium entschied darüber, welche Musik erlaubt sei und welche zu verschwinden habe. Als Grundlage dafür diente die im Dezember 1937 erlassene „Anordnung über unerwünschte und schädliche Musik“, gefolgt von einer ersten Zusammenstellung verbotener Musik in den „Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer“ im September 1938. Im Auftrag der Partei und mit Hilfe etlicher Denunzianten wurde 1940 das „Lexikon der Juden in der Musik“ veröffentlicht.5 Das Musikprogramm des Berliner Philharmonischen Orchesters berücksichtigte diese Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen Auflagen, indem jüdische Kompo- nist*innen bzw. nicht-systemkonforme Musik aus dem Repertoire eliminiert wurden. Die Werke von Mendelssohn-Bartholdy, Mahler, Schönberg und vielen anderen waren verboten, sodass 1938/39 etwas mehr als die Hälfte aller aufgeführten Stücke von nur sechs Kompo- nisten stammte: Beethoven, Brahms, Bruckner, Haydn, Mozart und Richard Strauss. In der Nachkriegszeit setzte sich von Westerman jedoch vehement gegen die politische Instrumentalisierung des Orchesters ein. Anläss- lich der bevorstehenden Konzertreise der Berliner Philharmoniker in den USA propagierte er das vermeintlich Unpolitische der Musik. Die Konzertprogramme für die insgesamt 26 Aufführungen bestanden aus einem Repertoire von 20 Kompositionen. Auf dem Programm standen die Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner, Haydn, Mozart und Richard Strauss, und außerdem von Händel, Schumann, Tschaikow- sky, Mahler, Berlioz, Boris Blacher und Samuel Barber. Die politische Brisanz der US-Konzerttour war ihm durchaus bewusst. In dem 1955 geführten Interview mit der New York Times versuchte er im Vorfeld die Wogen zu glätten: „It is possible there will be no objections to us. If there are, we hope we can win over the objectors through our music. We must prove that music has nothing to do with politics.“6 Herbert von Karajan dirigierte als Nachfolger des kurz zuvor verstor- benen Wilhelm Furtwängler die Berliner Philharmoniker. Beider Karri- ere hatte in der NS-Zeit einen steilen Aufstieg erfahren, sie wurden durchaus als Repräsentanten der nationalsozialistischen Kulturpolitik wahrgenommen. Anlässlich des Konzerts in der New Yorker Carnegie Hall kam es zu dramatischen Demonstrationen, insbesondere gegen von Karajan und von Westerman, die das verhasste Deutschland der NS-Zeit personifizierten. Das Citizen’s Committee of 100 rief zum 9
Boykott auf, hinzu kamen Streikposten des Brit Trumpeldor, einer antifaschistischen, antikommunistischen zionistischen Vereinigung, die „Nazis go home“ skandierten. Auf einem Flugblatt wurden von Westerman und von Karajan als „musikalische Diktatoren des Hitler Regimes“ angeprangert.7 Auf den Protestschildern war zu lesen: “More good music without good nazis”, “No harmony with Nazis”, “Protest Hitler’s pet conductor”, “A new tune while gas chambers fume”, “Put Nazis in jail not in concert halls” und “Remember six million jews”. Etwa sechzig Polizisten hielten die zweihundert Demonstranten in Schach. Bei der anschließenden Pressekonferenz fehlte von Karajan, doch von Westerman gab Auskunft über seine eigene und von Karajans NSDAP-Mitgliedschaft. Er habe selbst keine politische Versammlung der NSDAP besucht und seine Mitgliedschaft nur benutzt, um seine Position als Orchestermanager zu behalten. Von Karajans früher NSDAP-Mitgliedschaft im Jahr 1933 widersprach er – erst 1935 sei dieser als Generalmusikdirektor in Aachen der Partei beigetreten.8 Für von Westermans Integrität sprachen sich noch am selben Tag zwei Orchestermusiker aus: Bruno Stenzel und Ernst Fischer betonten dessen Engagement für sie und ihre jüdischen Familien während der NS-Zeit. Von Westerman bewahrte laut Stenzel ihn und seine Frau nicht nur vor der Verfolgung, sondern beließ ihn zudem stillschwei- gend auf der Gehaltsliste, obwohl Stenzel nicht mehr als Musiker tätig sein durfte. „UNSTERBLICHE MUSIK“ UND DER NS-RUNDFUNK Die nationalsozialistischen Säuberungsaktionen machten vor den Rundfunkanstalten keinen Halt. Zehn von elf Rundfunkintendanten mussten unfreiwillig ausscheiden, bei manchen Sendern wurden bis zu 15 Prozent der Mitarbeiter*innen entlassen oder erhielten Berufs- verbot. An ihre Stelle traten systemtreue Parteimitglieder.9 Im Zuge der Gleichschaltung 1933 wurden sämtliche kulturelle Aktivitäten organisatorisch und ideologisch vereinheitlicht. Goebbels steuerte den Rundfunk über die Rundfunkabteilung seines Ministeriums und nahm persönlich Einfluss auf Inhalt und Gestaltung der Sendungen. Stets betonte er die große Bedeutung des Rundfunks für die schnelle und direkte Manipulation der Bevölkerung. 1934 wurde aus der „Funk- Stunde“ der „Reichssender Berlin“, im Juni 1940 verschwanden die 10
letzten Gestaltungsfreiräume mit der Einführung eines national sozialistischen Einheitsprogramms, das bis Kriegsende Anfang Mai 1945 auf Sendung blieb.10 Gerhart von Westerman war, obgleich nicht in herausragender Posi- tion, in seiner Funktion als stellvertretender Rundfunkintendant an der Propagandamaschinerie der NS-Kulturindustrie beteiligt. Im Bayerischen Rundfunk avancierte er nach der „Säuberungswelle“ von 1933 zum alleinigen Leiter der Abteilung Musik.11 Dieser Zeitpunkt korrespondiert mit seinem Parteieintritt im Mai 1933. Dies ist bemer- kenswert, da für die Nachfolge des damaligen Intendanten Kurt von Boeckmann und Vertreter in Programmangelegenheiten keinesfalls Gerhart von Westerman ernannt werden sollte, da dieser, wie aus einem Schreiben der Nationalsozialistischen Betriebszellenorga nisation (NSBO) an Goebbels hervorgeht, als „abbaureif“ galt.12 Es folgte die (unfreiwillige) berufliche Veränderung und Anstellung beim Berliner Kurzwellensender sowie als Intendant des recht abge legenen Reichssenders Saarbrücken. Eine auf das Jahr 1942 datierte Fotoserie aus dem Deutschen Rund- funkarchiv zeigt den „Gruppenleiter Gerhart von Westermann“ mit Parteiabzeichen im Knopfloch bei der Arbeit, im Sessel, am Schreib- tisch, im Regieraum – seine Pose erscheint fokussiert, ein wenig genialisch, machtbewusst. In der Programmdirektion des Großdeut- schen Rundfunks oblag ihm nun die Leitung der Musikabteilung der „Deutschen Stunde“ und der Bereich „Schwerere, weil unbekanntere klassische Musik“. Und obgleich die sogenannten Filialsender wenig Spielraum für eigene Programmgestaltung boten, trugen die von Westerman verantworteten Musiksendungen dazu bei, das deutsche Volk zu unterhalten und für Ablenkung zu sorgen. Für die bedeutende Arbeit als Gruppenleiter erhielt er immerhin das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse und darüber hinaus ein stattliches Jahreshonorar von 15.000 RM, das gemäß den Angaben auf seinem Entnazifizierungs antrag fast so hoch war wie sein gleichzeitiges Einkommen als Orchesterleiter von 18.000 RM. Während des Krieges sendete der Deutsche Rundfunk etliche Konzerte mit dem Berliner Philharmonischen Orchester und schuf mit der nahezu makaber klingenden Reihe „Unsterbliche Musik“ bis 1945 ein wöchentliches Programm, dessen Planung von Westerman verant wortete. In Kollaboration mit dem Propagandaministerium, der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft und der Reichmusikkammer lancierte 11
er mit dieser Reihe gewissermaßen eine „ideologische Verbindung zwischen den Mühen des Krieges und dem Triumph der deutschen Kultur“.13 Die Programmgestaltung passte von Westerman den Regeln der NS-Politik an, indem er sie von jüdischen und „kulturbolsche wistischen Elementen“ freihielt. An die Stelle des „entarteten“ oder „jüdisch beherrschten“ Musikbetriebs trat ein „arischer“, durch und durch deutscher. Dafür wurde alles „Undeutsche“ eliminiert, wenn- gleich ein allgemeiner Konsens darüber fehlte, was unter „deutscher“ Musik, über die geografische Herkunft hinaus, zu verstehen sei. Misha Aster beschreibt die Haltung von Westermans bei der Erfüllung seiner beruflichen Aufgaben als dessen „blinden Fleck“. Die ein- schränkenden Vorgaben einhaltend sah von Westerman seine Auf- gabe hauptsächlich darin, ein künstlerisch wertvolles Programm zu schaffen, andere Aspekte blendete er lieber aus, wie aus seiner Korrespondenz hervorgeht. Weder fasste er die Aktivitäten des Ber- liner Philharmonischen Orchesters während der NS-Zeit, noch die politischen, ideologischen, pädagogischen und unterhaltenden Ziele der Reihe „Unsterbliche Musik“ als propagandistisch oder staats tragend oder grundsätzlich verfehlt auf. Gemeinsam mit Furtwängler beklagte er 1944 lediglich die eingeschränkten Möglichkeiten einer qualitätvollen Programmgestaltung: „Indessen verstehe ich Ihre Verlegenheit wegen der ‚unsterblichen’ Musik sehr wohl. Es ist ja wirk- lich keine Kleinigkeit, alle 8 Tage ein höchstwertiges Programm zusammenzustellen. Ich fürchte nur, daß es ohne Wiederholungen und sonstige Zugeständnisse auf die Dauer überhaupt nicht durch- führbar sein wird. Das Repertoire – von den Künstlern ganz zu schweigen – ist eben begrenzt.“14 Der politische Nutzen von Westermans Rundfunkreihe „Unsterbliche Musik“ (1942-1945) ist offenkundig. Darüber hinaus trug er als Musik- wissenschaftler zur Heroisierung der deutschen Musik und deren Schöpfer bei – mit der Frage nach dem spezifisch Deutschen und dem Ausschluss alles Nichtdeutschen reihte er sich in die national sozialistische Rassenkunde auf musikalischem Gebiet ein.15 Sein Credo für die deutsche Musik stand im Einklang mit Goebbels Propaganda. Da diese Vorstellung von der Überlegenheit deutscher Musik im Grunde seiner Überzeugung entsprach, nutzte er die einschlägigen nationa- listisch-chauvinistischen Phrasen der Sprache des Dritten Reiches als Legitimation für seine beruflichen Aktivitäten, wie etwa für die von staatlicher Seite üppig subventionierten Orchesterreisen ins Ausland: „Die Weltgeltung der deutschen Musik ist unbestritten. Diese 12
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Die Deutsche Staatsoper Unter den Linden. allgemein anerkannte Vorherrschaft auf einem so wesentlichen Kulturgebiet beruht in allererster Linie auf der Bedeutung der klassi- schen deutschen Musik. Es ist ein feststehendes Phänomen, daß die entscheidende Entwicklung der Kunstmusik, wie wir sie in der klas sischen Musik erkennen, fast ausschließlich eine Domäne deutschen Geistes war.“16 13
ENTNAZIFIZIERUNG Wie die meisten Deutschen ließ sich Gerhart von Westerman unmit- telbar nach Kriegsende aus den Listen der NSDAP als Parteimitglied streichen. Dieses erwähnt von Westerman in einem Schreiben an den Reviervorsteher der Polizei, Herrn Schaul, um sich und seinen Bruder, Herbert von Westerman, möglichst schnell zu rehabilitieren.17 In den ersten Nachkriegsjahren hielt er sich bis zu seiner Rückkehr nach Berlin in Oldenburg auf. Im Zentrum der idyllischen Kleinstadt ver- fasste er die populären Nachschlagewerke „Knaurs Konzertführer“ und „Knaurs Opernführer“, die zu Bestsellern wurden. Mehrmals überarbeitet und mit Vorworten von prominenten Musikern versehen, sind diese Kompendien zwar nicht vollständig, aber sie können als Versuch gesehen werden, nach der zensierenden und denunzierenden Musikgeschichte der Nationalsozialisten Musik vorurteilsfreier zu betrachten. Bis die von den Nationalsozialisten verfemte Musik bzw. die ausgegrenzten und die verfolgten Musiker*innen wieder in die Musikwelt zurückfanden, verging jedoch noch viel mehr Zeit. Von Westermans Entnazifizierungszeugnis stellte die Behörde der britischen Alliierten im April 1949 in Hannover aus. Die britischen Entnazifizierungsverfahren fanden in weniger strengem Umfang statt als bei den US-Amerikanern. Das Entnazifizierungsformular ver- langte unter Punkt C verpflichtend Angaben über Mitgliedschaften in zehn NS-Organisationen. Neben der NSDAP waren dies u.a. SS, SA und Gestapo. Gerhart von Westerman gab über seine Partei mitgliedschaft ordnungsgemäß Auskunft. Angaben über die Mit- gliedschaft in über vierzig weiteren nationalsozialistisch gesinnten Vereinen, Verbänden, Orden, von denen er in fünf Mitglied war (För- derndes Mitglied der SS, Reichskulturkammer, Deutsche Arbeitsfront, NS-Volkswohlfahrt, Kolonialbund), mussten nur gemacht werden, wenn man ein Amt darin bekleidete. Die entlastenden Zeugen aussagen und eidesstattlichen Erklärungen stammen von Otto Freundorfer, einem ehemaligen Angestellten beim Rundfunk, den Komponistenkollegen Hans Knappertsbusch und Rudolf Siegel sowie von dem Diplomingenieur und „Mischling“ Erwin Kretzer, der von Westerman eine „antifaschistische Gesinnung“ bereits am 8. Juni 1945 bescheinigte. Sein Engagement für die beiden jüdischen Musiker aus dem Berliner Philharmonischen Orchester findet hier noch keine Erwähnung. 14
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Abriss der Berliner Schlossruine. Dass sich Gerhart von Westerman als Musikspezialist mehrfach in den Dienst des Nationalsozialismus stellte, fand in dem Entnazifizie- rungsverfahren keine besondere Beachtung: „Seine Tätigkeit beim Rundfunk beschränkte sich auf Musik und war unpolitischer Natur.“18 Letztlich wurde er in Kategorie V als „Entlasteter“ eingestuft, also als eine Person, die vor einer Spruchkammer nachweisen konnte, dass sie sich nicht schuldig gemacht hatte. Als NSDAP-Mitglied, dessen Parteibeitritt vor dem 1. Mai 1937 lag, bedurfte es überzeugen- der Argumente und Zeugenaussagen, um den begehrten „Persil- schein“ zu erhalten und nicht als Belasteter, Minderbelasteter oder Mitläufer eingestuft zu werden. Die Special Branch empfahl bei in Kategorie V Eingestuften sogar die Weiterbeschäftigung bezie- hungsweise Anstellung aufgrund von Nachweisen oppositioneller Aktivitäten. 15
Nach heutigem Wissensstand lässt sich sagen, das Gerhart von Wes- terman vermutlich kein fanatischer Nationalsozialist gewesen ist. In erster Linie ging es ihm darum, dem eigenen künstlerischen Anspruch zu genügen. Das „geschickt ausgeglichene“ Konzertprogramm von Klassik und Moderne eines Kollegen erschien ihm daher fünf Jahre nach Kriegsende vor allem aus dem Grund gelungen, weil es „wohl selbst die traditionsbesessensten Spiesser schlucken, ohne zu merken, was man ihnen dabei alles vorgesetzt hat“.19 Ganz geheuer war ihm das Entnazifizierungsverfahren und die Beurteilung seiner Tätigkeiten jedoch nicht, denn ein Jahr nach dem Erhalt seines Entnazifizierungs- bescheids war er der Meinung, es sei nicht genug Gras über sein Engagement in der Zeit des Nationalsozialismus gewachsen. Trotz Furtwänglers Drängen konnte er sich nicht dazu entschließen, seine alte Position in Berlin zu übernehmen: „Berlin ist für mich ein zu heißer Boden“.20 Es ist kein Geheimnis, dass die Vergangenheitsaufarbeitung der NS-Zeit in der westdeutschen Gesellschaft nicht nach Kriegsende, sondern im Grunde erst in den 1960er Jahren begann. Die politische Säuberung in Gestalt der Entnazifizierungsverfahren gelang den west- lichen Alliierten nur teilweise – sehr viele Täter*innen und Mitläufer*in nen wurden nur allzu schnell rehabilitiert. Bis heute kommen die NS-Aktivitäten von vermeintlich unbescholtenen Bürgern ans Licht: 2019 erhob „Die Zeit“ zum Beispiel schwere Vorwürfe gegen Alfred Bauer, den ersten Leiter der Berlinale, dessen Tätigkeit als hochrangi- ger Funktionär der NS-Kulturbürokratie bis dahin nicht bekannt war.21 Als Mitglied der NSDAP und der SA arbeitete Bauer in der Filmindustrie bei der UFA. Von 1942 bis 1945 war er Referent der Reichsfilmintendanz und in diesem Bereich der verlängerte Arm von Joseph Goebbels. Bauer bezeichnete sich nach dem Krieg als „innerer Widerständler“ und verschleierte seine Funktion in der NS-Filmindustrie. Stattdessen vertrat er geschickt die Interessen des Senats und der Alliierten, seine Expertise und Kontakte waren hilfreich, um das neue Filmfestival auf die Beine zu stellen. Der große Erfolg der ersten Berlinale half ihm, seine Position über viele Jahre beizubehalten. Gerhart von Westerman profitierte nach dem Zweiten Weltkrieg von seiner aristokratisch anmutenden Art, seinen ausgewiesenen Managerfähigkeiten und seiner Mehrsprachigkeit (Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch, Italienisch). Direkt nach Kriegsende war Berlin unter sowjetischer Besatzung. Von Westerman übernahm die Ver- handlungen für das Orchester und vermittelte – wie zuvor für die 16
Entnazifzierungsbescheid vom 5. April 1949 und NSDAP-Mitgliederkarteikarte. Nationalsozialisten – nun für die sowjetische Besatzungsmacht auf Russisch. Ebenso einen mühelosen Umgang mit den westlichen Alliier- ten pflegend wurde er ab 1952 Intendant der Berliner Philharmoniker und realisierte ab 1951 und in den nachfolgenden Jahren das Pro- gramm für die Berliner Festwochen. Gerhart von Westerman war im Vorstand des SFB Rundfunkrates, erhielt 1960 das Bundesverdienst- kreuz und starb 1963 hoch dekoriert. Sein Ehrengrab der Stadt Berlin befindet sich auf dem Waldfriedhof Dahlem. Gerhart von Westerman brachte seinen beruflichen Werdegang und seine Kontakte nie mit seiner Parteizugehörigkeit in Verbindung. Offene Angriffe wie die des Dirigenten Leo Borchard, dessen Biograph schreibt, er habe von Westerman 1945 zornig als „Faschist“ bezeichnet, sind selten.22 Dass er sich mit den Vorgaben der Nationalsozialisten elegant zu arrangieren wusste, lobte hingegen der renommierte 17
Musikwissenschaftler Hans Heinz Stuckenschmidt im Jahr 1959: „Die Noblesse, mit der er während der dreißiger Jahre den Kurzwellen sender leitete, oft in Konflikt mit kunstfeindlichen offiziellen Richt linien, ist unvergessen.“23 Stuckenschmidt selbst wurde 1934 aufgrund seines Engagements für die Neue Musik und jüdische Musiker mit einem Schreibverbot belegt und emigrierte 1937 nach Prag. Auch der Journalist Walter Lennig betonte 1962 von Westermans Beharrlichkeit und diplomatisches Geschick: „Sein Leben ist reich an Spannungen, Fehden und Auseinandersetzungen gewesen. Aber daß dieser Mann stets ein klares Konzept hatte und immer bereit war, der modernen Kunst auch dort und dann die Wege zu ebnen, wenn dies weit fort von seinen künstlerischen Sympathien führte, das würden heute selbst seine Feinde nicht zu bestreiten wagen – sofern er, dem es frü- her bestimmt nicht daran fehlte, heute überhaupt noch Feinde haben sollte. Er hat jedenfalls in diesen elf Jahren die Berliner Festwochen zu einem völlig unbayreuthischen Bayreuth für Kunst und Künstler der ganzen Welt gemacht.“24 Trat von Westerman also nun für die moderne Musik oder gegen das nationalsozialistische System ein? Als prominenter Funktionär der NS-Kulturpolitik, der die restriktiven Vorgaben ausführte, gehörte er zu den Millionen Deutschen, die das NS-Regime unterstützten und es auf diese Weise für lange Zeit ermöglichten. DIE ERSTEN JAHRE DER BERLINER FESTWOCHEN Etablierte Traditionen Gerhart von Westermans Programmgestaltung könnte man als gemäßigt modern bezeichnen, sein Fokus lag auf künstlerisch eta blierten Traditionen, die wenig Raum für experimentelle Formate ließen. Seine Vorbilder für die Berliner Festwochen waren die klassi- schen Festspielorte Bayreuth, Salzburg und München. Um diesen annähernd gerecht zu werden, postulierte er für die „Grosststadt festspiele“ in Berlin „höchste Qualität in Auswahl und Wiedergabe der Werke“. 25 Angesichts der wenige Jahre zuvor verfolgten und ver- femten Künstler*innen und deren dramatischer Schicksale wirkt der auschließliche Wunsch nach repräsentativen Veranstaltungen aus heutiger Sicht allerdings nichtssagend und banal. 18
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Berlin, Anhalter Bahnhof. Blick auf die Ruine von der Stresemannstraße. Die Finanzierung der ersten beiden Ausgaben der Berliner Festwochen 1951 und 1952 übernahmen die westlichen Alliierten, die in dieser Zeit großen Einfluss auf das künstlerische Programm hatten. USA, Groß- britannien und Frankreich demonstrierten auf diese Weise offensiv Berlins Verbundenheit mit der westlichen Kultur. Erst ab 1953 oblag die Finanzierung allein dem Land Berlin. Hatte sich das Programm mit der unabhängigen Finanzierung verän- dert? Welche Kriterien fanden bei der Programmauswahl Anwendung? Anhand der ersten drei Festivalprogramme könnte die folgende Ana- lyse zu einer kritischen Neubewertung beitragen. Bei den hier genauer betrachteten Veranstaltungen stehen folgende Fragen im Zentrum: Welche deutschen, internationalen oder jüdischen Künstler*innen 19
Zur Eröffnung des im Krieg zerstörten Schiller-Theaters im Rahmen der 1. Berliner Festwochen 1951 versammeln sich begeisterte Menschen. holte von Westerman nach Berlin? Waren unter den deutschen Künst- ler*innen ehemalige Parteimitglieder vertreten? Welche vom NS-Re- gime verfolgten oder ins Exil gezwungenen Komponist*innen und Interpret*innen durften bei dem Festival auftreten? Wurde der Versuch unternommen, die Komponist*innen von der Liste „entarteter Musik“ zu rehabilitieren? Wer nahm die Einladung an oder verweigerte sie gar? Nur wenige Musiker*innen konnten in der Emigration ihre Karriere im gleichen Maße fortsetzen. Vielen in der Weimarer Republik bekannten Sänger*innen war der Neuanfang in der Fremde nicht geglückt. Folg- lich war in der Nachkriegszeit die Nachfrage nach den längst in Ver- gessenheit geratenen Künstler*innen eher gering und zugleich das Bedürfnis groß, aus der NS-Zeit bekannte Stars auf der Bühne zu sehen, während die anderen zuweilen Mißtrauen oder offenen Anfein- dungen ausgesetzt waren, etwa weil sie Deutschland verlassen oder sich öffentlich kritisch geäußert hatten. 20
Als exzellent vernetzter Manager hatte Gerhart von Westerman häufig mit ehemaligen Kolleg*innen aus der Musikszene zu tun. Als die Berliner Festwochen 1951 erstmals in der Deutschen Oper statt- fanden, konnte er mit der Unterstützung des Intendanten Heinz Tiet- jen rechnen, der diesen Posten erneut inne hatte. Tietjen gelang mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine steile Karriere: er wurde von Hermann Göring zum Preußischen Staatsrat ernannt und trug das „Goldene Parteiabzeichen“. Als Generalintendant aller Preußischen Staatstheater, engem Vertrauten von Winifred Wagner und Leiter der Bayreuther Festspiele von 1931 bis 1944 ist er für seine „oppor tunistische Haltung“26 bekannt geworden. Nach Kriegsende sollte Tietjen, auf Befehl des Generaloberst Bersarin, das Berliner Theaterwesen ab Juni 1945 wieder aufbauen. Allerdings forderte der Dirigent Leo Borchard, der die Jahre zuvor in innerer Emigration und aktivem Widertsand verbrachte, dessen Amtsenthebung und leitete damit ein mehrjähriges Entnazifizierungsverfahren ein, das Tietjen unbeschadet überstand. Nach seiner Entlastung übertrug ihm der Berliner Magistrat 1948 wieder die Leitung der Deutschen Oper. Das Programm der 1. Berliner Festwochen: 5. September bis 30. September 1951 Gemeinsam mit Heinz Tietjen leitete Gerhart von Westerman die 1. Berliner Festwochen. Das offizielle Programm bestand aus Orches- ter- und Kammerkonzerten, Theater- und Tanzaufführungen, Panto- mimen, Gastspielen sowie Kunstausstellungen, Feuerwerk, Segel regatten und Boxwettkämpfen. Die insgesamt 250 Vorstellungen verzeichneten 153.000 Besucher*innen, davon zählte der Tag der Sensationen, eine „Monstre-Varieté-Veranstaltung“ im Olympia stadion, allein 100.000 Besucher*innen, die restlichen Kulturveran staltungen ein weiteres Drittel.27 Anlässlich der Einweihung des Schiller-Theaters spielte das Berliner Philharmonische Orchester Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie und „Die Weihe des Hauses“ unter der Leitung Wilhelm Furtwänglers, mit den Solist*innen Elisabeth Grümmer, Margarete Klose, Peter Anders und Josef Greindl – alles ehemalige Vorzeigesänger*innen der NS-Zeit. Weitere Solist*innen anlässlich der Konzerte waren Erna Berger, Sieg- fried Borries, Erik Then-Bergh sowie die Dirigenten Joseph Keilberth, Hans Rosbaud und Carl Schuricht, die ihre Karrieren in Deutschland unter anderem fortführen konnten, weil sie auf der „Gottbegnadeten liste“ von 1944 standen, also der Liste derjenigen, die aufgrund ihres 21
hohen Stellenwerts nicht an der Kriegsfront oder in der Rüstungs industrie eingesetzt werden würden. Gefeiert wurden auch Rudolf Schock und der junge Bariton Dietrich Fischer-Dieskau. Zu den weni- gen internationalen Gästen zählte der Violinist Tibor Varga; Sergiu Celibidache und Enrico Mainardi waren bereits in Berlin. Der von Otto Klemperer geförderte Ferenc Fricsay kam von Budapest über Salzburg nach Berlin, um dem RIAS-Sinfonieorchester viele Jahre vorzustehen. Zurück nach Berlin emigrierte einzig der jüdische Dirigent Leo Blech, um mit achtzig Jahren anlässlich des Festivals ein Konzert im entlege- nen Jagdschloss Grunewald zu dirigieren. Neben Beethoven, Haydn, Mozart und Smetana standen modernere Werke auf dem Programm, von Leoš Janáček, Albert Roussel, Anton Webern sowie Werke der wenige Jahre zuvor als „entartet“ eingestuften Komponisten Alban Berg, Paul Hindemith und Ernst Krenek, dessen Jazzoper „Jonny spielt auf“ die Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt hatten. Als Prototyp der Zeitoper atmete diese das Lebensgefühl der Goldenen Zwanziger und galt als Inbegriff der Freiheit der Künste (Uraufführung am 10. Februar 1927 in Leipzig). Der Jazzmusiker auf dem Titelbild des Klavierauszugs war von den Nationalsozialisten für das Plakat der Ausstellung „Entartete Musik“ (1938) missbraucht worden. Außerdem kam ein Werk des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy zur Aufführung sowie Uraufführungen von Boris Blacher, Wolfgang Fortner, Ernst Pepping und Günther Neumann. Finanziert von den westlichen Alliierten kamen internationale Gäste wie das Orchèstre National de Paris unter der Leitung von Ernest Bour. Der renommierte Dirigent wurde in den sechziger Jahren als Urauf führungsdirigent für Neue Musik unter anderem bei den Donau eschinger Musiktagen gefeiert. Jahre zuvor produzierte er, nach der Annexion des Elsass, im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda volksnahe Rundfunksendungen. Zu den Festwochen brachten die westlichen Alliierten auch die Comédie Française aus Paris mit Moliè- res „Bürger als Edelmann“ und das Juilliard Quartett aus den USA, das im British Centre spielte, sowie das Old Vic Theatre aus London mit Shakespeares „Othello“ und den Hall Johnson Choir, der mit afro amerikanischer spiritueller Musik offiziell die USA bei den Berliner Festwochen repräsentierte. Außerdem traten die Musicaltruppe „Oklahoma“ und die bedeutende Charakerdarstellerin Judith Ander- son mit Ensemble in Robinson Jeffers’ Bearbeitung der griechischen Tragödie „Medea“ auf. Weitere Höhepunkte waren Schillers „Wilhelm Tell“ im Schiller-Theater sowie das Gastspiel des Düsseldorfer Schau- spielhauses mit Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe in T.S. Eliots 22
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Vorbereitung zu den Weltfestspielen, die vom 5. bis zum 19. August 1951 in Ost-Berlin stattfinden. Auf dem Marx-Engels-Platz werden die letzten Arbeiten an der Pflasterung durchgeführt. „Cocktail Party“. Zu Gast waren außerdem der jüdisch-französische Pantomime und ehemalige Widerstandskämpfer Marcel Marceau in der Rolle des „Monsieur Bip”, der als „einer der größten lebenden Bühnenkünstler, als Botschafter der Völkerverständigung und des Friedens” gefeiert wurde.28 Doch während die Pantomime und der Ausdruckstanz der amerikanischen Tänzerin Angna Enters und ihrem deutschen Pendant Dore Hoyer im Westen als Innovation gefeiert wurde, brandmarkte das Zentralkomitee der SED diese und viele andere westliche Kunstformen als unverständlichen Formalismus und sagte diesen, im Einklang mit den Grundprinzipien stalinistischer Kulturpolitik, den Kampf an. 23
Das Programm der 2. Berliner Festwochen: 31. August – 30. September 1952 Für die 2. Berliner Festwochen war Gerhart von Westerman nun alleiniger Intendant. Das Programmheft führt sechs bis dreizehn Veranstaltungen täglich an über dreißig Orten in allen westlichen Berliner Bezirken auf, meist in den großen Häusern, aber auch auf Freiluftbühnen und an kleineren Veranstaltungsorten. Von Westerman argumentierte für sein breit angelegtes Programm mit der Idee für ein „Sozialgewissen“, der Sinn der Festwochen läge darin, „den Menschen dieser Stadt, unseren abgetrennten Brüdern und Schwes- tern aus dieser Stadt, und aus den geschlossenen Ländern ringsum, Freude, Tröstung, Ermutigung zu bringen – für sie alle ein Licht wider die Dunkelheit zu setzen“. 29 Neben dem klassischen Musikrepertoire enthielt das Programm der Berliner Festwochen 1952 einige wenige zeitgenössische Werke, darunter Erstaufführungen der zuvor NS-lini- entreuen Komponisten Wolfgang Fortner und Werner Egk. Letzterer stand auf der „Gottbegnadetenliste“ und war als ehemaliger Leiter der STAGMA, der Vorläuferorganisation der GEMA, mit dem Gesetz für die Vermittlung von Musikaufführungsrechten unter der Kontrolle des NS-Staatsapparates betraut. Des Weiteren stand die Urauffüh- rung von Tatjana Gsovskys Ballettpantomime „Der Idiot“ auf dem Programm, mit Klaus Kinski in der Hauptrolle und der Musik von Hans Werner Henze. Gsovsky montierte den Text aus Dostojewski-Zeilen und Bibelzitaten. 1924 aus Russland geflohen, gründete Gsovsky eine Ballettschule in Berlin. Einem von den Nazis auferlegten Berufsverbot aufgrund einer Tanzaufführung nach Motiven von Goya folgte die Emigration nach Paris. Ein Neuanfang gelang ihr nach Kriegsende bis 1951 als Ballettleiterin der Ostberliner Staatsoper. Unvereinbare Spannungen mit den SED-Kulturfunktionären führten dazu, dass Gsovky 1951 mit einem Großteil der Tänzer*innen in den Westteil der Stadt ging, in dem sich ihre Tanzschule befand, und wo sie von 1953 bis 1966 als Ballettmeisterin und Chefchoreografin an der Deutschen Oper wirkte. Karl Amadeus Hartmann, dessen kritische, eindringliche Werke im Nationalsozialismus nicht zur Aufführung gelangten, wurde nun dirigiert von dem ehemals „gottbegnadeten“ Staatskapellmeister Eugen Jochum, der zu den bekanntesten Interpreten der Werke Anton Bruckners zählte. Zur Uraufführung kam Boris Blachers „Preußisches Märchen“, sein zweites Klavierkonzert gespielt von seiner Frau, der Pianistin Gerty Herzog, mit Hans Rosbaud und 24
[ Das Motiv ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar. ] Die Ruine des Schauspielhauses. dem Berliner Philharmonischen Orchester. Blacher gehörte zu den wenigen modernen Komponist*innen, die während des Nationalso zialismus gespielt und häufig aufgeführt wurden. Rosbaud zählte zu den Rundfunkpionieren für das musikalisch Neue. Seine frühe Zusammenarbeit mit Arnold Schönberg für den Rundfunk stand für ihn in keinem Widerspruch zu seiner Anpassungsfähigkeit an die neuen Umstände in der Zeit des Nationalsozialismus. Weitere Dirigate hatten Hans Knappertsbusch und Karl Böhm. Beide gingen ihren Kar- rieren in der NS-Zeit erfolgreich ohne Parteimitgliedschaft nach und standen auf der 15 Namen umfassenden Liste der vom Kriegsdienst freigestellten Dirigenten. Igor Markewitsch, ein Mitglied der italieni- schen Widerstandsbewegung, und der in den 1920er Jahren in die USA emigrierte Eugene Ormandy dirigierten das RIAS-Symphonie-Orches- ter. Der Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper Leopold Ludwig führte bei seinem Gastspiel Strawinskys „The Rake’s Progress“ 25
Gastspiel des Musicals „Porgy und Bess“ in den Borsig-Werken in Tegel, Berliner Festwochen 1952. Am Flügel Clarice Crawford. auf. Ludwig war 1942 von Hitler zum Staatskapellmeister ernannt worden und ab 1943 als Dirigent an der Städtischen Oper Berlin tätig. Seine seit 1937 bestehende NSDAP-Mitgliedschaft hatte er verschwie- gen, was ihm eineinhalb Jahre Gefängnis auf Bewährung und eine Geldstrafe einbrachte. Ähnliche Falschangaben hatten zu einer Verur- teilung von Elisabeth Flickenschildt geführt, die bei den Festwochen in Jürgen Fehlings Inszenierung „Maria Stuart“ brillierte. Ludwig und Flickenschildt standen auf der „Gottbegnadetenliste“. Zu den Gastspielhöhepunkten zählten die Aufführungen der Choreo- graphen George Balanchine und Jerome Robbins mit dem New York City Ballett, deren neoklassisches Ballett durch eine moderne, puristisch-abstrakte Ästhetik gekennzeichnet war. Das renommierte Sadler’s Wells Ballett aus London präsentierte „Giselle“ in der Produk- tion von Frederick Ashton mit der legendären Ballerina Margot Fonteyn. Zu Gast war auch das Théâtre National Populaire Jean Vilars mit Heinrich von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“, einer Aufführung, die nicht nur aufgrund der Hauptdarsteller*innen, Gérard Philipe und der noch unbekannten Jeanne Moreau, für Furore sorgte, 26
sondern auch aufgrund der Thematik, die die Befehlsverweigerung in einer deutschen Armee zum Inhalt hat. Gefeiert wurde der Auftritt von Harald Kreutzberg, ein herausragender Vertreter des Ausdruckstanzes und Schüler Mary Wigmans, der seine Karriere während der NS-Zeit in Deutschland ohne Unterbrechung fortsetzen konnte. Wie im Jahr zuvor war auch die Pantomime wieder ein großer Erfolg und mit der indischen Tanzgruppe „Ram Gopal“ wurde erstmals außereuropäische Kunst vorgestellt. Neue diskursive Formate fanden statt mit einer Lesebühne, Buchpremieren und den Berliner Gesprächen „Wo stehen wir heute?“. In der Hochschule der Künste fand die Ausstellung „Französische Maler der Gegenwart“ statt. Der Kunsthistoriker Adolf Jannasch, Leiter des Amtes für Bildende Kunst beim Magistrat von Berlin und späterer Leiter der „Galerie des 20. Jahrhunderts“, konzipierte die Ausstellung mit Maurice Jardot, einem ehemaligen Mitarbeiter des Kunsthändlers Daniel-Henry Kahnweiler. Zu den jüdischen Komponisten, deren Werke zu hören waren, zählten der Zeitgenosse Aaron Copland und Giacomo Meyerbeer, zu dessen Bewunderern lange Zeit Richard Wagner zählte. Vier Studio-Opern entstanden im Auftrag der Berliner Festwochen, von Heimo Erbse, Wolfgang Fortner, Theo Goldberg und Hans Werner Henze, der zu einem der wichtigsten Komponist*innen des 20. Jahrhunderts und Vertreter Neuer Musik avancierte. Ein wichtiger Programmpunkt war die Aufführung der Werke von Paul Hindemith, dessen provozierend neuartige Klänge als „Atonalität“ im Nationalsozialismus große Ablehnung erfuhren. Zudem hatte die Ausstellung „Entartete Musik“ 1938 ausdrücklich die jüdische Abstammung seiner Frau Gertrud ange prangert. Es kam zu einem Aufführungsverbot, auf das er schließlich mit Emigration reagierte. Das New Yorker Gastspiel „Porgy und Bess“, 1935 von George Gershwin uraufgeführt, hätte zur NS-Zeit nicht gespielt werden dürfen. Bis zur erzwungenen Absetzung hatten deutsche Medien 1943 die Aufführung in Kopenhagen als „jüdische Negeroper mit Urwaldgeschrei“ diffamiert. Das Programm der 3. Berliner Festwochen: 30. August bis 27. September 1953 Da die westlichen Alliierten die Finanzierung der Berliner Festwochen im dritten Jahr nicht mehr unterstützten, fehlten in dem Programm die kostenintensiven internationalen Gastspiele. Dennoch wirkt es 27
auf den ersten Blick nicht weniger umfangreich, weil die Berliner Institutionen mit einem breiten Veranstaltungsspektrum aufwar teten. Wie in den vorherigen Jahren wurde kein Unterschied bei der Auflistung von Aufführungen gemacht, ob sie nun im Titania-Palast oder im Sportpalast gezeigt wurden. Dafür wurde nun auch im Pro- grammheft die Leistung von Gerhard von Westerman hervorgehoben: 1953 wird er zum ersten Mal auf dem Schmutztitel desselben als Intendant genannt. Eröffnet wurden die 3. Berliner Festwochen im Schiller-Theater mit Max Regers Variation über ein Thema von Beethoven und einem Werk von Georg Friedrich Händel, sie standen unter der Leitung von Robert Heger. Der ehemals „gottbegnadete“ Staatskapellmeister und spätere Präsident der Hochschule für Musik und Theater in München hatte seine NSDAP-Mitgliedschaft weit hinter sich gelassen und seine Karri- ere nach einem raschen Entnazifizierungsverfahren unbeschadet fortsetzen können. Heger selbst sah in seinem beruflichen Fortkom- men die Vollendung eines „guten Schicksal“.30 Weitere Dirigate hatten Leopold Ludwig, Heinz Tietjen, Richard Kraus und die ehemals in den Rundfunkorchestern tätigen Artur Rother und Hans Rosbaud. Herbert von Karajan dirigierte, neben Wilhelm Furtwängler, das Berliner Phil- harmonische Orchester. Die nationalsozialistische Vergangenheit schien wie eine unbedeutende Episode: Alle genannten Dirigenten waren durchgängig an großen Konzerthäusern und einige später auch in der Lehre tätig. Aus dieser Auflistung von Dirigenten fällt das Gast- spiel der Städtischen Oper Frankfurt am Main heraus, bei dem Sir Georg Solti die Erstaufführung der Neufassung von Paul Hindemiths „Cardillac“ dirigierte. Solti gehörte nicht nur zu den jüngeren Stars am Dirigentenhimmel, ihm war 1939 die Flucht vor den ungarischen Judenpogromen in die Schweiz gelungen. Auf Vermittlung der US- amerikanischen Militärregierung trat Solti 1946 als Generalmusik direktor der Bayerischen Staatsoper in München die Nachfolge des abgesetzten Clemens Krauss und des kurzfristig eingesetzten Hans Knappertsbusch an, der ein Auftrittsverbot bis 1947 erhalten hatte. Zu den Solist*innen zählten unter anderem Gerda Lammers und Ernst Haefliger, die ihre Debüts in den frühen 1940er Jahren feier- ten und in den Nachkriegsjahren daran anknüpfen konnten. Den gesamten Schubert-Zyklus brachten die einzelnen Kunstämter der westlichen Bezirke zur Aufführung, eine neue Behörde, die sich ab 1947 für die Rechte von Künstler*innen einsetzte und in denen Aus stellungen und Konzerte stattfanden. 28
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