50 Jahre Club Voltaire - Eine soziokulturelle Erfolgsgeschichte in Tübingen - tuebingen-info.de
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Foto: Matthias Knodel Kunst und Kultur 50 Jahre Club Voltaire Eine soziokulturelle Erfolgsgeschichte in Tübingen Rainer Imm Von Beginn an hat sich der Club Voltaire in der Tübinger Haaggasse als Teil einer alternativen Kulturbe- wegung gesehen. Kultur sollte nicht mehr reserviert sein für ein elitäres Publikum und sollte zudem poli- tisch wirken. Mit seinen Festivals und den regelmäßigen Jahrespro- grammen aus traditionellen und neuen Kunstformen setzt er seine Ansprüche seit einem halben Jahr- hundert verlässlich um. Aus der ehemaligen Hufschmiede und Scheuer wurde eine soziokulturelle Erfolgsgeschichte. 64 Tübinger Blätter 2022
Kunst und Kultur E in Club-Name wie ein Statement. Foto: Ralf Wenzel Schließlich war der politische Phi- losoph und Dramatiker mit dem Künst- lernamen „Voltaire“ – eigentlich hieß er François-Marie Arouet – mit seinen rund 700 Schriften und mehr als 20 000 Briefen einer der wichtigsten Denker der französischen Aufklärung. Die beste Vor- aussetzung also, um Namensgeber eines neuen Tübinger Jugendclubs zu werden, den einige „progressive“ Mitglieder des Bundes Deutscher Pfadfinder Ende der 1960er gründen wollten. Das könnte man meinen, doch die Wirklichkeit der Namensgebung war viel unspektakulärer. Bei der Eröffnung im März 1970 wurde der Jugendclub zum Club Voltaire, weil schlichtweg niemandem etwas Besseres einfiel. Ganz profan ohne Diskussionen und ohne ideologischen Unterbau. Spä- ter gab es Stimmen, die lieber einen Club Rousseau gehabt hätten, nicht zuletzt deshalb, weil Jean-Jacques Rousseau für frühes Musizieren, kritisches Denken und Einüben von Empathie stand. Viele der damaligen Liedermacher sahen in ihm Das Plakat zum 3. Tübinger Folk- und Liedermacher Festival 1977. ihren Mentor und Bruder im Geiste. Am 19. Dezember 1972 schließlich grün- deten elf Leute den Verein Club Voltaire sagt Eckard Holler, Mitbegründer und wurde aus dieser ehemaligen Gerberei, e. V. und gaben sich eine Satzung. Über- langjähriger Vorsitzender des gemein- Schlosserei, Hufschmiede und Scheuer haupt war der Start dieses Jugendclubs nützigen Vereins, noch Jahre später. Kein eine soziokulturelle Erfolgsgeschichte. kein leichter. „Wir haben unter furcht- Wunder, die Tübinger Haaggasse 26b war baren Bedingungen gearbeitet. Die Erin- nichts anderes als eine fünfhundert Jahre Kultur für alle und von allen nerung an diese Zeit ist so schlimm, dass alte Bruchbude mit morschen Balken und Der Schlussbericht der Enquete-Kom- ich keinem raten möchte, so anzufangen“, ohne sanitäre Einrichtungen. Und doch mission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2007 beschreibt Anspruch, Auftrag und Sepp Buchegger hat den Club mit seinen Zeichnungen all die Jahre „begleitet“. Motivation der Gründer und Engagierten des Clubs in idealer Weise: „Soziokultu- Zeichnung: Sepp Buchegger relle Zentren repräsentieren einen Teil der Soziokultur, die zu Beginn der 70er-Jahre im Zusammenhang mit den ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ entstand. Damals waren sie Teil einer alternativen Kultur- bewegung, die sich bewusst von den tra- ditionellen Kulturinstitutionen und klas- sischen Kunstformen absetzte und sich als Gegenöffentlichkeit zum bürgerlichen Kunstbetrieb verstand. Viele soziokultu- relle Zentren gründeten sich gegen den politischen Widerstand von Parteien und Kommunalverwaltungen. Eng verbunden mit den Formeln von ‚Kultur für alle‘ und ‚Kultur von allen‘ entstand eine kulturelle Praxis mit starkem Gesellschaftsbezug und Offenheit für alle sozialen Schich- ten.“ Tatsächlich sah sich der Club in der Tradition der Achtundsechziger. Auch er wollte den Muff unter den Talaren vertreiben und dem verkrusteten Kul- Tübinger Blätter 2022 65
Kunst und Kultur Foto: Manfred Grohe Die Hauptkonzerte der Festivals fanden auf dem Tübinger Marktplatz statt. turbegriff ein Ende setzen. Kultur sollte Vomáčka, einer der Gitarren-Größen in Tagblatt titelt damals auf der Lokalseite: nicht mehr reserviert sein für ein über- Deutschland zu dieser Zeit. Nach ersten „Club Voltaire entschärft – Rückzug in schaubares, elitäres Publikum, sie sollte inhaltlichen Nebelfahrten konzentrierten Kultur-Gefilde“. zudem auch politisch wirken. Logisch, sich die Organisatoren des Clubs auf die Schon bald fanden wöchentliche Kon- dass Einwohner und Stadtverwaltung Folk- und Liedermacherbewegung. „Eine zerte mit Folkmusik und jungen deut- den neuen Ideen ablehnend gegenüber- Neuausrichtung“, so informierte ein schen Liedermachern in der Haaggasse standen, ja sogar feindselig. Die Zeit wie Flugblatt, weil „eine Initiative von Leuten statt. Motiviert durch die positiven Erfah- auch die örtlichen und politischen Gege- aus der Studentenbewegung und der fort- rungen und angelehnt an die Burg-Wal- benheiten waren alles andere als günstig schrittlichen Jugendarbeit die Impulse deck-Festivals von 1964 bis 1969 – sie dafür. Anfang der 1970er konnte man der 68er-Bewegung“ umsetzen wollte. waren die ersten Folk-Freiluftveranstal- mit dem Auto die Neckarhalde hoch- Man orientierte sich an ähnlichen Ein- tungen Deutschlands – organisierte der fahren und auf dem Markplatz parken, richtungen, wie der Manufaktur in Club 1975 das „1. Tübinger Folk- und Lie- eine Fußgängerzone war Zukunftsmusik. Schorndorf, der Zelle in Reutlingen und dermacher Festival“ im Hof des Schlosses Der Kuppelparagraph war noch gültig dem Club Alpha in Schwäbisch Hall. Hohentübingen mit Zupfgeigenhansel, und das Betreten des Rasens im Alten Kulturpolitische Veranstaltungen waren Martin Kolbe, Bill Clifton, Tucker Zim- Botanischen Garten strengstens verbo- von jetzt an angesagt. Stadt und Teile merman und „Poesie und Musik“. Die ten. Tübinger Bürger beim Müßiggang der Einwohnerschaft atmeten tatsächlich Stadt Tübingen wollte den Club genauso im Freien? Undenkbar. „Ned, dass ma auf, und ihre Angst vor einem möglichen „großzügig“ wie andere Kulturvereine nix schaffa dät.“ Alternative Kultur und kommunistischen Club schien gebannt. der Stadt fördern und machte ganze 300 Kultur unter freiem Himmel war Utopie, Obwohl sogar noch in den 1980er-Jahren DM locker. Straßenmusik erst recht. baden-württembergische CDU-Politi- Die Liedermacher brachten die Aktualität ker die damals immer noch herrschende auf die Bühne und die Folksänger Gefühl Rückzug in Kultur-Gefilde „Die-Russen-kommen“-Angst anheiz- und Musiktradition. Allerdings kam der Seit 1971 gab es im Club Voltaire regel- ten und den Club als Wortführer einer eine oder andere Künstler mit der zu der mäßig Filmvorführungen und kurz vor Gruppe von Marxisten und Anarchisten Zeit typischen Aufforderung „Stellt die der Vereinsgründung ein erstes Kon- sahen, deren Ziel es sei, die kommunis- Gitarren in die Ecke und diskutiert“ an zert mit dem Folk-Gitarristen Sammy tische Revolution vorzubereiten. Das seine Grenzen. Trotzdem: Der Erfolg die- 66 Tübinger Blätter 2022
Kunst und Kultur ser alternativen Kulturarbeit führte dazu, Zeichnung: Sepp Buchegger dass die Tübinger Festivals – insgesamt 18 Stück – zu Großveranstaltungen mit jährlicher Tradition wurden. Pappsatt von starken Tönen „Der Anspruch des Clubs war es schon immer, den Diskurs in der Gesellschaft am Leben zu erhalten“, sagt Ralf Wen- zel, der sich genauso wie sein Bruder Jörg seit Anfang der 1980er-Jahre in der Haaggasse aktiv einbringt. Die Kultur des Widerstands wurde damals noch expliziter als heute ausgedrückt. Trotz- dem oder gerade deshalb gelang es den Organisatoren bei allen Festivals, Politik und Unterhaltung auf den Plätzen, Hal- len und kleineren Veranstaltungsorten der Stadt zusammenzubringen: mit Dis- kussionen, Konzerten, Lesungen, Theater und Workshops. „Pappsatt von starken Tönen“ hatte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel über eines der legendären Festivals treffend überschrieben, bezug- nehmend auf die Fülle und die Qualität Zeitweise forderten Lokalpolitiker sogar, des Angebots. Zuschüsse der Stadt ganz zu streichen. Schloss Hohentübingen 1976 – ein Veranstaltungsort mit Flair. Foto: Manfred Grohe Tübinger Blätter 2022 67
Kunst und Kultur Foto: Matthias Knodel Auch ungewöhnliche Konzerte finden im Club statt. Foto: Matthias Knodel Eine der vielen Reihen im Club: unerHÖRT & LIEDERlich Lesungen und Kabarett sind Teil des umfangreichen Programms. Foto: Matthias Knodel 68 Tübinger Blätter 2022
Foto: Matthias Knodel Foto: Matthias Knodel Kunst und Kultur Thomas Felder bei einem seiner zahlreichen Konzerte im Club. Tanz im Club Foto: Matthias Knodel Der Veranstaltungs- raum mit Zuschauern, Bühne und Bar Tübinger Blätter 2022 69
Kunst und Kultur Die ehrenamtlichen Macher entwickelten vollführten Bahnbrechendes, Unvergess- Jahresprogramm, das Ehrenamtliche mit die Themen so, dass jeweils verschiedene liches und auch Skandalöses. So wie die Herzblut und mit Mühe entwickelten – Aspekte der zeitgenössischen „Kultur von französische Performance-Theatergruppe, mit Mühe nicht zuletzt deshalb, weil die unten“ sichtbar und erlebbar wurden. die 1989 vor dem Rathaus eine Guillo- Stadt den kulturellen Einsatz des Clubs So widmete sich das zweite Festival 1976 tine aufbaute und per Zuschauerumfrage zeitweise nur mäßig honorierte und ihn dem politischen Lied und fand mit 7000 dem Schwein Helmut das Leben nehmen bei Etatkürzungen, unter anderem in Besuchern und Grußworten von Ernst oder die Freiheit schenken wollte. Ande- den 1990ern, oft weit oben auf die Liste Bloch, Walter Jens und Pete Seeger gro- rerseits verwandelte Mikis Theodorakis setzte. Mitunter forderten Lokalpolitiker ßen Anklang. Der berühmte, amerikani- den Marktplatz in ein fröhliches griechi- sogar, Zuschüsse der Stadt ganz zu strei- sche Folksänger und Aktivist war nur des- sches Sommerfest, und die argentinische chen – und das, obwohl der Club 1985 halb nicht in Tübingen aufgetreten, weil Folk-Sängerin Mercedes Sosa brachte tau- den Kulturpreis der Kulturpolitischen er Mailand und Turin verwechselt hatte. sende Zuschauer zum Singen ihrer politi- Gesellschaft aus Bonn für sein Programm So wartete die extra nach Italien gereiste schen Protestlieder. Sie zählt zu denjenigen verliehen bekommen hatte. Delegation vergebens auf ihn. Künstlerinnen und Künstlern, die Politik Nicht zuletzt wegen solcher Haushaltskür- Von der Erkundung der Widerstandskul- und Unterhaltung in einer für die Ansprü- zungen konnte es sich der Club dann nicht tur in Afrika, Amerika und Asien über die che des Clubs idealen Weise zusammen- mehr leisten, große Festivals zu stemmen. Bewegung der Atomkraftgegner und die führte, ähnlich wie Hanns Dieter Hüsch, Es war schon immer ein Kraftakt gewesen, Einflüsse Hanns Eislers bis hin zur Öff- Konstantin Wecker und Gerhard Polt. ein nicht-kommerzielles, nicht auf den nung des Ostblocks und dem Revoluti- Mainstream ausgerichtetes Programm onsjubiläum Frankreichs wurden bei bis Die Zukunft ist sicher zu erstellen. Die finanzielle Situation hat zu 35 000 Besuchern die Themen der Zeit Der Club Voltaire definiert sich aber sich inzwischen verbessert, und der Club auf die Plätze der Stadt geholt … bis zum nicht über die Festivals alleine, das hat er steht im Moment auf drei recht soliden letzten Festival im Jahr 1992. Einzelne schon zu deren Hochzeiten nicht getan. Standbeinen: den Zuschüssen der Stadt, Veranstaltungen, wie BAP im TSG-Sta- „Kultur für alle“ und „Kultur von allen“ denen des Landes und den Einnahmen dion, zogen allein 12 000 Fans an. hatte er sich von Beginn an auf die Fah- der Veranstaltungen. Nicht zu vergessen Künstler – unbekannte, (noch nicht) nen geschrieben. So bestand zu allen ist der überaus große Einsatz ehrenamt- berühmte, weltberühmte – traten auf und Zeiten ein gemeinschaftlich erarbeitetes lich Engagierter, ohne die gar nichts ginge. Foto: Matthias Knodel Lesungen waren von Beginn an Bestandteil des Programms. 70 Tübinger Blätter 2022
Kunst und Kultur Das Jahresprogramm schöpft sein Poten- Foto: Matthias Knodel zial vorwiegend, aber nicht nur aus der lebendigen lokalen Szene. So lief die Konzertreihe „Tübinger Wassermusik“ mit ihren schwebenden Klängen über den Wellen des Neckars sehr erfolgreich von 2002 bis 2016. Am Neckarspitz beim Casino konzertierten vor Zuschauern in Stocherkähnen Streicherquintette, Chansoniers, Klezmer- und Tangobands. Programmpunkte aus dem Bereich der Dritten Welt, frei improvisierte musika- lische und multimediale Projekte, Film-, Theater- und Literaturperformances mit Jazz, Liederabenden, Trommelworkshops, Lesungen, das Leuchtturm-Programm des Club Zátopek und vieles mehr fanden und finden in der Haaggasse und auch an anderen Orten der Stadt ihre Heimat. Und wie geht es weiter mit dem Club? „Die Zukunft ist sicher“, sagt Jörg Wen- zel schmunzelnd. „Aber sie wird anders sein und mit einer anderen Herange- hensweise.“ Er ist überzeugt davon, dass zukünftige Organisatoren im Club sich noch mehr auf die Region konzentrie- ren werden und auf örtliche Künstler mit Niveau und Standing. Wenzel: „Das hat sich schon geändert im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen man ein- zelne Künstler über Jahre begleitet und bekanntgemacht hat.“ Und vor allem hofft er, dass das ehren- amtliche Engagement nicht noch weiter abnimmt. Ein Engagement, das er selbst trotz der vielen Aufgaben noch immer als sehr erfüllend empfindet. „Das wäre fatal, denn die Besucher erwarten immer mehr Professionalität“, meint Wenzel. Trotzdem ist er überzeugt davon, dass die soziokulturelle Erfolgsgeschichte des Clubs weitergeschrieben wird – „min- destens ein weiteres halbes Jahrhundert lang“. Venceremos! M Die aktuelle Außenfassade in der Tübinger Haaggasse. Besuchen Sie unser Stehcafé mit wunderschönem Blick über den Tübinger Marktplatz Die Schwarzwälder-Kirsch- Sahne-Trüffel-Praline Silberburg am Markt · Wi Wienergässle 1 · 72070 Tübingen Tü · Tel. 07071-551844 Tübinger Blätter 2022 71
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