8 Medizinstudium und chirurgische Weiterbildung - Manfred Georg Krukemeyer, Gunnar Möllenhoff
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115 8 Medizinstudium und chirurgische Weiterbildung Manfred Georg Krukemeyer, Gunnar Möllenhoff 8.1 Einleitung In Deutschland herrscht seit einigen Jahren eine paradoxe Situation: Obwohl es immer mehr registrierte Ärzte gibt, verschärft sich in der medizinischen Versorgung der Ärztemangel. Immer weniger Mediziner sind bereit, in Deutschland ärztlich tätig zu werden, immer mehr Ärzte arbeiten zum Bei- spiel im Gesundheitsmanagement und in der Arbeitsmedizin, als medizini- sche Gutachter oder im Pharmavertrieb, und immer mehr deutsche Ärzte wenden sich den oftmals attraktiveren Arbeitsbedingungen im Ausland zu. Die Zahl der auswandernden deutschen Ärzte ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und liegt derzeit mit jährlich etwa 2.560 Ärzten auf einem recht hohen Niveau. Abbildung 8-1 veranschaulicht die Gesamtzahl der Ärzte aus dem Jahr 2009, ihre Verteilung auf den ambulanten und statio- nären Bereich sowie die Anzahl leitender und nichtleitender Ärzte. Gründe für die Nichtaufnahme oder die Beendigung der kurativen Tätig- keit, für die Abwanderung der Ärzte in fachfremde Arbeitsbereiche oder ins Ausland sind die als nicht leistungsgerecht empfundene Entlohnung, die zeitliche Überbelastung und damit einhergehende Unvereinbarkeit von Be- ruf und Familie oder von Beruf und Freizeit sowie die zunehmende Bürokra- tisierung der ärztlichen Tätigkeit. Durch die Ruhestandswelle im ambulanten Bereich wird der Ärztemangel zusätzlich verschärft: Laut Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bun- desvereinigung werden bis 2015 rund 57.000 Allgemein- und Fachärzte ei- nen Nachfolger für ihre Praxis suchen; allein im Jahr 2011 werden 6.000 Ver- tragsärzte ihre Praxis aufgeben (Kopetsch 2010). Gleichzeitig führen die Fortschritte in der Medizin, die verbesserten Behandlungsmöglichkeiten und die demografische Entwicklung der Gesellschaft dazu, dass für die me- dizinische Versorgung der Bevölkerung mehr Ärzte gebraucht werden. Der deutschen Ärzteschaft droht Überalterung: Parallel zum Anstieg des Durchschnittsalters deutscher Ärzte ist der Anteil der unter 35-jährigen Ärz- te in den vergangenen 15 Jahren deutlich gesunken. Heute ist nur noch jeder
116 Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte 429,9 Ohne ärztliche Berufstätige Ärztinnen und Ärzte Tätigkeit 325,9 104,9 Behörden oder Ambulant Stationär Andere Bereiche Körperschaften 139,6 158,2 18,6 9,5 Nichtleitende Privatärzte Vertragsärzte1 Angestellte Ärzte Leitende Ärzte Ärzte 4,8 120,5 14,3 13,1 145,1 darunter: Ermächtigte Hausärzte1 Fachärzte1 Ärzte2 1 58,1 62,4 einschließlich Partner-Ärzten, Zahlen von 2008 10,6 2 Zahl von 2008 8 Medizinstudium und chirurgische Weiterbildung Abb. 8-1: Struktur der Ärzteschaft 2009 (nach: Statistik der BÄK und der KBV)
8.1 Einleitung 117 30 24,8 25 23,8 22,0 20,9 19,7 20 18,8 18,1 Anteil (%) 17,0 16,5 16,3 16,4 16,6 15,4 15,9 16,0 15 10 5 0 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Jahr Abb. 8-2: Anteil der unter 35-jährigen Ärzte an allen berufstätigen Ärzten (nach: Statis- tik der BÄK) sechste Arzt jünger als 35 Jahre. Abbildung 8-2 zeigt den Anteil der unter 35-Jährigen an allen berufstätigen Ärzten. Immer mehr Ärzte streben eine Niederlassung in Großstädten und städti- schen Ballungszentren an, in ländlichen Gebieten hingegen nehmen die Lü- cken in der ärztlichen Versorgung zu. Dieser Trend wird sich in den kom- menden Jahren verschärfen. Deutlich zu spüren ist der Ärztemangel auch in Kliniken, in denen vakante Stellen entweder gar nicht oder nur durch die Anwerbung ausländischer Ärzte besetzt werden können. Gleichzeitig zwin- gen die Wirtschaftlichkeitsorientierung und die Einführung der Mindest- mengenbegrenzung die Kliniken dazu, Krankenhausabteilungen zum Zweck der Effizienzsteigerung zusammenzulegen. Für die Qualität der Patienten- versorgung kann dies von Vorteil sein. Es muss festgestellt werden, dass die bisherigen Maßnahmen und Pro- gramme zur Bekämpfung des Ärztemangels nicht ausreichen, um die be- schriebenen Tendenzen umzukehren. Die Problematik um die Sicherstellung der ausreichenden ärztlichen Versorgung der Bevölkerung beginnt bereits während des Medizinstudiums, in dessen Verlauf der deutschen Ärzteschaft zahlreiche angehende Mediziner verloren gehen.
118 8 Medizinstudium und chirurgische Weiterbildung 8.2 Das Medizinstudium Mit der Aufnahme des Studiums beginnt für Medizinstudenten das Erlernen der Heilkunde, der Funktionen sowie der Theorie, Pathologie und Therapie der Erkrankungen des Menschen. Das moderne Medizinstudium umfasst naturwissenschaftliche, klinisch-theoretische und klinische Fächer, es „be- ruht auch heute noch auf den beiden Prinzipien jenes Bildungsplanes, wie er 1861 in Preußen entworfen wurde: den Elementen eines naturwissenschaft- lichen Fundaments und einer klinisch orientierten Weiterbildung. Damals wurde das jahrhundertealte Tentamen philosophicum ersetzt durch ein Tentamen physicum. Jenes Physikum, das heute wieder im Mittelpunkt der Diskussion steht“ (Schipperges 1982, 1985). Schon die Gründungsväter der deutschen Universität, allen voran Wil- helm von Humboldt, hielten den Besuch von Vorlesungen und die Abfas- sung von Forschungsberichten im Rahmen von Seminaren für wichtig. Die Studenten sollten aber vor allem zu selbstständigem und lebenslangem Ler- nen angeleitet werden und in regem Austausch mit Kommilitonen und Pro- fessoren stehen. „Dieses Studieren war philologisch und dialogisch kritisch und kollegial und vor allem unabschließbar“ (Gadamer 1988; von Hentig 1969). 8.2.1 Vorbereitung auf die Ausübung des ärztlichen Berufs Die Universität (von lat. universitas = Gesamtheit) ist als Einheit von Lehren- den und Lernenden zum Zweck der theoretischen und praktischen Berufs- ausbildung das Postulat der Reformatoren der deutschen Universität. Ihre Hauptaufgaben sind Forschung und Unterricht: „Weil Wahrheit durch Wis- senschaft zu suchen ist, ist Forschung das Grundanliegen der Universität“ (Eigen 1988). Anders und auf die Ausbildung von Medizinern bezogen for- muliert: Neben der Vermittlung von Fakten und Detailwissen, das häufig mit monotonem Auswendiglernen von anatomischen Begriffen und biochemi- schen Formeln, pharmakologischen Dosierungen und medizinischen Tech- niken einhergeht, besteht eine weitere Aufgabe der Universität in der ethi- schen Erziehung der Medizinstudenten zu verantwortungsvollen Ärzten und zum menschlichen Umgang mit Patienten. Das Studium der Heilkunde zur Vorbereitung auf die Ausübung des ärztlichen Berufs darf sich nicht auf das Anhäufen theoretischen Wissens und das Erlernen praktischer Fertigkeiten beschränken, denn: „Das ärztliche Handeln steht auf zwei Säulen: einerseits auf der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem technischen Können, andererseits auf dem Ethos der Humanität. Der Arzt vergisst nie die Würde des selbst entscheidenden Kranken und den unersetzlichen Wert jedes ein- zelnen Menschen“ (Jaspers 1958).
8.2 Das Medizinstudium 119 Die Universität soll Medizinstudenten außerdem zu der Erkenntnis erzie- hen, dass für die verantwortungsvolle Ausübung des ärztlichen Berufs das lebenslange Lernen unumgänglich ist, und sie soll ihnen Techniken vermit- teln, die ihnen helfen, sich nach der Approbation außeruniversitär fortzubil- den. „Die Vorstellung, der approbierte Arzt müsse ein fertiger Arzt sein, der das Rüstzeug für die Ausübung seines Berufes bis zum Lebensende erworben hat, ist anachronistisch. Mehr als in anderen Berufen gilt für den Arzt die Forderung des lebenslangen Lernens“ (von Uexküll 1969). Ganz ähnlich for- muliert es Erich Fromm: „Das Medizinstudium soll letztendlich den jungen Studenten dazu befähigen, sich selber weiterzubilden. Die Weiterbildung nach dem Studium hält ein Leben lang an“ (Fromm 1967). Im Zusammen- spiel von lebenslanger Fortbildung, praktischer Tätigkeit und Lebenserfah- rung kann der an der Universität ausgebildete Mediziner die Individuation zum verantwortungsvoll und ethisch handelnden Arzt vollziehen. An der Universität hat der Medizinstudent die Möglichkeit des geistigen und kulturellen Austauschs mit Kommilitonen seines eigenen Fachbereichs und mit Studenten anderer Fakultäten. Der aus antiken Kulturen tradierte Gedanke der fern vom Heimatort gelegenen Schule und die Interaktion mit gleichgesinnten, lernbegierigen Eliten einer Gesellschaft sind auch an heuti- gen Universitäten aktuell. Parallel zum Austausch mit Gleichgesinnten be- ginnen schon während des Studiums der Prozess der Individuation und die Profilierung zum Beruf (Hartmann 1969). Auf die typische ärztliche Situati- on, das Alleinsein mit einem Kranken, bereitet das Studium aber nicht in ausreichendem Maße vor. Dies ist umso erstaunlicher, ruft man sich die in der Antike entwickelte und auch heute noch wünschenswerte Vorgehenswei- se in Erinnerung: „Ein Arzt durfte nicht sogleich die Krankheit angehen, sondern er hatte, ganz nach Hippokrates, erst den Patienten zu aktiver Mit- arbeit zu gewinnen. Es fand sozusagen vor dem Kampf mit der Krankheit eine Auseinandersetzung mit dem Patienten statt. War der Patient zu dieser Mitarbeit nicht bereit oder in der Lage, dann sollte ein Arzt, der etwas auf sich hielt, die Behandlung ablehnen“ (Schadewaldt 1964). Auch heute sind die Kooperation und die aktive Mitarbeit des Kranken für eine erfolgreiche Behandlung unverzichtbar. 8.2.2 Qualität der universitären Lehre Neben der fehlenden oder nicht ausreichenden Anleitung zur ärztlichen Gesprächsführung ist auch die Qualität der universitären Lehre zu bean- standen. Das Medizinstudium umfasst Vorlesungen, Seminare und Prakti- ka, das Studium medizinischer Fachliteratur, wissenschaftliches Arbeiten und das theoretische und praktische Lernen am Krankenbett. Das wissen- schaftliche Arbeiten geschieht meist auf hohem Niveau und auch das essen-
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