ADHS Konsensuspapier der Pädiatrie

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ADHS

                            Konsensuspapier der Pädiatrie

                                       Diskussionsentwurf,
        erstellt vom Vorstand der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte
                               (Klaus-Peter Grosse, Klaus Skrodzki)

  Grundkonsens zu Definition, Pathogenese, Prävalenz, Sekundärfolgen und Management von
                                           ADHS

ADHS ist Arbeitsthema in den Praxen niedergelassener Kinder- und Jugendärzte, in der
Sozialpädiatrie, der Neuropädiatrie und bei Kinder- und Jugendärzten mit der
Zusatzbezeichnung Psychotherapie. In diesen Gruppierungen der Pädiatrie besteht ein
Grundkonsens zu folgenden Aspekten von ADHS:
Definition:
ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche
Hyperaktivität ausgeprägt sind, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entsprechen und zu
Störungen in den sozialen Bezugssystemen, der Wahrnehmung und im Leistungsbereich von
Schule und Beruf führen.
Pathogenese:
Für die Entstehung dieser Erkrankung spielen Störungen in der Funktion der
Neurotransmitter, insbesondere Dopamin, eine entscheidende Rolle mit großer Bedeutung
genetischer Faktoren und Einfluss von aggravierenden oder entlastenden Umweltfaktoren.
Prävalenz:
Nach internationalen und nationalen Studien sind etwa 5% aller Kinder und Jugendlichen
davon betroffen. Das bedeutet, dass in der Bundesrepublik etwa 500.000 Kinder und
Jugendliche im Alter von 6-18 Jahren unter den Problemen der ADHS leiden. ADHS ist die
weitaus häufigste Ursache für Lern-Leistungsstörungen und Störungen im Sozialverhalten. Das
soziale Umfeld in Familie, Kindergarten und Schule ist entsprechend mitbetroffen.
Sekundärfolgen:
Unbehandelt erreichen die Kinder und Jugendlichen trotz normaler Intelligenz keine
begabungsentsprechenden Schul- und Berufsausbildungsabschlüsse, können keine beständigen
sozialen Bindungen aufbauen und erhalten, werden wegen ihres Verhaltens sozial isoliert. Dies
führt zu einer nachhaltigen Minderung ihres Selbstwertgefühls. Als sekundär psychische Folgen
stellen sich nicht selten oppositionell-aggressives Verhalten, Angststörungen, Depressionen ein.
Auch die vermehrte Unfallhäufigkeit, Neigung zu Delinquenz und Suchtverhalten führen neben
den individualmedizinischen Folgen zu hohen Belastungen für die Solidargemeinschaft.
Management:
Diagnostik und Therapie orientieren sich an der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der
Kinder- und Jugendärzte „Diagnostik und Therapie bei ADHS“ [....] in der jeweils aktuellen
Fassung. Änderungen der Leitlinie erfolgen etwa alle 2 Jahre, sofern dies zur Anpassung an den
wissenschaftlichen Erkenntnisstand und/oder zur Optimierung der Empfehlungen notwendig
erscheint. Änderungsvorschläge aus der Mitgliedschaft der AG ADHS und aus den oben
genannten pädiatrischen Gruppierungen sind an die Leitlinienkommission (Vorstand der AG
ADHS) zu richten. Die Leitlinie der AG ADHS entspricht in ihren Aussagen den auf evidence
basierten Erkenntnissen beruhenden Guidelines der American Academy of Pediatrics [......].
Für eine optimale Betreuung bei ADHS notwendig sind frühzeitige Erkennung, rechtzeitige
situationsangepasste Therapie und langfristige Führung der Patienten.
Art und Umfang der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen im Rahmen der
Leitlinienempfehlungen sind abhängig von der individuellen Ausprägung des Störungsbildes
beim einzelnen Patienten. Das soziale Umfeld-Familie und sonstige Erzieher-ist immer
einzubeziehen.
Sofern sich aus der individuellen Situation beim Patienten ein Bedarf für spezielle diagnostische
und/oder therapeutische Maßnahmen ergibt, der in der betreuenden Praxis nicht erbracht
werden kann, sollten diese Maßnahmen in einem auch fachgruppenübergreifenden
interdisziplinären Betreuungsnetz koordiniert werden.
Ziel der Bemühungen der wesentlich mit ADHS befassten pädiatrischen Gruppierungen ist:
Versorgungssicherung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS durch situationsgerechte
qualitätsgesicherte Betreuung und Sicherstellung eines ausreichenden Versorgungsangebotes
durch Optimierung der Kooperation in vernetzten Versorgungsstrukturen.
Details werden im folgenden dargestellt und begründet.

                                     Pädiatrie und ADHS

Seit den 60er Jahren haben Pädiater in Deutschland die im englischen Sprachraum publizierten
Erkenntnisse zu Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Störung von
Aufmerksamkeit und Sozialverhalten in der Praxis umgesetzt.
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich die Krankheitsbezeichnung über Minimale
Cerebrale Dysfunktion, Hyperkinetisches Syndrom zu Hyperkinetische Störungen und
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) gewandelt. In dieser Zeit wurden die
diagnostische Schärfe bis zu den Diagnosekriterien von DSM-IV und ICD-10 und die
therapeutischen Strategien bis zur multimodalen Therapie immer weiter verbessert.
Pädiater haben diese Entwicklung publizistisch begleitet: z.B. Eichlseder: Behandlungsberichte
größerer      Patientenserien     [....],  Buch      „Unkonzentriert“        [....], Skrodzki:
„Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder im Unterricht“ [....], Leitlinie der AG ADHS der
Kinder und Jugendärzte „Diagnostik und Therapie bei ADHS“ [....], Stollhoff (Hrsg.):
„Hochrisiko ADHS“ [Verlag Schmidt-Römhild, Lübeck, 2002].
Für Sozialpädiater in Sozialpädiatrischen Zentren und Neuropädiater in Praxis und Klinik
bildeten diese Patienten unter den verschiedenen Benennungen eine ihrer häufigsten
Vorstellungsgründe. Seit langem ist dieses Krankheitsbild Thema bei regionalen und
überregionalen pädiatrischen Fortbildungen. Beispielhaft seien genannt die Jahrestagung 1987
des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte mit dem Hauptthema „Das hyperaktive
Kind“ und der Kinder- und Jugendärztetag 2001 mit dem Thema „ADHS“ [Beilage KINDER-
UND JUGENDARZT 1/2002].
Die Zahl der Pädiater, die Kinder und Jugendliche mit ADHS betreuen, (nimmt immer weiter
zu) hat mit dem Bedarf nicht ganz Schritt halten können. Derzeit sind dies laut Umfrage der AG
ADHS bei den Bezirks-Obleuten des BVKJ etwa ein Drittel aller niedergelassenen Kinder- und
Jugendärzte [www.ag-adhs.de].
In der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte, die 2000 gegründet wurde,
bemühen sich Pädiater um die Verbesserung der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit
ADHS durch ihre Fachgruppe. Die AG ADHS ist Ansprech- und Gesprächspartner für dieses
Thema innerhalb der Fachgruppe und nach außen - gegenüber anderen Fachgruppen /
Kotherapeuten, Elternverbänden, Politik, Kostenträgern und Öffentlichkeit. Sie initiiert,
koordiniert und katalysiert in Abstimmung mit den pädiatrischen (Gruppierungen)
Fachverbänden die Aktivitäten zu ADHS, die Kooperation mit anderen Fachgruppen, eigene
und interdisziplinäre Forschungsprojekte.

                        Pädiatrie notwendig zur Versorgungssicherung

Bei einer nach nationalen und internationalen Erhebungen als realistisch einzuschätzenden
Prävalenz von etwa 5% ist bezogen auf die Gesamtzahl von Kindern und Jugendlichen zwischen
6 und 18 Jahren mit etwa 500.000 ADHS-Patienten diesen Alters in Deutschland zu rechnen.
Um diese Patienten wohnortnah im Kontext mit ihren sozialen Bezugssystemen medizinisch
versorgen zu können, braucht man ein flächendeckendes Versorgungsnetz. Kinder- und
Jugendärzte sind praktisch flächendeckend in unserem Land niedergelassen.
Mit den pädiatriespezifischen Besonderheiten der Betreuung von klein auf und über viele Jahre
- und dies in Kenntnis der Familie und des Erziehungsumfeldes - bieten Kinder- Jugendärzte die
besten Bedingungen für die Früherkennung von ADHS, für die rechtzeitige Therapieeinleitung,
kontinuierlich langfristige Therapieüberwachung und für die interdisziplinäre Koordination der
multimodalen Therapie.
Trotz dieser strukturell günstigen Vorbedingungen ist die Versorgungskapazität derzeit noch
viel zu gering. Die Elternverbände beklagen, dass sie für Diagnostik und Therapie bei ihren
Kindern viel zu wenige Anlaufstellen finden. Selbst wenn die 2000 Kinder- und Jugendärzte
(entsprechend einem Drittel der 6112 Niedergelassenen), die ADHS in ihren Praxen
diagnostizieren und therapieren, alle entsprechenden Patienten ihrer Praxis - das wären etwa
50/Praxis - betreuen würden, wären erst 100.000 der 500.000 von ADHS betroffenen Kinder und
Jugendlichen versorgt.
Durch andere Fachgruppen kann dieser Versorgungsmangel nicht ausgeglichen werden. Die
Zahl der Kinder- und Jugendpsychiater ist zu gering: 461 niedergelassen, einschließlich der an
der ambulanten Versorgung teilnehmenden Klinikambulanzen. Zudem behandelt ein nicht
geringer Teil von ihnen die ADHS-Problematik mit tiefenpsychologisch-analytischen Methoden,
also nicht nach den wissenschaftlich anerkannten Prinzipien.
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat aber gezeigt, dass die Zahl der Pädiater, die das
Thema ADHS in ihre Praxistätigkeit integrieren, immer größer wird. Bundesweit ist eine
expandierende Aktivität zu registrieren (Obleuteumfrage): es gibt bereits viele regionale
pädiatrische Arbeitskreise und zumeist interdisziplinäre ADHS-Qualitätszirkel. Die AG ADHS
wird diesen Trend verstärken in Zusammenarbeit mit allen beteiligten pädiatrischen
Gruppierungen - Sozialpädiatrie, Neuropädiatrie - durch Optimierung der Fortbildung,
praktische Hilfen für die Praxisarbeit, Verbesserung der Kommunikation (Internetseite
www.ag-adhs.de), Förderung von Versorgungsnetzen - innerhalb pädiatrischer Netze und durch
Einbezug anderer Fachgruppen im Sinne eines gestuften Versorgungssystems.
Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS ist sehr zeit- und arbeitsintensiv und
verlangt besondere Kenntnisse in Diagnostik und Therapie dieses Krankheitsbildes.
Arbeitsaufwand und Zusatzqualifikation werden mit den bestehenden Vergütungssystemen für
vertragsärztliche Leistungen nicht ausreichend honoriert. Auch hier müssen Verbesserungen
erfolgen, damit ausreichend viele zusätzlich qualifizierte Kinder- und Jugendärzte zur
Versorgungssicherung der Kinder und Jugendlichen mit ADHS beitragen können und wollen.

    Qualitätsgesicherte Versorgung durch Zusatzqualifikation bei zusätzlicher Honorierung

Für die Zusatzqualifikation „Diagnostik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit
ADHS“ sollen Kinder- und Jugendärzte folgende Qualifikationsnachweise erbringen:
Mindestens 20 Stunden themenbezogene Fortbildung
Teilnahme an einem themenbezogenen Qualitätszirkel 2x/Jahr
Kontinuierliche Fortbildung von 4 Stunden/Jahr
Orientierung an der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte zu
„Diagnostik und Therapie bei ADHS“
Falls videogestützte Diagnostik und Therapieüberwachung durchgeführt und abgerechnet wird:
zusätzlich 20 Stunden entsprechende Fortbildung.
Übergangsregelungen für diejenigen Kinder- und Jugendärzte, die zuvor bereits ADHS-
Patienten diagnostisch und therapeutisch betreut haben:
Sie müssen innerhalb von 2 Jahren die oben genannten Nachweise erbringen.
Der zusätzlichen Qualifikation muss die Honorierung folgen in Form eines extrabudgetär zu
zahlenden Zusatzhonorars.
Mengenbegrenzende Regelungen sind erforderlich, auch um zu verhindern, dass die Betreuung
sich auf nur wenige Praxen regional konzentriert und damit das Ziel der wohnortnahen
Betreuung durch den „Haus“-Kinder- und Jugendarzt konterkariert wird:
15 neue Fälle/Quartal/1000 Patienten der jeweiligen Praxis, 100 Dauerbetreuungspatienten/1000
Patienten der jeweiligen Praxis; bei Gemeinschaftspraxen 15 neue Fälle und 100
Dauerbetreuungspatienten/Quartal pro Arzt der jeweiligen Praxis; Überweisungsfälle werden
dabei nicht berücksichtigt.
Sonderregelungen sind bei Überschreitung dieser Mengenbegrenzungen dort regional
erforderlich, wo ein besonderer Versorgungsbedarf besteht, um den Sicherstellungsauftrag der
KV zur Versorgungssicherung dieser Patienten erfüllen zu können und/oder wo Spezialpraxen
im Sinne einer sozialpädiatrischen Versorgung ein umfassendes Versorgungsangebot vorhalten.
In einigen Länder-KVen sind bereits entsprechende Verhandlungen mit den Kostenträgern im
Gange. Anzustreben ist die bundesweite Umsetzung mit einheitlichen Regelungen für die
Qualifikationsnachweise und die Honorierung.

          Fachgruppenübergreifende Kooperation, interdisziplinäre Betreuungsnetze

Das facettenreiche und individuell variable Störungsmuster bei ADHS erfordert eine
individuelle Therapieplanung und gegebenenfalls weitergehende Diagnostik.
Wenn der diagnostische Klärungsbedarf, insbesondere die differentialdiagnostische Abklärung,
und/oder der therapeutische Bedarf, insbesondere bei Komorbiditäten, individuell die
Möglichkeiten der pädiatrischen Praxis übersteigen, ist interdisziplinäre Delegation von
Maßnahmen erforderlich.
Dies kann spezielle psychologische Testungen, Tests auf Teilleistungsschwächen, Abklärung
bedeutsamer Komorbiditäten, EEG betreffen. Kinder- und Jugendärzte mit dem Schwerpunkt
Neuropädiatrie bieten vielerorts seit langem das nötige Leistungsspektrum an. Im
therapeutischen Bereich sind bei schweren sozialen Interaktionsstörungen, ausgeprägten
Komorbiditäten,       nachhaltig     vorhandenen     Teilleistungsschwächen     Kotherapeuten
hinzuzuziehen.
SPZ als Einrichtungen der höheren Versorgungsstufe, die bundesweit regional zur Verfügung
stehen, oft mit Zugriffsmöglichkeit auf diagnostisch-apparative Leistungen von Kinder- und
Jugendkliniken, bieten die Chance diagnostisch und bei der Einleitung sozialflankierender
Maßnahmen tätig werden.
Kinder- und jugendpsychiatrische Praxen/Klinikambulanzen sind insbesondere für Diagnostik
und Therapie klinisch bedeutsamer Komorbiditäten zuzuziehen, neben den Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten auch für verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Nötigenfalls
kann stationäre Behandlung in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken erfolgen.
Ergotherapeuten, Logopäden ergänzen im Bedarfsfall die Therapie.
Auf allen Ebenen müssen neben der Familie die weiteren sozialen Bezugssysteme –
Kindergarten, Schule, Berufsumfeld – einbezogen werden.
Erziehungsberatungsstellen können zwischen Kind und Eltern verhaltensmodifizierend helfen.
Vielerorts bieten auch Frühförderstellen ein komplexes Leistungsspektrum von pädagogischen
Hilfen, Heilmittelerbringung, gruppentherapeutischen Angeboten.
Anzustreben sind für alle Betreuungsbelange transparente regionale interdisplinäre
fachgruppenübergreifende Betreuungsnetze, die eine gestufte Versorgung für alle
Bedarfssituationen gewährleisten.
In interdisziplinären Qualitätszirkeln können und sollen die Möglichkeiten und Modalitäten der
Kooperation abgestimmt, gruppentherapeutische Maßnahmen organisiert, gemeinsame
Fortbildung gefördert werden.
Regionale Elterngruppen/Elternverbände sollten eingebunden sein.

                                    Schlussbemerkungen

Alle medizinischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, die mit der Betreuung von Kindern
und Jugendlichen mit ADHS befasst sind, sollten in vertrauensvoller und von gegenseitigem
Respekt getragener Zusammenarbeit dazu beitragen, die Versorgung dieser Patienten qualitativ
zu optimieren. Sie sollten miteinander optimale Betreuungswege entwickeln, so dass jede
Gruppierung an der in einem bedarfsorientierten Betreuungssystem passenden Stelle zum
Einsatz kommt.
Politik und Kostenträgern muss deutlich gemacht werden, wo besonderer Mitteleinsatz
notwendig ist, um Versorgungslücken schließen zu können und eine wirksame Prävention zu
ermöglichen.
Das gemeinsame Bemühen um Früherfassung und rechtzeitige und kontinuierliche optimale
Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS ist individual- und sozialmedizinisch
notwendig, um individuelles Leid und gesellschaftliche Folgekosten durch ADHS zu minimieren.
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