AG zum Grundkurs Zivilrecht I - Josef Wittmann Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht (Prof. Veil)

Die Seite wird erstellt Josef Wegner
 
WEITER LESEN
Josef Wittmann
Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht (Prof. Veil)

AG zum Grundkurs
Zivilrecht I

Fragen und Anregungen jederzeit gerne an:
Josef.wittmann@jura.uni-muenchen.de
Einheit 4

              Gliederung der heutigen AG

              I.     Wiederholungen zu Einheit 3

              II. Grundlagen zu den Fällen 6 und 7

              III. Besprechung der Fälle 6 und 7

Josef Wittmann, 12.11.2018                           1
Einheit 4

              I. Wiederholung zu Einheit 3
               Zeitstrahl

               Prüfungsreihenfolge Willenserklärungen
                    I. Vorliegen einer Willenserklärung
                    II. Wirksamwerden
                         1. Abgabe „Der Erklärende hat das seinerseits Erforderliche getan,
                            damit die Willenserklärung wirksam werden kann“
                         2. Zugang  (P) Zugangstheorien
     unter Abwesenden: § 130 I 1 BGB                      unter Anwesenden: § 130 I 1
     (1) Machtbereich  tatsächlicher Ablauf              BGB analog
         maßgeblich                                       „eingeschr. Vernehmungstheorie“
     (2) Möglichkeit der Kenntnisnahme unter              (h.M)
         gewöhnlichen Umständen  zu erwartender
         Ablauf maßgeblich
     Ausnahme: Frühere Kenntnisnahme

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                    2
Einheit 4

              II. Grundlagen zu den Fällen 6
              und 7
              1.     Umgang mit Meinungsstreitigkeiten

              2.     Willenserklärungen & Mängel

              3. culpa in contrahendo (§§ 280 I, 311 II, 241 II BGB)

Josef Wittmann, 12.11.2018                                             3
Einheit 4

              II.1 – Umgang mit
              Meinungsstreitigkeiten
              1. Darlegen der verschiedenen Ansichten, ausgehend von Extrempositionen
              2. Subsumtion des Sachverhalts
              3. Wenn entscheidungsrelevant: Argumentation für die verschiedenen
                 Ansichten (h.M. ist kein Argument!)
                      Wortlaut
                      Systematik
                      Telos
                      Historie
              4. Entscheidung

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                              4
Einheit 4

               II.2 – Willenserklärungen & Mängel
-     Objektiver (äußerlicher) und subjektiver (innerlicher) Tatbestand einer Willenserklärung
-     Objektiver Tatbestand: Äußerlich erkennbares Verhalten, das auf Vorliegen des
      subjektiven Tatbestands schließen lässt
-     Subjektiver Tatbestand: Drei Komponenten; Fehlen löst jeweils unterschiedliche
      Rechtsfolgen aus
-     Konflikt zwischen dem Schutz der Privatautonomie und dem Verkehrsschutz 
      Wirksamkeit, Unwirksamkeit oder Zwischenlösung: Anfechtbarkeit & Schadensersatz
    Handlungswille                 Erklärungsbewusstsein                               Geschäftswille
    Wille, sich überhaupt in       Wille, irgendeine rechtserhebliche Erklärung        Wille, eine ganz bestimmte
    bestimmter, nach außen         abzugeben                                           rechtserhebliche Erklärung
    hervortretender Weise zu                                                           abzugeben
    verhalten

    ≠ Reflexe, Handlungen im       ≠ Unterschreiben eines Vertrages, wenn man meint,   ≠ Unterschreiben eines
    Schlaf                         Geburtstagskarte zu unterschreiben                  Kaufvertrags zu 1.000 €, wenn
                                                                                       man denkt, im Vertrag stehe 100
                                                                                       €
    Sehr hohe                      Beidseitige Schutzbedürftigkeit                     Hohe Schutzbedürftigkeit des
    Schutzbedürftigkeit des         (P) Anfechtung erforderlich?                      Empfängers
    Erklärenden                     Kriterium: Erkennbarkeit für Erklärenden bei       Willenserklärung wirksam
     Willenserklärung                 Anwendung der verkehrserforderlichen Sorgfalt    Anfechtung +
    unwirksam, oft sogar § 105      Schadensersatz:§122 BGB (analog)                     Schadensersatz
    II BGB
Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                                               5
Einheit 4

         II.3 – culpa in contrahendo
         (c.i.c.)

       Schuldhafte Verletzung von Pflichten aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis

       Rechtsgrundlage: §§ 311 II, 280 I, 241 II BGB
             § 280 I BGB: Verletzung einer vertraglichen Pflicht als Voraussetzung für
               Schadensersatz
             § 241 II BGB: Aus einem Schuldverhältnis resultieren nicht nur die
               Primärpflichten, sondern auch die Pflicht zur Rücksichtnahme auf Rechte,
               Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils
             § 311 II BGB: Ein Schuldverhältnis mit Rücksichtnahmepflichten entsteht auch
               durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, die Anbahnung eines Vertrags
               oder ähnliche geschäftliche Kontakte

       Begründung: Schon vor Vertragsschluss hat der Vertragspartner die Möglichkeit, auf
        Rechte und Rechtsgüter des Vertragspartners einzuwirken.

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                   6
Einheit 4 – Fall 6

              II. Fall 6 – Die Maßkrüge

              Sachverhalt

              Die diesjährige „Wiesn“ hat in der Wirtschaft des Gastwirts Gustl wieder ihre
              Spuren hinterlassen. Gerade Maßkrüge sind zahlreich zu Bruch gegangen oder
              gestohlen worden. Daher diktiert Gastwirt Gustl seiner Sekretärin Susi eine
              Bestellung über 200 Maßkrüge an den Maßkrughersteller Martin. Das fertige
              Schreiben unterzeichnet Gustl. Da er die Bestellung aber nochmals überdenken will,
              lässt er das Schreiben auf seinem Schreibtisch liegen. Susi findet das Schreiben und
              bringt es in der irrigen Annahme, es liege nur versehentlich noch dort, zur Post.
              Einige Tage später werden die Maßkrüge zusammen mit einer Rechnung über
              € 3.000,– geliefert.

              Kann Martin (M) den Kaufpreis von Gustl (G) verlangen?

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                           7
Einheit 4 – Fall 6

           Anspruch M  G auf Zahlung von 3.000 € aus Kaufvertrag i.V.m. § 433 II BGB

           I.    Anspruch entstanden
                    1. Einigung (§§ 145 ff. BGB)
                           zwei bzgl. essentialia negotii übereinstimmende Willenserklärungen
                        a) Angebot des G (Bestellungsschreiben)
                            aa) Tatbestand einer Willenserklärung
                               (1) Obj. Tatbestand
                               (2) Subj. Tatbestand
                            bb) Wirksamwerden
                               (1) Abgabe
                                Der Erklärende muss das seinerseits Erforderliche
                               getan haben
                               (P) Abhandengekommene Willenserklärung
                                Setzt das Wirksamwerden einer empfangsbedürftigen
                               Willenserklärung voraus, dass der Erklärende sie bewusst und
                               willentlich abgibt?

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                       8
Einheit 4 – Fall 6
(P) Abhandengekommene Willenserklärung
I.   Ausgangspunkt: Abwägung zwischen Verkehrsschutz (äußerer Schein einer Willenserklärung besteht) und
     Privatautonomie
II. Meinungsstand
         1. e.A.: Abgabewille ist konstitutive Voraussetzung einer Abgabe
                 Abgabe (-)  Angebot (-)
                     (+) kein Handlungswille bzgl. Abgabe, Erklärung ist Verfasser nicht zuzurechnen
                     (+) Ausreichender Schutz des Erklärungsempfängers durch c.i.c.;
                     Konstruktion eines anfechtbaren Vertrags nicht erforderlich
                     (+) Wille des historischen Gesetzgebers
         2. a.A.: Abgabewille nicht erforderlich
                 Abgabe (+)  Angebot (+)
                     (+) Gleichstellung des fehlenden Abgabewillens mit fehlendem Erklärungsbewusstsein:
                     Auch Erklärungsbewusstsein ist kein notwendiger Bestandteil einer Willenserklärung.
                     (+) Ausreichender Schutz des Erklärenden durch Anfechtungsmöglichkeit analog § 119 I
                     BGB
                     (+) Wahlmöglichkeit des Erklärenden, ob er gebunden sein will oder nicht
                     (-) Keinerlei Handlung des Erklärenden
                     (-) Systemwidrige Begründung der Geltung einer rechtsgeschäftlichen Regelung mit der
                     Nichterfüllung pflichtgemäßer Sorgfalt (vgl. § 172 BGB)
         3. Zwischenweg: „Vertrauenshaftung“
                 Angebot (-), aber Schadensersatz nach § 122 BGB analog, wenn Verfasser Inverkehrbringen
                     aufgrund von Umständen in seiner Sphäre zu vertreten hat

 Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                           9
Einheit 4 – Fall 6

        Anspruch M  G auf Zahlung von 3.000 € aus Kaufvertrag i.V.m. § 433 II BGB

        I.     Anspruch entstanden
                  1. Angebot
                        zwei bzgl. essentialia negotii übereinstimmende Willenserklärungen
                     a) Angebot des G (Bestellungsschreiben)
                              aa) Tatbestand einer Willenserklärung
                              bb) Wirksamwerden
                             (1) Abgabe
                                  (-)
                     b) Angebot des M (Zusendung der Maßkrüge)
                              aa) Tatbestand einer Willenserklärung
                                    i) Obj. Tatbestand
                                          Ausdrückliche oder konkludente Erklärung, §§
                                         133, 157 BGB
                                    ii) Subj. Tatbestand
                              bb) Wirksamwerden
                                    i) Abgabe
                                    ii) Zugang
                     c) Zwischenergebnis: wirksames Angebot des M (+)

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                    10
Einheit 4 – Fall 6

           Anspruch M  G auf Zahlung von 3.000 € aus Kaufvertrag i.V.m. § 433 II BGB

           I.   Anspruch entstanden
                   1. Angebot
                   2. Annahme des G (-)
                   3. Zwischenergebnis: Anspruch entstanden (-)
           III. Ergebnis
                      Anspruch des M gegen G auf Zahlung von 3.000 € aus Kaufvertrag
                     i.V.m. § 433 II BGB (-)

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                              11
Einheit 4 – Fall 7

         II. Fall 7 – Das nicht abgeholte Einschreiben
     Sachverhalt

     Robert gibt am 15.09. im Laden des Dominik diesem gegenüber ein Angebot zum
     Kauf eines VW-Campingbusses zum Preis von € 13.950,– ab. Robert erklärt
     Dominik gegenüber, dass er nur 10 Tage ab Unterzeichnung an dieses Angebot
     gebunden sein wolle; wenn sich Dominik bis dahin nicht entschieden habe, werde
     er sich anderweitig umsehen. Mit an Robert gerichtetem Einschreiben vom 19.09.
     erklärte Dominik die Annahme des Angebots vom 15.09. Beim Versuch, am 22.09.
     die Postsendung zuzustellen, trifft die Postbotin Robert nicht an. Sie hinterlässt
     deshalb in dessen Briefkasten die schriftliche Mitteilung, für ihn sei ein
     eingeschriebener Brief bei der näher bezeichneten Servicestelle der Post AG
     niedergelegt. Der Absender wird darin nicht bezeichnet. Robert holt die
     Postsendung jedoch nicht ab. Mit Stempelaufdruck vom 2.10. und dem Vermerk
     "Empfänger benachrichtigt, da nicht abgefordert nach Ablauf der Lagerfrist zurück"
     geht das Einschreiben wieder an Dominik. Dominik (D) verlangt nun am 3.11.
     telefonisch von Robert (R) die Zahlung des Kaufpreises.

     Zu Recht?

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                12
Einheit 4 – Fall 7

           Anspruch des D gegen R auf Zahlung des Kaufpreises i.H.v. 13.950 € aus
           Kaufvertrag i.V.m. § 433 II BGB

           I.    Anspruch entstanden
                    1. Einigung (§§ 145 ff. BG)
                        a) Angebot des R (15.09.) (+)
                        b) Annahme des D
                               aa) Einschreiben vom 19.09.
                                   i) Tatbestand einer Willenserklärung
                                   ii) Wirksamwerden
                                 (1) Abgabe
                                        Der Erklärende muss das seinerseits Erforderliche
                                          getan haben
                                  (2) Zugang, § 130 I 1 BGB
                                         (+), wenn Erklärung in den Machtbereich des
                                          Empfängers gelangt ist und mit dessen Kenntnisnahme
                                          unter gewöhnlichen Umständen zu rechnen ist
                                            (P) Zugang eines nicht abgeholten Einschreibens

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                      13
Einheit 4 – Fall 7

           (P) Zugang eines nicht abgeholten Einschreibens

           I.    Meinungsstand
                    1. e.A.: Zugang mit Einwurf des Benachrichtigungsscheins
                          Zugang (+) am 22.09.
                               (-) Erklärung selbst hat den Machtbereich des Empfängers noch
                               nicht erreicht
                               (-) Benachrichtigungsschein enthält keine Information zu
                               Absender und Inhalt der Erklärung
                    2. a.A.: Zugang zum Zeitpunkt der zu erwartenden Abholung
                          Zugang (+) am 23.09.
                               (+) Zugriffsmöglichkeit des Empfängers
                               (-) Erklärung selbst hat den Machtbereich des Empfängers noch
                               nicht erreicht
                               (-) Bindung an Öffnungszeiten der Post
                               (-) Kein schutzwürdiger Interesse des Absenders, da sich dieser
                               Vorteile des Einschreibens zu Nutze macht
                    3. a.A.: Zugang erst mit tatsächlicher Abholung (h.M.)
                            Zugang (-)

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                       14
Einheit 4 – Fall 7

      Folge-(P): Korrektur über § 242 BGB?

      I. Maßstab
      Unzulässige Rechtsausübung, wenn Recht durch gesetzes-, sitten-, oder
      vertragswidriges Verhalten erlangt wurde
      II. Meinungsstand
              1. Grundsatz: allenfalls Fiktion der Rechtzeitigkeit
                  („Rückwirkungslösung“)
                          (+) Wer mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen zu
                         rechnen hat, muss geeignete Empfangsvorkehrungen treffen
                         (-) Der Erklärende muss jedoch auch alles ihm Zumutbare
                         unternommen haben, damit die Erklärung den Empfänger
                         erreicht (hier: erneuter Zustellversuch)
                                 (-), fingiert würde nur bei einem erneuten Zustellversuch die
                                Rechtzeitigkeit des Zugangs

                   2.    Ausnahme: Fiktion des Zugangs selbst
                               (+) Wenn der Adressat den Zugang arglistig vereitelt; erneuter
                               Zustellversuch wäre sinnlos und ist damit entbehrlich
                                  Ergebnis: (-), Gesamtumstände sprechen nicht für Arglist

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                        15
Einheit 4 – Fall 7
      Anspruch des D gegen R auf Zahlung des Kaufpreises i.H.v. 13.950 € aus
      Kaufvertrag i.V.m. § 433 II BGB

      I.     Anspruch entstanden
                1. Einigung (§§ 145 ff. BGB)
                    a) Angebot des R (15.09.) (+)
                    b) Annahme des D
                            aa) Einschreiben vom 19.09. (-)
                            bb) Zahlungsaufforderung vom 03.11.
                                  i) Tatbestand einer Willenserklärung
                                  ii) Wirksamwerden
                                  iii) Rechtzeitigkeit (§ 146 Var. 2 BGB)
                                        (1) Annahmefrist (§ 148 BGB)
                                       - Fristsetzung am 15.09.: 10 Tage
                                       - Fristbeginn (§ 187 I BGB): 16.09.
                                        - Fristende (§ 188 I BGB): 25.09.
                                        (2) Zwischenergebnis: Annahme nicht rechtzeitig
                2. Einigung (-)
      I.     Ergebnis
                  Anspruch D  R auf Zahlung des Kaufpreises i.H.v. 13.950 € aus
                  Kaufvertrag i.V.m. § 433 II BGB (-)

Josef Wittmann, 12.11.2018                                                                16
Sie können auch lesen