Agilität braucht Stabilität - Synchronize Consult
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Schwe rpunkt Projektor i ent i er te U n ter neh men sfüh r un g Hans-Joachim Gergs/ Arne Lakeit/ Agilität braucht Stabilität Bodo Linke Was Unternehmen von Kampfflugzeugen, James Bond und Moses lernen können Agilität ist gegenwärtig in aller Munde. Mit der Umstellung auf Agilität gewinnen Organi- sationen zwar enorm an Anpassungsfähigkeit, gleichzeitig entsteht aber ein Folgeproblem: Die soziale Integration der Organisation ist gefährdet. Agilität und Stabilität sollten daher nicht als getrennte Phänomene, sondern als zwei sich wechselseitig bedingende Spannungs- pole betrachtet werden. Die Aufgabe der Führung ist es, dieses Spannungsverhältnis zu managen. »Zwei Dinge sollten Kinder von ihren kutiert. In der Unternehmenspraxis erlebte der Be- disruptiv Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel« griff zunächst in der Softwareentwicklung einen ra- (engl. disruptive = störend, unterbrechend) (Johann Wolfgang von Goethe) santen Aufschwung. Seit der Formulierung des Durch eine disruptive Innovation werden »Agilen Manifests in der Softwareentwicklung« gibt die Regeln einer Branche über den Haufen geworfen. Ein Beispiel hierfür ist die Entwick- Mit Wandel umzugehen ist seit jeher eine es sogar eine Art Handlungsanweisung dazu.1 Der lung des Internets. Solche Innovationen zentrale Herausforderung der Unterneh- Buchmarkt ist mittlerweile überschwemmt von Rat- werden häufig von kleinen Unternehmen in mensführung. Die Geschwindigkeit des geberliteratur zu agilen Methoden oder zu agilen Marktnischen entwickelt, werden dann aber Wandels hat sich jedoch im letzten Jahr- Organisationsformen.2 zu einem dominierenden Marktfaktor und zehnt nochmals deutlich erhöht. Wir er- verdrängen etablierte Unternehmen. leben im Zuge der Digitalisierung in vie- In der gegenwärtigen Diskussion werden Agilität len Branchen disruptive Umbrüche, de- nur die positiven Aspekte agiler Organisations- Die Fähigkeit eines Unternehmens, sich ren Ausgang heute noch nicht absehbar formen beschrieben. kontinuierlich an seine komplexe, turbulente ist. Daher gilt die Fähigkeit eines Unter- und unsichere Umwelt anzupassen, indem nehmens, sich schnell oder gar voraus- In der Praxis wie auch in der Forschung ist unbe- es diese Veränderungen möglichst rechtzei- schauend auf sich verändernde Umwelt- stritten, dass Unternehmen ein zunehmendes Maß tig antizipiert und sein Geschäftsmodell und bedingungen einzustellen, als der zent- an Flexibilität aufweisen müssen. Doch der vorherr- seine Arbeitsprozesse darauf ausrichtet. rale Erfolgsfaktor. So wird gegenwärtig schende Glaube an den neuen »agilen« Königsweg viel über Agilität von Unternehmen dis- ist unserer Ansicht nach eine Illusion. In der gegen- 314 | zfo Für den internen Gebrauch - Keine Weitergabe & Veröffentlichung 05/2018 (87. Jg.), Seite 314–319 © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
A g ili tät b rau ch t S tabil i tät Schwe rpunkt wärtigen Diskussion werden nämlich nur die positi- mit tendenziell instabilen Organisation zu gewähr- ven Aspekte agiler Organisationsformen beschrie- leisten? ben, die negativen und teils nicht beabsichtigen Doch werfen wir zur Klärung dieser Frage zu- Folgeprobleme werden demgegenüber fast voll- nächst einen Blick auf neuere Forschungsergebnis- ständig ausgeblendet. So zeigen neuere empiri- se zum Zusammenhang von Agilität und Stabilität. sche Studien, dass »chronisch« agile Organisatio- Interessant ist die Studie von Stadler und Wälter- nen zur Desintegration und damit zu einem Rück- mann6, die sogenannte Jahrhundert-Champions gang ihrer Leistungsfähigkeit tendieren.4 Die zent- untersucht haben, also Unternehmen, die es ge- rale Frage lautet damit: Wie können wir die Anpas- schafft haben, über mehr als 100 Jahre hinweg wirt- sungsfähigkeit der Unternehmen steigern, ohne schaftlich erfolgreich zu bleiben. Ihren Ergebnissen deren inneren Zusammenhalt zu gefährden? Oder zufolge scheint die Innovationsfähigkeit nicht der wie es Hedberg, Nystrom und Starbuck bereits in zentrale erklärende Faktor für das lange Überleben den 1970er-Jahren plastisch formuliert haben: dieser Unternehmen zu sein. Die beiden Forscher »How can organizations fly, without flying apart?«4 kommen zu dem interessanten Befund: »Die Jahr- hundert-Champions in unserer Studie sind innova- tiv. Dies trifft jedoch auch für eine Reihe der Ver- Wie viel Agilität verträgt ein Unter- gleichsunternehmen zu. Was die Spitzenunterneh- nehmen? men von den Vergleichsunternehmen hingegen unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, intelligent konser- Beginnen wir unsere Überlegungen über den Zu- vativ zu agieren, d. h. bei aller Anpassung die Kultur sammenhang zwischen Agilität und Stabilität mit und Identität des Unternehmens zu wahren bzw. einer Analogie aus dem Bereich des Flugzeugbaus.5 evolutionär zu verändern.«7 Die Stärke der Jahrhun- Klassische zivile Flugzeuge zeichnen sich in der dert-Champions ist also, dass sie die Balance zwi- Luft durch ein Höchstmaß an Stabilität aus. Bei die- schen Identität und Erneuerung wahren. Diesen sem Flugzeugtypus muss jede Richtungsänderung Zusammenhang bestätigt auch die Untersuchung aktiv vom Piloten eingeleitet werden. Dabei sind von Simon, Groth und Wimmer8 über Erfolgsmuster die technischen Systeme so ausgelegt, dass sich von langlebigen Familienunternehmen. Die Auto- Störungen nicht aufschaukeln und die Stabilität ren kommen zu dem Ergebnis, dass es diesen Un- des Flugzeugs gefährden können. Moderne Kampf- ternehmen über Generationen hinweg gelingt, flugzeuge werden demgegenüber nach einer völlig »diejenigen Werte zu vermitteln, die über finanziel- anderen Konstruktionslogik gebaut, damit sie über le Gewinnerwartungen und -versprechen hinaus eine extreme Wendigkeit bzw. Agilität verfügen. Sie sinnstiftend für das Unternehmen wirken«.9 Diese werden aus diesem Grund mit maximaler Instabili- Unternehmen schaffen es also, die eigene Identität tät gebaut. Diese Bauweise hat zur Folge, dass in einem dynamischen Unternehmensumfeld weit- Kampfflugzeuge eigentlich permanent im Absturz gehend zu bewahren. begriffen sind. Das geforderte Höchstmaß an Agili- Auch die Ergebnisse der Studie von Probst und tät bringt damit ein beträchtliches Folgeproblem Raisch10 weisen in diese Richtung. Diese haben die mit sich. Um einen Absturz zu verhindern, sind 100 schwersten Unternehmenskrisen zwischen mehrere Lenkbewegungen pro Sekunde notwen- 2000 und 2005 untersucht und kommen zu dem Er- dig. Um diese immense Anzahl an kleinen Lenkbe- gebnis, dass exzessiver Wandel ein bedeutsamer wegungen zu koordinieren, verfügen moderne Auslöser von Unternehmenskrisen ist. Ein typi- Kampfflugzeuge über ein hochkomplexes Steue- sches Beispiel ist der Technologiekonzern ABB. rungssystem. Erst durch die fulminante Rechner- Nach 60 Übernahmen in unterschiedlichsten Bran- leistung des Bordcomputers wird es möglich, ein chen und einem wahren Restrukturierungsrausch instabiles Flugzeug zu steuern und in der Luft zu ist vom einstigen Vorzeigeunternehmen der 1990er- halten. Jahre ein verzettelter, heimatloser Konzern übrig Diese Analogie aus dem Flugzeugbau verdeut- geblieben. Die ständigen Richtungswechsel und licht, dass Agilität nicht ohne Nachteile zu haben der radikale Umbau führten zu einem kompletten ist. Mit der Umstellung auf Agilität ist zwar ein im- Verlust der Identität des Unternehmens. Auch Col- menser Zuwachs an Anpassungsfähigkeit verbun- lins zeigt in seiner beeindruckenden Untersuchung den, gleichzeitig schiebt sich jedoch ein Folgeprob- »The fall of the mighty«, wie selbst große Unterneh- lem in den Vordergrund: die Re-Stabilisierung. men angesichts drohender Krisen in einen Verän- Beim Kampfflugzeug vollbringt das technisch aus- derungsaktionismus verfallen, im Rahmen dessen geklügelte Flight-Control-System diese Leistung. Es Führungskräfte wie auch Geschäftsmodelle mit zu- stellt sich sogleich die Frage, wie vermögen Unter- nehmender Dynamik ausgetauscht werden, wo- nehmen die Re-Stabilisierung einer agilen und da- durch sich die Situation des Unternehmens weiter 05/2018 Für den internen Gebrauch - Keine Weitergabe & Veröffentlichung zfo | 315 © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
Schwe rpunkt Projektor i ent i er te U n ter neh men sfüh r un g Identität Gewissheit über einen nicht verhandelba- Der langjährige Erfolg von James Bond ren Kern der Organisation gibt, so die These, ist sie gewissermaßen die Grundlage für Flexibilität und »Geschüttelt, nicht gerührt«, rasante Fahrzeuge, Uhren mit Sprengfunktion, Agilität. Damit wird in langfristig erfolgreichen agi- attraktive Bond-Girls – all das lässt unweigerlich auf den berühmtesten Geheim- agenten der Filmgeschichte schließen: James Bond. Aber obwohl vieles über die len Unternehmen das oben beschriebene Problem Jahrzehnte hinweg gleich geblieben ist, wird bei näherer Betrachtung deutlich, der Re-Stabilisierung nicht auf der Ebene von Orga- wie sich der jeweilige Zeitgeist in den unterschiedlichen Filmen spiegelt. Werner nisationsstrukturen und Arbeitsprozessen gelöst, Greve hat diesen scheinbar widersprüchlichen Zusammenhang in seinem Buch sondern auf der Ebene von Normen, Werten, also »James Bond 007. Agent des Zeitgeistes« eindrucksvoll herausgearbeitet.11 von Kultur und Identität.16 Wenn man die letzten Bond-Filme (mit Daniel Craig) mit den ersten Filmen (mit Sean Connery) vergleicht, dann wird schnell deutlich, wie stark sich die Filmfi- gur verändert hat. Diese Anpassungsfähigkeit zeigt sich am Wandel der Gegner. Den Zusammenhang von Agilität Anfangs entspricht das Gut/Böse-Schema noch den Fronten des Kalten Kriegs. und Stabilität neu denken Später geht die Bedrohung von größenwahnsinnigen Privatpersonen aus. Die Entspannungspolitik erreicht ihren Höhepunkt, als Bond in »Octopussy« sogar Die Forschungsbefunde verdeutlichen, dass wir das mit einem Leninorden ausgezeichnet wird. Nach dem Zerfall des Ostblocks wird Verhältnis von Stabilität und Agilität aus einer neuen das organisierte Verbrechen zum Hauptgegner. Perspektive betrachten müssen. Unternehmen ste- Auch das Frauenbild hat sich über die Jahre grundlegend verändert. Insgesamt hen nicht nur vor dem Problem der ständigen Anpas- steigt die Qualifikation der Frauen in den Bond-Filmen kontinuierlich an. In dem sung an sich verändernde Umweltanforderungen 1979 erschienene Film ist seine Kollegin bereits promoviert und damit erstmals (Adaption), sondern müssen parallel hierzu auch die höher qualifiziert als der Titelheld selbst. Richtig angekommen ist die Emanzi- soziale Integration der Organisation sichern (Stabili- pation in den 1990er-Jahren, als Bond mit Judi Dench in der Rolle von »M« eine sierung). Das Management muss daher gleichzeitig weibliche Chefin bekommt. stabilitäts- und veränderungsorientiert handeln. Doch trotz dieser kontinuierlichen Anpassung an den Zeitgeist sind die Bond- Diese Anforderung scheint zunächst widersprüch- Filme in einem ebenfalls ganz außergewöhnlichen Maße konstant dieselben lich zu sein, weshalb man von einem Agilitäts-Stabi- (»identisch«) geblieben.12 Greve beschreibt diese Mischung von identitätsstif- litäts-Paradox sprechen kann. Moshe Farjoun fordert tender Stabilität und Anpassungsfähigkeit als die Erfolgsformel der Bond-Filme. aus diesem Grunde, die dualistische Betrachtungs- Er spricht in diesem Zusammenhang von fluider Identität. weise von Agilität und Stabilität aufzugeben. In sei- nem viel beachteten Aufsatz »Beyond dualism: sta- verschlechtert.13 Dies verdeutlicht, dass »chro- bility and change as a duality«17 arbeitet Farjoun he- nisch« agile Unternehmen auf lange Sicht gesehen raus, dass Wandel und Stabilität als zwei Seiten der ihre Leistungsfähigkeit einbüßen können. gleichen Medaille betrachtet werden müssen. Er zeigt auf, dass Organisationen, wie High Reliability Die Identität steht für einen nicht verhandelba- Organizations (etwa Atomkraftwerke, Spaceshuttles ren Kern der Organisation und bildet die Grund- oder Flugzeugträger), die unter höchst unsicheren lage für Flexibilität. Ausgangsbedingungen eine hohe Output-Stabilität sichern müssen, nach den gleichen Prinzipien ope- Dieser Zusammenhang wird auch durch Untersu- rieren, wie z. B. Unternehmen in hochdynamischen chungen zu agilen Unternehmen aus der IT-, Medi- Märkten (Software- und IT-Unternehmen etc.). Far- en- und Internetbranche bestätigt. Agilität und Sta- joun arbeitet heraus, dass Stabilität die Grundlage bilität scheinen sich diesen Studien zufolge nicht von Veränderungsfähigkeit ist. grundlegend auszuschließen. Nach den empiri- schen Erkenntnissen von Hatum und Pettigrew14 Das Management muss gleichzeitig stabilitäts- verfügen stark anpassungsfähige Unternehmen und veränderungsorientiert handeln. zugleich über eine starke Identität. Zu einem ähnli- chen Befund kommt Rita McGrath15. Langfristig er- Mit dem Zusammenhang von Stabilität und Wandel folgreiche Unternehmen sind ihren Untersuchungs- hat sich bereits in den 1950er-Jahren Talcott Par- befunden zufolge sowohl »rapid adopters« als sons18 – einer der großen Soziologen seiner Zeit – auch »champions in stability«. Diese Unternehmen beschäftigt. Auf der Grundlage von empirischen Er- zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht in revolu- gebnissen aus der Kleingruppenforschung hat Par- tionärer Weise alles infrage stellen, sondern per- sons mit dem AGIL-Schema ein ausgefeiltes theore- manent in Bewegung bleiben und sich eher evolu- tisches Modell dazu entwickelt. Er hat in seinen tionär an sich verändernde Marktbedingungen an- Studien festgestellt, dass die von ihm untersuchten passen. Eine starke Identität scheint also kein Kleingruppen nur dann dauerhaft bestanden, wenn hemmender Faktor, sondern ein geradezu begüns- sie vier grundlegende Funktionen erfüllten: tigender Faktor für Langlebigkeit zu sein. Da die 1. Adaptation (Anpassung/Zukunftsbezug): Die Fä- 316 | zfo Für den internen Gebrauch - Keine Weitergabe & Veröffentlichung 05/2018 © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
A g ili tät b rau ch t S tabil i tät Schwe rpunkt higkeit eines sozialen Systems, auf die sich än- dernden äußeren Bedingungen zu reagieren und Die Moses-Methode sich entsprechend anzupassen. Moses stand als einer der ersten Changemanager der Geschichte vor dem eben 2. Goal Attainment (Zielverfolgung/Zukunftsbe- beschriebenen Ur-Problem aller Veränderer: Wie kann man einen tiefgreifenden zug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, eige- Wandel anstoßen, ohne dabei die Identität einer Gruppe zu zerstören? Moses ne Ziele zu definieren und zu verfolgen (langfris- schlug hierzu einen interessanten Weg ein. Er war kein Innovator, der den tige Programme und Strategien). kulturellen Erfahrungsschatz der Israeliten einfach ignorierte und ihnen entge- 3. Integration (Eingliederung/Gegenwartsbezug): genrief: »Vergesst alles, was gewesen ist! Wir werfen alles über Bord, fangen Die Fähigkeit eines sozialen Systems, Kohäsion noch mal von vorn an und ziehen in die Wüste«. Sein Erfolgsgeheimnis bestand (Zusammenhalt) und Inklusion (Einschluss) im vielmehr darin, einen weiten interpretativen Bogen zu spannen, der die Vergan- Inneren herzustellen und abzusichern (Rollen, genheit mit der Zukunft verbindet.19 Kurzum: Er beherrschte die Kunst, Altes mit Positionen, Arbeitsorganisation etc.). Neuem zu verbinden – und genau das können wir von Moses lernen. 4. Latency bzw. Latent Pattern Maintenance (Auf- Moses bezieht die anstehende Veränderung ausdrücklich auf die gewachsene rechterhaltung/Gegenwartsbezug): Die Fähig- Identität der Israeliten. So interpretiert Moses den Auszug aus Ägypten nicht keit eines sozialen Systems, zur dauerhaften als einen kulturellen Neustart, sondern vielmehr als eine kulturelle Anknüp- Gewährleistung seiner inneren Ordnung grund- fungsleistung an die Vergangenheit. »Sein Geschick besteht darin, dass er in legende Werte und Normen auszubilden und der Lage ist, diese Vergangenheit für die Zukunft zu mobilisieren. Er legt die alte aufrechtzuerhalten (Identität, Kultur). Größe der Israeliten nicht als Nostalgie aus, sondern als den Auftrag, aktuelle Herausforderungen offensiv aufzugreifen, um die alten Verheißungen in neue Größe zu verwandeln.«20 Während »Adaptation« und »Goal Attainment« für Die Moses-Geschichte ist damit ein eindrückliches Beispiel für die Mobilisie- Anpassung und Veränderung eines sozialen Sys- rung einstiger Verheißungen für zukünftige Herausforderungen. Der kulturelle tems stehen (Agilität), sichern »Integration« und Bezug des Neuen zum Alten wird dabei durch Symbole ausgedrückt. Die Bun- »Latency« die Ordnung, die Normen und Werte des deslade und die Stiftshütte sind sichtbare Zeichen des erneuerten Bundes mit Systems (Stabilität). Nach Parsons sind alle vier Gott und zugleich Zeichen einer Neuinterpretation der Vätertradition. »Die Wahl Funktionserfordernisse gleich wichtig und beein- solcher Symbole, die Brücken zwischen dem tradierten Verständnis und der flussen sich nicht nur gegenseitig, sondern sind Interpretation des Neuen zu schlagen vermögen, ist ein wichtiger Beitrag, um vielmehr wechselseitig aufeinander angewiesen. einer Gemeinschaft das gute Gefühl zu geben, sie verstehe sich nicht nur in der Parsons bezeichnet diesen Zusammenhang als Rückschau, sondern auch im Ausblick.«21 Moses legte die Realität so aus, dass »double interchange«. Eine Funktion kommt damit die Identität der Israeliten nicht verloren ging. Im Gegenteil: Einen großen Teil dauerhaft nicht ohne die andere aus. Anders for- seiner Führungsarbeit verwendete er auf die Sicherung dieser Identität. muliert: keine Agilität ohne Stabilität und keine Stabilität ohne Agilität. Problematisch dabei ist, dass sich die vier Funktionserfordernisse mitunter doch nicht alles zugleich bearbeiten kann. Diese nicht leicht in Einklang bringen lassen, da sie in ei- fortlaufende Ausbalancierung ist damit die zentrale nem Widerspruch zueinander stehen. Es geht nach Aufgabe der Führung.22 Parsons also darum, den Prozess der Abstimmung Folgt man den Überlegungen von Farjoun und unter den vier Funktionserfordernissen kontinuier- Parsons, so sind Stabilität und Wandel zwei vonei- lichen in Gang zu halten. Geschieht dies nicht, ist nander abhängige Phänomene und stehen in ei- der Bestand der Organisation auf Dauer gefährdet. nem dialektischen Verhältnis zueinander. Stabilität Dies heißt nicht, dass alle vier Funktionsproble- schränkt Wandel einerseits zwar ein, ist aber ande- Abb. 1 Das AGIL-Schema me immer in genau dem gleichen Umfang und mit rerseits auch die Grundlage von Wandel und ermög- von Talcott Parsons der gleichen Energie bearbeitet werden müssen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung einer Organisation kann bzw. muss die Führung ein be- stimmtes Funktionsproblem prioritär behandeln. außen Adaptation Goal Attainment So muss z. B. das Management eines Start-ups den Fokus seines Handelns zunächst ganz eindeutig auf »Adaptation« und »Goal Attainment« legen, oh- ne jedoch die beiden anderen Funktionserforder- nisse völlig aus dem Blick zu verlieren. Wichtig da- bei ist, dass es beim »Auspendeln« der vier in sich Latent Pattern innen Integration widersprüchlichen Funktionserfordernisse keinen Maintenance archimedischen Punkt, keine »vernünftige Mitte« gibt. Es gibt also kein richtiges Verhältnis zwischen den Funktionserfordernissen, sondern nur die Pa- radoxie, dass man immer alle vier benötigt und Zukunft Gegenwart 05/2018 Für den internen Gebrauch - Keine Weitergabe & Veröffentlichung zfo | 317 © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
Schwe rpunkt Projektor i ent i er te U n ter neh men sfüh r un g stand historischer Erfahrungen lebt. Sie sollten Impulse für die Praxis daher die anstehende Veränderung ausdrück- lich auf die gewachsene Identität der Organisa- • Behalten Sie immer im Blick, dass ein höheres Maß an Agilität ein nicht ge- tion beziehen und damit einen Bogen zwischen wolltes Folgeproblem nach sich zieht: die Desintegration der Organisation. • Reden Sie über Wandel, aber auch darüber, was nicht verändert werden soll, der Vergangenheit und der Zukunft spannen. also über das, was Sie bewahren und erhalten möchten. Hier können Führungskräfte von der Moses-Ge- • Die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelingt nur, wenn schichte lernen. Das Geschick von Moses be- Sie sich bewusst und regelmäßig mit der Identität der eigenen Organisation stand gerade darin, dass er in der Lage war, Ver- auseinandersetzen. Die kontinuierliche Reflexion der Unternehmensidentität gangenheit, Gegenwart und Zukunft aneinander ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. anschlussfähig zu machen. • Betrachten Sie Agilität und Stabilität nicht als Gegensätze, sondern als zwei 2. Diese Verbindung von Vergangenheit, Gegen- sich gegenseitig bedingende Spannungspole. Es geht nicht darum, die Span- wart und Zukunft kann nur gelingen, wenn sich nungspole in die »richtige« Balance zu bringen, sondern vielmehr darum, Führungskräfte bewusst und regelmäßig mit der sie dynamisch und variabel zu fokussieren. Identität der eigenen Organisation auseinander- setzen. Diese ständige Arbeit an der Identität wird damit zu einer der zentralen Herausforde- licht ihn erst. Es geht also darum, Gegenpole nicht rungen der Führungsarbeit. Führungskräfte soll- als Widersprüche, sondern als Spannungspole zu ten sich verstärkt Zeit dafür nehmen, diese kon- betrachten, die aufeinander bezogen werden müs- tinuierliche Identitäts- und Kulturarbeit in den sen. Unternehmen anzuleiten. 3. Die große Herausforderung für Führungskräfte besteht also gegenwärtig darin, im Sinne des Dynamische Balance von Stabilität AGIL-Schemas von Parsons die sich gegenseitig und Wandel bedingenden Spannungspole zwischen Agilität und Stabilität dynamisch zu managen. Doch Die Idee der dynamischen Balance von Stabilität noch immer tun sich Führungskräfte mit dem und Wandel ist alles andere als neu. Nicht nur Par- Umgang der damit verbunden Paradoxien und sons, sondern nach ihm viele andere Forscher ha- Widersprüchen schwer. Dies mag einen kulturel- ben bereits vor Jahrzehnten diesen Zusammen- len Hintergrund haben. Während es dem westli- hang herausgearbeitet.23 In einer Zeit der zuneh- chen Denken schwerfällt, die Einheit von Gegen- menden Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft sätzen zu akzeptieren, ist diese Idee z. B. im hat dieses Wechselverhältnis unserer Ansicht nach taoistischen Denken tief verwurzelt. Nach der aber eine neue Qualität bekommen. Denn das taoistischen Philosophie enthält jedes Phäno- Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Po- men sein Gegenteil, ja bringt es sogar hervor.24 len wird gegenwärtig immer größer. Dies wird je- Die taoistische Philosophie des alten Chinas lehr- doch in der praxisnahen Literatur zum Thema Agili- te, dass der Gang der Natur sich in einem ständi- tät nicht thematisiert. Es wird unterschlagen, dass gen Fluss befindet und auf Ganzheit beruht, die die solchermaßen »agilisierten« Organisationen durch das dynamische Ineinanderwirken von nur durch ein re-stabilisierendes komplexes Flight- Wandel und Stabilität bestimmt wird.25 Nehmen Control-System dauerhaft überleben können. Wie wir diese Idee ernst, müssen wir unser Denken dieses stabilisierende Flight-Control-System konzi- über Wandel und Veränderung radikal ändern. piert sein muss, darüber lesen wir derzeit wenig. Die Studien von Sull26 und Lewis27unterstreichen, dass westliche Führungskräfte hier von asiati- Führungskräfte sollten die anstehende schen Führungskräften lernen können. Der Um- Veränderung auf die gewachsene Identität gang mit Paradoxien und Widersprüchen muss der Organisation beziehen. daher als ein zentraler Bestandteil in die Füh- rungskräfteentwicklung integriert werden. Nun stellt sich die Frage, welche Bedeutung dies für das Handeln von Führungskräften hat. Hierzu Anmerkungen zu den Begriffskästen möchten wir zum Schluss einige Denkanstöße ge- Agilität – Definition der Autoren disruptiv – Fleig, J.: 3 Beispiele für eine disruptive Innova- ben: tion (http://www.business-wissen.de), https://tinyurl. 1. Führungskräfte dürfen gerade in Zeiten großer com/y8kutk44 (letzter Zugriff: 10.7.2018). Veränderungen nicht nur verkünden, was sich Anmerkungen alles ändern muss. Sie sollten bei der Suche 1 Aus der Perspektive der Organisationstheorie handelt nach dem Neuen immer auch im Blick behalten, es sich bei Agilität um kein neues Thema. Bereits in den dass die Kultur eines Unternehmens vom Be- 1960er-Jahren beschäftigten sich eine ganze Reihe von 318 | zfo Für den internen Gebrauch - Keine Weitergabe & Veröffentlichung 05/2018 © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
A g ili tät b rau ch t S tabil i tät Schwe rpunkt Zusammenfassung Summary Mit Wandel umzugehen ist seit jeher eine zentrale Heraus- Managing change has always been a central challenge for forderung der Unternehmensführung. Die Geschwindig- companies. However, the pace of change in the economy keit des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft hat sich and society has increased again in the last decade. For jedoch im letzten Jahrzehnt erneut erhöht. Daher ist Agili- this reason, agility is currently on everyone’s lips. But the tät gegenwärtig in aller Munde. Doch der wachsende Glau- growing belief that agility leads the way to the optimal be an den neuen »agilen« Königsweg zur optimalen organization of the future is an illusion. The example of Organisation ist eine Illusion. Am Beispiel der Konstruktion the construction of modern combat aircraft shows that moderner Kampfflugzeuge wird deutlich, dass Agilität ein agility entails a central consequential problem: the zentrales Folgeproblem nach sich zieht: die Re-Stabilisie- re-stabilization of the now extremely agile aircraft. This Hans-Joachim Gergs rung der nun extrem wendigen Flugzeuge. Dauerhaft agile means that permanently agile organizations tend to dis- Institut für Soziologie Organisationen tendieren also zur Desintegration und integrate. However, agility and stability should not be Friedrich-Alexander-Universi- Selbstauflösung. Agilität und Stabilität dürfen nicht als seen as two separate phenomena, but rather as two mu- tät Erlangen-Nürnberg zwei getrennte Phänomene, sondern müssen eher als zwei tually-dependent poles. Organizations must keep these gergs@t-online.de sich wechselseitig bedingende Spannungspole betrach- two poles in a dynamic balance in order to be sustainably ten werden, die die Führung dynamisch managen muss, successful. This requires an increased level of reflection um sie produktiv nutzen zu können. Dies erfordert viel Re- and continuous work on the identity and the culture of the flexion und eine kontinuierliche Arbeit an der Identität und company. This will become one of the central manage- der Kultur des Unternehmens – eine zentrale ment tasks of the future. Führungsaufgabe der Zukunft. Organisationsforschern mit adaptiven Organisationen. 13 Collins, J.: How the mighty fall, London 2009, S. 83–85. Diese Diskussion erfuhr in den 1980er-Jahren mit dem 14 Hatum, A./Pettigrew, A./Michelini, J.: Building organi- Konzept des Lean Management einen weiteren Auf- zational capabilities to adapt under turmoil. In: Journal schwung. In dieser Zeit begannen auch die ersten of Change Management, 10. Jg., 2010, H. 3, S. 257–274. Diskussionen über das agile Projektmanagement, 15 McGrath, R.: The end of competitive advantage. How to das dann in den 1990er-Jahren einen erheblichen Auf- keep your strategy moving as fast as your business, Arne Lakeit schwung im IT-Umfeld fand. Einen guten Überblick über Boston 2013. freier Berater und Coach die historische Entwicklung und den aktuellen Stand 16 Schreyögg, G./Sydow, J.: a. a. O., S. 1255. arne.lakeit@web.de der Diskussion um Agilität findet sich bei Scheller, T.: 17 Farjoun, M.: Beyond Dualism: Stability and change as Auf dem Weg zur agilen Organisation, München 2017. duality. In: Academy of Management Review, 35. Jg., 2 Sutherland, J.: Die Scrum Revolution. Management 2010, H. 2, S. 202–225. mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten 18 Parsons, T.: The Social System, London 1952. Unternehmen, Frankfurt/New York 2015; Szollose, B.: 19 Fischer-Appelt, B.: Die Moses Methode. Führung zu Liquid Leadership. From Woodstock to Wikipedia – bahnbrechendem Wandel, Murmann 2005, S. 123 ff. Multigenerational management ideas that are changing 20 Fischer-Appelt, B.: a. a. O., S. 130. the way we run things, Austin 2011; Meyer, P.: The agility 21 Fischer-Appelt, B.: a. a. O., S. 131. shift. Creating agile and effective leaders, teams, and 22 Eine zusammenfassende Darstellung findet sich bei organizations, Brookline 2015. Gergs, H.-J.: Die Kunst der kontinuierlichen Selbster- 3 Schreyögg, G./Sydow, J: Organizing for fluidity? neuerung. Acht Prinzipien für eine neues Change Dilemmas of new organizational forms. In: Organization Management, Weinheim 2016, S. 135 ff. Science, 21. Jg., 2010, H. 6, S. 1251–1262. 23 Eine umfassende Zusammenfassung der wissenschaft- 4 Hedberg, B./Nystrom, P./Starbuck, W.: Camping lichen Diskussion zum Zusammenhang von Wandel und Bodo Linke on Seesaws: Prescriptions for a self-designing organi- Stabilität findet sich bei Saboohi, N./Saboohi, S.: Synchronize-Consult GmbH zation. In: Administrative Science Quarterly, 21. Jg., Revisting organizatioanl change: Exploring the paradox bodo.linke@synchronize- 1976, S. 41–65. of managing continuity and change. In: Journal of consult.com 5 Krusche, B.: Im Sturzflug. Überlegungen zur Aerodyna- Change Management, 11. Jg., 2011, H. 2, S. 185–206. mik (post-)moderner Organisationen. In: Zeitschrift 24 Jullien, F.: Stille Wandlungen, Berlin 2009; Marshak, R. Führung + Organisation, 79. Jg., 2010, H. 3, S. 172–179. J.: Lewin meets Confucius. A Re-View of the OD Model 6 Stadler, C./Wältermann, P.: Die Jahrhundert- of Change. In: Journal of Applied Behavioral Science, Champions. Das Geheimnis langfristig erfolgreicher 29. Jg., 1993, H. 4, S. 393–415; Trompenaars, F./ Unternehmen. In: Zeitschrift Führung + Organisation, Paud’Homme, P.: Managing Change across Corporate 81. Jg., 2012, H. 3, S. 156–160. Cultures, Oxford 2004. 7 Stadler, C./Wältermann, P.: a. a. O. S. 157 f. 25 Eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Dis- 8 Simon, F. B./Wimmer, R./Groth, T.: Mehr-Generationen- kussion zu diesem Thema findet sich bei Lewis, M. D.: Familienunternehmen, Heidelberg 2005. Exploring paradox: Toward a more comprehensive 9 Simon, F. B./Wimmer, R./Groth, T.: a. a. O., S. 249. guide. In: Academy of Management Review, 25. Jg., 10 Probst, G./Raisch, S.: Die Logik des Niedergangs. 2000, H. 4, S. 760–776. In: Harvard Business Manager, 2004, H. 3, S. 37–45. 26 Sull, D. N.: Made in China. What western managers can 11 Greve, W.: James Bond 007. Agent des Zeitgeistes, learn from trailblazing chinese entrepreneurs, Boston, Göttingen 2012. Massachusetts 2005. 12 Greve, W.: a. a. O., S. 57. 27 Lewis, M. D.: a. a. O., S. 762 f. 05/2018 Für den internen Gebrauch - Keine Weitergabe & Veröffentlichung zfo | 319 © Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
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