Amokfahrten in Deutschland - Eine phänomenologische Annäherung und Untersuchung der Warnverhaltentypologie - Forum Kriminalprävention
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EXTREME GEWALT UND PRÄVENTION Amokfahrten in Deutschland Eine phänomenologische Annäherung und Untersuchung der Warnverhaltentypologie menen, z. B. zum (Homizid-)Suizid von Piloten (Kenedi, Friedman, Watson, & Katharina Nitsche, Mirko Allwinn, Jens Hoffmann Preitner 2016) oder zur Suizidalität im & Stephan Bongard Straßenverkehr (Wyatt, Squires, Col- lis, & Broadley 2009). Jedoch widmete Die zugrunde liegende Studie beschäftigte sich erstmals mit der wissenschaft- sich unseres Wissens nach keine empi- lichen Untersuchung von Amokfahrten in Deutschland zwischen 2000 und rische Studie der Definition und Phä- 2017 und schloss 22 von 46 ausgewerteten Strafakten in die nähere Betrach- nomenologie von Amokfahrten. tung ein. Dies erscheint neben der Notwen- Die überwiegend männlichen Einzeltäter waren mittleren Alters, ledig und digkeit zur Entwicklung präventiver planten ihre Taten nur selten. Die Tatsituation entstand überwiegend zufäl- Ansätze vor allem im Hinblick auf die lig und endete zumeist mit der Festnahme des Täters. Neben finanziellen und heterogene Berichtserstattung der sozialen Schwierigkeiten der Täter fielen insbesondere die vorangehende am- Medien von hohem Interesse. So wird bulante und/oder stationäre Behandlung aufgrund einer psychischen Erkran- grundsätzlich bei zunächst unerklär- kung auf. Dabei war die Hälfte aller Täter psychotisch. In nahezu allen Fällen lich erscheinenden Gewalttaten oder zeigte sich gemäß der Warnverhaltentypologie mindestens eine auffällige Ver- Unfällen häufig von Amoktaten berich- haltensweise im Vorfeld der Tat. Obwohl diese Auffälligkeiten für Personen tet (Adler 2002; Bannenberg, Bauer, & oder Institutionen wahrnehmbar sind, wurde nur selten darauf reagiert. Kirste 2014). Dies gilt insbesondere für Amokfahrten. Unter diesem Stich- wort beschreiben Medien zum einen 2009; Peter & Bogerts 2012). Die Ta- Taten, bei denen eine Person gezielt Einleitung ten wurden zumeist unabhängig von in eine Menschenmenge fuhr, ande- der Art der Tatwaffe untersucht. Zwar rerseits aber auch Vorfälle, bei denen Mit mehr als 20 Verletzten und zwei werden Schusswaffen bei Amoktaten Personen infolge einer Intoxikation Toten erlangte nicht nur die Amok- am häufigsten verwendet, doch auch unter Kontrollverlust litten oder wäh- fahrt von Münster (NRW) eine hohe Amokfahrten werden beobachtet (Pe- rend der Flucht vor einer polizeilichen mediale Aufmerksamkeit. Der Täter ter & Bogerts 2012) und es bleibt bis- Kontrolle andere Menschen verletzten war bereits im Vorfeld auffällig. Er ver- her unklar, inwiefern sich Taten in Ab- oder töteten. Darüber hinaus findet sandte Suizidankündigungen, aber die hängigkeit von der Tatwaffe in ihrer man unter dem Stichwort Amokfahrt alarmierte Polizei konnte ihn nicht in Phänomenologie unterscheiden. auch Vorfälle von an Schizophrenie er- seiner Wohnung antreffen. Außerdem Bisher existieren wissenschaftliche krankten Personen, die andere Men- war er wiederholt beim Sozialpsychia- Untersuchungen zu ähnlichen Phäno- schen mit einem Pkw aufgrund ihres trischen Dienst der Stadt Münster vor- stellig, zuletzt am Tattag selbst. We- Tabelle 1: Übersicht der Warnverhaltentypologie (Hoffmann & Roshdi, 2015) gen keiner erkennbaren Eigen- oder (1) Weg zur Gewalt jegliches Verhalten, das zur Planung, Vorbereitung oder Fremdgefährdung ließ man ihn ge- Durchführung einer Tat notwendig ist hen. Dem Sozialpsychiatrischen Dienst lag keine Information zur E-Mail mit (2) Fixierung jegliches Verhalten, das eine sich steigernde und über- mäßige pathologische Beschäftigung mit einer Person der darin enthaltenen Suizidankündi- oder einem Thema anzeigt gung vor. Während solche Taten in der Öf- (3) Identifizierung Affinität mit militärischen oder kriegerischen Themen, fentlichkeit und den Medien hohe Auf- die die Lösung eines Konflikts durch Gewalt nahelegen, u. a. die Beschäftigung mit und Bewunderung von ande- merksamkeit erlangen, beschäftigt ren Gewalt- oder Attentätern sich auch die Forschung seit bereits knapp drei Jahrzenten mit dem Phä- (4) Neue Form der Gewalt gewalttätiges Verhalten, das nicht direkt in Verbindung nomen der sogenannten schweren mit der zielgerichteten Gewalttat steht und von der Per- son zuvor noch nicht angewandt wurde zielgerichteten Gewalttaten. Dabei stehen unter anderem Amoktäter 1 im (5) Energieschub jegliches Verhalten, das einen Anstieg des Energielevels Fokus (Adler, Lehmann, Räder, & Schü- in den Handlungen gegenüber Zielpersonen andeutet nemann 1993; Allwinn, Hoffmann, & (6) Einweihung Dritter Einweihung Dritter in die eigene Tatabsicht Meloy 2019; Hoffmann & Allwinn 2016a, (7) Letzter Ausweg jegliches Verhalten, das erkennen lässt, dass die Person 2016b; Hoffmann, Roshdi, & Robertz zunehmend verzweifelt und sich in einer ausweglosen Lage sieht, in der Gewalt als letzte Option erscheint 1 Schwere zielgerichtete Taten, wie Amokläufe und ter- roristische Anschläge werden bis auf wenige Ausnah- (8) Direkte Drohung direkte Drohung gegenüber der Zielperson oder eng mit men von männlichen Personen begangen. Daher wird der Zielperson in Verbindung stehenden Personen im Folgenden die männliche Schreibweise verwendet. 22 forum kriminalprävention 2/2020
EXTREME GEWALT UND PRÄVENTION subjektiv wahrgenommenen Bedro- Radikalisierung und Waffenaffinität hungserlebens verletzten oder töte- Ergebnisse Keiner der Täter befasste sich mit ten sowie Unfälle von Personen, die ideologischen Inhalten. Drei (20 %) Gas- und Bremspedal verwechselten. Im Folgenden kann lediglich eine waren in der Anwendung von Schuss- An diesen Beispielen wird die Vielfalt Auswahl der Ergebnisse dargestellt waffen geübt, zwei Täter (12,5 %) sam- der unter einem Stichwort in der Öf- werden. Die Akten waren unterschied- melten Waffen und zeigten ein starkes fentlichkeit subsumierten Phänomene lich umfangreich, sodass nicht immer Interesse an diesen. deutlich. Daher ist ein wissenschaftli- alle notwendigen Informationen vor- ches Verständnis der Phänomenologie lagen. Folglich variieren die Grundge- Akute Belastungen mit Bezug zur Tat und der tat- sowie täterbezogenen Dy- samtheiten und die Prozentangaben In den zwölf Monaten vor der Tat namik unerlässlich. beziehen sich jeweils auf die beurteil- erlebten 38,9 % (n = 7) der Täter eine Um eine solche empirische Annä- baren Informationen. partnerschaftliche Zurückweisung herung zu erlangen, eignet sich vor (z. B. eine Trennung) und 80,0 % (n = allem die Analyse von Strafakten als Die Täter 12) äußerten eine Unzufriedenheit be- zuverlässige Informationsquelle und Von den insgesamt N = 22 Tätern züglich der Beziehung zu wichtigen Standardverfahren der empirisch-kri- waren 19 männlich (86,4 %) und drei Bezugspersonen in Form von man- minologischen Forschung (Leuschner weiblich (13,6 %). Im Durchschnitt wa- gelnder Anerkennung, Wertschät- & Hüneke 2016). In der vorliegenden ren die Täter etwa 34 Jahre alt (M = zung oder Zuneigung. Ein sozialer Untersuchung wurde eine Vielzahl un- 33,68; SD = 9,32) und in acht Fällen vor- Rückzug konnte bei 41,2 % (n = 7) fest- terschiedlicher Variablen erfasst. Dazu bestraft (44,4 %). gestellt werden, während 75,0 % (n = gehören unter anderem auch auffäl- 12) unter finanziellen Schwierigkeiten lige Verhaltensweisen im Vorfeld der Psychiatrische Vorbelastung litten. 40,0 % (n = 6) der Täter hatten Tat anhand der Warnverhaltentypo- 66,7 % (n = 12) der Täter waren in berufliche Probleme, aus denen eine logie (Meloy, Hoffmann, Guldimann, der Vergangenheit in ambulanter und Beurlaubung oder Kündigung als dis- & James 2012). Mithilfe dieser Typo- 82,4 % (n = 14) in stationärer psychi- ziplinarische Konsequenzen resultier- logie kann das Risiko einer schweren atrischer und/oder psychotherapeu- ten.3 Gewalttat im Hinblick auf den Gesamt- tischer Behandlung. In sieben dieser kontext eines möglichen bevorste- Fälle wurde die Behandlung irregulär henden Gewaltdelikts beurteilt wer- beendet. Eine psychiatrische Diagno- 2 Diese Definition wurde auf Grundlage der verschie- den (Tabelle 1). se lag bei 15 Tätern (88,2 %) zum Tat- denen Kernmerkmale gängiger Definitionen unter- schiedlicher Amokforscher entwickelt. Dazu wurden Diese Typologie ist in der For- zeitpunkt vor (Abbildung 1). Die Kri- die Definitionen von Adler (2015, S.55), Bannenberg schung bereits etabliert und Warn- terien für eine unipolare Depression und Kollegen (2014, S. 229) sowie Hoffmann (2003, S. 399) herangezogen. Dabei wurden zwei Kriterien als verhalten konnten im Vorfeld von erfüllte kein Täter. gemeinsamer Konsens aller drei Definitionen berück- schweren Gewalttaten regelmäßig be- Ein regelmäßiger Substanzmiss- sichtigt: (1) Die Absicht der Verletzung und/oder Tötung von (2) mehr als einer Person. obachtet werden (Allwinn et al. 2019; brauch in der Vergangenheit lag bei 3 Bei zum Tatzeitpunkt erwerbslosen Tätern ( n = 10, Böckler, Allwinn, Wypych, Hoffmann, & 13 Tätern vor (65 %). 45,5%) wurde automatisch ein „nein“ kodiert. Zick 2020; Meloy, Hoffmann, Roshdi, & Guldimann 2014). Methode Zunächst wurde eine umfangreiche Medienrecherche vorgenommen. In 73 der 88 dadurch identifizierten Fäl- le zwischen 2000 und 2017 ließ sich die zuständige Staatsanwaltschaft ermit- teln. Es erfolgte die standardisierte Auswertung der 46 übersandten Straf- akten auf Grundlage eines umfangrei- chen Kodierbogens (in Anlehnung an Göbel et al. 2016). Dabei wurde folgen- de Definition einer Amokfahrt festge- legt (Nitsche 2018, S. 62) 2: Eine Amokfahrt ist ein beabsichtig- ter Angriff mithilfe eines Fahrzeuges als Tatwaffe, bei dem die Tötung oder Verletzung mehrerer zufällig oder ge- zielt ausgewählter Personen beabsich- tigt oder vollendet wird. Auf Grundlage der in dieser Defini- tion enthaltenen Einschlusskriterien (Tatentschluss und Mehrfachverlet- zung/-tötung) wurden 22 Fälle in sta- tistische Analysen eingeschlossen. Abbildung 1. Prozentuale Häufigkeiten der psychiatrischen Diagnosen forum kriminalprävention 2/2020 23
EXTREME GEWALT UND PRÄVENTION Identifizierung Zu einer Identifikation mit realen oder fiktionalen Gewalttätern oder -taten kam es im Vorfeld der Tat in keinem Fall. Neu auftretende Form der Gewalt Neues gewalttätiges Verhalten wurde in 44,4 % (n = 4) mehr als sechs Monate vor der Tat gezeigt bzw. in 33,3 % (n = 3) weniger als sechs Mo- nate vor der Tat. In den übrigen Fäl- len (jeweils 11,1 %, n = 1) wurde die- ses Verhalten weniger als einen Monat bzw. weniger als eine Woche vor der Tat gezeigt. Abbildung 2. Prozentuale Häufigkeiten der Tatmotive (Mehrfachnennung möglich) Energieschub Die Taten Die Häufigkeit der beobachtbaren In mehr als die Hälfte der Fälle Warnverhaltensweisen ist in Abbil- (57,2 %, n = 4) konnte ein Anstieg in Tatanalyse dung 3 dargestellt. Häufigkeit, Intensität oder Vielfalt Alle Täter handelten allein. Sieben von mit in der Tat oder der Zielperson Täter (31,8 %) wählten den Tatort ge- Weg zur Gewalt stehenden Aktivitäten mehr als sechs zielt aus und 17 Täter (77,3 %) fielen Sofern Planungs- und Vorberei- Monate vor dem Gewaltakt beobach- durch ihr Verhalten unmittelbar vor tungshandlungen gezeigt wurden, tet werden. Ein Täter (14,3 %) zeigte der Tat auf (z. B. durch einen auffäl- fanden diese in der Hälfte der Fälle diesen Anstieg erst weniger als einen ligen Fahrstil). In vier Fällen (19,0 %) weniger als eine Woche vor der Tat Monat vor der Tat. wurde die Tat mindestens 24 Stunden oder unmittelbar davor statt. vorher geplant und in 18 Fällen (85,7 %) Letzter Ausweg entstand die Tatsituation zufällig. Fixierung Ein Täter befand sich bereits mehr Die unterschiedlichen Tatmotive In der Mehrheit der Fälle (62,5 %, als ein Jahr vor der Tat in einer sub- sind in Abbildung 2 dargestellt. n = 10) zeigte sich die Fixierung bereits jektiv zunehmend ausweglosen Lage, Bei keiner Tat ergab sich ein Be- mehr als ein Jahr vor der Anlasstat. in der die Gewalttat als letzte Hand- zug zu anderen Tätern oder media- Diese bezog sich entweder auf eine lungsoption wahrgenommen wurde, len Vorbildern. Eine Intoxikation zum bestimmte Person (69,8 %, n = 11) oder und die übrigen weniger als sechs Mo- Tatzeitpunkt lag bei 28,6 % (n = 6) der auf mehrere Konflikte in unterschied- nate zuvor. Fälle durch Alkohol vor, bei 14,3 % lichen Situationen (81,3 %, n = 13) und (n = 3) durch Cannabis und bei 23,8 % selten auf einen einzelnen Konflikt Einweihung Dritter (n = 5) durch sonstige illegale Drogen. (6,3 %, n = 1). Die Fixierung führte bei 41,2 % (n = 7) der Täter berichteten Die Mehrheit der Täter (90,9 %, n = 18) 81,3 % (n = 13) zu einer negativen Aus- Dritten gegenüber von der Absicht, wurde von der Polizei festgenommen, wirkung auf das Umfeld des Täters andere Personen verletzen oder tö- ein Täter (4,5 %) beging Suizid. (z. B. zu gewalttätigem Verhalten ge- ten zu wollen. genüber der Familie) und bei 71,4 % Tatmittel (n = 10) zu einer wahrnehmbaren Direkte Drohung 19 Täter (86,4 %) verwendeten einen Emotionalität (z. B. erhöhter Aggres- Knapp zwei Drittel der Täter (60,0 %, Pkw, zwei Täter (9,1 %) einen Lkw und sivität) und seltener zu einer zuneh- n = 12) bedrohten andere Menschen ein Täter (4,5 %) einen Traktor. Zwei menden sozialen Isolation (28,6 %, n mit Gewalt und/oder dem Tod – un- Täter (9,1 %) brachten zusätzlich eine = 4). abhängig davon, ob sie später zur Ziel- Stichwaffe zum Einsatz. Opfer Es gab insgesamt 69 Opfer (M = 3,14, SD = 3,98), davon wurden neun tödlich (M = 0,41, SD = 0,73) und 60 physisch verletzt (M = 2,73, SD = 4,1). Bei 15 Ta- ten (68,2 %) waren die Opfer dem Täter unbekannt und in zwölf Fällen (54,5 %) wurde mindestens eine Person gezielt ausgewählt. Ergebnisse in Bezug auf die Warnverhaltentypologie Insgesamt zeigten 90,9 % (n = 20) al- ler Täter mindestens eine Warnverhal- tensweise (M = 2,50; SD = 1,95). Abbildung 3. Prozentuale Häufigkeiten der einzelnen Warnverhaltensweisen 24 forum kriminalprävention 2/2020
EXTREME GEWALT UND PRÄVENTION person wurden oder nicht. Direkte Hoffmann, Roshdi, Glaz-Ocik, & Guldi- te vor der Tat zu verzeichnen war. Im Drohungen gegenüber der Zielperson mann 2013), ist die Anzahl der Opfer Unterschied zu jugendlichen Amoktä- oder eng mit der Zielperson in Verbin- bei Amokfahrten geringer als bei üb- tern an Schulen (Hoffmann et al. 2009) dung stehenden Personen wurde in rigen Amoktaten (Adler et al. 1993; All- oder terroristischen Einzeltätern (Me- 30,0 % (n = 7) der Fälle beobachtet. winn et al. 2019). loy & Gill 2016) identifizierte sich keiner Während die Suizidalität bei Amok- der Amokfahrer mit anderen Gewalt- Wahrnehmung und Reaktion taten eine zentrale Rolle spielt (Adler tätern oder -taten. Dass Dritte häufig auffälliger Verhaltensweisen 2015; Meloy, Hempel, Mohandie, Shiva, Kenntnis über die Absicht des Täters im Umfeld des Täters & Gray 2001), handelten Amokfahrer hatten, zeigte sich auch in der hohen Den Eltern war mindestens ein selten aus suizidalen Motiven. Sie be- Anzahl der direkten Drohungen bei Warnverhalten in zehn (76,9 %) bzw. den gingen in der Vergangenheit und im 60 % der Fälle. Zwar wurden nicht im- Geschwistern in sechs Fällen (60,0 %) Anschluss an die Tat nur wenige Sui- mer auch die bedrohten Personen bekannt. Der (Ex-)Partnerin war ein zidversuche bzw. vollendete Suizide. zum Ziel der späteren Gewalttat, dies solches Verhalten in zehn (71,4 %) und Besonders auffällig ist eine vor dem ist jedoch für die Gefahrenabwehr und der Peer-Group (z. B. Freunde) in al- Anlassdelikt erfolgte ambulante und/ die Bedeutsamkeit von Gewalt- und len Fällen bekannt. Das institutionelle oder stationäre psychotherapeuti- Todesdrohungen als Risikoindikator Umfeld (z. B. behandelnder Arzt oder sche bzw. psychiatrische Behand- unerheblich. Vor dem Hintergrund der involvierte Strafverfolgungsbehörde) lung bei der deutlichen Mehrheit aller gewonnenen Erkenntnisse sollte Dro- wusste in 68,8 % (n = 11) von mindes- Amokfahrer. Auffällig ist zudem eine hungen, unabhängig gegen wen oder tens einem Warnverhalten. deutlich niedrigere Waffenaffinität was sie sich richten, eine wichtige Re- Auf das Warnverhalten wurde durch und eine erhöhte Intoxikation durch levanz beigemessen werden. die Familie in acht Fällen reagiert Alkohol oder illegale Drogen zum Tat- Obwohl auffällige Entwicklungen (40,0 %) und durch die Peers in fünf zeitpunkt im Vergleich zu anderen er- in Richtung einer schweren Gewalt- (22,7 %). Beispielsweise wurde der zu- wachsenen Amoktätern (Allwinn et al. tat von anderen Personen oder Ins- ständige Arzt oder die Polizei alarmiert. 2019). titutionen bemerkt wurden, bleiben Institutionen reagierten in sechs Fällen Für die Prävention dürften insbe- oftmals konkrete Handlungsmaßnah- (30,0 %) auf das Warnverhalten des Tä- sondere auffällige Verhaltenswei- men zur Prävention entsprechender ters. Beispielsweise wurde die zustän- sen im Vorfeld der Tat relevant sein. Taten aus. Auf Grundlage der vorlie- dige Polizeidienststelle durch Ange- So wurde unmittelbar vor der Tat genden Daten können keine eindeu- hörige informiert und von dort die bei knapp 80 % der Täter ein auffälli- tigen Gründe dafür benannt werden. Observation der Wohngegend veran- ges Verhalten von anderen Personen Jedoch wurde deutlich, dass Perso- lasst. wahrgenommen wie z. B. ein auffälli- nen aus dem Umfeld des Täters auf- ger Fahrstil. Die Analyse der Warnver- grund der hohen Gewaltbereitschaft haltentypologie (Meloy et. al. 2012) Abstand davon nahmen, sich an die Diskussion ergab, dass im Durchschnitt 2,5 Warn- Polizei zu wenden. Darüber hinaus verhaltensweisen bei den Tätern prä- wurde das Gefährdungspotenzial des Als Vollerhebung und auf Grundla- sent waren. Nahezu alle Täter zeigten späteren Täters im Hinblick auf Eigen- ge von Strafakten untersucht diese mindestens ein Warnverhalten, das im und Fremdgefährdung durch die be- empirische Studie erstmals den Phä- Vorfeld der Tat grundsätzlich hätte er- teiligten Strafverfolgungsbehörden nomenbereich von Amokfahrten. Sie kannt werden können. und unterstützende bzw. behandeln- leistet einen empirischen Überblick Auffällig ist, dass die Tatplanung, de Institutionen nicht immer erkannt. und die dargestellten Besonderhei- also das Warnverhalten Weg zur Ge- Grundsätzlich empfiehlt sich eine ten können zur Prävention solcher Ge- walt, vergleichsweise selten vorhan- bessere Vernetzung und ein regel- walttaten genutzt werden. den war und entsprechende Planungs- mäßiger Austausch aller beteiligten Konsistent mit bisherigen For- und Vorbereitungshandlungen erst Institutionen, etwa mit dem Ansatz schungsergebnissen zu Amoktaten kurz vor dem Angriff stattfanden. eines regionalen und vernetzten Be- (Adler et al. 1993; Adler, Marx, Apel, Dies steht erneut im deutlichen Kon- drohungsmanagements, wie er im Wolfersdorf, & Hajak 2006; Allwinn et trast zu anderen weniger spontanen deutschsprachigen Raum erstmals al. 2019; Bannenberg et al. 2014; Peter und häufig längerfristig geplanten in dem Schweizer Kanton Solothurn & Bogerts 2012) handelten die über- Amoktaten (Allwinn et al. 2019; Hoff- etabliert wurde (Hoffmann, Roshdi, & wiegend männlichen und ledigen Tä- mann et al. 2009). Bei fast 90 % der Tä- Rohr 2013). Am Beispiel der Amokfahrt ter mittleren Alters als Einzeltäter, ter war eine Fixierung auf einen Miss- von Münster zeigte sich, dass der So- waren vermehrt erwerbslos und vor- stand oder eine bestimmte Person zu zialpsychiatrische Dienst am Tattag bestraft. erkennen, die häufig zu einer wahr- keine Kenntnis über die Suizidankün- Obwohl die Fallzahlen niedrig und nehmbaren Emotionalität und nega- digung hatte. Einzelpersonen sollten die Schlussfolgerungen deshalb als tiven Auswirkungen auf das soziale dazu ermutigt werden, Strafverfol- vorläufig zu betrachten sind, erge- Umfeld des Täters führte. Im Einklang gungsbehörden von auffälligen Beob- ben sich erste Hinweise auf einige Be- mit der gehäuften Fixierung kann das achtungen zu berichten. Zudem wäre sonderheiten, die im Kontrast zu an- Ergebnis des Energieschubs betrach- es von Vorteil, regelmäßige Schulun- deren Amoktaten stehen. Neben der tet werden. So zeigen Amokfahrer mit gen für Personen anzubieten, die ei- geringen Tatplanung und den häufig zunehmender Häufigkeit vielfältige gen- oder fremdgefährdendes Verhal- zufällig entstehenden Amokfahrten Aktivitäten, die mit der Tat oder der ten kontinuierlich beurteilen müssen. im Vergleich zu geplanten und weni- Zielperson in Zusammenhang stan- Auch dürfte die Entstigmatisierung ger spontanen Amoktaten (Allwinn et den, wobei in zwei Dritteln der Fälle psychischer Erkrankungen und eine al. 2019; Hoffmann et al. 2009; Meloy, dieser Anstieg mehr als sechs Mona- konsequentere Behandlung präventiv forum kriminalprävention 2/2020 25
EXTREME GEWALT UND PRÄVENTION wirken. Die Hälfte der Amokfahrer litt Böckler, N., Allwinn, M., Wypych, B., Hoffmann, J., & Leuschner, F., & Hüneke, A. (2016). Möglichkeiten und Zick, A. (2020). Islamist terrorists in Germany and their Grenzen der Aktenanalyse als zentrale Methode der unter einer psychotischen Sympto- warning behaviors: A comparative assessment of at- empirisch-kriminologischen Forschung. Monats- tackers, foreign fighters, propagandists, and financial schrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 99 matik und die deutliche Mehrheit war supporters using the Terrorist Radicalization Assess- (6), 464–480. aufgrund einer psychischen Erkran- ment Protocol 18 (TRAP-18). Manuskript eingereicht Maier, W., Hauth, I., Berger, M., & Saß, H. (2016). Zwi- zur Publikation. kung in (stationärer) Behandlung. Bei schenmenschliche Gewalt im Kontext affektiver und Göbel, K., Sommer, F., Taefi, A., Stetten, L., Ahlig, N., psychotischer Störungen. Nervenarzt, 87, 53–68. den psychotischen Tätern fielen eine Allwinn, M., . . . Scheithauer, H. (2016). Entwicklung Meloy, J. R., & Gill, P. (2016). The lone-actor terrorist mangelnde Krankheitseinsicht und und Reliabilitätsprüfung eines interdisziplinären Co- and the TRAP-18. Journal of Threat Assessment and debooks zur wissenschaftlichen Analyse von Straf- eine oftmals damit einhergehende Management, 3 (1), 37–52. akten zu Mord- und Totschlagsdelikten. Rechtspsy- chologie, 4. Meloy, J. R., Hempel, A. G., Mohandie, K., Shiva, A. A., & fehlende medikamentöse Behandlung Gray, B. T. (2001). Offender and offense characteris- Hoffmann, J., & Allwinn, M. (2016a). Amokläufe an auf, die als Risikofaktor für fremdag- Schulen durch Außenstehende – Psychiatrische Auf- tics of a nonrandom sample of adolescent mass mur- ders. Journal of the American Academy of Child & Ado- gressive Verhaltensweisen gilt (Maier, fälligkeiten und Risikomarker. Zeitschrift für Kinder- lescent Psychiatry, 40 (6), 719–728. und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 44(3), Hauth, Berger, & Saß 2016). Durch eine 189–197. Meloy, J. R., & Hoffmann, J. (Eds.) (2013). International Entstigmatisierung könnte die gesell- Hoffmann, J., & Allwinn, M. (2016b). Amokläufe von Er- Handbook of Threat Management. New York: Oxford wachsenen Bedrohungsmanagement als ein vielver- University Press. schaftliche und damit die persönliche sprechender Ansatz der Prävention. Forum Kriminal- Meloy, J. R., Hoffmann, J., Roshdi, K., Glaz-Ocik, J., & Gul- Akzeptanz psychischer Erkrankungen prävention, 2, 39–40. dimann, A. (2013). Warning behaviors and their con- figurations across various domains of targeted vio- erreicht, die Inanspruchnahme pro- Hoffmann, J., & Roshdi, K. (2015). Bedrohungsmana- lence. In J. R. Meloy & J. Hoffmann (Eds.), International gemt – eine präventive Disziplin im Aufschwung. In fessioneller Hilfe gesteigert und das J. Hoffmann & K. Roshdi (Eds.), Amok und andere For- Handbook of Threat Management (39–53). New York: men schwerer Gewalt (266–296). Stuttgart: Schattau- Oxford University Press. Eskalationsrisiko selbst- und fremd- er. Meloy, J. R., Hoffmann, J., Roshdi, K., & Guldimann, A. gefährdender Verhaltensweisen re- Hoffmann, J., Roshdi, K., & Robertz, F. (2009). Zielge- (2014). Some warning behaviors discriminate bet- duziert werden. richtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Kri- ween school shooters and other students of con- minalistik, 4, 196–204. cern. Journal of Threat Assessment and Management, Die Ergebnisse der vorliegenden 1(3), 203–211. Hoffmann, J., Roshdi, K., & Rohr, R. von (Eds.) (2013). Studie deuten darauf hin, dass Ge- Bedrohungsmanagement Projekte und Erfahrungen Nitsche, K. (2018). Amokfahrten: Eine Untersuchung aus der Schweiz. Frankfurt am Main: Verlag für Poli- im Hinblick auf Phänomenologie, Klassifikation und walttaten, die mithilfe eines Fahrzeu- zeiwissenschaft. die Warnverhaltentypologie. Unveröffentlichte Mas- ges als Tatwaffe begangen und häu- Kenedi, C., Friedman, S. H., Watson, D., & Preitner, C. terarbeit, Goethe-Universität Frankfurt am Main. fig als Amokfahrt bezeichnet werden, (2016). Suicide and murder-suicide involving aircraft. Peter, E., & Bogerts, B. (2012). Epidemiologide und Aerospace Medicine and Human Performance, 87 (4), Psychopathologie des Amoklaufes. Nervenarzt, 83, sich im Hinblick auf einige Besonder- 388–396. 57–63. heiten vom Phänomen des Amoks un- terscheiden. Zugleich wird deutlich, dass der Ansatz des Bedrohungsma- nagements (Meloy & Hoffmann 2013) auch bei dem Phänomen der soge- nannten Amokfahrten einen geeig- neten Präventionsansatz darstellt, da die Täter im Vorfeld in der Regel mehrere Warnverhaltensweisen auf- Der DFK-Jahresbericht zeigen. 2019 ist veröffentlicht Katharina Nitsche, Kriminologische Zentralstelle (KrimZ), Wiesbaden sowie Goethe-Universität, Frankfurt a. M. Im Jahr 2019 konnten neue Projekte und Ko- Mirko Allwinn, Mitglied beim europäischen Fachverband für operationen des DFK auf den Weg gebracht, Bedrohungsmanagement (AETAP) bereits laufende Projekte konnten erfolg- Dr. Jens Hoffmann, Institut Psychologie & reich fortgeführt werden. Näheres dazu Bedrohungsmanagement, IPBm, Darmstadt Prof. Dr. Stephan Bongard, Goethe-Universität, sowie zur Arbeit der beim DFK verorteten Frankfurt a. M. Arbeitsstelle Nationales Zentrum für Krimi- Kontaktadresse: bongard@psych.uni-frankfurt.de nalprävention (NZK) können dem aktuellen Jahresbericht entnommen werden: https:// Literatur www.kriminalpraevention.de/files/DFK/ Adler, L. (2002, November). Amok. Vortrag im Rah- men der Ringvorlesung der Universität Erfurt „Ge- dfk-jahresberichte/2019_Jahresbericht_DFK. walt und Terror“, Erfurt. Retrieved from https:// pdf (auch als Druckstück erhältlich) www.db-thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServ- let/dbt_derivate_00001297/adler.html (wk) Adler, L. (2015). Historie und Überblick. In J. Hoffmann & K. Roshdi (Eds.), Amok und andere Formen schwerer Gewalt. Stuttgart: Schattauer. Adler, L., Lehmann, K., Räder, K., & Schünemann, K. F. (1993). Amokläufer – kontentanalytische Untersu- chung an 196 Pressemitteilungen aus industrialisier- ten Ländern. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 61, 424–433. Adler, L., Marx, D., Apel, H., Wolfersdorf, M., & Hajak, G. (2006). Zur Stabilität des „Amokläufer“-Syndroms Kontentanalytische Vergleichsuntersuchung von Pressemitteilungen über deutsche Amokläufer der Dekaden 1980-1989 und 1991-2000. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 74, 582–590. Allwinn, M., Hoffmann, J., & Meloy, J. R. (2019). Ger- man mass murderers and their proximal warning be- haviors. Journal of Threat Assessment and Manage- ment, 6 (1), 1–22. Bannenberg, B., Bauer, P., & Kirste, A. (2014). Erschei- nungsformen und Ursachen von Amoktaten aus kriminologischer, forensisch-psychiatrischer und DFK-Vorstand und Mitarbeiter/-innen von DFK und NZK forensisch-psychologischer Sicht. Forensische Psy- chiatrie, Psychologie, Kriminologie, 8, 229–236. Das Gruppenbild gibt qualitativ nicht 26 mehr her forum kriminalprävention 2/2020
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