Von Hamburgern, Ameisen und dem Dollar-Wechselkurs
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Gießener Universitätsblätter 42 | 2009 Peter Winker Von Hamburgern, Ameisen und dem Dollar-Wechselkurs* Einige Beobachtungen zur Einführung den meisten gängigen theoretischen Modellen erklärbar sind. „Finanzkrise“ lautete das Wort des Jahres Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der Entwick- 2008. Für eine abschließende Analyse der Ur- lung von Wechselkursen, wobei der Wechsel- sachen oder gar der Folgen dieser Finanzkrise kurs zwischen US-Dollar und Euro als Beispiel ist es zwar noch zu früh. Mit Sicherheit lässt dient. Daher sollen einige der typischen, auch sich aber schon jetzt festhalten, dass ein we- für die Veränderungen dieses „Preises“ beob- sentlicher Aspekt der Finanzkrise in sich schnell achtbaren Phänomene kurz erläutert werden. ändernden Werten von Finanzanlagen bestand Abb. 1 stellt zunächst die Entwicklung des und in der damit verbundenen Schwierigkeit, Wechselkurses von US-Dollar zu DM bezie- deren „echte“ Werte zu bestimmen. Insbe- hungsweise Euro von 1953 bis Ende 2008 dar. sondere wird in diesem Zusammenhang auf Für die Zeit vor der Einführung des Euro wur- die – zumindest aus heutiger Sicht – zu hohe den dabei die Wechselkurse auf DM-Basis mit Bewertung von amerikanischen Immobilien dem unwiderruflichen Euro-Umrechnungskurs hingewiesen. Allerdings galten diese Bewer- von 1,95583 DM/Euro in hypothetische Wech- tungen als durchaus angemessen, solange selkurse auf Euro-Basis umgerechnet. die Preise der Immobilien von Jahr zu Jahr in Als erstes fällt die im Vergleich sehr ruhige schwindelerregende Höhen stiegen. Welcher Periode bis zu Beginn der 1970er Jahre auf. Preis für Finanzanlagen ist also der „richtige“? Diese war durch das auf einer Konferenz im Woran können, woran sollten sich die Akteure amerikanischen Bretton Woods im Jahr 1944 auf den Finanzmärkten orientieren? vereinbarte Wechselkursregime bedingt. In Mit der Suche nach Antworten auf diese Frage der Vereinbarung von Bretton Woods wurden haben sich nicht zuletzt auch viele Forscher aus die Wechselkurse zwischen den beteiligten dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften Ländern mehr oder weniger festgeschrie- beschäftigt. Dabei ist über die Jahre eine recht ben. Als Anker fungierte der US-Dollar, für umfangreiche wissenschaftliche Literatur ent- den selbst wiederum eine Golddeckung ge- standen, die durchaus interessante Einblicke geben war. Nach dem Auseinanderbrechen erlaubt. Allerdings liegen damit noch keine dieser zwischenstaatlichen Vereinbarung zeigt umfassenden oder gar abschließenden Ant- der Wechselkurs eine deutlich ansteigende worten auf die Frage vor, wie Finanzanlagen kurz- und mittelfristige Schwankungsbreite tatsächlich bewertet werden. Gleichzeitig kön- (Volatilität). Neben sehr starken kurzfristigen nen nicht nur in der aktuellen Finanzkrise Preis- Schwankungen fallen auch die ausgeprägten änderungen auf Finanzmärkten beobachtet Bewegungen im mittelfristigen Bereich ins werden, die nicht mit streng rationalem Ver- Auge. Auf die deutliche Abwertung des Dol- halten der Akteure und damit auch nicht mit lar relativ zur DM bis Anfang der 1980er Jahre folgte eine massive Aufwertung bis 1985. Da- * Vortrag bei der Mitgliederversammlung der GHG am nach dauerte es lediglich zwei Jahre, bis das 1. Juli 2008. Für hilfreiche Kommentare zu einer ersten Niveau von 1980 wieder erreicht war. Auch Fassung dieses Beitrags bin ich Elke Dünnhoff, Henning die Veränderungen am aktuellen Rand, der Fischer und Manfred Gilli zu Dank verpflichtet. Alle ver- bliebenen Unklarheiten der Darstellung gehen natürlich Rückgang des Wechselkurses von über 1,50 alleine zu meinen Lasten. auf unter 1,30 Dollar pro Euro binnen weni- 63
folgen, während umge- kehrt auf ruhige Phasen meist ebenso ruhige Pha- sen folgen. Wenn man nicht die Reihen selbst, sondern die daraus für eine tägliche Anlage re- sultierenden Renditen betrachtet (also: wieviel Prozent Gewinn oder Ver- lust würde man machen, wenn man heute Euro in Dollar tauschte und mor- gen wieder zurück?), zeigt sich diese Abhängigkeit in so genannten „Klumpen“. Abb. 2 zeigt die täglichen Wechselkursrenditen für den US-Dollar relativ zum Euro seit 1999. Deutlich er- Abb. 1: Wechselkurs US-Dollar zu Euro 1953–2008 kennbar sind die Klumpen hoher Volatilität (großer ger Monate waren im historischen Vergleich Schwankungsbreiten) z. B. im Jahr 2000, aber enorm. Ein ähnlich starkes Ansteigen der auch Phasen sehr geringer Ausschläge wie zu Preise für Finanzmarktanlagen mit anschlie- Beginn des Jahres 2002 oder Ende 2006 bis ßendem mindestens ebenso rapiden Verfall Mitte 2007. Zuletzt ist seit Mitte 2008 wieder lässt sich immer wieder auch für Aktien (Neu- eine hoch volatile Periode festzustellen. er Markt 2001), Rohstoffe (Öl und Gold) und Fasst man die täglichen Renditen der Wechsel- andere Anlagekategorien finden. Als Bezeich- kurse als mehr oder weniger zufällige Ereignisse nung für dieses Phänomen hat sich der Be- auf, kann man die zufälligen Realisierungen griff der „Blase“ eingebürgert, die schließlich durch ihre Verteilungsfunktion beschreiben. Die- „platzt“. Eine der ältesten bekannten Blasen se gibt an, wie wahrscheinlich bestimmte Aus- ist die für holländische Tulpenzwiebeln in der prägungen sind, d.h. wie oft man beispielswei- Mitte des 17. Jahrhunderts. Auch die jüngere se Renditen unter –2% oder über 2% erwarten Entwicklung auf dem amerikanischen Immobi- muss. Derartige Zufallsverteilungen lassen sich lienmarkt lässt sich wohl als Blase bezeichnen, für viele Phänomene – auch in den Wirtschafts- wobei neben den Immobilienpreisen selbst wissenschaften – gut durch die so genannte auch die daran gekoppelten Hypotheken und Normalverteilung abbilden, die dem einen oder wiederum daraus konstruierte Kreditderivate anderen Leser noch von der Vorderseite des betroffen sind. 10-Mark-Scheins als „Gaußsche Glockenkur- Nicht unmittelbar aus Abb. 1 abzulesen sind ve“ bekannt sein mag. Im Vergleich mit dieser weitere Eigenschaften von Finanzmarktzeitrei- „normalen“ Verteilung weisen die Renditen hen. Insbesondere zwei Charakteristika gelten von Finanzmarktzeitreihen zu oft extreme Aus- dabei als empirisch gut belegte so genannte schläge auf, während gleichzeitig auch zu oft stilisierte Fakten: Klumpenbildung und dicke ganz geringe Ausschläge auftreten. Mit ande- Enden. Unter Klumpenbildung fasst man die ren Worten, bei im Durchschnitt gleichen Ren- Beobachtung zusammen, dass auf Perioden diten und gleicher Volatilität sind extreme Ereig- mit starken kurzfristigen Schwankungen meist nisse häufiger. Die Bezeichnung „dicke Enden“ wieder Perioden mit starken Preisänderungen ist dabei allerdings weniger den ökonomischen 64
Implikationen geschuldet, die das „dicke Ende“ einer Finanzkrise darstellen kann, sondern der graphischen Darstellung der Verteilung. Wir halten also fest, dass Finanzmarktzeitreihen ge- legentlich Blasen werfen, Klumpen bilden und dicke Enden aufweisen. Dies gilt insbesondere auch für Wechselkursdaten und stellt die Ökonomen vor das Problem, diese Eigen- schaften modelltheoretisch zu begründen. Das Problem der Ökonomen Das Problem der Öko- Abb. 2: Tägliche Wechselkursrenditen 1999–2008 nomen besteht gerade in den zuletzt beschriebenen Eigenschaften von In Abb. 3 wird diese Idee am Beispiel eines Big Wechselkursdaten. Es gibt zwar eine Reihe Mac skizziert. Natürlich ist dieses Beispiel nicht von theoretischen Modellen, die zumindest auf unbedingt besonders realistisch. Auf einige längere Sicht hin eine plausible Erklärung für Einwände wird in der Folge noch eingegangen die mögliche Entwicklung von Wechselkursen werden. Allerdings dient es häufig als Illus- liefern. Allerdings erweisen sich diese Modelle tration, weil das Produkt den meisten Lesern kurz- bis mittelfristig als weitgehend ungeeig- geläufig sein dürfte, nahezu überall auf der net, um die empirische Entwicklung nachzuzei- Welt in identischer Form angeboten wird und chnen, geschweige denn, um sie zu prognosti- außerdem die Preise vergleichsweise einfach zu zieren. Hinzu kommt, dass die Modelle die eben erheben sind. Dem Beispiel in Abb. 3 liegen die aufgeführten spezifischen Charakteristika realer Informationen für August 2007 zugrunde. Wechselkursdaten, also das Entstehen und Plat- Demnach kostete ein Big Mac im August 2007 zen von Blasen, die Bildung von Klumpen und im Durchschnitt in den USA 3,41 $, während die Existenz dicker Enden, nicht darstellen kön- er in der Eurozone für durchschnittlich 3,09 € nen. zu haben war. Nach der Kaufkraftparitäten- Bevor wir uns diesen Problemen zuwenden, soll theorie müssten alle Europäer ihre Big Macs in zunächst erst einmal eines der grundlegenden den USA kaufen, wenn sie dort nach Wechsel- theoretischen Modelle kurz vorgestellt werden, kursumrechnung günstiger sind, oder es kä- das zumindest auf den ersten Blick recht plausi- men umgekehrt alle Amerikaner nach Europa, bel wirkt. Es handelt sich um das Modell der so wenn dort die Preise nach Umrechnung güns- genannten Kaufkraftparität. Dabei wird unter- tiger wären. stellt, dass potenzielle Konsumenten die Wahl Dieses Verhalten der Konsumenten würde zu haben, ob sie im Inland oder Ausland einkaufen Preisanpassungen in den betroffenen Ländern wollen. Wenn sie im Ausland kaufen, müssen sie führen, bis sich in einer gleichgewichtigen den dortigen Preis mit dem aktuellen Wechsel- Situation die Preise nach Umrechnung gerade kurs in die heimische Währung umrechnen, um einander entsprechen. Dann wären 3,41 $ in einen sinnvollen Vergleich anstellen zu können. ihrer Kaufkraft vergleichbar mit 3,09 €. Als 65
Abb. 3: Big-Mac-Preise und Kaufkraftparität (August 2007) gleichgewichtigen Wechselkurs berechnet gen kann, die tatsächliche Wechselkursent- man daraus unmittelbar 1 € ~ 3,41 / 3,09 $ wicklung zu erklären. Insbesondere gibt es ~ 1,10 $. Dieser Wechselkurs, der sich aus der sicher nicht nur ein Produkt wie den Big Mac, Kaufkraftparitätentheorie zumindest langfristig sondern derer viele. Davon sind einige eher ergeben sollte, lag allerdings erheblich unter zum Handel über den Atlantik hinweg geeig- dem tatsächlichen Wechselkurs, der im August net als andere – wer würde beispielsweise für 2007 1,45 $ pro Euro betrug und sich auch bis einen Big Mac den weiten Weg antreten? Und Sommer 2008 nicht in die „richtige“ Richtung dann gibt es noch Steuern, Zoll und andere bewegt hat. Handelsschranken (der Import eines Big Mac Allerdings könnte man auf der Basis dieser Be- dürfte beispielsweise schon daran scheitern, obachtungen eine naive Prognose abgeben: dass die private Einfuhr von Fleischprodukten Wenn der aktuelle Wechselkurs über dem aus nicht zur EU gehörenden Ländern grund- der Big-Mac-Parität liegt, erwartet man einen sätzlich nicht erlaubt ist). Anstelle von realen Rückgang, liegt er darunter, einen Anstieg des Gütern bietet sich daher vielleicht eher die Be- Wechselkurses. Eine derartig schlichte Pro- trachtung von Geldströmen an. Geld lässt sich gnose hätte in den vergangenen Jahren mit- deutlich leichter transferieren als ein Big Mac. telfristig immerhin einen Teil der tatsächlichen Statt in Deutschland eine Bundesanleihe im Wechselkursentwicklung vorhersagen können. Wert von 1000 € zu kaufen, kann der Betrag in Auch im aktuellen Fall wäre diese Prognose Dollar getauscht, in den USA in eine Staatsan- zutreffend gewesen, wie die Entwicklung des leihe angelegt und nach deren Fälligkeit wieder Wechselkurses zwischen Dollar und Euro in der in Euro zurückgetauscht werden. Man würde zweiten Jahreshälfte 2008 gezeigt hat. erwarten, dass die daraus resultierende Ver- Wie bereits angesprochen, lässt sich ohne wei- zinsung in beiden Fällen ungefähr die gleiche teres eine ganze Reihe von Gründen aufzählen, ist. Das auf dieser Annahme basierende Modell warum es mit der Kaufkraftparitätentheorie in der Wechselkursentwicklung heißt daher auch der präsentierten schlichten Form nicht gelin- die Zinsparitätentheorie. Diese ist in ihrem Er- 66
klärungsgehalt der Kaufkraftparitätentheorie ßen. In einer noch einfacheren Variante, die jedoch auch nicht unbedingt überlegen. nicht mehr ganz der Analogie der Ameisen Beide Modelle schaffen es jedenfalls nicht, die entspricht, wird unterstellt, dass man sich der drei typischen Charakteristika hervorzubrin- Meinung des Erstbesten, der einem über den gen, die oben beschrieben wurden: Blasen, Weg läuft, mit einer gewissen Wahrscheinlich- Klumpen und dicke Enden. Offenbar bedarf es keit anschließt. Eines der ersten Modelle, die dafür einer anderen Idee. auf individuellem Verhalten derartiger Agenten basieren, wurde Anfang der 1990er Jahre von Die Ameisen als Modell Alan Kirman (1991, 1993) vorgestellt. Inzwi- schen gibt es eine Vielzahl von Erweiterungen Damit kommen wir zur dritten Komponente des Ansatzes. Hier soll nur die einfachste Va- des Titels dieses Beitrags, den Ameisen. Anstatt riante vorgestellt werden, um die Idee zu er- zu versuchen, die Preise auf Finanzmärkten läutern. direkt auf fundamentale Gesetzmäßigkeiten In der Grundvariante des Modells von Kirman zurückzuführen, könnte man versuchen, das gibt es zwei Regeln, denen Anleger folgen Verhalten der Akteure (Agenten) selbst zu mo- können. Entweder sie folgen einem fundamen- dellieren. Der Modelltyp, der direkt auf diesem talen Modell, gehen also beispielsweise davon individuellen Verhalten basiert, wird daher aus, dass sich der Wechselkurs an das durch auch als Klasse der agenten-basierten Model- die Kaufkraftparität definierte Niveau anpas- le bezeichnet. Dabei ist zu berücksichtigen, sen wird. Oder aber sie gehören zur Gruppe dass sich die Agenten nicht völlig unabhängig der so genannten Chartisten, die unterstellen, voneinander verhalten. Zumindest wirken sie dass sich der Trend der Vergangenheit auch in durch ihr Verhalten auf die Marktpreise ein und Zukunft fortsetzen wird. Es liegt auf der Hand, reagieren auch wieder auf diese. Es findet also dass es gerade diese Gruppe der Anleger ist, eine Kommunikation über den Markt statt. welche die Blasen wachsen lässt. Außerdem bleibt es den Anlegern überlassen, Die wesentliche Innovation des Ansatzes von ihre Strategie zu wählen und anzupassen, wie Kirman bestand jedoch nicht in der Modellie- es ihnen sinnvoll erscheint. Und hier setzt die rung von zwei unterschiedlichen Typen von Analogie zu den Ameisen ein. Anlegern, sondern in der Annahme, dass sich Die Beobachtung von Ameisenstaaten hat ge- dieses Verhalten auch ändern kann. Dafür sieht zeigt, dass diese durch eine relativ schlichte, im das Modell zwei Mechanismen vor. Erstens Ergebnis aber sehr effiziente Form der Kom- treffen immer wieder Anleger zufällig aufei- munikation zu ihren Futterquellen finden. Zu- nander, wobei der eine der beiden mit einer nächst ziehen die Ameisen nahezu ziellos von festgelegten Wahrscheinlichkeit das Verhalten ihrem Nest los, wobei sie eine feine Duftspur des anderen imitieren wird. Intuitiv wird da- hinterlassen. Stoßen sie bei ihrer Suche auf durch die Situation abgebildet, dass Sie vom eine Futterquelle, kehren sie zum Nest zurück. Nachbarn erfahren, wie sich sein Vermögen am Dabei verstärkt sich die ausgelegte Duftspur. Neuen Markt von Tag zu Tag erhöht, und des- Weitere Ameisen, die das Nest verlassen, wer- halb seine Anlagestrategie übernehmen. Bleibt den nun bevorzugt dieser Spur folgen, so dass zu hoffen, dass Sie diese Strategie dann recht- sich eine gegenseitige Verstärkung von immer zeitig wieder aufgegeben haben. Eine Chan- mehr Duftspuren und erfolgreicher Futter- ce dazu bietet der zweite Mechanismus, die suche ergibt, bis die Futterquelle irgendwann Mutation, die mit einer ebenfalls festgelegten erschöpft ist. kleinen Wahrscheinlichkeit jedem Anleger die Zwei Aspekte dieses Verhaltens lassen sich auch „Erleuchtung“ bescheren kann, dass es besser in ein Modell für Finanzmärkte übertragen. Ers- wäre, eine andere Strategie zu wählen. Natür- tens verhalten sich nicht alle Ameisen immer lich gibt es auch hier keine Garantie, dass die gleich. Zweitens gibt es eine Tendenz, sich den „Erleuchtung“ zum richtigen Zeitpunkt in die scheinbar erfolgreichen Individuen anzuschlie- richtige Richtung führt. 67
Offensichtlich kann das skizzierte, extrem ver- mindest eine Anpassung in die richtige Richtung einfachte Modell nicht in der Lage sein, den erwarten dürfen. Ob diese in der Vergangenheit exakten Verlauf der Wechselkursentwicklung stattfand, lässt sich mit statistischen Verfahren nachzuzeichnen. Gegenüber den oben vorge- prüfen. Als Ergebnis würde man feststellen, stellten theoretischen Ansätzen hat es jedoch dass es von der Tendenz her in der Regel mittel- den großen Vorteil, dass damit alle wesent- fristig eine Anpassung in die richtige Richtung lichen Charakteristika von Finanzmarktzeit- gab, dass diese allerdings relativ langsam und reihen nachgebildet werden können. Mit an- unvollständig erfolgte. Damit ist der Erklärungs- deren Worten, dieses einfache Modell kann gehalt des Modells zwar nicht gleich null, aber Blasen erzeugen, Klumpen bilden und dicke eben durchaus noch steigerungsfähig. Enden aufweisen und damit insbesondere im Eine vergleichbare Überprüfung eines agenten- Hinblick auf kurzfristige Phänomene erheblich basierten Modells ist nicht so einfach. Tatsäch- mehr leisten als die klassischen Ansätze wie die lich fehlt bislang eine einheitliche Methode Kaufkraft- oder Zinsparitätentheorie. zu diesem Zweck. Da diese Modelle nicht pri- Diese knappe Skizze der Idee agenten-basierter mär das Ziel haben, die tatsächliche Wechsel- Modelle ist sicher nicht geeignet, ein tiefer ge- kursentwicklung zu beschreiben, sondern eher hendes Verständnis der Methode zu vermitteln. deren typische Charakteristika, liefern sie keine Außerdem soll an dieser Stelle auch nicht auf Resultate, die für einen direkten Vergleich mit die ganze Breite möglicher Anwendungen der den realen Daten geeignet wären. Daher be- agenten-basierten Modelle eingegangen wer- dient man sich in diesem Fall eines indirekten den. Der interessierte Leser kann aber einige Ansatzes. Dieser konzentriert sich auf die Frage, interessante Anwendungen auf gesamtwirt- mit welcher Genauigkeit das Modell bestimmte schaftliche Zusammenhänge, Innovationsver- Eigenschaften der realen Daten reproduzieren halten, Verkehr und Stromnetze und natürlich kann. Vereinfacht ausgedrückt: Erzeugt das auch auf Finanzmärkte in einem kürzlich er- Modell genauso oft und genauso große Blasen schienenen Themenheft der Jahrbücher für wie der reale Markt? Fällt die Klumpenbildung Nationalökonomie und Statistik (LeBaron/Win- vergleichbar aus? Und sind auch die Enden ge- ker, 2008) finden. nauso dick wie in der Realität? All diese statis- tischen Eigenschaften können sowohl für die Modell und Realität realen Daten als auch für die simulierten Da- ten durch statistische Maßzahlen ausgedrückt Vor den Schlussfolgerungen möchte ich diese werden, deren Vergleich dann die gewünschte Ausführungen abrunden mit einigen Anmer- Auskunft liefert. Im Idealfall wären dabei alle kungen zum Zusammenhang von Modell und Werte für simulierte und reale Daten gleich. Realität. Bevor man ein Modell einsetzen kann, Das Ergebnis des Vergleichs der Eigenschaften um die aktuelle Situation zu analysieren, eine realer und durch das Modell simulierter Daten Prognose über die wahrscheinliche zukünf- hängt nicht allein vom gewählten Modell ab. tige Entwicklung abzugeben oder spezifische Vielmehr wird auch die Festsetzung der Werte politische Maßnahmen zu empfehlen, sollte bestimmter Parameter des Modells eine Rolle das Modell zunächst einer Überprüfung un- spielen. Zwei der zentralen Parameter des skiz- terzogen werden. Insbesondere ist zu testen, zierten Modells von Alan Kirman sind beispiels- inwieweit es die relevanten Eigenschaften des weise die Wahrscheinlichkeit, mit der man sich betrachteten Phänomens darstellen kann. bei einem zufälligen Treffen von der Strategie Für das Beispiel der Wechselkursentwicklung er- des anderen überzeugen lässt, und die Wahr- scheint es nahe liegend, wie die klassischen The- scheinlichkeit einer Mutation (der plötzlichen orien einer solchen Prüfung unterzogen werden Erleuchtung). Es ist durchaus vorstellbar, dass können. Wenn, wie im Beispiel aus Abb. 3, der unterschiedliche Werte für diese Parameter aktuelle Wechselkurs von dem durch das Mo- andere Eigenschaften des Modells erzeugen. dell prognostizierten abweicht, sollte man zu- Wenn beispielsweise gar keine Mutationen 68
auftreten würden, könnte es sein, dass die Agenten im Modell irgendwann alle vom gleichen Typ sind. Wenn dies der fundamen- talistische Typ ist, würden sehr ruhige Wechselkurs- reihen resultieren. Wenn es der chartistische Typ wäre, könnten Blasen für immer wachsen. Beides entspricht nicht den realen Beobachtungen, was für eine von null verschiedene Abb. 4: Validierung agenten-basierter Modelle Mutationsrate spricht. Das Ziel besteht also darin, genau die Werte für die lich eine bessere Modellierung von Wechsel- Parameter des Modells zu wählen, die zu einer kurszeitreihen oder anderen Finanzmarktzeit- möglichst guten Übereinstimmung von Modell reihen möglich sein wird. Zumindest hilft die und realen Daten führen. Diese Rückkoppe- Klasse der agenten-basierten Modelle jedoch, lung ist in Abb. 4 durch den Pfeil dargestellt, unser Verständnis über die Ursachen und Aus- der von der Box „Vergleich“ zurück zur Box wirkungen großer Veränderungen auf den Fi- „agenten-basiertes Modell“ führt. Man spricht nanzmärkten zu verbessern. dann auch von einer „Schätzung“ der Parame- ter. Der vorgestellte Ansatz wird als indirekte Schlussfolgerungen simulierte Momentenmethode bezeichnet. Erschwert wird dieses Unterfangen in der Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der praktischen Umsetzung dadurch, dass zwar Nutzen der klassischen ökonomischen Ansätze die Werte der gewählten Maße für die realen zum Verständnis kurzfristiger Entwicklungen Wechselkursdaten in einem bestimmten histo- auf Finanzmärkten häufig sehr begrenzt ist. Au- rischen Zeitraum eindeutig bestimmbar sind, ßerdem eignen sich diese Theorien auch nicht, dieselben Maße für die simulierten Zeitreihen die Wirkungen möglicher institutioneller Ein- des Modells bei jeder Wiederholung jedoch et- griffe in das Geschehen auf Finanzmärkten zu was anders ausfallen können. Dies liegt an den analysieren. So wird beispielsweise eine so ge- zufälligen Komponenten des Modells (Über- nannte Tobin-Steuer auf Devisentransaktionen zeugungswahrscheinlichkeit, Mutationswahr- vorgeschlagen, um die kurzfristige Spekulation scheinlichkeit). Daher muss das Modell öfter und die daraus resultierenden Schwankungen simuliert werden, um dann mit den durch- auf dem Devisenmarkt zu reduzieren. Offenbar schnittlichen Werten für die statistischen Maße macht eine solche Steuer im klassischen Modell weiter zu verfahren. wenig Sinn, in dem Devisentransaktionen aus- Mit den rechentechnischen Komplikationen schließlich durchgeführt werden, um den Han- und Ansätzen zu deren Lösung möchte ich del zwischen Ländern zu realisieren. In diesem die Leser an dieser Stelle nicht aufhalten, sie Fall würde eine solche Steuer nur den Kauf des werden beispielsweise in Winker/Gilli/Jelesko- Big Mac jenseits des Atlantiks verteuern, was vic (2007) ausführlicher diskutiert. Wichtig zumindest bei anderen Gütern nicht unbedingt erscheint mir jedoch der Hinweis, dass die Me- im Interesse der Konsumenten sein dürfte. thode noch in ihren Kinderschuhen steckt. Von Gegenüber den klassischen Theorien erlauben daher ist es wenig überraschend, dass derzeit die agenten-basierten Modelle realistischere noch keine Aussage darüber möglich ist, ob Annahmen über das Verhalten der Akteure. mit den vorgestellten Modellansätzen tatsäch- Insbesondere muss nicht davon ausgegangen 69
werden, dass sich alle Marktteilnehmer immer nieren. Das Entstehen einer Blase könnte damit gleich verhalten. Stattdessen können unter- nicht erst im Nachhinein diagnostiziert werden, schiedliche Verhaltensregeln unterstellt wer- sondern schon, während diese noch im Wach- den, die entweder recht einfach konzipiert sind sen ist. Wichtiger vielleicht noch als derartige wie im hier vorgestellten Beispiel oder aber das Aussagen ist aber die Option, empirisch valide Ergebnis komplexerer Lernvorgänge sind, die Modelle dieses Typus zu nutzen, um die Effekte dann ebenfalls Teil des Modells werden. Na- institutioneller Eingriffe zu analysieren. Bei- türlich entsteht hierdurch eine deutlich höhere spielsweise kann man in einem solchen Modell Komplexität der Modellierung, da man im Prin- sinnvoll die Frage stellen, ob eine Tobin-Steuer zip nahezu beliebig viele, mehr oder weniger grundsätzlich geeignet wäre, die Häufigkeit des sinnvolle Verhaltensmuster unterstellen kann. Entstehens und das Ausmaß von Blasen zu re- Dazu kommt noch, dass es ebenfalls realistisch duzieren. Beispiele für solche Analysen finden ist, wie im hier vorgestellten Modell anzuneh- sich bei Westerhoff (2008). men, dass sich das Verhalten im Zeitablauf än- Wie nicht unüblich am Schluss einer Abhand- dern kann. Wiederum kann diese Änderung lung über einen relativ jungen Forschungs- eher einem schlichten Zufallsmuster folgen zweig, kann es kein abschließendes Urteil oder ebenfalls das Ergebnis eines komplexen darüber geben, ob der Ansatz anderen Metho- Lernprozesses sein, indem man beispielswei- den überlegen ist oder nicht. Es lässt sich aber se unterstellt, dass Strategien, die sich in der sicher festhalten, dass agenten-basierte Modelle Vergangenheit als erfolgreich herausgestellt neue Einsichten über die Funktionsweise (nicht haben, eine höhere Wahrscheinlichkeit aufwei- nur) von Finanzmärkten liefern können. Damit sen, auch in Zukunft angewandt zu werden. steckt auf jeden Fall Potential in den vorgestell- Man erkauft sich die höhere Realitätsnähe der ten Ideen. Dieses Potential zu realisieren wird Modelle somit mit einem erheblich höheren die Aufgabe zukünftiger Forschungsarbeiten Komplexitätsgrad, was sich insbesondere für sein. Vielleicht wird es dann auch möglich sein, die Quantifizierung der Modellparameter und in Zukunft die ersten Anzeichen von drohenden den Vergleich der Modellgüte mehrerer Model- Finanzmarktkrisen früher zu erkennen und ge- le als zumindest nicht unproblematisch heraus- eignete institutionelle Maßnahmen zu deren stellt. Im vorliegenden Beitrag konnte lediglich Verhinderung zu finden. eine grobe Idee vermittelt werden, wie mit die- sem Problem methodisch umgegangen werden Literatur: kann. Die Forschung dazu steht aber eher noch Kirman, A. (1991): Epidemics of opinion and speculative am Anfang. Wenn diese Probleme jedoch zu- bubbles in financial markets. In: M. Taylor (Hrsg.): Mo- mindest teilweise in den Griff zu bekommen ney and Financial Markets. Macmillan, S. 354–368. sind, erhält man eine neue Modellklasse, die Kirman, A. (1993): Ants, rationality, and recruitment. In: neue Analysen erlaubt. Wahrscheinlich wird es Quarterly Journal of Economics 108, S. 137–156. LeBaron, B.; Winker, P. (2008): Introduction to Special zwar auch mit diesen Modellen nicht gelingen, Issues on Agent Based Models in Economic Policy Ad- perfekte Prognosen über die Entwicklung der vice. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik Wechselkurse abzuliefern. Würde dies gelin- 228, S. 141–147. Westerhoff, F. (2008): Regulation of financial markets: gen, wäre der Autor ein gemachter Mann und Some First Insights from Agent-Based Models. In: würde sich hüten, sein Wissen mit anderen zu Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 228, teilen. Allerdings könnte die Schätzung der Mo- S. 195–227. delle eines Tages Aussagen darüber erlauben, in Winker, P.; Gilli, M.; Jeleskovic, V. (2007): An Objective Function for Simulation Based Inference on Exchange welchem Zustand sich ein Markt aktuell befin- Rate Data. In: Journal of Economic Interaction and Co- det, das heißt, welche Art von Strategien domi- ordination 2, S. 125–145. 70
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