"AN ALLEM SIND DIE JUDEN SCHULD!" - BERICHT ÜBER DIE TAGUNG "DER JUDE ALS EWIGES FEINDBILD? (NEUE) DIMENSIONEN DES ANTISEMITISMUS HEUTE" - FODEX

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"AN ALLEM SIND DIE JUDEN SCHULD!" - BERICHT ÜBER DIE TAGUNG "DER JUDE ALS EWIGES FEINDBILD? (NEUE) DIMENSIONEN DES ANTISEMITISMUS HEUTE" - FODEX
„An allem
                                                                                                                     sind die Juden
                                                                                                                     schuld!“
                                                                                                                     Bericht über die Tagung „Der
                                                                                                                     Jude als ewiges Feindbild?
                                                                                                                     (Neue) Dimensionen des
                                                                                                                     Antisemitismus heute“

                                                                                                                     Teresa Nentwig

            I
                        n den Jahren 2019 und 2020 erschütter-                                             denen Parolen wie „Ausgangsbeschränkungen
                        ten die Anschläge in Halle und Hanau                                               sind sozialer Holocaust“ oder „Maske macht frei“
                        die deutsche Öffentlichkeit. Sowohl der                                            standen.1 Der frühere TV-Koch Attila Hildmann
                        Angreifer von Halle, Stephan Balliet,                                              wiederum, inzwischen einer der Wortführer der
                        als auch der Hanauer Attentäter, Tobi-                                             Corona-Verschwörungstheoretiker, sprach von
                        as Rathjen – der seine Mutter und sich                                             den Rothschilds, die die Weltbank regierten.2 Die
                        selbst nach seinem Amoklauf erschoss                                               jüdische Bankiersfamilie Rothschild steht hier
                        –, haben bzw. hatten eine von Antise-                                              (und allgemein) stellvertretend für „die Juden“
                mitismus und Rassismus durchzogene Welt-
                sicht. Kurz nach dem Anschlag in Hanau traf
                die Corona-Pandemie auch die Bundesrepublik
                                                                                                           1      Vgl. Engel, Sebastian/Herzog, Martina: „Judens-
                Deutschland mit voller Wucht und steigerte noch
                                                                                                                  tern“ und Häftlingsanzug, in: Aachener Nachrich-
                einmal die öffentliche Sichtbarkeit von Antise-                                                   ten, 02.06.2020, S. 4; Geiler, Julius: Das Netzwerk
                mitismus, u. a. in Form von Verharmlosung des                                                     der Impfgegner, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2020,
                Nationalsozialismus oder sogar der Leugnung                                                       S. 7; Kopietz, Andreas: Pandemie befeuert An-
                des Holocausts. So trugen Demonstrierende                                                         tisemiten, in: Berliner Zeitung, 07.05.2020, S. 1;
                gegen die Corona-Politik der Bundesregierung                                                      Reister, Helmut: „Geschmack- und geschichts-
                gelbe Sterne mit den Aufschriften „Ich bin ein                                                    los“, in: Jüdische Allgemeine, 18.06.2020, S. 15.
                Impfgegner“ oder „Ungeimpft“. Zudem waren bei                                              2      Vgl. Kühn, Alexander: Der Irrläufer, in:
                diversen Kundgebungen Schilder zu sehen, auf                                                      Der Spiegel, 25.07.2020, S. 47.

 Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

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Teresa Nentwig  |  „An allem sind die Juden schuld!“

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        Abb. 1: Tagungsort Kloster Banz

        als Feindbild. Das Wort „Juden“ vermied Hild-                                              Antisemitismus im Rechtsextremismus, in
        mann – wohl um nicht strafrechtlich belangt                                                Berlin und bei Christen sowie Muslimen
        werden zu können.3 Der Antisemitismus in seiner
        Aussage wird dadurch aber nicht geringer. Auch                                             Als Oliver Hidalgo vom Arbeitskreis „Politik und
        angesichts dieser Geschehnisse sprach der Prä-                                             Religion“ der Deutschen Vereinigung für Poli-
        sident des Zentralrats der Juden in Deutschland,                                           tikwissenschaft und Philipp W. Hildmann von
        Josef Schuster, Ende Dezember 2020 von einem                                               der Hanns-Seidel-Stiftung zu Beginn des Jah-
        „deutlich enthemmteren Antisemitismus in Wor-                                              res 2020 eine Tagung über Antisemitismus für
        ten […], wie ich ihn mir vor einigen Jahren nicht                                          September 2020 planten, konnten sie noch nicht
        vorgestellt habe“4.                                                                        wissen, wie virulent das Thema werden sollte.
                                                                                                   Kurz bevor die zweite Corona-Infektionswel-
                                                                                                   le zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
        3      Die Anspielungen scheinen nicht geholfen zu haben,                                  Lockdown führte, konnte die Tagung im kleinen
               denn inzwischen (Stand: 25.02.2021) soll ihn die                                    Kreis und unter Einhaltung von sehr hohen Hy-
               Berliner Staatsanwaltschaft laut Medienberich-                                      gienestandards am 18. und 19. September 2020
               ten mit einem Haftbefehl suchen. Unter anderem
                                                                                                   im Kloster Banz im fränkischen Bad Staffelstein
               könnte es um den Verdacht der Volksverhetzung,
                                                                                                   stattfinden. „An allem sind die Juden schuld!“ –
               Beleidigung und Bedrohung gehen (vgl. Fröhlich,
               Alexander/Geiler, Julius: Haftbefehl gegen Hild-
                                                                                                   mit dieser auf Friedrich Hollaender zurückgehen-
               mann? Rechtsextremer Koch angeblich auf der                                         den Liedzeile aus dem Jahr 1931 führte Philipp
               Flucht, in: Der Tagesspiegel, 24.02.2021, S. 7). Mögli-
               cherweise spielen in diesem Zusammenhang auch
               Hildmanns antisemitische Äußerungen eine Rolle.
                                                                                                          27.12.2020, URL: https://www.deutschlandfunk.
        4      Zit. nach o. V.: „Bösartige Mythen und Un-                                                 de/vorurteile-gegen-juden-boesartige-my-
               terstellungen“. Josef Schuster im Gespräch                                                 then-und-unterstellungen.868.de.html?dram:ar-
               mit Christiane Florin, in: Deutschlandfunk.de,                                             ticle_id=489870 [eingesehen am 30.12.2020].

Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

                                                                                                                                                                                                                 61
Demokratie-Dialog 8-2021

                W. Hildmann in seinen Eröffnungsbeitrag der                                                semitismus aus der Perspektive von Betroffenen
                Tagung ein. Die Wege vom Sagbaren zum Mach-                                                aus Berlin untersucht hat. Ausgangspunkt war
                baren seien wieder kurz geworden, so Hildmann,                                             eine im Jahr zuvor realisierte Erhebung, die sich
                der seine nicht vorhandene Verwandtschaftsbe-                                              mit antisemitischen Einstellungen in der Berliner
                ziehung zu Attila Hildmann eigens hervorhob.                                               Stadtgesellschaft befasst hatte. Tzschiesche und
                                                                                                           Pickel gingen u. a. darauf ein, wie die Gesprächs-
                Nachdem auch Hidalgo die Konferenz in den                                                  partnerinnen und -partner selbst Antisemitismus
                aktuellen Kontext eingeordnet hatte, folgte der                                            erleben und wie sie über Maßnahmen der Anti-
                erste Vortrag: Gideon Botsch, Leiter der Emil                                              semitismusprävention nachdenken.5
                Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus
                und Rechtsextremismus (EJGF) an der Univer-                                                Der Leipziger Soziologe Alexander Yendell sprach
                sität Potsdam, sprach zum Thema „Rechtsex-                                                 anschließend über „Antisemitismus bei Chris-
                tremismus und ‚neuer Antisemitismus‘“. Anti-                                               ten und Muslimen“, wobei er eingangs betonte,
                semitismus sei ein zentrales Kennzeichen von                                               dass die Datenlage schlecht sei, wenn es darum
                Rechtsextremismus, so Botsch. In der um die                                                gehe, sich einzelne Religionsgemeinschaften
                Jahrtausendwende einsetzenden Diskussion                                                   bzw. Konfessionslose anzuschauen. Der KONID
                um einen „neuen Antisemitismus“ komme der                                                  Survey 20196 habe aber die Möglichkeit eröff-
                Rechtsextremismus jedoch praktisch nicht vor;                                              net, antisemitische Einstellungen zu messen. Ein
                im Zentrum der Debatte stünden der Nahostkon-                                              Ergebnis sei gewesen, dass Antisemitismus unter
                flikt und die darin getätigten judenfeindlichen                                            Muslimen verbreiteter ist als unter Christen und
                Äußerungen von Muslimen. Botsch benannte                                                   Konfessionslosen, zwischen denen es keine nen-
                in seinem Vortrag folglich ein Defizit an empiri-                                          nenswerten Unterschiede gegeben habe. Damit
                scher Forschung zu rechtsextremem Antisemi-                                                konnte der KONID Survey einen Befund anderer
                tismus. Wandlungsprozesse im Antisemitismus                                                Untersuchungen7 zu gruppenbezogenen Vorur-
                von Rechtsextremen würden nicht ausreichend                                                teilen bestätigen. Zur Erklärung von antisemiti-
                untersucht. Im weiteren Verlauf seines Vortrags                                            schen Ressentiments führte Yendell an, dass ein
                stellte Botsch mehrere Beispiele für rechts-
                extremen Antisemitismus aus der Geschichte
                der Bundesrepublik Deutschland vor, darunter                                               5      Die beiden Studien sind unter den Namen „Ber-
                Gedenkstättenschändungen in Berlin durch den                                                      lin-Monitor 2019“ und „Berlin-Monitor 2020“ on-
                Rechtsterroristen Ekkehard Weil im Jahr 1989. Er                                                  line einsehbar unter https://berlin-monitor.de/
                ging aber auch auf aktuelle Entwicklungen ein,                                                    publikationen/ [eingesehen am 12.01.2021].
                wie etwa den Antisemitismus der QAnon-Be-                                                  6      Die Abkürzung KONID steht für „Konfigurationen
                wegung und des Anführers der Identitären                                                          individueller und kollektiver religiöser Identitä-
                Bewegung in Österreich, Martin Sellner. In dem                                                    ten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale“.
                Gespräch, das auf seinen Vortrag folgte, betonte                                                  Der KONID Survey 2019 hat die Bedeutung von
                Botsch, dass er Antisemitismus auch für den in-                                                   Religion für soziale Identitäten untersucht, und
                tellektuellen Rechtsextremismus (die sogenann-                                                    zwar in einer in Deutschland und der Schweiz
                                                                                                                  durchgeführten Repräsentativbefragung.
                te Neue Rechte) als konstitutiv ansehe.
                                                                                                           7      Darunter die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stif-
                Im Anschluss referierten Selana Tzschiesche vom                                                   tung. Vgl. zusammenfassend Bundesministerium
                Projektteam Berlin-Monitor an der Hochschule                                                      des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemi-
                                                                                                                  tismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle
                Magdeburg-Stendal und Gert Pickel, Professor
                                                                                                                  Entwicklungen, Berlin 2018, hier vor allem S. 74 f. und
                für Religions- und Kirchensoziologie an der Uni-
                                                                                                                  S. 78 f., URL: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/
                versität Leipzig, zum Thema „Antisemitismus in                                                    downloads/DE/publikationen/themen/heimat-inte-
                Berlin? Verbreitung, Betroffenenrelevanz, Gründe                                                  gration/expertenkreis-antisemitismus/expertenbe-
                und Aktivierungspotential“. Sie stellten die Er-                                                  richt-antisemitismus-in-deutschland.pdf?__blob=-
                gebnisse einer Studie vor, die im Jahr 2020 Anti-                                                 publicationFile&v=7 [eingesehen am 12.02.2021].

 Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

62
Teresa Nentwig  |  „An allem sind die Juden schuld!“

        Zusammenhang zwischen Erziehungserfahrun-                                                  nister und seit Mai 2018 Beauftragter der Baye-
        gen und antisemitischen Vorurteilen bestehe. So                                            rischen Staatsregierung für jüdisches Leben und
        korrelierten Kontrollen durch die Eltern und harte                                         gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit
        Strafen mit Antisemitismus.8                                                               und geschichtliches Erbe, berichtete von seiner
                                                                                                   Empfehlung an staatliche Institutionen, Ver-
                                                                                                   bände und Vereine, der Antisemitismus-Defini-
                                                                                                   tion der International Holocaust Remembrance
        Journalistische und politische                                                             Alliance (IHRA)9 zuzustimmen. Etwa hundert von
        Perspektiven auf Antisemitismus                                                            ihnen hätten die Definition inzwischen diskutiert
                                                                                                   und angenommen. Spaenle betonte zudem, dass
        Per Video war der Journalist Richard C. Schnei-                                            Wissen ein Mittel gegen Judenhass sei. Spezi-
        der zugeschaltet, dessen Vortragsthema „Corona                                             elle Hilfestellungen für Lehrerinnen und Lehrer
        und all die anderen Probleme dieses Landes                                                 sowie passgenauere Angebote für Schulen seien
        – Der Jude als das Böse an sich“ lautete. Den                                              notwendig, da sich die Lehrkräfte oft überfordert
        Ausgangspunkt seiner Ausführungen bildete die                                              fühlten. Auch in der Wissenschaft sah der baye-
        Unterscheidung zwischen Rassismus und Anti-                                                rische Antisemitismus-Beauftragte Handlungs-
        semitismus. Während beim Rassismus der Blick                                               bedarf: Es werde zwar viel zu Antisemitismus
        von oben nach unten gehe – „der andere“ sei der                                            geforscht, aber die Frage, wie die Erkenntnisse
        minderwertige –, sei der Blick beim Antisemitis-                                           didaktisch vermittelt werden könnten, komme zu
        mus nach oben gerichtet: „Der Jude“, so Schnei-                                            kurz.
        der, werde als das Böse schlechthin gesehen;
        Juden würden als vermögender, als mächtiger
        etc. gelten. Diese These von der Allmacht der Ju-
        den sei eine uralte Tradition, die im Leben eines                                          Neuere Entwicklungen des Antisemitismus
        Juden stets präsent sei. An mehreren, auch aus
        seinem eigenen Leben stammenden, Beispielen                                                Auf Spaenles Vortrag folgte ein Beitrag der Göt-
        zeigte Schneider auf, wie sich dieser Antise-                                              tinger Politikwissenschaftlerin Dana Ionescu, die
        mitismus konkret äußert. In Zeiten von Corona                                              ihn pandemiebedingt auf Video aufgezeichnet
        hätten einige Menschen wieder einen Schuldigen                                             hatte. Ihr Thema waren „Neuere Tendenzen im
        gefunden: Israel, so werde behauptet, habe das                                             Antisemitismus: Wie die jüdische Religion und
        Virus in die Welt gesetzt, um die Weltherrschaft                                           kulturell-religiöse Alltagspraktiken von Jüdin-
        zu übernehmen. Donald Trump habe diese These                                               nen und Juden wieder ins Zentrum rücken“. Dies
        noch befeuert, indem er Personen aus seinem                                                zeigte Ionescu zunächst exemplarisch an der
        Umfeld, die sie vertreten hätten, nicht zurechtge-                                         Vorhautbeschneidung von männlichen Säuglin-
        wiesen habe.                                                                               gen und Jungen auf, die ein zentrales Symbol für

        Wie Antisemitismus bekämpft werden kann,
        zeigte Ludwig Spaenle in seinem Tagungsbeitrag                                             9      Sie lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte
        auf. Spaenle, ehemaliger Bayerischer Staatsmi-                                                    Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als
                                                                                                          Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken
                                                                                                          kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder
                                                                                                          Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelperso-
        8      Zu den Ergebnissen des KONID Survey 2019 be-                                               nen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische
               züglich Antisemitismus vgl. auch Pickel, Gert et al.:                                      Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
               Religiöse Identitäten und Vorurteil in Deutschland                                         (International Holocaust Remembrance Alliance:
               und der Schweiz – Konzeptionelle Überlegungen                                              Arbeitsdefinition von Antisemitismus, URL: https://
               und empirische Befunde, in: Zeitschrift für Religion,                                      www.holocaustremembrance.com/de/resources/
               Gesellschaft und Politik, Jg. 4 (2020), H. 4, S. 149–196,                                  working-definitions-charters/arbeitsdefiniti-
               hier insbesondere S. 166–172 und S. 179–182.                                               on-von-antisemitismus [eingesehen am 10.01.2021])

Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

                                                                                                                                                                                                       63
Demokratie-Dialog 8-2021

                die Zugehörigkeit zum Judentum sei und in den                                              semitischen Prämissen zu verändern. Eines der
                letzten Jahren für Kritik gesorgt habe. Ionescu                                            Kennzeichen dieser antisemitischen Revolution
                präsentierte in diesem Zusammenhang Ergeb-                                                 sei die Entgrenzung, d. h. dass sich eigentlich ver-
                nisse ihrer 2018 veröffentlichten Doktorarbeit,                                            feindete Gruppen in einem Punkt treffen – dem
                in der sie die Argumentationen der Beschnei-                                               antiisraelischen Antisemitismus. Als ein Beispiel
                dungsgegnerinnen und -gegner in Deutschland                                                hierfür nannte Salzborn Demonstrationen, die im
                analysiert und die jeweiligen Judenbilder re-                                              Sommer 2014 stattfanden: Unter Federführung
                konstruiert.10 Unter anderem konnte sie zei-                                               von palästinensischen Organisationen seien in
                gen, dass bestimmte Artikel in auflagenstarken                                             zahlreichen deutschen Städten Antisemiten je-
                Tageszeitungen die diskursiven Bedingungen für                                             der Couleur gemeinsam auf die Straße gegangen
                antisemitische Äußerungen in Online-Kommen-                                                – islamistische Antisemiten, Neonazis und linke
                taren schufen. Ionescu erwähnte beispielsweise                                             Antiimperialisten. „Sind die Antiimperialist(inn)
                das Stereotyp des kriminell angelegten Juden:                                              en auch nur ein marginaler Flügel in der deut-
                Es sei die Rede von Juden gewesen, die durch                                               schen Linken – die Mehrheit steht nach wie vor
                die Vorhautbeschneidung Verbrechen an Kin-                                                 in Opposition zum Antisemitismus – so zeigt das
                dern begingen. Neben der Vorhautbeschneidung                                               Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemi-
                stellte Ionescu in ihrem Vortrag das Schächten                                             tische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle
                als Alltagspraktik im Leben von Jüdinnen und                                               anderen weltanschaulichen Differenzen zurück-
                Juden vor. Beim Schächten, für das mittlerweile                                            treten“, so Salzborn an anderer Stelle.11
                in mehreren Ländern (darunter Island, Norwegen
                und große Teile Belgiens) ein Verbot gilt, sei in
                Deutschland eine weniger aufgeladene Kont-
                roverse als bei der Beschneidung festzustellen.                                            Antisemitismus aus der Sicht
                Dennoch lasse sich auch in der Berichterstattung                                           des Zentralrats der Juden
                über das Schächten und den Kommentaren dazu
                die Reaktivierung eines klassischen Stereotyps                                             Der zweite Tagungstag begann mit einem
                ausmachen: Die Juden seien rückständig, tier-                                              Morgengespräch, zu dem der Präsident des
                quälerisch, verbrecherisch und würden sich nicht                                           Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef
                in die Gesellschaft integrieren. Als Fazit hob Io-                                         Schuster, nach Banz gekommen war. Bevor er
                nescu hervor, dass die sogenannte gesellschaft-                                            Fragen von den Tagungsteilnehmerinnen und
                liche „Mitte“ ein zentraler Akteur in den beiden                                           -teilnehmern beantwortete, ging Schuster auf
                Kontroversen über Beschneidung und Schächten                                               die gegenwärtige Situation von Jüdinnen und
                sei.                                                                                       Juden in Deutschland ein. Das Attentat von Halle
                                                                                                           sei ein erheblicher Einschnitt im Vertrauen der
                Die Dinner Speech hielt Samuel Salzborn zum                                                jüdischen Bürgerinnen und Bürger in die Bun-
                Thema „Globaler Antisemitismus. Entwicklungen                                              desrepublik gewesen. Schuster bezeichnete es in
                seit 9/11“. Salzborn, Professor für Politikwissen-                                         diesem Zusammenhang als „unverzeihlich“, dass
                schaft an der Universität Gießen und seit August                                           die Synagoge in Halle nicht von der Polizei ge-
                2020 Ansprechpartner des Landes Berlin zu                                                  schützt worden war. Die Koffer der Jüdinnen und
                Antisemitismus, bezeichnete die islamistischen                                             Juden in Deutschland blieben zwar weiterhin un-
                Anschläge vom 11. September 2001 als einen                                                 gepackt, aber der eine oder andere schaue jetzt
                Wendepunkt in der Entwicklung des Antisemitis-
                mus, da vor allem islamistische Kräfte seitdem
                versucht hätten, die Weltordnung unter anti-
                                                                                                           11     Salzborn, Samuel: Aktuelle Erscheinungsfor-
                                                                                                                  men von Antisemitismus und ihre Geschichte,
                                                                                                                  in: Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeit-
                10     Vgl. Ionescu, Dana: Judenbilder in der deutschen                                           schrift für Politik und Geschichte, Themenheft
                       Beschneidungskontroverse, Baden-Baden 2018.                                                Antisemitismus, H. 1/2020, S. 10–22, hier S. 12.

 Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

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Teresa Nentwig  |  „An allem sind die Juden schuld!“

        durchaus, wo der leere Koffer stehe, so Schusters                                          einer islamisierten Judenfeindschaft und eine
        eindringliches Bild. Dafür, dass antisemitische                                            Problematisierung der Selbstinszenierung einer
        Äußerungen zugenommen haben und salonfähig                                                 vom Antisemitismus geläuterten deutschen
        geworden sind, machte Schuster auch „Funk-                                                 Mehrheitsgesellschaft“ weiter. Pickel und Öztürk
        tionsträger der AfD“ verantwortlich. Darüber                                               (Zentrum für Demokratieforschung der Leupha-
        hinaus betonte der Zentralratspräsident noch,                                              na Universität Lüneburg) beschäftigten sich mit
        dass Lehrkräfte häufig nicht wüssten, wie sie im                                           muslimischem bzw. islamisiertem Antisemitis-
        Klassenverband mit rassistischen und antisemiti-                                           mus, der unterschiedliche Hintergründe habe,
        schen Äußerungen umgehen sollten. Hier müsse                                               darunter die dogmatisch-fundamentalistische
        dringend Abhilfe geschaffen werden. Daneben                                                Auslegung der eigenen Religion, autoritäre
        sah Schuster im Bereich der Justiz eklatante                                               Einstellungen und fehlende soziale Anerken-
        Mängel. So kritisierte er, dass keine strafrechtli-                                        nung. Die AfD instrumentalisiere Antisemitismus,
        chen Ermittlungen aufgenommen worden seien,                                                indem sie ihn muslimischen Einwandererinnen
        nachdem die rechtsextreme Partei „Die Rechte“                                              und Einwanderern zuschreibe. Als Beispiel hierfür
        während des Europawahlkampfes 2019 in Dort-                                                zeigten Pickel und Öztürk ein Plakat von Alice
        mund mit einem Plakat geworben hatte, auf dem                                              Weidel aus dem Jahr 2018, auf dem es heißt: „Der
        „Israel ist unser Unglück!“ stand.12 Ähnliches habe                                        muslimische Antisemitismus bedroht jüdisches
        sich in Wuppertal zugetragen: Einen Anschlag                                               Leben in Europa!“. Anlass für diesen Ausruf war
        auf die dortige Synagoge mit Molotowcocktails                                              die brutale Ermordung der 85-jährigen Holo­
        im Jahr 2014 hätten zwei Gerichte als Sachbe-                                              caust-Überlebenden Mireille Knoll in ihrer Pariser
        schädigung eingestuft, nicht als antisemitischen                                           Wohnung. Der antisemitische Hintergrund der Tat
        Akt, so Schusters Kritik. Ein Fortschritt sei aber,                                        war rasch bestätigt worden.14
        dass die Grundsätze der Strafzumessung13 in § 46
        Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) um antisemitische                                            Als vorletzter Tagungsbeitrag folgte der Vortrag
        Beweggründe erweitert wurden. Auch die Eta-                                                von Axel Töllner, Beauftragter für christlich-jü-
        blierung von Antisemitismusbeauftragten bei                                                dischen Dialog in der Evangelisch-Lutherischen
        den Generalstaatsanwaltschaften könne positiv                                              Kirche in Bayern (ELKB). Sein Thema lautete:
        gesehen werden. Alles in allem, so Schusters Fa-                                           „Vom christlichen Antijudaismus zum modernen
        zit, brauche man kein Krisenszenario aufmachen,                                            Antisemitismus: Kontinuitäten und Transfor-
        dürfe sich aber auch nicht zurücklehnen.                                                   mationen“. An verschiedenen Beispielen zeigte
                                                                                                   Töllner auf, wie das Christentum dem Judentum
                                                                                                   in der Geschichte gegenübertrat. Unter anderem
                                                                                                   erwähnte er das 1948 veröffentlichte „Wort zur
        Religiöser Antisemitismus und Antisemitismus                                               Judenfrage“ des Bruderrats der Evangelischen
        beim Rassemblement National                                                                Kirche in Deutschland (EKD), das die Aktuali-
                                                                                                   sierung des klassischen Antijudaismus für die
        Die Tagung ging mit dem Vortrag von Gert Pickel                                            Nachkriegszeit zeige. Es sei um die Entlastung
        und Cemal Öztürk zum Thema „‚Importierter‘                                                 von eigener Schuld gegangen. Außerdem the-
        Antisemitismus? Über die empirische Evidenz                                                matisierte Töllner u. a. die Antisemitismusvor-
                                                                                                   würfe gegen das ökumenische Netzwerk „Kairos
                                                                                                   Europa“.
        12     Diese Wendung greift Heinrich von Treitschkes
               Schlagwort „Die Juden sind unser Unglück“ auf,
               das seit 1927 auf jeder Titelseite der nationalso-
               zialistischen Wochenzeitung Der Stürmer stand.

        13     Hier geht es um die Umstände, die für oder gegen                                    14     Vgl. Vincent, Élise: Affaire Knoll: les
               einen Täter oder eine Täterin sprechen und die ein                                         suspects seront jugés pour crime antisé-
               Gericht bei der Urteilsfindung heranzuziehen hat.                                          mite, in: Le Monde, 16.07.2020, S. 14.

Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

                                                                                                                                                                                                       65
Demokratie-Dialog 8-2021

                Die Tagung im Kloster Banz endete mit einem                                                Resümee
                Vortrag der Verfasserin des vorliegenden Tex-
                tes. Ich habe dabei einen Blick nach Frankreich                                            Alles in allem beleuchtete die Konferenz das
                geworfen und über das Verhältnis des Rassem-                                               Thema Antisemitismus aus unterschiedlichen
                blement National (bis Mitte 2018: Front Natio-                                             Perspektiven, vor allem aus politikwissenschaft-
                nal) zum Antisemitismus gesprochen. So ist der                                             licher Sicht. Immer wieder wurden Bezüge zur
                Mitbegründer des Front National, Jean-Marie Le                                             Gegenwart hergestellt: In Krisenzeiten, so wurde
                Pen, immer wieder durch antisemitische Äuße-                                               mehrfach betont, würden stets Minderheiten
                rungen aufgefallen. Seine Tochter Marine Le Pen,                                           als Sündenböcke gesucht; ob bei der Pest oder
                die dem Front National seit dem 16. Januar 2011                                            bei Corona – die Schuld liege bei den Juden.
                vorsteht, distanziert sich dagegen vom Antise-                                             Wiederholt wurden auch Wege der Prävention
                mitismus. Mehr noch: Sie geht offensiv auf die                                             von Antisemitismus dargelegt – ein Thema,
                jüdische Bevölkerung zu und präsentiert sich                                               das zum einen wegen der eingangs angespro-
                sowie ihre Partei als Schutzmauer gegen einen                                              chenen aktuellen Geschehnisse wichtiger denn
                islamischen Antisemitismus – was Marine Le                                                 je erscheint. Zum anderen sollte der Frage, wie
                Pen aber nicht davon abhält, auf antisemiti-                                               antisemitischen Vorurteilen entgegengewirkt
                sche Chiffren zurückzugreifen. So hat sie ihren                                            werden kann, auch deswegen gesellschaftlich
                Konkurrenten Emmanuel Macron während des                                                   viel Beachtung entgegengebracht werden, weil
                Präsidentschaftswahlkampfes 2017 als Repräsen-                                             Studien für die Bundesrepublik Deutschland
                tanten der „arroganten Finanzwelt“ bezeichnet,                                             bis heute bei mindestens 15 bis 20 Prozent der
                der bei „Rothschild“ gearbeitet habe und dem es                                            Bevölkerung antisemitische Einstellungen nach-
                allein um „Profit“, um die „Anhäufung von Geld“                                            weisen.15 Wünschenswert wäre noch gewesen,
                gehe. In meinem Vortrag habe ich die Gründe für                                            wenn am Ende der Tagung gemeinsam reflektiert
                die Abwendung vom offenen Antisemitismus                                                   worden wäre, ob es gegenwärtig überhaupt neue
                dargestellt und bin der Frage nachgegangen, in-                                            Tendenzen im Antisemitismus gibt und, wenn ja,
                wieweit Marine Le Pen mit ihrem Zugehen auf die                                            wie genau diese aussehen – immerhin lautete
                jüdischen Bürgerinnen und Bürger erfolgreich ist.                                          der Untertitel der Tagung „(Neue) Dimensio-
                                                                                                           nen des Antisemitismus heute“. Leider blieb für
                                                                                                           eine solche Diskussion jedoch keine Zeit mehr.
                                                                                                           Etwas zu kurz kam bei der Tagung außerdem
                                                                                                           der Antisemitismus von links – der Schwerpunkt
                                                                                                           lag auf muslimischem und rechtem bzw. rechts-
                                                                                                           extremem Antisemitismus. Mit Blick auf aktu-
                                                                                                           elle gesellschaftliche Entwicklungen und die im
                                                                                                           Vergleich dazu bestehende Randständigkeit von
                                                                                                           linkem Antisemitismus war dies sicher gerecht-
                                                                                                           fertigt. Und doch ist auch linker Antisemitismus
                                                                                                           ein facettenreiches und damit interessantes Phä-
                                                                                                           nomen.

                Dr. Teresa Nentwig
                war bis 2020 wissen-
                schaftliche Mitarbeiterin                                                                  15     Vgl. Salzborn, Samuel: Sprechen und Schweigen über
                am Göttinger Institut für                                                                         Antisemitismus, in: Aus Politik und Zeitgeschich-
                Demokratieforschung.                                                                              te, Jg. 70 (2020), H. 26/27, S. 20–23, hier S. 21 f.

 Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66.

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