"AN ALLEM SIND DIE JUDEN SCHULD!" - BERICHT ÜBER DIE TAGUNG "DER JUDE ALS EWIGES FEINDBILD? (NEUE) DIMENSIONEN DES ANTISEMITISMUS HEUTE" - FODEX
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„An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“ Teresa Nentwig I n den Jahren 2019 und 2020 erschütter- denen Parolen wie „Ausgangsbeschränkungen ten die Anschläge in Halle und Hanau sind sozialer Holocaust“ oder „Maske macht frei“ die deutsche Öffentlichkeit. Sowohl der standen.1 Der frühere TV-Koch Attila Hildmann Angreifer von Halle, Stephan Balliet, wiederum, inzwischen einer der Wortführer der als auch der Hanauer Attentäter, Tobi- Corona-Verschwörungstheoretiker, sprach von as Rathjen – der seine Mutter und sich den Rothschilds, die die Weltbank regierten.2 Die selbst nach seinem Amoklauf erschoss jüdische Bankiersfamilie Rothschild steht hier –, haben bzw. hatten eine von Antise- (und allgemein) stellvertretend für „die Juden“ mitismus und Rassismus durchzogene Welt- sicht. Kurz nach dem Anschlag in Hanau traf die Corona-Pandemie auch die Bundesrepublik 1 Vgl. Engel, Sebastian/Herzog, Martina: „Judens- Deutschland mit voller Wucht und steigerte noch tern“ und Häftlingsanzug, in: Aachener Nachrich- einmal die öffentliche Sichtbarkeit von Antise- ten, 02.06.2020, S. 4; Geiler, Julius: Das Netzwerk mitismus, u. a. in Form von Verharmlosung des der Impfgegner, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2020, Nationalsozialismus oder sogar der Leugnung S. 7; Kopietz, Andreas: Pandemie befeuert An- des Holocausts. So trugen Demonstrierende tisemiten, in: Berliner Zeitung, 07.05.2020, S. 1; gegen die Corona-Politik der Bundesregierung Reister, Helmut: „Geschmack- und geschichts- gelbe Sterne mit den Aufschriften „Ich bin ein los“, in: Jüdische Allgemeine, 18.06.2020, S. 15. Impfgegner“ oder „Ungeimpft“. Zudem waren bei 2 Vgl. Kühn, Alexander: Der Irrläufer, in: diversen Kundgebungen Schilder zu sehen, auf Der Spiegel, 25.07.2020, S. 47. Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 60
Teresa Nentwig | „An allem sind die Juden schuld!“ Foto: Teresa Nentwig Abb. 1: Tagungsort Kloster Banz als Feindbild. Das Wort „Juden“ vermied Hild- Antisemitismus im Rechtsextremismus, in mann – wohl um nicht strafrechtlich belangt Berlin und bei Christen sowie Muslimen werden zu können.3 Der Antisemitismus in seiner Aussage wird dadurch aber nicht geringer. Auch Als Oliver Hidalgo vom Arbeitskreis „Politik und angesichts dieser Geschehnisse sprach der Prä- Religion“ der Deutschen Vereinigung für Poli- sident des Zentralrats der Juden in Deutschland, tikwissenschaft und Philipp W. Hildmann von Josef Schuster, Ende Dezember 2020 von einem der Hanns-Seidel-Stiftung zu Beginn des Jah- „deutlich enthemmteren Antisemitismus in Wor- res 2020 eine Tagung über Antisemitismus für ten […], wie ich ihn mir vor einigen Jahren nicht September 2020 planten, konnten sie noch nicht vorgestellt habe“4. wissen, wie virulent das Thema werden sollte. Kurz bevor die zweite Corona-Infektionswel- le zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen 3 Die Anspielungen scheinen nicht geholfen zu haben, Lockdown führte, konnte die Tagung im kleinen denn inzwischen (Stand: 25.02.2021) soll ihn die Kreis und unter Einhaltung von sehr hohen Hy- Berliner Staatsanwaltschaft laut Medienberich- gienestandards am 18. und 19. September 2020 ten mit einem Haftbefehl suchen. Unter anderem im Kloster Banz im fränkischen Bad Staffelstein könnte es um den Verdacht der Volksverhetzung, stattfinden. „An allem sind die Juden schuld!“ – Beleidigung und Bedrohung gehen (vgl. Fröhlich, Alexander/Geiler, Julius: Haftbefehl gegen Hild- mit dieser auf Friedrich Hollaender zurückgehen- mann? Rechtsextremer Koch angeblich auf der den Liedzeile aus dem Jahr 1931 führte Philipp Flucht, in: Der Tagesspiegel, 24.02.2021, S. 7). Mögli- cherweise spielen in diesem Zusammenhang auch Hildmanns antisemitische Äußerungen eine Rolle. 27.12.2020, URL: https://www.deutschlandfunk. 4 Zit. nach o. V.: „Bösartige Mythen und Un- de/vorurteile-gegen-juden-boesartige-my- terstellungen“. Josef Schuster im Gespräch then-und-unterstellungen.868.de.html?dram:ar- mit Christiane Florin, in: Deutschlandfunk.de, ticle_id=489870 [eingesehen am 30.12.2020]. Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 61
Demokratie-Dialog 8-2021 W. Hildmann in seinen Eröffnungsbeitrag der semitismus aus der Perspektive von Betroffenen Tagung ein. Die Wege vom Sagbaren zum Mach- aus Berlin untersucht hat. Ausgangspunkt war baren seien wieder kurz geworden, so Hildmann, eine im Jahr zuvor realisierte Erhebung, die sich der seine nicht vorhandene Verwandtschaftsbe- mit antisemitischen Einstellungen in der Berliner ziehung zu Attila Hildmann eigens hervorhob. Stadtgesellschaft befasst hatte. Tzschiesche und Pickel gingen u. a. darauf ein, wie die Gesprächs- Nachdem auch Hidalgo die Konferenz in den partnerinnen und -partner selbst Antisemitismus aktuellen Kontext eingeordnet hatte, folgte der erleben und wie sie über Maßnahmen der Anti- erste Vortrag: Gideon Botsch, Leiter der Emil semitismusprävention nachdenken.5 Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus (EJGF) an der Univer- Der Leipziger Soziologe Alexander Yendell sprach sität Potsdam, sprach zum Thema „Rechtsex- anschließend über „Antisemitismus bei Chris- tremismus und ‚neuer Antisemitismus‘“. Anti- ten und Muslimen“, wobei er eingangs betonte, semitismus sei ein zentrales Kennzeichen von dass die Datenlage schlecht sei, wenn es darum Rechtsextremismus, so Botsch. In der um die gehe, sich einzelne Religionsgemeinschaften Jahrtausendwende einsetzenden Diskussion bzw. Konfessionslose anzuschauen. Der KONID um einen „neuen Antisemitismus“ komme der Survey 20196 habe aber die Möglichkeit eröff- Rechtsextremismus jedoch praktisch nicht vor; net, antisemitische Einstellungen zu messen. Ein im Zentrum der Debatte stünden der Nahostkon- Ergebnis sei gewesen, dass Antisemitismus unter flikt und die darin getätigten judenfeindlichen Muslimen verbreiteter ist als unter Christen und Äußerungen von Muslimen. Botsch benannte Konfessionslosen, zwischen denen es keine nen- in seinem Vortrag folglich ein Defizit an empiri- nenswerten Unterschiede gegeben habe. Damit scher Forschung zu rechtsextremem Antisemi- konnte der KONID Survey einen Befund anderer tismus. Wandlungsprozesse im Antisemitismus Untersuchungen7 zu gruppenbezogenen Vorur- von Rechtsextremen würden nicht ausreichend teilen bestätigen. Zur Erklärung von antisemiti- untersucht. Im weiteren Verlauf seines Vortrags schen Ressentiments führte Yendell an, dass ein stellte Botsch mehrere Beispiele für rechts- extremen Antisemitismus aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vor, darunter 5 Die beiden Studien sind unter den Namen „Ber- Gedenkstättenschändungen in Berlin durch den lin-Monitor 2019“ und „Berlin-Monitor 2020“ on- Rechtsterroristen Ekkehard Weil im Jahr 1989. Er line einsehbar unter https://berlin-monitor.de/ ging aber auch auf aktuelle Entwicklungen ein, publikationen/ [eingesehen am 12.01.2021]. wie etwa den Antisemitismus der QAnon-Be- 6 Die Abkürzung KONID steht für „Konfigurationen wegung und des Anführers der Identitären individueller und kollektiver religiöser Identitä- Bewegung in Österreich, Martin Sellner. In dem ten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale“. Gespräch, das auf seinen Vortrag folgte, betonte Der KONID Survey 2019 hat die Bedeutung von Botsch, dass er Antisemitismus auch für den in- Religion für soziale Identitäten untersucht, und tellektuellen Rechtsextremismus (die sogenann- zwar in einer in Deutschland und der Schweiz durchgeführten Repräsentativbefragung. te Neue Rechte) als konstitutiv ansehe. 7 Darunter die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stif- Im Anschluss referierten Selana Tzschiesche vom tung. Vgl. zusammenfassend Bundesministerium Projektteam Berlin-Monitor an der Hochschule des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemi- tismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Magdeburg-Stendal und Gert Pickel, Professor Entwicklungen, Berlin 2018, hier vor allem S. 74 f. und für Religions- und Kirchensoziologie an der Uni- S. 78 f., URL: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ versität Leipzig, zum Thema „Antisemitismus in downloads/DE/publikationen/themen/heimat-inte- Berlin? Verbreitung, Betroffenenrelevanz, Gründe gration/expertenkreis-antisemitismus/expertenbe- und Aktivierungspotential“. Sie stellten die Er- richt-antisemitismus-in-deutschland.pdf?__blob=- gebnisse einer Studie vor, die im Jahr 2020 Anti- publicationFile&v=7 [eingesehen am 12.02.2021]. Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 62
Teresa Nentwig | „An allem sind die Juden schuld!“ Zusammenhang zwischen Erziehungserfahrun- nister und seit Mai 2018 Beauftragter der Baye- gen und antisemitischen Vorurteilen bestehe. So rischen Staatsregierung für jüdisches Leben und korrelierten Kontrollen durch die Eltern und harte gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit Strafen mit Antisemitismus.8 und geschichtliches Erbe, berichtete von seiner Empfehlung an staatliche Institutionen, Ver- bände und Vereine, der Antisemitismus-Defini- tion der International Holocaust Remembrance Journalistische und politische Alliance (IHRA)9 zuzustimmen. Etwa hundert von Perspektiven auf Antisemitismus ihnen hätten die Definition inzwischen diskutiert und angenommen. Spaenle betonte zudem, dass Per Video war der Journalist Richard C. Schnei- Wissen ein Mittel gegen Judenhass sei. Spezi- der zugeschaltet, dessen Vortragsthema „Corona elle Hilfestellungen für Lehrerinnen und Lehrer und all die anderen Probleme dieses Landes sowie passgenauere Angebote für Schulen seien – Der Jude als das Böse an sich“ lautete. Den notwendig, da sich die Lehrkräfte oft überfordert Ausgangspunkt seiner Ausführungen bildete die fühlten. Auch in der Wissenschaft sah der baye- Unterscheidung zwischen Rassismus und Anti- rische Antisemitismus-Beauftragte Handlungs- semitismus. Während beim Rassismus der Blick bedarf: Es werde zwar viel zu Antisemitismus von oben nach unten gehe – „der andere“ sei der geforscht, aber die Frage, wie die Erkenntnisse minderwertige –, sei der Blick beim Antisemitis- didaktisch vermittelt werden könnten, komme zu mus nach oben gerichtet: „Der Jude“, so Schnei- kurz. der, werde als das Böse schlechthin gesehen; Juden würden als vermögender, als mächtiger etc. gelten. Diese These von der Allmacht der Ju- den sei eine uralte Tradition, die im Leben eines Neuere Entwicklungen des Antisemitismus Juden stets präsent sei. An mehreren, auch aus seinem eigenen Leben stammenden, Beispielen Auf Spaenles Vortrag folgte ein Beitrag der Göt- zeigte Schneider auf, wie sich dieser Antise- tinger Politikwissenschaftlerin Dana Ionescu, die mitismus konkret äußert. In Zeiten von Corona ihn pandemiebedingt auf Video aufgezeichnet hätten einige Menschen wieder einen Schuldigen hatte. Ihr Thema waren „Neuere Tendenzen im gefunden: Israel, so werde behauptet, habe das Antisemitismus: Wie die jüdische Religion und Virus in die Welt gesetzt, um die Weltherrschaft kulturell-religiöse Alltagspraktiken von Jüdin- zu übernehmen. Donald Trump habe diese These nen und Juden wieder ins Zentrum rücken“. Dies noch befeuert, indem er Personen aus seinem zeigte Ionescu zunächst exemplarisch an der Umfeld, die sie vertreten hätten, nicht zurechtge- Vorhautbeschneidung von männlichen Säuglin- wiesen habe. gen und Jungen auf, die ein zentrales Symbol für Wie Antisemitismus bekämpft werden kann, zeigte Ludwig Spaenle in seinem Tagungsbeitrag 9 Sie lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte auf. Spaenle, ehemaliger Bayerischer Staatsmi- Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelperso- 8 Zu den Ergebnissen des KONID Survey 2019 be- nen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische züglich Antisemitismus vgl. auch Pickel, Gert et al.: Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Religiöse Identitäten und Vorurteil in Deutschland (International Holocaust Remembrance Alliance: und der Schweiz – Konzeptionelle Überlegungen Arbeitsdefinition von Antisemitismus, URL: https:// und empirische Befunde, in: Zeitschrift für Religion, www.holocaustremembrance.com/de/resources/ Gesellschaft und Politik, Jg. 4 (2020), H. 4, S. 149–196, working-definitions-charters/arbeitsdefiniti- hier insbesondere S. 166–172 und S. 179–182. on-von-antisemitismus [eingesehen am 10.01.2021]) Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 63
Demokratie-Dialog 8-2021 die Zugehörigkeit zum Judentum sei und in den semitischen Prämissen zu verändern. Eines der letzten Jahren für Kritik gesorgt habe. Ionescu Kennzeichen dieser antisemitischen Revolution präsentierte in diesem Zusammenhang Ergeb- sei die Entgrenzung, d. h. dass sich eigentlich ver- nisse ihrer 2018 veröffentlichten Doktorarbeit, feindete Gruppen in einem Punkt treffen – dem in der sie die Argumentationen der Beschnei- antiisraelischen Antisemitismus. Als ein Beispiel dungsgegnerinnen und -gegner in Deutschland hierfür nannte Salzborn Demonstrationen, die im analysiert und die jeweiligen Judenbilder re- Sommer 2014 stattfanden: Unter Federführung konstruiert.10 Unter anderem konnte sie zei- von palästinensischen Organisationen seien in gen, dass bestimmte Artikel in auflagenstarken zahlreichen deutschen Städten Antisemiten je- Tageszeitungen die diskursiven Bedingungen für der Couleur gemeinsam auf die Straße gegangen antisemitische Äußerungen in Online-Kommen- – islamistische Antisemiten, Neonazis und linke taren schufen. Ionescu erwähnte beispielsweise Antiimperialisten. „Sind die Antiimperialist(inn) das Stereotyp des kriminell angelegten Juden: en auch nur ein marginaler Flügel in der deut- Es sei die Rede von Juden gewesen, die durch schen Linken – die Mehrheit steht nach wie vor die Vorhautbeschneidung Verbrechen an Kin- in Opposition zum Antisemitismus – so zeigt das dern begingen. Neben der Vorhautbeschneidung Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemi- stellte Ionescu in ihrem Vortrag das Schächten tische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle als Alltagspraktik im Leben von Jüdinnen und anderen weltanschaulichen Differenzen zurück- Juden vor. Beim Schächten, für das mittlerweile treten“, so Salzborn an anderer Stelle.11 in mehreren Ländern (darunter Island, Norwegen und große Teile Belgiens) ein Verbot gilt, sei in Deutschland eine weniger aufgeladene Kont- roverse als bei der Beschneidung festzustellen. Antisemitismus aus der Sicht Dennoch lasse sich auch in der Berichterstattung des Zentralrats der Juden über das Schächten und den Kommentaren dazu die Reaktivierung eines klassischen Stereotyps Der zweite Tagungstag begann mit einem ausmachen: Die Juden seien rückständig, tier- Morgengespräch, zu dem der Präsident des quälerisch, verbrecherisch und würden sich nicht Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef in die Gesellschaft integrieren. Als Fazit hob Io- Schuster, nach Banz gekommen war. Bevor er nescu hervor, dass die sogenannte gesellschaft- Fragen von den Tagungsteilnehmerinnen und liche „Mitte“ ein zentraler Akteur in den beiden -teilnehmern beantwortete, ging Schuster auf Kontroversen über Beschneidung und Schächten die gegenwärtige Situation von Jüdinnen und sei. Juden in Deutschland ein. Das Attentat von Halle sei ein erheblicher Einschnitt im Vertrauen der Die Dinner Speech hielt Samuel Salzborn zum jüdischen Bürgerinnen und Bürger in die Bun- Thema „Globaler Antisemitismus. Entwicklungen desrepublik gewesen. Schuster bezeichnete es in seit 9/11“. Salzborn, Professor für Politikwissen- diesem Zusammenhang als „unverzeihlich“, dass schaft an der Universität Gießen und seit August die Synagoge in Halle nicht von der Polizei ge- 2020 Ansprechpartner des Landes Berlin zu schützt worden war. Die Koffer der Jüdinnen und Antisemitismus, bezeichnete die islamistischen Juden in Deutschland blieben zwar weiterhin un- Anschläge vom 11. September 2001 als einen gepackt, aber der eine oder andere schaue jetzt Wendepunkt in der Entwicklung des Antisemitis- mus, da vor allem islamistische Kräfte seitdem versucht hätten, die Weltordnung unter anti- 11 Salzborn, Samuel: Aktuelle Erscheinungsfor- men von Antisemitismus und ihre Geschichte, in: Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeit- 10 Vgl. Ionescu, Dana: Judenbilder in der deutschen schrift für Politik und Geschichte, Themenheft Beschneidungskontroverse, Baden-Baden 2018. Antisemitismus, H. 1/2020, S. 10–22, hier S. 12. Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 64
Teresa Nentwig | „An allem sind die Juden schuld!“ durchaus, wo der leere Koffer stehe, so Schusters einer islamisierten Judenfeindschaft und eine eindringliches Bild. Dafür, dass antisemitische Problematisierung der Selbstinszenierung einer Äußerungen zugenommen haben und salonfähig vom Antisemitismus geläuterten deutschen geworden sind, machte Schuster auch „Funk- Mehrheitsgesellschaft“ weiter. Pickel und Öztürk tionsträger der AfD“ verantwortlich. Darüber (Zentrum für Demokratieforschung der Leupha- hinaus betonte der Zentralratspräsident noch, na Universität Lüneburg) beschäftigten sich mit dass Lehrkräfte häufig nicht wüssten, wie sie im muslimischem bzw. islamisiertem Antisemitis- Klassenverband mit rassistischen und antisemiti- mus, der unterschiedliche Hintergründe habe, schen Äußerungen umgehen sollten. Hier müsse darunter die dogmatisch-fundamentalistische dringend Abhilfe geschaffen werden. Daneben Auslegung der eigenen Religion, autoritäre sah Schuster im Bereich der Justiz eklatante Einstellungen und fehlende soziale Anerken- Mängel. So kritisierte er, dass keine strafrechtli- nung. Die AfD instrumentalisiere Antisemitismus, chen Ermittlungen aufgenommen worden seien, indem sie ihn muslimischen Einwandererinnen nachdem die rechtsextreme Partei „Die Rechte“ und Einwanderern zuschreibe. Als Beispiel hierfür während des Europawahlkampfes 2019 in Dort- zeigten Pickel und Öztürk ein Plakat von Alice mund mit einem Plakat geworben hatte, auf dem Weidel aus dem Jahr 2018, auf dem es heißt: „Der „Israel ist unser Unglück!“ stand.12 Ähnliches habe muslimische Antisemitismus bedroht jüdisches sich in Wuppertal zugetragen: Einen Anschlag Leben in Europa!“. Anlass für diesen Ausruf war auf die dortige Synagoge mit Molotowcocktails die brutale Ermordung der 85-jährigen Holo im Jahr 2014 hätten zwei Gerichte als Sachbe- caust-Überlebenden Mireille Knoll in ihrer Pariser schädigung eingestuft, nicht als antisemitischen Wohnung. Der antisemitische Hintergrund der Tat Akt, so Schusters Kritik. Ein Fortschritt sei aber, war rasch bestätigt worden.14 dass die Grundsätze der Strafzumessung13 in § 46 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) um antisemitische Als vorletzter Tagungsbeitrag folgte der Vortrag Beweggründe erweitert wurden. Auch die Eta- von Axel Töllner, Beauftragter für christlich-jü- blierung von Antisemitismusbeauftragten bei dischen Dialog in der Evangelisch-Lutherischen den Generalstaatsanwaltschaften könne positiv Kirche in Bayern (ELKB). Sein Thema lautete: gesehen werden. Alles in allem, so Schusters Fa- „Vom christlichen Antijudaismus zum modernen zit, brauche man kein Krisenszenario aufmachen, Antisemitismus: Kontinuitäten und Transfor- dürfe sich aber auch nicht zurücklehnen. mationen“. An verschiedenen Beispielen zeigte Töllner auf, wie das Christentum dem Judentum in der Geschichte gegenübertrat. Unter anderem erwähnte er das 1948 veröffentlichte „Wort zur Religiöser Antisemitismus und Antisemitismus Judenfrage“ des Bruderrats der Evangelischen beim Rassemblement National Kirche in Deutschland (EKD), das die Aktuali- sierung des klassischen Antijudaismus für die Die Tagung ging mit dem Vortrag von Gert Pickel Nachkriegszeit zeige. Es sei um die Entlastung und Cemal Öztürk zum Thema „‚Importierter‘ von eigener Schuld gegangen. Außerdem the- Antisemitismus? Über die empirische Evidenz matisierte Töllner u. a. die Antisemitismusvor- würfe gegen das ökumenische Netzwerk „Kairos Europa“. 12 Diese Wendung greift Heinrich von Treitschkes Schlagwort „Die Juden sind unser Unglück“ auf, das seit 1927 auf jeder Titelseite der nationalso- zialistischen Wochenzeitung Der Stürmer stand. 13 Hier geht es um die Umstände, die für oder gegen 14 Vgl. Vincent, Élise: Affaire Knoll: les einen Täter oder eine Täterin sprechen und die ein suspects seront jugés pour crime antisé- Gericht bei der Urteilsfindung heranzuziehen hat. mite, in: Le Monde, 16.07.2020, S. 14. Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 65
Demokratie-Dialog 8-2021 Die Tagung im Kloster Banz endete mit einem Resümee Vortrag der Verfasserin des vorliegenden Tex- tes. Ich habe dabei einen Blick nach Frankreich Alles in allem beleuchtete die Konferenz das geworfen und über das Verhältnis des Rassem- Thema Antisemitismus aus unterschiedlichen blement National (bis Mitte 2018: Front Natio- Perspektiven, vor allem aus politikwissenschaft- nal) zum Antisemitismus gesprochen. So ist der licher Sicht. Immer wieder wurden Bezüge zur Mitbegründer des Front National, Jean-Marie Le Gegenwart hergestellt: In Krisenzeiten, so wurde Pen, immer wieder durch antisemitische Äuße- mehrfach betont, würden stets Minderheiten rungen aufgefallen. Seine Tochter Marine Le Pen, als Sündenböcke gesucht; ob bei der Pest oder die dem Front National seit dem 16. Januar 2011 bei Corona – die Schuld liege bei den Juden. vorsteht, distanziert sich dagegen vom Antise- Wiederholt wurden auch Wege der Prävention mitismus. Mehr noch: Sie geht offensiv auf die von Antisemitismus dargelegt – ein Thema, jüdische Bevölkerung zu und präsentiert sich das zum einen wegen der eingangs angespro- sowie ihre Partei als Schutzmauer gegen einen chenen aktuellen Geschehnisse wichtiger denn islamischen Antisemitismus – was Marine Le je erscheint. Zum anderen sollte der Frage, wie Pen aber nicht davon abhält, auf antisemiti- antisemitischen Vorurteilen entgegengewirkt sche Chiffren zurückzugreifen. So hat sie ihren werden kann, auch deswegen gesellschaftlich Konkurrenten Emmanuel Macron während des viel Beachtung entgegengebracht werden, weil Präsidentschaftswahlkampfes 2017 als Repräsen- Studien für die Bundesrepublik Deutschland tanten der „arroganten Finanzwelt“ bezeichnet, bis heute bei mindestens 15 bis 20 Prozent der der bei „Rothschild“ gearbeitet habe und dem es Bevölkerung antisemitische Einstellungen nach- allein um „Profit“, um die „Anhäufung von Geld“ weisen.15 Wünschenswert wäre noch gewesen, gehe. In meinem Vortrag habe ich die Gründe für wenn am Ende der Tagung gemeinsam reflektiert die Abwendung vom offenen Antisemitismus worden wäre, ob es gegenwärtig überhaupt neue dargestellt und bin der Frage nachgegangen, in- Tendenzen im Antisemitismus gibt und, wenn ja, wieweit Marine Le Pen mit ihrem Zugehen auf die wie genau diese aussehen – immerhin lautete jüdischen Bürgerinnen und Bürger erfolgreich ist. der Untertitel der Tagung „(Neue) Dimensio- nen des Antisemitismus heute“. Leider blieb für eine solche Diskussion jedoch keine Zeit mehr. Etwas zu kurz kam bei der Tagung außerdem der Antisemitismus von links – der Schwerpunkt lag auf muslimischem und rechtem bzw. rechts- extremem Antisemitismus. Mit Blick auf aktu- elle gesellschaftliche Entwicklungen und die im Vergleich dazu bestehende Randständigkeit von linkem Antisemitismus war dies sicher gerecht- fertigt. Und doch ist auch linker Antisemitismus ein facettenreiches und damit interessantes Phä- nomen. Dr. Teresa Nentwig war bis 2020 wissen- schaftliche Mitarbeiterin 15 Vgl. Salzborn, Samuel: Sprechen und Schweigen über am Göttinger Institut für Antisemitismus, in: Aus Politik und Zeitgeschich- Demokratieforschung. te, Jg. 70 (2020), H. 26/27, S. 20–23, hier S. 21 f. Nentwig, Teresa (2021): „An allem sind die Juden schuld!“ Bericht über die Tagung „Der Jude als ewiges Feindbild? (Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute“. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 60-66. 66
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