Animal Personality - Persönlichkeit bei Nutztieren - Internationale ...
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INTERNATIONALE GESELLSCHAFT FÜR NUTZTIERHALTUNG NUTZTIERHALTUNG IM F O K U S Animal Personality – Persönlichkeit bei Nutztieren THEMEN HERBST 2018 Aus dem Forscherbüro Forscher präsentieren aktuelle Erkenntnisse zur Analyse und Bedeutung von Persönlich- keit, Temperament und Coping-Verhalten bei Nutztieren. >> Seite 6 Aus der Bibliothek Vorstellung internationaler Publikationen zur Thematik „Persönlichkeit bei Nutztieren”. >> Seite 35 Aus dem Tierschutzrecht Zur Berücksichtigung von Persönlichkeit bei Nutztieren im bestehenden und zukünftigen (Schweizer) Tierschutzrecht. >> Seite 46 Aus der Ethik Ethisch relevante Aspekte der Thematik „Persönlichkeit bei Tieren”. >> Seite 52 Informationsbroschüre der IGN e.V. über aktuelle Ergebnisse aus der Forschung zum Wohlbefinden der Tiere.
EDITORIAL Editorial Sehr geehrte Damen und Herren, auf viele Aspekte ihrer Umwelt unterschied- Wie immer endet das Heft mit der Vorstel- lich reagieren. Und da sind wir auch schon lung eines IGN-Mitgliedes, in diesem Fall Haben Tiere eine Persönlichkeit? Dieser bei den Nutztieren, die zum großen Teil von Herrn Dr. Jan Langbein, und einigen eigentlich einfach klingenden Vier-Wort- unter sehr uniformen Haltungs- und Sozial- Informationen aus der IGN. Frage geht unser vorliegendes Heft NUTZ- bedingungen leben. Was konkret bedeutet TIERHALTUNG IM FOKUS mit dem Thema An dieser Stelle sei Frau Dr. Karin Keckeis das, wenn darin lebende Tiere unterschied- „Animal Personality – Persönlichkeit bei gedankt für die gelungene Zusammen- liche Persönlichkeiten haben? Hier hat die Nutztieren“ nach und beleuchtet es aus stellung des Heftes, das Suchen und Fin- Forschung erst begonnen und ist dadurch verschiedenen Blickwinkeln. Stellten wir den der Autoren, die dafür notwendige noch sehr grundlagenorientiert. Im Kapitel die Frage für den Menschen, wäre die Korrespondenz sowie die redaktionelle Be- „Aus dem Forscherbüro“ berichten ver- Antwort sicher recht schnell ein eindeuti- arbeitung der Beiträge. Allen Autoren und schiedene Gruppen exemplarisch über ihre ges Ja. Laut Lexikon der Biologie bezieht Beitragenden sei gedankt für ihre Unter- Ergebnisse zur Individualitäts- und Persön- sich Persönlichkeit beim Menschen auf die stützung. Es sei darauf hingewiesen, dass lichkeitsforschung bei Ziegen, Schweinen, einzigartigen psychologischen Merkmale die Autoren verantwortlich für den Inhalt Rindern, Pferden und Fischen. Es werden eines Individuums, die eine Vielzahl von Ihrer Beiträge sind. Ohne diese gemein- erste Antworten zumindest zu einigen der charakteristischen konsistenten Verhaltens- schaftliche Arbeit wäre ein solches Themen- eingangs erwähnten Fragen gegeben. mustern in verschiedenen Situationen und heft nicht möglich, auch wenn die hier vor- Noch aber gibt es durchaus wissenschaft- zu verschiedenen Zeitpunkten beeinflussen. gestellte Auswahl zwar wichtige, durchaus liche Kontroversen über Methodik der Mes- Aber gilt das – zumindest sinngemäß – auch kontroverse, aber selbstverständlich sung und Analyse oder über die Terminolo- auch für Tiere? Und wenn ja, wie sähe nicht alle Aspekte der Persönlichkeit von gie in der Definition und Beschreibung der so etwas aus? Wie könnte man so etwas Tieren anspricht. untersuchten Phänomene, aber es verdich- wie Persönlichkeit beim Tier messen? Und tet sich zunehmend das Bild von nachweis- Wie üblich, wird die NUTZTIERHALTUNG gerade im Fall unserer Nutztiere wahr- baren Persönlichkeitsunterschieden auch IM FOKUS auch als PDF auf der Webseite scheinlich eine entscheidende Frage, wel- bei Nutztieren. Unterschiede, die nicht nur der IGN (http://www.ign-nutztierhaltung. che Implikationen ergäben sich daraus? im Verhalten der Tiere zu sehen, sondern ch/de/seite/nutztierhaltung-im-fokus) frei Beim Menschen wiederum werden die zum Teil auch in physiologischen und mole- zur Verfügung stehen. Ich wünsche allen grundlegenden Dimensionen der Persönlich- kularbiologischen Merkmalen zu finden viel Spaß beim Lesen, die möglicherweise keitsstruktur im sogenannten „Fünf-Faktoren- sind. Die hier beschriebenen Befunde wer- eine oder andere neue Einsicht über die Modell“ (Big Five) beschrieben. Um es hier den eindrucksvoll mit weiteren Beispielen Persönlichkeit von (Nutz)Tieren, und na- vorwegzunehmen, ja, es konnte in den aus der internationalen Literatur im Kapitel türlich jede Menge Anregungen und Re- letzten Jahren gezeigt werden, dass sich „Aus der Bibliothek“ untermauert. Die flexionen zum Thema. Gerade weil das in der Evolution konsistente individuelle Kapitel „Aus der Ethik“ und „Aus dem Thema dieses Heftes „Animal Personality Variationen auch im Verhaltensspektrum Tierschutzrecht“ weisen darauf hin, dass – Persönlichkeit bei Nutztieren“ ein noch von Tieren entwickelt haben. Bestimmte Tiere handelnde Subjekte und Individuen vergleichweise sehr junges – und gestatten Individuen sind im Vergleich zu anderen sind und versuchen zudem zu zeigen, wel- Sie mir die persönliche Ansicht – sehr in- Individuen aus ihrer Population beispiels- che ethischen und rechtlichen Implikationen novatives ist, ist sicher, es wird uns weiter weise immer aggressiver, neugieriger oder sich aus dem Konzept Persönlichkeit beschäftigen. wagemutiger. Die im Moment gängigsten bei Tieren ergeben (können). Es wird Erklärungen, warum sich unterschiedliche Birger Puppe, zudem deutlich, dass es zum Teil noch Persönlichkeiten bei Tieren entwickelt ha- Mitglied des Vorstandes der IGN deutliche Unterschiede in den Auffas- ben, favorisieren in der Regel fitnessbasier- sungen von Tierethikern, Tierrechtlern, Bio- te Modelle, d. h. individuell unterschied- logen, Veterinärmedizinern und Agrarwis- liche Verhaltenstrategien haben im Sinne senschaftlern gibt, was genau unter dem der Fitnessmaximierung (z. B. Anzahl Nach- Konzept Persönlichkeit bei Tieren zu ver- kommen) einen adaptiven Wert. Diese stehen ist und wie es sich in andere wis- Unterschiede sind zudem teilweise gene- senschaftliche Konzepte der einzelnen tisch fixiert. Fachrichtungen integrieren lässt. Gerade Folgt man der Idee, dass das Auffinden Mit freundlichem Dank an die diese Debatten sind erst am Anfang, aber von dauerhaften, d. h. über Zeit und Situa- Unterstützer der IGN: es ist unschwer zu prognostizieren, dass tion hinweg konsistenten Unterschieden im sie die Diskussionen um Haltung, Manage- Felix-Wankel-Stiftung, Züberwangen Verhalten die Grundlage von Persönlichkeit ment und Zucht sowie die im Moment sehr Schweizer Tierschutz, Basel ausmacht, dann muss man – ähnlich wie gegenwärtigen Auseinandersetzungen um beim Menschen – auch Tieren eine solche den Begriff Tierwohl und seine Umsetzung Zürcher Tierschutz, Zürich zubilligen. Das ist einerseits hochspannende stark beeinflussen werden. Forschung, anderseits wird klar, dass Tiere 2 I
INHALT Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aus dem Forscherbüro Personality und ihr Einfluss auf kognitive Prozesse bei Ziegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 – 11 Gibt es individuelle Strategien im Umgang mit Stress? – Untersuchungen zum Coping-Verhalten beim Schwein. . . . . . . . . 12 – 17 Temperamentbestimmungen bei Rindern unter praktischen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 – 22 Bedeutung von Temperament und anderen Verhaltensmerkmalen in der Pferdezucht: Theorie und Praxis. . . . . . . . . . . . . . . 23 – 27 Stress-Bewältigungsverhalten, ein Instrument um das Wohlbefinden von Fischen besser zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . 28 – 34 Aus der Bibliothek Überblick und methodische Aspekte – Wie kann man Persönlichkeit messen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 – 38 – Forschung zur Persönlichkeit von Nutzsäugetierarten: Konzepte, Messmethoden und -variablen, und Zusammenhang mit Wohlbefinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 – Beschreibung von Temperament in einem Huftier: Ein multidimensionaler Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 – Reaktivität von Milchkühen auf Annäherung des Menschen und neuartige Stimuli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 – Entwicklung von Annäherungs- und Handling-Tests für die Beurteilung der Reaktivität von Sauen in Gruppen- und in Einzelstandhaltung gegenüber des Menschen . . . . . . . . . . 38 Genetische Grundlagen von Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 – 40 – Identifizierung von Regionen quantitativer Merkmale mit Einfluss auf das Temperament von Rindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 – Genetische Analyse von emotionaler Reaktivität bei Schafen: Effekte des Genotyps der Lämmer und ihrer Mütter. . . . . . . . . . 39 Persönlichkeit und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 – 42 – Entwicklung von Persönlichkeitstests für den Einsatz in der Praxis, stabil über Zeit und verschiedene Situationen, und im Zusammenhang mit Leistung im Springreitsport. . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Coping Eigenschaften und Leistung bei Mastschweinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 – – Zusammenhang zwischen Temperament, Wachstum, Schlachtkörpereigenschaften und Zartheit des Fleisches bei Mastochsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Persönlichkeit im Zusammenhang mit dem Handling von Nutztieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 – 43 – Handling durch den Menschen und Präsentation eines Novel Objects rufen bei Japanwachteln unabhängige Dimensionen von Furcht hervor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 – Qualität des Handlings und der Haltungsumgebung, und Temperament bei Fleischrindern: 1. Zusammenhänge mit Fluchtgeschwindigkeit und Furcht vor dem Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Konsequenzen für Stress und Produktivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Persönlichkeit und Reaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 – 45 – Der Zusammenhang zwischen Furchtverhalten bei jungen und Stress-Reaktion bei erwachsenen Legehennen auf Einzeltier- und Gruppenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 – Neuronale Modulatoren des Temperaments: Ein multivariater Zugang zur Identifikation von Persönlichkeitsmerkmalen beim Pferd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 – Charakterisierung der emotionalen Reaktivität von Kühen um ihre Stressreaktionen bei der Schlachtung zu verstehen und vorherzusagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Aus dem Tierschutzrecht Animal Personality im Tierschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 – 51 Aus der Ethik Persönlichkeit bei Tieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 – 58 Aus der IGN Vorstellung eines IGN-Mitglieds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 – 60 Platz für Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 – 63 IS B N: 9 7 8 - 3 - 9 5 24555- 6- 2 ANIMAL PERSONALITY – PERSÖNLICHKEIT BEI NUTZTIEREN I 3
EINLEITUNG „Beim Menschen wie bei Tieren gleicher- boten zu fragen, ob wir damit dem unter- Verhaltensmerkmale bzw. bestimmte Kom- maßen unterscheiden sich Individuen in schiedlichen Verhaltensrepertoire der ver- ponenten von Temperament, und dem Zus- der Art und Weise ihres Verhaltens in schiedenen Tierarten gerecht werden und ammenhang zwischen temperamentsre- einer bestimmten Situation. Ist dieses Ver- die jeweils tatsächlich relevanten Verhal- levanten Verhaltensmerkmalen und mit halten relativ vorhersehbar im Lauf der tensmerkmale zur Persönlichkeitsbeschrei- (Stress)-Reaktivität in Verbindung stehenden Zeit oder von einer Situation zur an- bung auswählen. Im Beitrag zur Bedeutung (neuro)physiologischen Messgrößen. deren, spricht man davon, dass Individuen und Messung von coping styles bei Nutz- Im Kapitel „Aus dem Tierschutzrecht“ unterschiedliche Persönlichkeiten besitzen.“ fischen im Kapitel „Aus dem Forscherbüro“ analysieren die Autorinnen, ob Persönlich- An eine Definition oder Erklärung des Be- kommt u. a. diese mögliche Limitation in keitsausprägungen bei Tieren im geltenden griffs wie sie Réale und Dingemanse (2012) der Vergleichbarkeit von Ergebnissen zwi- Schweizer Tierschutzgesetz und seiner in einer Review zu Persönlichkeit bei Tieren schen verschiedenen Arten zum Ausdruck. Ausführungsverordnung Berücksichtigung ausweisen, hatte die junge Frau vermutlich Die methodischen Herausforderungen, mit finden. Sie untersuchen mögliche rechtliche nicht gedacht, deren begeisterten Beschrei- welchen methodischen Tests und welchen Verpflichtungen für die Einarbeitung und bung der individuellen Eigenheiten der von dabei gemessenen Verhaltensweisen oder Beachtung neuer Erkenntnisse aus der Per- ihr betreuten Kühe ich kürzlich in einer TV- Variablen (welche) Persönlichkeitsmerkmale sönlichkeitsforschung im zukünftigen Tier- Dokumentation über das Leben einer Familie oder coping-Typen bestimmt werden kön- schutzecht und weisen auf mögliche Risiken während des Alp(=Alm)sommers zuhörte. nen, werden in zwei weiteren Beiträgen und dabei zu beachtende Grundsätze hin. Es schien ihr selbstverständlich, dass „ihre“ thematisiert. In einem der beiden werden Dass das Thema Persönlichkeit bei Tieren Kühe nicht nur alle einen Namen, sondern aktuellste mit zwei etablierten Verhaltens- ein sehr interdisziplinäres ist, das über die auch ihre Eigenheiten haben, was ihr Ver- tests generierte Resultate zum Verhalten von biologischen Fachdisziplinen hinaus inter- halten betrifft, sich also regelmäßig recht Zwergziegen auf ihre Eignung zur Bestim- essiert, wird spätestens mit den Ausführun- unterschiedlich voneinander verhalten. mung von Persönlichkeitstypen bei Ziegen gen im Kapitel „Aus der Ethik“ klar. Der sowie die Auswirkung von Persönlichkeit Wissenschaftlich betrachtet herrscht mittler- Beitrag spannt den Bogen von der philo- auf kognitive Fähigkeiten von Ziegen ana- weile zwischen den verschiedenen Diszipli- sophischen Auseinandersetzung mit Persön- lysiert, und damit letztlich darauf, wie Zie- nen der Biologie, die sich mit Persönlichkeit lichkeit bei Tieren über über ihre Berück- gen mit ihrer Umwelt interagieren und sie bei Tieren auseinandersetzen, mehr oder sichtigung in der vergleichenden Kogni- wahrnehmen. Die andere Forschungsgrup- weniger breiter Konsens über die obige tionsforschung bis hin zu ihrer ethischen pe nahm einen breit angewendeten Verhal- Definition von Persönlichkeit, relevanten Relevanz aus unterschiedlichen Blickwin- tenstest, den sogenannten Backtest, zur Fragen und Ansätzen zu ihrer Erforschung. keln und mit Blick auf moderne Entwick- Bestimmung der Verhaltensstrategien beim Die verwendeten Begriffe für Persönlichkeit lungen in der Nutztierhaltung. Schwein im Umgang mit Stress genauer beim Tier und die zugrunde liegenden Kon- unter die Lupe, und berichtet von Erkenntnis- Das aus der Grundlagenforschung gene- zepte sind jedoch häufig verwirrend und sen, wie sich diese individuellen Verhaltens- rierte Wissen zu Persönlichkeit bei Nutz- regelmäßig diskussionsanregend, gerade strategien auch auf neurophysiologischer tieren wird in den kommenden Jahren mit in den Nutztierwissenschaften, da ein ge- und emotionaler Ebene zeigen, ja sogar Sicherheit weiter wachsen, wie schon jetzt wisses Risiko für den Vorwurf von Anthropo- auf molekularbiologischer Ebene zu finden durch die zahlreich aufgezeigten Implika- morphismus im Raum steht. Weil sich die sind. Zwei weitere Beiträge beschäftigen tionen in der Tierhaltung und -zucht deutlich Begriffe personality, temperament oder sich mit der zunehmend erkannten Bedeu- wird. Inwieweit Persönlichkeitsunterschiede coping style mit ihren Konzepten aus der tung von Temperaments- bzw. Persönlich- bei Nutztieren mit einer Art Selbstverständ- Persönlichkeitsforschung beim Menschen keitsmerkmalen in der (Fleisch)Rinder- und lichkeit, wie von der eingangs erwähnten herleiten, und an der Erforschung von Per- Pferdezucht, und wie deren Erfassung auf Viehhirtin, in der Praxis anerkannt werden sönlichkeit im biologischen Sinn viele Fach- Grundlage der wissenschaftlichen Erkennt- und für die Beurteilung und Verbesserung disziplinen interessiert und beteiligt sind, ist nisse in der Zuchtpraxis umgesetzt wird des Tierwohls Berücksichtigung finden, die Definition und Abgrenzung von Begrif- bzw. besser umgesetzt werden könnte. hängt möglicherweise und nicht zuletzt von fen und Konzepten von großer Bedeutung. der interdisziplinären Auseinandersetzung Hierfür einen Beitrag zu leisten und über bis- Das Kapitel „Aus der Bibliothek“ ergänzt mit dem Thema und dem Wissenstransfer herige Erkenntnisse und Blickwinkel der For- mit aktuellen Resultaten aus der Forschung, zwischen allen interessierten Disziplinen schung zu Persönlichkeit bei Nutztieren zu wobei einleitend auf die Konzepte in der und Kreisen ab. berichten, ist das Ziel der vorliegenden Aus- Persönlichkeitsforschung bei Nutztieren und gabe von NUTZTIERHALTUNG IM FOKUS. auf die Messung und Beurteilung von Per- Karin Keckeis sönlichkeitsmerkmalen eingegangen wird. Nachdem bisher v. a. die fünf zum Men- Die nachfolgend zusammengefassten Pub- schen äquivalenten Persönlichkeitsfaktoren likationen analysieren anhand methodisch Réale D, Dingemanse N, 2012. Animal (Geselligkeit, Exploration, Aktivität, Aggres- unterschiedlicher Zugänge die genetische Personality. In: eLS. John Wiley & Sons, sivität und Wagemut) als vereinfachtes Ar- Verankerung von Temperamentsmerkmalen Ltd Chichester. DOI: 10.1002/978047 beitsmodell zur Charakterisierung der Per- sowie den Zusammenhang von Persönlich- 0015902.a0023570 sönlichkeitsstruktur verfolgt wurden und sich keit mit Leistungs- und Leistungsmerkmalen. gewisse Mess- und Auswertungsmethoden Weitere Publikationen befassen sich mit der dafür etabliert haben, ist es sicherlich ge- Auswirkung von Handling auf bestimmte ANIMAL PERSONALITY – PERSÖNLICHKEIT BEI NUTZTIEREN I 5
AUS DEM FORSCHERBÜRO sie ein wichtiges Kriterium für die Zucht bei Sie können somit als Fundament für perso- Personality und ihr Nutztieren sind (D’Eath et al., 2009; Gib- nality definiert/angesehen werden (Buss, Einfluss auf kognitive bons, 2009). In vielen Studien hat sich he- 1995; McCrae et al., 2000). Ein weite- rausgestellt, dass (Nutz)-Tiere individuell un- res Konzept, um personality bei Tieren zu Prozesse bei Ziegen terschiedlich auf verschiedene Situationen verstehen, ist die Einteilung in proaktive, und Stimuli reagieren und in verschiedene intermediäre und reaktive Reaktionstypen Marie-Antonine Finkemeier1,2 (M. Sc.), personality-Typen klassifiziert werden kön- (Coping) nach Koolhaas et al. (1999) und Christian Nawroth1 (Dr. agr.), nen (z. B. Kälber [Graunke et al., 2013] Korte et al. (2005). Dieses Konzept basiert Jan Langbein1 (Dr. rer.nat.) und Schweine [Zebunke et al., 2015]). auf der individuellen Verhaltensreaktion ei- Institut für Verhaltensphysiologie, 1 Personality setzt sich aus verschiedenen nes Tieres, um den Effekt von aversiven Rei- Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), Persönlichkeitsfaktoren zusammen: In der zen zu vermindern (Cannon, 1929; Korte Wilhelm-Stahl-Allee 2, Humanpsychologie sind diese durch das et al., 2005). Coping ist ebenfalls Teil des 18196 Dummerstorf, Deutschland „Fünf-Faktoren-Model“ oder auch die „gro- Gesamtkonzepts personality und einige ßen Fünf“ wie extraversion (Extraversion), Studien haben einen Zusammenhang zwi- Professur für Verhaltenskunde, 2 agreeableness (Verträglichkeit), conscien- schen Coping Typen und personality ge- Agrar- und Umweltwissenschaftliche tiousness (Gewissenhaftigkeit), neuroticism funden. Proaktive Individuen zeichnen sich Fakultät, (Neurotizismus), und openness (Offenheit) durch eine hohe Aggressivität gegenüber Universität Rostock, (John & Srivastava, 1999) beschrieben. In Artgenossen, dominantes Verhalten und Justus-von-Liebig-Weg 8 den letzten Jahrzehnten haben sich diese eine höhere Risikobereitschaft aus. Zudem 18059 Rostock, Deutschland “großen Fünf” auch in der Ethologie eta- explorieren proaktive Tiere mehr und sind in marie-antonine.finkemeier@uni-rostock.de bliert. Die dort gemessenen äquivalenten der Regel aktiver und furchtloser (Carere et nawroth@fbn-dummerstorf.de Faktoren sind exploration, sociability, ac- al., 2005; Verbeek et al., 1996). Reaktive langbein@fbn-dummerstorf.de tivity, aggressiveness, boldness (Gosling, Tiere hingegen werden als scheu, weniger 2001; Réale et al., 2007). Diese Per- explorativ und weniger aktiv beschrieben. Was ist Personality? sönlichkeitsfaktoren sind als Korrelationen Zusätzlich sind sie weniger risikobereit und Die Akzeptanz in der Bevölkerung für tier- zwischen verschiedenen Verhaltens – und zeigen eher submissives Verhalten. Tempe- gerechte Haltung ist in den letzten Jahren physiologischen Merkmalen, die über Zeit rament und Coping sind daher nicht gleich- immer mehr in den Fokus der Verbraucher und Kontext konsistent sind, definiert (Réale zusetzen mit personality sind aber beide und Politik gerückt. Allerdings ist die Tier- & Dingemanse, 2012; Réale et al., 2007; Teile des Gesamtkonzepts (Finkemeier gerechtheit von Haltungs- und Manage- Sih et al., 2004). Vor allem in der (Nutz)- et al., 2018). mentbedingungen von vielen Faktoren ab- Tierethologie werden Temperament und hängig. Nutztiere werden in ihrem Alltag personality als Synonyme benutzt, um in- Haben Ziegen personality und mit vielen technischen und sozialen Heraus- dividuelle Unterschiede im Verhalten zu wie misst man diese? forderungen wie Melkanlagen, Abruffütte- erklären (Jones & Gosling, 2005). Tempe- Personality, Temperament und Coping, rungen und Umgruppierungen konfrontiert. rament ist aber keineswegs gleichzusetzen und wie sie mit internen und/oder exter- Diese erfordern ein hohes Maß an kogniti- mit personality, sondern basiert auf frühen nen Faktoren verknüpft sind, können mit un- ven Leistungen und Bewältigungsvermögen und stabilen Prädispositionen der Verhal- terschiedlichen experimentellen Ansätzen (Coping). Individuelle Unterschiede im tensreaktion eines Individuums auf Umwelt- untersucht werden. Zu wissen, welchen Verhalten, welche vielfach als personality einflüsse. Diese Prädispositionen sind meist personality-Faktor oder welche Variable bezeichnet werden und vererbbar sind, genetisch verankert und werden daher man mit einem bestimmten experimentellen sind immer mehr in den Fokus gerückt, da als frühe Verhaltenstendenzen angesehen. Design misst (z. B. Exploration mit einem Tabelle 1: Übersicht über die verschiedenen Begriffe in der personality Forschung und deren Definitionen. Begriff Definition Basiert auf der individuellen Verhaltensreaktion (aktiv vs. passiv) eines Tieres, um den Effekt von aversiven Reizen zu vermindern: Coping Style Kampf — Flucht Annäherung — Vermeidung Mutig — Schüchtern Basiert auf frühen und stabilen Prädispositionen der Verhaltensreaktionen eines Individuums Temperament auf Umwelteinflüsse. Diese Prädispositionen sind meist genetisch verankert. Sie werden daher als frühe Verhaltenstendenzen angesehen und sind daher als Fundament für personality definiert. Basiert auf 5 Faktoren (extraversion, agreeableness, conscientiousness, neuroticism, openness), Personality dessen verschiedene Verhaltens- und physiologischen Merkmale korrelieren und die über die Zeit und Situationen konsistent sind. 6 I
Abbildung 1: Links: Zwergziege im Open-Field Test. Rechts: Zwergziege im Novel-Object Test. © M.-A. Finkemeier Open-Field Test (OF), welcher das Ver- Minuten wurden im OF-Test Verhaltenswei- Diese HK wurde als „Aktivität“ klassifiziert. halten in einer unbekannten Arena misst; sen wie z. B. die „Dauer der Aktivität“, Aus der HKA aus Testphase 2 ergaben sich Furchtlosigkeit mit einem Novel-Object Test „Dauer des Aufrichtens“, „Dauer des Auf- ebenfalls zwei HK‘s, die mit den Haupt- (NO), in welchem dem Tier ein unbekann- enthaltes in Ecksegmenten“ und „Dauer des komponenten aus Testphase 1 überein- tes Objekt präsentiert wird), ist eines der Aufenthaltes in Innensegmenten“ gemes- stimmten. Um die zeitliche Konsistenz der Hauptprobleme in der personality-For- sen. Die Reaktion gegenüber einem un- personality-Typen zu überprüfen, wurden schung. Murphy et al. (2014) haben in bekannten Objekt wurde mit Hilfe des Korrelationen zwischen den Hauptkompo- ihrem Review die wichtigsten Vorausset- NO-Tests mit denselben Startbedingungen nenten aus den zwei HKA‘s berechnet. zungen eines Experiments identifiziert, um und derselben Dauer wie im OF-Test, ge- Dabei ergab sich, dass sowohl HK 1a und personality von Nutztieren zu untersuchen: messen. Beide Tests wurden innerhalb von HK 2a als auch HK 1b und HK 2b signifi- Das Experiment sollte dem Fokustier die zwei Wochen zwei Mal durchgeführt kant miteinander korrelierten. Möglichkeit bieten, seine artbezogenen (Testphasen). Im NO-Test wurden ein Ver- Trägt man nun die tierindividuellen Scores emotionsbasierten Verhaltensweisen zu zei- kehrskegel und für die Testwiederholung ein in HK1 gegeneinander auf, erhält man ein gen; zudem sollte eine gewisse Standardi- Medizinball als unbekanntes Objekt ge- Diagramm mit vier Quadranten (Abb. 2). sierung der Testsituationen auch aufgrund nutzt. Gemessen wurden Verhaltensweisen 25 Tiere konnten als reaktiv (wenig spezies-spezifischer Verhaltensweisen be- wie z. B. die „Latenz bis zum ersten Kon- furchtlos und wenig aktiv, Q4 in Abb. 2) rücksichtigt werden. takt“, „Anzahl an Kontakten“, „Dauer der und 30 Tiere als proaktiv (furchtlos und Kontakte“, „Dauer der Aktivität“, „Anzahl Personality-Forschung bei Nutztieren steht aktiv, Q2 in Abb. 2) eingestuft werden. Vokalisationen“, „Dauer des Aufrichtens“ im Vergleich zur Forschung am Menschen Die restlichen Tiere wurden als intermedi- und „Dauer des Aufenthaltes in Segmenten oder an Labortieren noch am Anfang. Spe- är bezeichnet (Q1 und Q3 in Abb. 2). In in der Nähe des Objekts“ (Abb. 1). ziell hierbei könnten Ziegen ein gutes Mo- Testphase zwei konnten 15 von 30 Ziegen delltier (für wiederkäuende Nutztiere) dar- Zur Bestimmung des personality-Typs wur- (ca. 50 %) als konsistent proaktiv (Quadrate stellen. Eine aktuelle Studie zum Bespiel de pro Testphase eine Hauptkomponenten- in Q2 in Abb. 3) und 17 von 25 (ca. 68 %) untersuchte das Verhalten westafrikanischer analyse (HKA) gerechnet. Da während der als konsistent reaktiv eingestuft werden Zwergziegen in einem wiederholten Open- Tests viele Parameter gemessen werden, (Dreiecke in Q4 in Abb. 3). Allerdings zei- Field und Novel-Object Test (Finkemeier et die zum Teil auch miteinander korrelieren, gen die Ergebnisse auch, dass der Großteil al. in prep.). Diese Tests sind in der Ver- lässt sich mit einer HKA die Anzahl die- von den als proaktiv und reaktiv eingestuf- haltensforschung seit Jahrzehnten etabliert ser reduzieren und zu einer Komponente ten Tiere in Testphase 1 bei der Testwie- und gehören zu den gängigen Untersu- zusammenfassen. Für die HKA wurden derholung in den intermediären Bereich chungsmethoden in der (Nutz)tierethologie. jeweils elf Verhaltensweisen aus dem OF- abdriften (Quadrate und Dreiecke in Q1 Ziel dieser Untersuchung war es, die ge- und NO-Test ausgewählt. Anschließend + Q3 in Abb. 3). Sechs Individuen wech- eigneten Tests und Verhaltensweisen zu fin- wurde für jedes Tier jeweils für jede Haupt- seln von Testphase 1 zu Testphase 2 sogar den, um personality bei westafrikanischen komponente (HK) ein individueller Score den Extremtyp: Fünf Individuen von proaktiv Zwergziegen zu untersuchen und somit berechnet, der als Basis für die Einteilung zu reaktiv (Quadrate in Q4 in Abb. 3) und personality-Typen zu ermitteln. Diese sollen der personality-Typen diente. ein Individuum von reaktiv zu proaktiv in Zukunft als Basis dafür dienen, weitere (Dreieck in Q4 in Abb. 3). Aus der HKA aus Testphase 1 ergaben sich Zusammenhänge von personality, physiolo- zwei Hauptkomponenten. In HK 1a fanden Die Untersuchung zeigt, dass es mit Hilfe gischen Parametern und kognitiven Leistun- sich vier Verhaltensweisen, die Verhalten im des OF- und NO-Tests möglich ist, etwa gen bei Zwergziegen zu verstehen. Kontext des unbekannten Objekts beschrei- 50 % der getesteten Westafrikanischen Das Verhalten der Zwergziegen wurde ben. Diese HK wurde als „Furchtlosigkeit“ Zwergziegen basierend auf aktivem und in dieser Untersuchung in einer speziel- klassifiziert. In HK 1b fand sich jeweils eine furchtlosem Verhalten dem reaktiven bzw. len Verhaltensarena gemessen. Über fünf Verhaltensweise aus dem OF- und NO-Test. proaktiven personality-Typen zuzuordnen. AUS DEM FORSCHERBÜRO I 7
AUS DEM FORSCHERBÜRO Abbildung 2: Individuelle Scores aller Ziegen (N =108) aus Abbildung 3: Individuelle Scores aller Ziegen (N =108) basierend OF- und NO-Test aus Testphase 1 basierend auf HK 1a und HK 1b auf HK 2a und HK 2b aus OF- und NO-Test aus Testphase 2. gegeneinander aufgetragen. Die vier Quadranten wurden entspre- Quadrate in Q2 zeigen die Tiere, die über beide Testphasen chend der positiven oder negativen Ausprägung der beiden HK’s konsistent proaktives Verhalten zeigen. Dreiecke in Q4 zeigen wie folgt definiert: Q4 (Dreiecke) = reaktiv, Q1 + Q3 (Punkte) = die Tiere, die über beide Testphasen konsistent reaktives Verhalten intermediär, Q2 (Quadrate) = proaktiv (Finkemeier et al., in prep.) zeigen. Punkte zeigen die Tiere, die intermediäres Verhalten zeigen (Finkemeier et al., in prep.). Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass der gen schnelle Erkunder eher innere Routinen personality und Lernfähigkeit miteinander Anteil der Tiere, der zeitlich stabil demsel- abrufen (Verbeek et al., 1996). Das macht assoziiert sind, sich die Ausrichtung dieser ben personality-Typen zugeordnet werden letztere gut im Erschließen von ähnlichen Assoziation jedoch sehr variabel gestalten kann, deutlich darunter liegt (ca. 30 %). Nahrungsquellen, wohingegen langsame kann (Dougherty & Guillette, 2018). Diese Ergebnisse decken sich einerseits Erkunder besser darin sind, neue Umwelt- Bisher gibt es erst eine Arbeit, welche sich weitgehend mit Untersuchungen an Kälbern reize in ihr Verhalten zu integrieren und sich mit dem Zusammenhang zwischen kog- (ca. 21 %; Graunke et al., 2013) und somit besser wechselnden Umgebungen nitiven Fähigkeiten und personality bei Ferkeln (ca. 34 %; Zebunke et al., 2015), anpassen können (Guillette et al., 2011). Ziegen befasst (Nawroth et al., 2017). sowie mit theoretischen Modellen bezüg- Diese Unterschiede im Nutzen von Umwelt- In dieser Arbeit wurden exploration- und lich der Verteilung von personality-Typen reizen können damit einen Erklärungsan- sociability-Scores von Ziegen auf einem in wildlebenden Populationen (Dall et al. satz liefern, wie sich personality auf die Gnadenhof über einige der oben genann- 2004). Innerhalb einer Ziegenpopulation Lernfähigkeit oder auch auf andere kogni- ten Tests bestimmt. Zudem wurden die Tiere gibt es demnach Individuen, die über die tive Fähigkeiten auswirken kann. mit zwei weiteren Aufgaben konfrontiert: Zeit (hier zumindest kurzfristig) konsistent Der Zusammenhang zwischen verschiede- Zuerst mussten sie eine visuelle Diskrimi- einem personality-Typ zugeordnet werden nen personality-Typen und der Lernfähig- nierungsaufgabe meistern. Hierbei mussten können, aber auch Individuen, die flexibel keit wird ebenso von Studien zum Umkehr- sie lernen, dass entweder ein schwarzer auf Umwelteinflüsse reagieren, was für das lernen unterstützt. Beim Umkehrlernen müs- oder ein weißer Becher immer eine Be- Überleben einer Population von Vorteil ist. sen Individuen erst eine Lernaufgabe lösen, lohnung für sie bereithält (Abbildung 4). in welcher einer von zwei Stimuli belohnt Am Ende wurde ein Ranking der Lernleis- Wie wirkt sich personality auf wird. Bei einer folgenden Umkehrlernauf- tung erstellt, wobei der schnellste Lerner kognitive Fähigkeiten aus? gabe wird der belohnte Stimulus mit dem mit ‚1‘ gekennzeichnet wurde, der zweit- In den letzten Jahren untersuchten vermehrt vorher nicht belohnten Stimulus vertauscht. schnellste mit ‚2‘, usw. Nach dieser Lern- Arbeiten, inwiefern sich personality auch Es zeigte sich, dass schnelle Erkunder aufgabe wurden sie mit einer kognitiven auf die Varianz in kognitiven Fähigkeiten schneller sind im Lernen der anfänglichen Aufgabe konfrontiert. In dieser sahen sie sowie der Verhaltensflexibilität auswirkt. Diskriminierungsaufgabe (Benus et al., wie eine Belohnung in einem von zwei Be- Es wird angenommen, dass unterschied- 1987; Guillette et al., 2009), aber lang- hältern verschwindet, und dann beide Be- liche personality-Typen (z. B. Tiere, welche samere Erkunder in der folgenden Umkehr- hälter vertauscht wurden. Es sollte heraus- neue Umgebungen schnell oder langsam aufgabe besser abschneiden (Bolhuis et gefunden werden, ob die Tiere der Bewe- erkunden) Umweltreizen unterschiedlich viel al., 2004; Guillette et al., 2011). Jedoch gung der nun nicht mehr sichtbaren Beloh- Aufmerksamkeit beimessen und personality gib es auch Studien, welche keinen Einfluss nung folgen können – eine mentale Leis- somit das Verhalten der Tiere beeinflussen des personality-Typs auf das Lernverhalten tung, welche man als Objektpermanenz kann (Carere and Locurto, 2011). Bei Kohl- fanden (Bebus et al., 2016) oder sogar bezeichnet. Die Ergebnisse zeigten, dass meisen zum Beispiel hat man gefunden, gegenteilige Ergebnisse lieferten (Bousquet bestimmte personality-Typen unterschied- dass langsame Erkunder schneller auf neue et al., 2015). Ein aktueller Übersichtsar- lich in beiden Aufgaben abschlossen: externe Umweltreize reagieren, wohinge- tikel kam deshalb zu dem Schluss, dass Ziegen, welche sozialere Eigenschaften 8 I
Abbildung 4: Ziegen mussten in einer visuellen Diskriminierungsauf- gabe lernen, dass entweder immer der schwarze oder der weiße Behälter eine Belohnung enthielt (Nawroth et al. 2017). zeigten, schnitten schlechter in der Diskrimi- Welche nierungsaufgabe ab. Ziegen die stärker praktischen explorativ waren, schnitten schlechter in Konsequenzen der kognitiven Aufgabe ab (Abbildung 5). müssen wir Es ist möglich, dass sozialere Tiere stärker ziehen? durch die kurzzeitige Isolation während Individuelle Verhaltens- des Tests gestresst waren und sich des- unterschiede (persona- halb weniger auf die Diskriminierungs- lity) bei Nutztieren zu aufgabe fokussieren konnten. In der kogni- erfassen ist von großer (Foto: I. Hauswirth) tiven Aufgabe könnten leichte Ablenkun- Bedeutung für die gen schon zu einer falschen Entscheidung Nutztierforschung, da diese mehr und mehr et al., 2011). Personality bei Nutztieren führen – die Becher sahen identisch aus daran interessiert ist zu untersuchen, wie hat daher wohl nicht nur einen Einfluss auf und wurden relativ schnell bewegt: weni- neben der Gruppe als Ganzes insbe- deren Wohlbefinden, sondern kann sich ger explorative Tiere könnten hier verstärkt sondere das einzelne Individuum auf die auch auf ökonomische Faktoren für Landwir- auf sich ändernde Umweltreize, sprich: Haltungsumwelt und das Management te auswirken (Clark et al., 2017). Persona- die Bewegung der Becher, geachtet haben reagiert. In der personalisierten Human- lity bei Nutztieren besser zu verstehen sollte und somit aus diesem Grund besser abge- medizin hat sich zudem herausgestellt, dass daher allgemein mehr Berücksichtigung schnitten haben. personality einen Einfluss auf die Wir- finden, da hierdurch das Management, kung bestimmter Pharmaka hat (Boersma die Haltung, der direkte Umgang mit dem Abbildung 5: Links: Ziegen mit hohen sociability-Scores waren schlechter in der visuellen Diskriminierungsaufgabe (schnelle Lerner haben hier einen niedrigen Rang, schlechte Lerner einen hohen). Rechts: Ziegen mit hohem exploration-Score waren schlechter in der kognitiven Aufgabe, in welcher eine Belohnung in einem von zwei Behältern versteckt wurde und daraufhin beide Behälter die Position tauschten (Nawroth et al., 2017). Die gestrichelte Linie deutet eine Wahl auf Zufallsniveau (50 % korrekt) an. AUS DEM FORSCHERBÜRO I 9
AUS DEM FORSCHERBÜRO Eigene Publikationen Finkemeier M-A, Oesterwind S, Nürnberg G, Puppe B, Langbein J, in preparation. Assessment of consistent personality types in Nigerian dwarf goats (Capra hircus). Finkemeier M-A, Langbein J, Puppe B, 2018. Personality Research in Mammalian Farm Animals: Concepts, Measures, and Re- lationship to Welfare. Frontiers of Veterinary Science 5:131. Graunke KL, Nürnberg G, Repsilber D, Puppe B, Langbein J, 2013. Describing Tem- perament in an Ungulate: A Multidimensio- nal Approach. PloS ONE 8, 1–12. Nawroth C, Prentice PM, McElligott AG, Abbildung 6: Persönlichkeit beeinflusst direkt Verhalten und Physiologie und somit das Wohl- 2017. Individual personality differences in befinden eines Nutztieres. Wie in einem Feedback-System beeinflusst das Wohlbefinden goats predict their performance in visual somit auch Verhalten und Physiologie. Verhalten und Physiologie beeinflussen sich zudem learning and non-associative cognitive tasks. auch gegenseitig. Die Domestikation beeinflusst die Zucht, welche ebenfalls Verhalten und Behavioural Processes 134, 43–53. Physiologie beeinflussen kann und von diesen beeinflusst wird. Zebunke M, Repsilber D, Nürnberg G, Tier, die Zucht (z. B. werden Verhaltensunter- kann sich über erhöhte Kortisolwerte auch Wittenburg D, Puppe B, 2015. The backtest schiede beim Melken für Zucht-Indices in auf deren Fleischqualität auswirken (Boles in pigs revisited – An analysis of intra-situati- Großbritannien und Norwegen schon et al., 2015). Bei Milchkühen fand man onal behaviour. Applied Animal Behaviour berücksichtigt (Gibbons, 2009)) und tier- heraus, dass personality einen Einfluss auf Science 169, 17–25. medizinische Behandlungen effizienter wer- Verhalten und Physiologie während des den können (Dawkins, 1998). Abbildung 6 Melkens hatte (Sutherland et al., 2012). Weitere Literaturangaben verdeutlicht den Einfluss von personality Bebus SE, Small TW, Jones BC, Elderbrock auf das Tierwohl: Personality kann sich EK, Schoech SJ, 2016. Associative learning direkt auf das Verhalten und die Physio- is inversely related to reversal learning and logie von Nutztieren auswirken, während varies with nestling corticosterone exposure. Take Home Message umgekehrt das Tierwohl (individuelles Animal Behaviour 111, 251–260. Wohlbefinden) ebenfalls Einfluss auf beide Benus RF, Koolhaas JM, van Oortmerssen Das Verhalten von Nutztieren ist in ver- Faktoren hat. Zudem kann sich das Tier- GA, 1987. Individual differences in behavi- schiedenen Funktionsbereichen nicht verhalten auf die Physiologie auswirken und oural reaction to a changing environment in nur zwischen verschiedenen Arten umgekehrt. mice and rats. Behaviour 100, 105–121. und Rassen deutlich unterschiedlich, Bei Zootieren haben Studien gezeigt, dass sondern z. B. auch zwischen den Indi- Boersma GJ, Benthem L, van Beek AP, van Tierpfleger in der Lage sind, reliabel perso- viduen innerhalb einer Rasse. Perso- Dijk G, Scheurink AJW, 2011. Personality, nality-Scores ihrer Tiere zu erstellen, und nality oder Temperament sind mittler- a key factor in personalized medicine? Euro- dass diese Einschätzungen, wenn sie in weile anerkannte Begriffskategorien pean Journal of Pharmacololgy 667, 23–25 das Management der Tiere einfließen, das zur Beschreibung von über die Zeit Tierwohl der Zootiere verbessern (Tetley & und den Verhaltenskontext hinweg Boles JA, Kohlbeck KS, Meyers MC, O’Hara, 2012). Ähnliches könnte auch bei konsistenten Verhaltenstendenzen bei Perz KA, Davis KC, Thomson JM, 2015. Nutztieren angewandt werden, da deren Nutztieren. Diese tierindividuellen The use of blood lactate concentration as individuelle Verhaltensunterschiede ebenso Unterschiede im Verhalten sollten bei an indicator of temperament and its impact als Mittel zum Messen ihres Wohlbefindens der Beruteilung von Tierwohl in der on growth rate and tenderness of steaks from genutzt werden können. Weiterhin könnten Zukunft stärker berücksichtigt wer- Simmental × Angus steers. Meat Science Nutztiere, welche weniger gut an ihre Um- den. Da personality aber auch einen 103, 68–74. welt angepasst sind, Produktivitätseinbußen Einfluss darauf hat, wie das Tier mit Bolhuis JE, Schouten WG, Leeuw JA, nach sich ziehen (Burrow & Dillon, 1997, seiner Umwelt interagiert und diese Schrama JW, Wiegant VM, 2004. Individu- Voisinet et al., 1997). Studien haben ge- wahrnimmt, können Untersuchungen al coping characteristics, rearing conditions zeigt, dass personality einen Einfluss auf zu personality deshalb dazu beitra- and behavioural flexibility in pigs. Behaviou- Produktionsmerkmale, wie Fleischqualität gen, dass Haltungsbedingungen und ral Brain Research 152, 351–360. und Milchleistung, haben kann (Hedlund Management von Nutztieren besser & Løvlie, 2015). Individuelle Verhaltens- an individuelle Bedürfnisse angepasst Bousquet CH, Petit O, Arrivé M, Robin J-P, unterschiede in Stresssituationen bei Stieren werden kann. Sueur C, 2015. Personality tests predict res- ponses to a spatial-learning task in mallards, 10 I
Anas platyrhynchos. Animal Behaviour 110, Guillette LM, Reddon AR, Hoeschele M, Tetley CL, O’Hara SJ, 2012. Ratings of ani- 145–154. Sturdy CB, 2011. Sometimes slower is bet- mal personality as a tool for improving the ter: slow-exploring birds are more sensitive breeding management and welfare of zoo Burrow HM, Dillon RD, 1997. Relation- to changes in a vocal discrimination task. animals. Animal Welfare 21, 463–76. ship between temperament and growth in Proceedings of the Royal Society B: Biolo- a feedlot and commercial carcass traits in Sutherland MA, Rogers AR, Verkerk GA, gical Sciences 278, 767–773. Bos indicus crossbreeds. Australien Journal 2012. The effect of temperament and res- of Experimental Agriculture. 37, 407–11. Hedlund L, Løvlie H, 2015. Personality and ponsiveness towards humans on the behavior, production: Nervous cows produce less milk. physiology and milk production of multi- Buss AH, 1987. Personality: primate herita- Journal of Dairy Science, 98, 5819–5828. parous dairy cows in a familiar and novel ge and human distinctiveness. In: Aronoff, J., milking environment. Physiology & Behavior Rabin, A. (Eds.), Emergence of Personality. John OP, Srivastava S, 1999. The Big Five 107, 329–37. Springer Publishing Co., New York, NY, trait taxonomy: history, measurement and pp. 57–101. theoretical perspectives. Handbook of per- Verbeek MEM, Boon A, Drent PJ, 1996. sonality: theory and research. New York: Exploration, aggressive behavior and domi- Cannon WB, 1929. Bodily changes in pain, Guilford, 102–138. nance in pair-wise confrontations of juvenile hunger, fear and rage. Appleton, New York male great tits. Behaviour 113, 945–63. Jones AC, Gosling SD, 2005. Temperament Carere C, Drent PJ, Privitera L, Koolhaas and personality in dogs (Canis familiaris): A Voisinet BD, Grandin T, Tatum JD, O’Connor JM, Groothuis TGG, 2005. Personalities in review and evaluation of past research. Ap- SF, Struthers JJ, 1997. Feedlot cattle with great tits, Parus mayor: stability and con- plied Animal Behaviour Science. 95, 1–53. calm temperaments have higher average sistency. Animal Behaviour 70: 795–805 daily gains than cattle with excitable tem- Koolhaas JM, Korte SM, De Boer SF, Van Carere C, Locurto C, 2011. Interaction peraments. Journal of Animal Science 75, Der Vegt BJ, Van Reenen CG, Hopster H, between animal personality and animal 892–6. De Jong IC, Ruis MAW, Blokhuis HJ, 1999. cognition. Current Zoology 57, 491–498. Coping styles in animals: current status in be- Wechsler B, 1995. Coping and coping stra- Clark B, Stewart GB, Panzone LA, Kyriaza- haviour and stress-physiology. Neuroscience tegies: a behavioural view. Applied Animal kis I, Frewer LJ, 2017. Citizens, consumers & Biobehavioral Reviews 23, 925–935. Behaviour Science 43, 123–134. and farm animal welfare: A meta-analysis of Korte SM, Koolhaas JM, Wingfield JC, willingness-to-pay studies. Food Policy 68, McEwen BS, 2005. The Darwinian concept 112–127. of stress: benefits of allostasis and costs of Dawkins MS, 1998. Evolution and animal allostatic load and the trade-offs in health welfare. The Quarterly Review of Biology. and disease. Neuroscience & Biobehavioral 73, 305–28. Reviews 29, 3–38 D’Eath RB, Rohe R, Turner SP, Ison SH, McCrae RR, Costa JR, Paul T, Ostendorf F, Farish M, Jack MC, Lawrence AB, 2009. Angleitner A, Hrebíckovà M, Avia MD, Genetics of animal temperament: aggressive Sanz J, Sánchez-Bernardos ML, Kusdil ME, behaviour at mixing is genetically associated Woodfield R, Saunders PR, Smith PB, 2000. with the response to handling in pigs. Animal Nature over nurture: Temperament, perso- 3, 1544–1554. nality and life span development. Journal of Personality and Social Psychology 78, Dougherty LR, Guillette LM, 2018. Linking 173–186 personality and cognition: a meta-analysis. Philosophical Transactions of the Royal Socie- Murphy E, Nordquist RE, van der Staay FJ, ty B: Biological Sciences 373, 20170282. 2014. A review of behavioural methods to study emotion and mood in pigs, Sus scrofa. Gibbons J, 2009. The Effect of Selecting Applied Animal Behaviour Science 159, for “Robustness” on Temperament in Dairy 9–28. Cows. PhD – Thesis, The University of Edin- burgh. Réale D, Dingemanse NJ, 2012. Animal personality. In: eLS. Wiley. Gosling SD, 2001. From mice to men: What we can learn about personality from ani- Réale D, Reader SM, Sol D, McDougall PT, mal research? Psychological Bulletin 127, Dingemanse NJ, 2007. Integrating animal 45–86. temperament within ecology and evolution. Biological Reviews of the Cambridge Philo- Guillette LM, Reddon AR, Hurd PL, Sturdy sophical Society 82, 291–318. CB, 2009. Exploration of a novelspace is associated with individual differences in Sih A, Bell A, Chadwick Johnson J, 2004. learning speed inblack-capped chickadees, Behavioural syndromes: an ecological and Poecile atricapillus. Behavioural Processes evolutionary overview. Trends in Ecology 82, 265–270. and Evolution 19, 372–378. AUS DEM FORSCHERBÜRO I 11
AUS DEM FORSCHERBÜRO reaktive Strategie als vorteilhafter. Solche und der Versuch sich zurückzudrehen, gilt Gibt es individuelle Individuen reagieren flexibel, sie achten dabei als Maß für proaktives bzw. reak- Strategien im Umgang auf jedes Detail und gehen kaum Risiken tives Verhalten in dieser Stresssituation. Es ein. Außerdem agieren sie eher pro-sozial, folgten zahlreiche Studien mit mehr oder mit Stress? – was den Anschluss an eine neue Gruppe weniger eindeutigen Ergebnissen, aber Untersuchungen erleichtert. Diese Erkenntnisse spielen in auch erhebliche Kritik an dem Konzept zum Coping-Verhalten der Nutztierhaltung eine bedeutende Rolle, wurde geäußert. Jensen (1995) stellte klar, beim Schwein da sich die Tiere, basierend auf ihren indi- dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein viduellen Verhaltensstrategien, unterschied- müssten, damit ein gemessenes Verhalten Manuela Zebunke1 (Dr. rer. nat.), lich gut an moderne Haltungs- und Manage- als Strategie angesehen werden kann. Annika Krause2 (Dipl. biol.), mentsysteme anpassen können. Diese An- 1. Die Häufigkeitsverteilung des gemesse- Jan Langbein3 (Dr. rer. nat.), passungsfähigkeit beeinflusst letztendlich nen Merkmals muss zweigipflig sein, d. h. Birger Puppe4 (Prof. Dr. rer. nat. habil.) das Wohlbefinden der Tiere, das sich aus das proaktive und das reaktive Verhalten dem individuellen Prozess der ethologi- Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), müssen deutlich häufiger vorkommen als schen und physiologischen Adaptation bei Institut für Verhaltensphysiologie, ein mittleres Verhalten, der Bewältigung von Umweltherausforde- Wilhelm-Stahl-Allee 2, rungen und den dabei gemachten subjek- 2. das Verhalten muss zeitlich stabil, also 18196 Dummerstorf, Deutschland, tiven Erfahrungen und emotionalen Bewer- wiederholbar sein, 1 zebunke@fbn-dummerstorf.de, tungen ergibt (Puppe et al., 2012). 2 krause@fbn-dummerstorf.de, 3. in anderen stressigen Situationen muss 3 langbein@fbn-dummerstorf.de, sich die gleiche Tendenz, also proaktives Wie kann man Stress-Bewälti- 4 puppe@fbn-dummerstorf.de oder reaktives Verhalten zeigen und gungs-Strategien messen? Auf verschiedenste Art und Weise wurde 4. das Verhalten muss vererbbar sein, also Hintergrund eine genetische Grundlage besitzen. Die bislang Coping-Verhalten bei Tieren unter- Sowohl beim Menschen als auch bei Tie- sucht. Im Nutztierbereich war der Fokus Ergebnisse in verschiedenen Studien zum ren werden individuelle Eigenschaften, die dabei neben Hühnern vor allem auf Schwei- Verhalten von Schweinen im Backtest wa- über die Zeit hinweg und in verschiedens- ne gerichtet. 1993 stellte Hessing et al. ren zwiespältig. In eigenen Studien haben ten Situationen stabil sind, zur Beschrei- (1993) den Backtest vor, der, bei Saug- wir an einer vergleichsweise großen Stich- bung der Persönlichkeit verwendet (Réale ferkeln angewendet, Aussagen treffen soll probe (n = 3555) untersucht, ob das Ver- et al., 2007). Als spezieller Ansatz im über die Coping-Strategie von Schweinen. halten von Schweinen im Backtest, ge- Persönlichkeitskonzept gilt das sogenannte Dabei werden die Tiere auf den Rücken mäß den oben genannten Bedingungen, „Coping“ (Finkemeier et al., 2018), was gedreht und für 1 Minute in dieser Position Coping-Strategien entspricht. Gleich die so viel bedeutet wie Bewältigung und zwar gehalten (Abbildung 1). Das Ausmaß der erste Bedingung konnte nicht erfüllt werden. insbesondere die Bewältigung von unan- Abwehrbewegungen, d. h. das Strampeln Die Häufigkeitsverteilung des Verhaltens genehmen Situationen, die Stress auslösen im Backtest folgte einer eingipfligen (Koolhaas et al., 1999). In verschiedensten Studien an Menschen und Tieren konnte gezeigt werden, dass zwei Coping-Typen bzw. -Strategien existieren, proaktiv und reaktiv. Die proaktive Strategie zeigt sich in klassischen aktiven Kampf-oder-Flucht- Verhaltensweisen, wie erhöhte Aktivität, Aggressivität sowie wagemutigem und ris- kantem Verhalten. Die reaktive Strategie hin- gegen drückt sich in Schutz-und-Rückzugs- Verhaltensweisen aus. Die Individuen sind weniger aggressiv, aber scheu und vorsichtig. Beide Strategien haben evolu- tionäre Vorteile, vor allem im Kontext ver- schiedener Umweltbedingungen. In einer stabilen, vorhersehbaren Umwelt ist die aktive Strategie vorteilhaft. Individuen mit einer aktiven Bewältigungsstrategie bilden leicht Routinen aus und sind weniger flexi- bel, Bedrohungen werden aktiv angegan- gen und riskantes Verhalten führt oft zum Erfolg. Bei einer sich ändernden Umwelt, Abbildung 1: Schwein während des Backtests. Das Ausmaß der Abwehrbewegungen, d.h. z. B. durch Abwanderung oder klimatische das Strampeln und der Versuch sich zurückzudrehen, gilt dabei als Maß für proaktives bzw. Änderungen, erweist sich hingegen die reaktives Verhalten in dieser Stresssituation (Foto: A, Krause). 12 I
Verteilung (Abbildung 2, Zebunke et al., 2015). Allerdings argumentieren andere Autoren, dass Temperament- bzw. Persön- lichkeitsmerkmale selten zweigipflig verteilt sind, sondern ein Kontinuum zwischen zwei Extremen bilden, in diesem Fall pro- aktivem und reaktivem Coping-Verhalten (Janczak et al., 2003; Réale et al., 2007). Die zweite Bedingung konnte auch nur teil- weise erfüllt werden, denn die Wiederhol- barkeit des Backtests erwies sich lediglich als moderat. Ein spezieller statistischer Test hingegen zeigte, dass das Verhalten der Tiere im Backtest auch nicht zufällig war (Abbildung 3). Somit war das Verhalten so- wohl stabil als auch flexibel, wahrschein- lich bedingt durch Umweltfaktoren und entwicklungsbedingte Anpassung, was für die Tiere evolutionär gesehen von Vorteil Abbildung 2: Häufigkeitsverteilung der Dauer der Abwehrbewegungen im wiederholten sein dürfte. Um die dritte Bedingung zu Backtest. Daten (n = 3555) aus Zebunke et al. (2015). testen, wurden die Schweine mit anderen Abbildung 3: Eine Resampling-Analyse, d. h. die zufällige Verteilung der gemessenen Daten über die Tiere und Backtest-Wiederholungen, zeigt, dass die aus den Originaldaten berechnete Wiederholbarkeit deutlich höher ist als die aus den zufällig verteilten Daten berechnete Wiederholbarkeit. Daten aus Zebunke et al. (2015). Abbildung 4: Heat-Map über die Korrelation von Backtest-Verhalten mit Verhalten in anderen Situationen (d.h., Sozialverhalten, Verhaltens- Tests in der Gruppe, individueller Verhaltenstest). Rot-Töne = positive Korrelation, Blau-Töne = negative Korrelation, *** = p < 0,001, ** = p < 0,01, * = p < 0,05, † = p < 0,1. Daten aus Zebunke et al. (2017). AUS DEM FORSCHERBÜRO I 13
AUS DEM FORSCHERBÜRO Tabelle 1: Heritabilität/Vererbbarkeit des gemessenen Abwehr-Verhaltens während des Backtests. Parameter Messung 1 Messung 2 Messung 3 Messung 4 Messung 5 Latenz 0,17 0,16 0,16 0,21 0,17 Dauer 0,33 0,34 0,27 0,31 0,27 Häufigkeit 0,28 0,25 0,23 0,26 0,24 Abwehr 0,24 0,32 0,25 0,21 0,43 ja/nein Stresssituationen konfrontiert, z. B. einem verwendeten Methoden zur Klassifikation chische, neurophysiologische Prozesse im unbekannten Menschen in der Haltungs- der Coping-Typen sein. Daher haben wir Gehirn in Gang, die die Aktivität des auto- bucht (human approach test) und einem systematisch untersucht, welche Methode nomen Nervensystems (ANS) beeinflussen unbekannten Raum, in dem sie alleine am besten geeignet ist, um Schweine (Lazarus, 1993; Koolhaas et al., 1999). waren (open field bzw. arena test). Hier auf Basis eines wiederholten Backtests in Hier spielen vor allem individuelle Unter- erwiesen sich die proaktiven Tiere als wa- Coping-Typen zu klassifizieren (Zebunke schiede in der Stressreaktivität eine ent- gemutiger (gegenüber dem Menschen) et al., 2017). Es stellte sich heraus, dass scheidende Rolle. Die Interaktion beider und sowohl aktiver als auch erkundungs- vier Backtest-Wiederholungen im wöchent- Teile des ANS verursacht akute und länger- freudiger (im unbekannten Raum) als die lichen Abstand aussagekräftiger sind als fristige Schwankungen in Herzfrequenz reaktiven Tiere (Abbildung 4, Zebunke et zwei oder drei und dass man bei den Pa- (HR; Herzfrequenzvariabilität, HRV) und al., 2017). Dieser Zusammenhang war rametern am besten auf eine Kombination Blutdruck (BP; Blutdruckvariabilität, BPV). zwar statistisch signifikant, aber ebenfalls aus Latenz und Dauer zurückgreift. Eine Da in zahlreichen Studien die HRV als nur moderat ausgeprägt. Auch an dieser zuverlässige Klassifizierung kann letztend- Indikator für parasympathische (vagale) Stelle zeigt sich, dass man im Falle des lich der ausschlaggebende Punkt sein, ob Aktivität genutzt wird (von Borell et al., Backtest-Verhaltens von Schweinen nicht man Unterschiede zwischen Coping-Typen 2007) und sympathische Aktivität durch von einer Strategie im engeren Sinne spre- findet oder nicht. BPV widergespiegelt wird (Pagani et al., chen kann. Es hat eher den Anschein, dass 1997), können diese Parameter zur ob- das Coping-Verhalten zwar einen gewissen Auswirkungen auf physio- jektiven Erfassung von Veränderungen der Persönlichkeits-Charakter aufweist, dass logischer Ebene … sympathovagalen Balance verwendet wer- dieser aber von verschiedenen Umwelt- Externe Stressoren beeinflussen nicht nur den. Es gibt bereits erste Hinweise darauf, faktoren beeinflusst ist, z. B. der Testsitua- das individuelle Verhaltensmuster der Tiere, dass proaktive Coping-Typen eine höhere tion, dem Alter, der Gruppendynamik, etc.. sondern können auch auf physiologischer sympathische Reaktivität zeigen, während Dies wurde zusätzlich bestätigt durch die und psychologischer Ebene auf den Or- reaktives Coping mit höherer vagaler Untersuchung der Daten hinsichtlich der vier- ganismus wirken. Dabei setzen sie hierar- Reaktivität in Verbindung gebracht wird ten Bedingung. Auch die Vererbbarkeit der Verhaltensmerkmale war moderat ausge- prägt (Tabelle 1), zeigte also ebenfalls einer- seits ein Persönlichkeitsmerkmal an, aber auch Flexibilität (Zebunke et al., 2015). Dennoch sollte es möglich sein, Schweine auf Basis ihres Backtest-Verhaltens zu se- lektieren und somit divergente Linien zu erhalten. So trivial wie es klingt, einfach den Backtest durchzuführen und unter- schiedliche Coping-Typen zu bestimmen, ist es indes nicht unbedingt. Wie bereits erwähnt fanden etliche Autoren in ihren Untersuchen keine weiteren Unterschiede zwischen Schweinen, die aufgrund ih- res Backtest-Verhaltens in pro- und reaktiv eingeteilt wurden (z. B. D‘Eath and Burn, 2002; Bolhuis et al., 2004). Mögliche Abbildung 5: Schweine, denen ein Transmitter zur kontinuierlichen Erfassung von EKG Gründe für diese Diskrepanzen, könnten und Blutdruck implantiert wurde. Die kontinuierliche Erfassung dieser kardiovaskulären u. a. die unterschiedliche Anzahl der Back- Parameter lässt Rückschlüsse auf die vagale und sympathische Aktivität des autonomen test-Wiederholungen und die Vielfalt an Nervensystems zu. 14 I
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