Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
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Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen VDI-Statusreport April 2020 Bild: © Prof. Dr. med. Clemens Bulitta
Vorwort Dieser Statusreport erfasst den aktuellen Stand mikro- Der Einsatz antimikrobieller Oberflächentechnologien biologischer, biotechnologischer und werkstoffbasier- sowie ihre Wirksamkeitsprüfung sind durchaus kont- ter Verfahren für das Management hygienisch rele- roverse Themen, zu denen weltweit geforscht wird vanter Oberflächen, bewertet sie hinsichtlich der Pra- und neue Erkenntnisse entstehen. Dieser Statusreport xisrelevanz und gibt Empfehlungen für Anwender und spiegelt den aktuellen Arbeits- und Kenntnisstand ei- Hersteller. ner Arbeitsgruppe im VDI-Fachausschuss „Manage- ment hygienisch relevanter Flächen in medizinischen Als Einstieg wird ein Überblick zu Technologien und Einrichtungen“ wider, erhebt aber keinen Anspruch Prüfverfahren für Hygienemaßnahmen gegeben, bei auf Vollständigkeit. denen antimikrobielle Materialien/Substanzen, mas- sive Oberflächen und Oberflächenbeschichtungen ein- Um dem dynamischen Wissenszuwachs Rechnung zu gesetzt werden. tragen, sollen neue Erkenntnisse künftig als Fort- schreibung in den Statusreport mit aufgenommen wer- Der Statusreport ermöglicht in Abhängigkeit von der den. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, Anwendung, dem Werkstoff und Wirkstoff eine weit- dass antimikrobiell wirksame Oberflächen derzeit als gehend praxisnahe Leistungsbeurteilung der antimik- ergänzende Barriere zur Unterstützung der Flächenhy- robiellen Oberfläche zur Infektionsprävention. Auf giene (Reinigung und Desinfektion) dienen und diese Basis neuer Prüfansätze werden erste Handlungsemp- Maßnahmen nicht ersetzen. fehlungen für Hersteller und Betreiber abgeleitet, da- mit diese unter Berücksichtigung gestiegener rechtli- cher und regulatorischer Anforderungen und der Nut- zen-Risiko-Abwägung geeignete praxisrelevante Prüf- verfahren auswählen können. Düsseldorf im April 2020 Prof. Dr. med. Clemens Bulitta Prof. Dr. Dirk Höfer Vorsitzender des VDI-Fachausschusses Mitglied im VDI-Fachausschuss „Management hygienisch relevanter Flächen „Management hygienisch relevanter Flächen in medizinischen Einrichtungen“ in medizinischen Einrichtungen“ und Leiter des Autorenteams der Arbeitsgruppe www.vdi.de
Mitglieder des VDI-Fachausschusses „Management hygienisch relevanter Flächen in medizinischen Einrichtungen“ Prof. Dr. Clemens Bulitta, HS Amberg-Weiden, Institut für Medizintechnik (Vorsitzender des Fachausschusses) Dr.-Ing. Inka Dreßler, TU Braunschweig, Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz Dr. Jürgen Gebel, Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit, Universität Bonn Dr. Stefan Haas, Siemens Healthineers AG, Erlangen Dipl.-Ing. Susanne Harpel, Institut für Hygiene und Umweltmedizin, Universitätsklinikum Gießen Dipl.-Ing. Markus Heid, Canon Medical Systems GmbH, Neuss Prof. Dr. Dirk Höfer, Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Alltagskultur, Bewegung und Gesundheit Dr.-Ing. Ariane Jungmeier, Siemens Healthineers AG, Erlangen Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft, TU Berlin, Fachgebiet Medizintechnik Dr.-Ing. Ute Müller, BMP Competence GmbH, Alsdorf Dr. Klaus Ockenfeld, Deutsches Kupferinstitut e.V., Düsseldorf Nina Passoth, life sciences communications, Berlin Dipl.-Ing. Thomas Riedel, Canon Medical Systems GmbH, Neuss Dipl.-Ing. Holger Scholl, Hitachi Medical Systems Logistics and Services, Krefeld Dr. Simone Schulte, Evonik Resource Efficiency GmbH, Essen Dr. Martin Seifert, Siemens Healthineers AG, Kemnath Stefan Thal, Drägerwerk AG, Lübeck Dipl.-Ing. (FH) Marc Thanheiser, Robert Koch-Institut, Berlin Dr. Frank Wille, HYBETA GmbH, Münster Dr. Frank Wolschendorf, HTK Hygiene Technologie Kompetenzzentrum GmbH, Bamberg Autorenteam der Arbeitsgruppe Prof. Dr. Clemens Bulitta Prof. Dr. Dirk Höfer (Leiter Autorenteam) Nina Passoth Dr. Simone Schulte Dr. Martin Seifert www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 3 Inhalt Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 3 1 Zusammenfassung 4 2 Material 5 2.1 Passive Beschichtungen 6 2.2 Aktive Materialien 7 3 Wirkmechanismen antimikrobieller Substanzen 9 3.1 Antimikrobielle Wirkung passiver Oberflächen 9 3.2 Wirkmechanismen aktiver Oberflächen 10 3.2.1 Antimikrobielle Wirkung kontaktaktiver Oberflächen 10 3.2.2 Antimikrobielle Wirkung ionenfreisetzender Oberflächen 11 3.3 Ausblick auf Zukunftstechnologien 13 4 Rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen 14 5 Bewertung praxisrelevanter Prüfverfahren für Hygienemaßnahmen 16 5.1 Hintergrund 16 5.2 Grundlegender Aufbau der Prüfverfahren und Wirkprinzipien der Agenzien 16 5.3 Einstufung international üblicher (normativer) Methoden 19 5.4 Experimentelle Prüfverfahren 21 5.5 Alternative, nicht kulturelle Methoden 23 6 Fazit und Ausblick 29 www.vdi.de
4 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 1 Zusammenfassung Um das Risiko der Verbreitung von pathogenen Erre- Methoden zur Anwendung. Die Wirkmechanismen gern über Berührungsoberflächen zu verringern, wer- antimikrobieller Substanzen werden, soweit bekannt, den – neben Maßnahmen zur Standardhygiene – anti- im Report vorgestellt. Die derzeit existierenden nor- mikrobielle Technologien und Werkstoffe genutzt. In mativen Vorgaben werden jedoch den vielfältigen Abhängigkeit von der angewandten Technologie und Fragestellungen, Anforderungen bzw. Anwendungs- den chemisch-physikalischen Möglichkeiten der be- fällen vor allem aus der klinisch infektiologisch rele- teiligten Komponenten (Material, Wirkstoff, Impräg- vanten Sicht nicht voll gerecht: Es ist mit normativen nierungsverfahren) kann eine Wirksamkeit der Ober- Methoden bisher nicht möglich, den Beitrag antimik- flächen gegen diverse Mikroorganismen entweder robiell wirksamer Produkte zur Unterbrechung von durch Nutzung von massiven Materialien mit intrinsi- Infektionsketten zu bewerten oder eine Nutzen-Ri- scher antimikrobieller Eigenschaft oder durch Be- siko-Abwägung vorzunehmen, da ihr Prüfaufbau die schichtung wie auch Imprägnierung mit antimikro- Praxisanwendung nicht berücksichtigt. Dies betrifft biellen oder antiadhäsiven Stoffen erzielt werden. z. B. verschmutze Oberflächen, Austrocknung, Mischpopulationen, Umweltorganismen sowie die Die antimikrobielle Ausstattung von Oberflächen er- Ausbildung von Überdauerungsformen (z. B. viable folgt insbesondere in hygienesensiblen Bereichen. but not culturable, VBNC). Vielen Firmen ist daher Anwendungsbereiche sind vor allem Oberflächen von unklar, wie eine praxisnahe Prüfung antimikrobieller medizintechnischen Geräten und Bedarfsgegenstände Oberflächen aussehen kann. Demgegenüber finden in Krankenhäusern sowie in Einrichtungen des ambu- sich weltweit in Forschungs- und Entwicklungslabo- lanten Gesundheits- und Sozialwesens. Hinzu kom- ren eine Vielzahl experimenteller Prüfansätze, die men Oberflächen im öffentlichen Raum, im Lebens- neue Möglichkeiten der Bewertung antimikrobieller mittelsektor und in der Tierhaltung. Die Betrachtung Oberflächen eröffnen: Diese benötigen jedoch zu- von Berührungsoberflächen über das Gesundheitswe- nächst eine technologische Bewertung, um ihre Gren- sen hinaus entspricht dem sektorübergreifenden, inter- zen und Einsatzgebiete wissenschaftlich zu erfassen disziplinären One-Health-Ansatz, der die enge Zu- und sie den interessierten Industriezweigen zur Verfü- sammenarbeit zwischen der Human- und Veterinär- gung zu stellen. medizin als Voraussetzung für die Erhaltung und För- derung der Gesundheit von Mensch und Tier, für die Es ist zu beachten, dass passende Prüfmethoden im- Einsparung von Ressourcen und den Erhalt einer in- mer in Abhängigkeit von dem postulierten Wirkme- takten Umwelt verfolgt. Der Statusreport ermöglicht chanismus auszuwählen sind. Auch sollten Prüfme- in Abhängigkeit von der Anwendung, dem Werkstoff thoden gewählt werden, die deutlich mehr Anwen- und Wirkstoff eine weitgehend praxisnahe Leistungs- dungsbezug zeigen als die derzeitigen normierten beurteilung der antimikrobiellen Oberfläche zur In- Verfahren. Die bekannten praxisrelevanten Prüfver- fektionsprävention. fahren für Hygienemaßnahmen werden im Statusre- port vorgestellt und bewertet. Die bisher noch experi- Generell gilt für antimikrobielle Oberflächen: Sie mentellen Methoden sollten alsbald standardisiert und dienen zur Ergänzung der Flächenhygiene und er- etabliert werden, um dem Entwickler, Hersteller und setzen die im einrichtungsspezifischen Hygiene- Anwender gleichermaßen die notwendige, praxistaug- plan ausgewiesenen Hygienemaßnahmen (Reini- liche, hygienische Sicherheit zu bieten. gung, Desinfektion) nicht. Daher sind sowohl Rei- Eine zukunftsfähige optimierte Hygiene im Gesund- nigungs- als auch Desinfektionsmaßnahmen zur heitswesen benötigt Labor-, Feld-, und Benchmark- Basishygiene weiterhin entsprechend der einrich- tests, die dabei helfen, die Wirksamkeit von antimik- tungsindividuellen Hygienepläne durchzuführen robiellen Werk- und Wirkstoffen, auch im Zusam- und die Vorgaben der Kommission für Kranken- menspiel mit neuen Reinigungsprozessen, exakt zu haushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) bewerten. Mit Blick auf das drängende Problem stei- zu berücksichtigen. gender Resistenzen ist die Politik gefordert, notwen- dige Forschungsprojekte zu ergänzenden Hygiene- Rechtliche und regulatorische Anforderungen sehen maßnahmen zu fördern und zu finanzieren. Dabei einen produkt- und anwendungsspezifischen Nach- sollten auch das Mikrobiom betreffende Fragen ver- weis der Wirksamkeit vor, zum Teil bis hin zur Be- bindlich aufgenommen werden. Gleiches gilt für Un- wertung einer spezifischen Infektionsprävention. Auf tersuchungen, die klären, inwiefern antimikrobielle der Laborebene kommen zur Wirkungsbeurteilung an- Oberflächen die Resistenzentwicklung beschleunigen timikrobiell wirksamer Oberflächen daher unterschied- und/oder verstärken sowie zur Verringerung der Orga- liche, für den jeweiligen Anwendungsfall ausgewählte nismenvielfalt beitragen können. www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 5 2 Material Unter dem Begriff der antimikrobiellen Oberflächen rund 30 % der Publikationen auf silberbasierte Sys- sind Materialien und Substanzen zusammengefasst, teme, 17 % auf Chitosan und 14 % auf Titan fokussie- die das Wachstum und die Vermehrung von Mikroor- ren. Kupfer- und zinkbasierte Beschichtungen spielen ganismen begrenzen oder verhindern. im Forschungsumfeld aktuell eher eine untergeord- nete Rolle (5 % und 4 %) [2]. Von Beschichtungen Im Bereich von Forschung und Entwicklung wie auch abzugrenzen sind Oberflächen von monolithischen in der derzeitigen industriellen Fertigung stehen anti- Materialien, z. B. reines Kupfer und Kupferlegierun- mikrobielle Oberflächen aufgrund eines breiten Wir- gen in Form von Werkstoffen [67]. Die breite For- kungsspektrums im Fokus. Diese Flächen unterschei- schung zu dieser Materialklasse fand bei der Auswer- den sich zum Teil stark in ihrer Wirksamkeit aufgrund tung durch AMiCI keine Berücksichtigung. des zugrunde liegenden Wirkmechanismus. Die Mehrheit der aktuell eingesetzten antimikrobiell wir- Grundsätzlich werden antimikrobielle Materialien kenden Substanzen basiert auf Hydrogelen, Polyethy- nach ihrem zugrunde liegenden Wirkmechanismus lenglykol (PEG), anorganischen und organischen nach „aktiv“ (Wirkstoff freisetzend sowie kontaktak- (Nano-)Partikeln, antimikrobiellen Peptiden (AMP) tiv) und „passiv“ klassifiziert (vgl. Bild 1). Das Ober- und quaternären Ammoniumverbindungen (QAC) [1]. flächendesign (chemische oder strukturelle Modifika- Durch chemische Modifikationen und Kombinationen tion der Oberfläche) ist hierbei von großer Bedeutung. der einzelnen Wirkstoffe erweitert sich das Feld der Die Struktur bzw. Topografie können beispielsweise antimikrobiellen Substanzen noch einmal. den hygienischen Zustand der Oberfläche in vorteil- hafter Weise beeinflussen, z. B. durch eine Verringe- Eine im Rahmen des EU-COST-Netzwerks AMiCI rung der mikrobiellen Beladung. Dabei liegt auf der (Anti Microbial Coating Innovations) durchgeführte Verschleißeigenschaft der Oberflächen ein besonderes Literaturrecherche in Bezug auf antimikrobielle Sub- Augenmerk, da diese erheblich die Anschmutzung stanzen und Beschichtungen und die zugrunde liegen- und Reinigbarkeit beeinflusst [3; 4] de antimikrobielle Strategie hat gezeigt, dass sich Bild 1. Etablierte (fett hervorgehoben) und potenziell anstehende (normal) Strategien für antimikrobi- elle Wirkstoffe (in Anlehnung an [1]) PEG Polyethylenglykol QAC quaternäre Ammoniumverbindungen AMP antimikrobielle Peptide www.vdi.de
6 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen Es ist daher essenziell, dass multidisziplinäres Fach- anfälliger Patientengruppen wie Neonaten und Im- wissen in den Entwicklungsprozess einfließt. Nur so munsupprimierte) und Umwelt toxikologisch unbe- können aus mikrobiologischer und werkstoffwissen- denklich sein müssen. Außerdem müssen – außer bei schaftlicher Perspektive massiven Werkstoffen (die mit dem Wirkstoff gleich- zusetzen sind) – die Wirkstoffe so in das behandelte mögliche Wechselwirkungen zwischen der Ober- Material eingebunden sein, dass sie nicht undefiniert fläche und den in der jeweiligen Umgebung am freigesetzt werden (z. B. ausgasen) und über den Le- wahrscheinlichsten vorkommenden Mikroorga- benszyklus permanent zur Verfügung stehen. Letzt- nismen bewertet, lich muss gewährleistet werden, dass bei der Entsor- gung der behandelten Materialien, z. B. in Müllver- Verschleißmechanismen charakterisiert und brennungsanlagen, keine Schadstoffreste entstehen. für die Aufbereitung geeignete Reinigungs- und Der Fokus des Statusreports liegt auf den antimikro- Desinfektionsmittel festgelegt werden. biellen Materialen und deren chemischen Modifikati- onen, die derzeit in der Praxis bereits genutzt werden Darüber hinaus spielen Realisierbarkeit, Produktions- bzw. am weitesten wissenschaftlich untersucht sind. kosten und Verträglichkeit mit herkömmlichen Be- Der zugrunde liegende Wirkmechanismus bzw. die schichtungssystemen und deren Eigenschaften eine Wirkung auf Mikroorganismen sowie etablierter Prüf- große Rolle. Damit hat auch der gesamte Herstel- methoden zur antimikrobiellen Wirksamkeit stehen lungs- und Fertigungsprozess einen erheblichen Ein- dabei im Vordergrund. Wo erforderlich, wird auf Be- fluss auf die Wirksamkeit der antimikrobiellen Ober- schichtungstechnologien aus Gründen der Vollstän- flächen (z. B. thermische Vernetzungsprozesse, Ein- digkeit eingegangen. Die nachfolgenden Angaben be- bettung partikulärer Stoffsysteme in, sowie deren Par- züglich der Wirksamkeit können nur als orientierend tikelverteilung an der Oberfläche, ionische Wechsel- angesehen werden, da eine valide realitätsnahe Prüf- wirkung). methode bislang nicht zur Verfügung steht. Für die Anwendung hygienisch relevanter Oberflä- chen in der Infektions- und Kontaminationsprävention müssen bestimmte Anforderungen an die antimikro- 2.1 Passive Beschichtungen biellen Eigenschaften erfüllt werden, die praxisnahe Prüfungen berücksichtigen sollten: Die Oberflächeneigenschaften wie Rauheit, Oberflä- chenenergie (z. B. Benetzbarkeit) und der Gehalt an mechanische und chemische Beständigkeit Nährstoffen wie auch an toxischen Substanzen (z. B. Restmonomere) beeinflussen zum Teil sehr stark die breites Wirkungsspektrum gegenüber Viren, Anhaftung (Adhäsion) der Bakterien und die damit Bakterien und Pilzen mögliche einhergehende Ausbildung eines Biofilms (Bild 2). schneller antimikrobieller Wirkungseintritt inner- halb von 5 min bis 60 min mit hoher Reduktion mit mindestens drei Log10-Stufen Wirksamkeit an der Grenzfläche fest/gasförmig Langzeiteffekt über die Lebensdauer einer Be- schichtung bzw. Wirkverlust bei schadhafter Beschichtung Wirksamkeit auch bei organisch und anorganisch verschmutzter Oberfläche (z. B. Fett, Blut, Schweiß, Partikel) Bild 2. Schematische Darstellung der Phasen keine Förderung der Ausbildung von Resistenzen während der Ausbildung eines Biofilms auf ei- ner Substratoberfläche [5] kein Allergisierungspotenzial Bei passiven Beschichtungen wird unter anderem die keine adversen Effekte auf Mensch und Umwelt Strategie verfolgt, durch eine maßgeschneiderte Ober- (auch nach dem Lebenszyklus) flächenstrukturierung oder Funktionalisierung die Kontaktkraft zwischen Mikroorganismen und der Be- Ebenfalls zu beachten ist, dass die verwendeten anti- schichtung zu reduzieren (Anti-Adhäsion). Dadurch mikrobiellen Substanzen auch bei Langzeitwirkung können Bakterien leicht von der Oberfläche entfernt grundsätzlich für Mensch (einschließlich besonders werden, noch bevor sich ein Biofilm ausbilden kann. www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 7 Darüber hinaus werden verschiedene Technologien Wie bereits einleitend erwähnt unterscheiden sich me- gezielt miteinander kombiniert. So können beispiels- tallbasierte, partikuläre Stoffsysteme von monolithi- weise in eine antiadhäsive Oberfläche Wirkstoff frei- schen Metalloberflächen. Der zugrunde liegende setzende Materialien eingebettet oder gezielt die Wirkmechanismus ist zwar der gleiche wie bei den Oberflächenenergie erniedrigt und die Polarität einer entsprechenden Metallpartikeln, jedoch verbraucht Oberfläche erhöht werden. Dadurch ist es möglich, sich der Wirkstoff nicht über die Einsatzdauer. die Benetzbarkeit und somit die Anhaftung von Bak- terien deutlich zu reduzieren. Beispielsweise sind die Für Metalloxide wie Titanoxid (TiO2), Zinkoxid bakteriellen Adhäsionskräfte auf einer nanostruktu- (ZnO), Magnesiumoxid (MgO) oder den frühen Über- rierten, hydrophilen Aluminiumoberfläche um den gangsmetalloxiden wie Molybdänoxid (MoO3), Wolf- Faktor 4 geringer als im Vergleich zur elektropolier- ramoxid (WoO3) oder Zinkmolybdat (ZnMoO4) wird ten Oberfläche desselben Materials [6]. ebenfalls eine breite antimikrobielle Wirksamkeit be- richtet [9]. Die Wirkmechanismen sind dabei jedoch Die Nanostrukturierung und Hydrophilierung von zum Teil unterschiedlich und können beispielsweise Oberflächen mittels Polystyrol-Nanofasern in Kombi- eine auf fotokatalytische Aktivität der eingesetzten nation mit einer Plasmabehandlung zur Aktivierung Substanzen und der daraus resultierenden Bildung von der Oberfläche resultiert in einer geringeren Anhaf- freien Radikalen oder der Erzeugung energiereicher tung von Mikroorganismen [1]. Oberflächen zurückgeführt werden. Polymere Hydrogele (z. B. Polyacrylsäure (PAA), Po- Eine weitere Gruppe innerhalb der anorganischen lyethylenglykol (PEG)) bilden die Basis für eine Viel- Substanzen sind Si-Polymere, z. B. Polysiloxane. zahl an unterschiedlichen Modifikationen. Von Hyd- Analysen an mit quaternären Ammoniumsalzen modi- rogelen abgeleitete und mit Metall-Nanopartikeln, fizierten Block-Copolymeren zeigten eine antibakteri- Metalloxid-Nanopartikeln, Chitosan-Partikeln oder elle Aktivität. Superhydrophobe Beschichtungen auf AMPs funktionalisierte Beschichtungen oder Materi- Basis von Siloxanen und Fluorosiloxanen zeigen eine alverbünde weisen antimikrobielle Eigenschaften auf sehr geringe Adsorption der Proteinschicht und behin- [7]. Die Einordnung in die Kategorie der passiven an- dern dadurch effektiv die Ausbildung eines Biofilms timikrobiellen Wirkstoffe hängt von den intrinsischen [10]. Materialeigenschaften ab. Technisch werden funktio- nalisierte Hydrogele bereits als Membranen, Wirk- Beschichtungen auf Basis von Kohlenstoff-Nanoröhr- stofftransportsysteme oder Wundauflagen eingesetzt chen (CNT), Graphenoxid (GO) oder „diamond like [7]. carbon“ (DLC) zeigen eine antibakterielle Wirkung und eine geringe Zytotoxizität. Aktuell wird noch un- tersucht, ob diese Materialien als kontaktaktiv oder 2.2 Aktive Materialien Wirkstoff freisetzend einzustufen sind [1]. CNTs las- sen sich zwar einfach in Polymere bzw. polymere Oberflächen einbinden, zeigen jedoch eine geringere antimikrobielle Aktivität als vergleichsweise Be- Anorganische Substanzen schichtungen auf Basis von GO. Auch lässt sich durch Kombination mit anderen antimikrobiell wirksamen Zu den aktiven Materialien zählt jene Gruppe an Sub- Substanzen wie Chitosan, einer chemischen Modifika- stanzen, bei welchen der Wirkstoff an der Oberfläche tion von CNTs oder einer Erhöhung der Länge der der Substanz freigesetzt wird und dadurch an die Um- Nanoröhrchen zusätzlich die Aktivität steigern [1]. gebung abgegeben werden kann. Die wohl bekann- teste Technologie basiert auf der Verwendung von metallbasierten (Nano-)Partikeln, die durch geeignete Beschichtungsverfahren auf einer Oberfläche apple- Organische Substanzen ziert oder in eine Oberfläche integriert werden. Frei- gesetzte Metallionen (z. B. Ag+, Cu2+, Zn2+-Ionen) Im Gegensatz zu den metallischen oder metalloxidi- stellen in diesem Fall den Wirkstoff dar. Bei partiku- schen (Nano-)Partikeln weisen organische (Nano-) lären Wirksubstanzen wird die antimikrobielle Aktivi- Partikel eine geringere Temperaturstabilität auf und tät maßgeblich von der Synthesemethode der Pulver können daher nur bei spezifischen Beschichtungstech- und der daraus resultierenden Eigenschaften wie Par- nologien Anwendung finden. Aufgrund der antimikro- tikelgröße, Form oder Partikelmorphologie sowie der biellen Eigenschaften dieser Materialklasse ist diese von der Verarbeitungstechnologie abhängigen Ein- ebenfalls in den Fokus von Forschung und Entwick- bringung der Partikel in die Oberfläche beeinflusst. lung gerückt. Weiterführende Informationen zur Nutzung von Na- Das aus dem Exoskelett von Krustentieren oder den nopartikeln finden sich unter anderem im VDI-Status- Zellwänden von Pilzen synthetisierte Polysaccharid report zur Keimreduzierung im klinischen Umfeld [8]. Chitosan wird häufig in Form von Nanopartikeln in www.vdi.de
8 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen Oberflächen eingebracht und zeigt auch in Kombina- dass die Moleküle die Außenhüllen der Bakterien, tion mit anderen antimikrobiellen Substanzen eine Pilze oder Viren erreichen können und sich keine ste- breite antibakterielle, antivirale und fungizide Kon- rische Hinderungsprobleme ergeben, werden diese taktwirkung [11]. entweder an eine flexible, kovalent gebundene Poly- merkette (polymer brush) angedockt (Spacer-Effekt) Quaternäre Ammoniumverbindungen (QAV) wie oder direkt an Nanofasern angebunden, z. B. Cellu- Benzalkonium- oder Cetrimoniumchlorid sind be- lose, CNTs oder Silika [1]. kannte Desinfektionsmittel. Bei kontaktaktiven Be- schichtungen kommen QAVs als auf der Oberfläche Hyperverzweigte Polyethylenimine (PEI) und Modifi- immobilisierte Moleküle zum Einsatz. Kontaktaktive kationen (z. B. N-Alkylierung, Umsetzung von pri- Substanzen oder Beschichtungen zeichnen sich da- mären oder sekundären Aminen in tertiäre Amine durch aus, dass erst nach Kontakt mit dem Organis- oder über Metallnanopartikeln) kommen ebenfalls auf mus oder Virus die antimikrobielle Wirkung entfaltet verschiedenen organischen, anorganischen, natürli- und somit der Wirkstoff nicht ständig an der Oberflä- chen, synthetischen, monolithischen, porösen Oberflä- che freigesetzt wird. chen einschließlich kommerzieller Kunststoffe, Texti- lien und Glas zum Einsatz. Darüber hinaus haben Un- Eine Umsetzungshürde für diese Technologie besteht tersuchungen an bestimmten Materialkombinationen gegenwärtig noch darin, dass organische antimikrobi- gezeigt, dass die Inaktivierung von pathogenen und elle Moleküle an Aktivität verlieren, sobald diese an antibiotikaresistenten Stämmen ohne Resistenzbil- eine Oberfläche gebunden sind. Um zu gewährleisten, dung erfolgt [11]. www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 9 3 Wirkmechanismen antimikrobieller Substanzen Beeinflusst ein Wirkprinzip Mikroorganismen negativ geht hervor, dass bei passiven Materialien die mikro- in deren Vitalität wird die Substanz als antimikrobiell bielle Besiedlung allein durch eine gezielte physikali- wirksam bezeichnet. Richtet sich die antimikrobielle sche Modifikation der Oberfläche eingeschränkt bzw. Wirkung gegen Bakterien wird sie als bakterizid be- verhindert wird. zeichnet. Bei Pilzen werden entsprechend die Begriffe „levurozid“/“fungizid“, bei Viren „viruzid“ verwen- det. (Länderspezifische Unterschiede sind zu beach- Nanostrukturierte Oberflächen – ten, ab wann ein Wirkstoff als wirksam bezeichnet Superhydrophob werden darf.) Superhydrophobe Oberflächen (Kontaktwinkel Zudem werden im Kontext der antimikrobiellen Wirk- θ > 150°) werden dem Lotuseffekt aus der Natur samkeit im englischen Sprachraum häufig die Begriff- nachempfunden. Das Blatt der Lotusblume hat eine lichkeiten „efficacy“, „effectiveness“ oder „efficien- hierarchisch aufgebaute Mikro-/Nanostruktur. Unter cy“ verwendet. Generell beschreibt der Begriff „effi- realen Bedingungen hängt die Adhäsion von Mikroor- cacy“ die Wirksamkeit des Wirkstoffs unter kontrol- ganismen fast immer von der Bildung einer Protein- lierten klinischen oder Laborbedingungen. Während schicht auf der Oberfläche und dem Vorhandensein mit „effectiveness“ die Wirkung unter Praxisbedin- von Adhäsionsstellen auf dieser gebildeten Protein- gungen, also im realen Umfeld bezeichnet wird. Der schicht ab (z. B. organische Beladung wie Fingerab- Begriff „efficiency“ charakterisiert wiederum die Ef- druck, Blut, Speichel) [13]. Durch die superhydropho- fizienz der Oberfläche und stellt einen Zusammen- ben Oberflächeneigenschaften in Kombination mit ei- hang zur Wirtschaftlichkeit der eingesetzten antimik- ner Nanostrukturierung und z. B. Polyzwitterionen robiellen Technologie her. Falls nicht anders gekenn- kann die Ausbildung der Proteinschicht reduziert wer- zeichnet, ist im weiteren Verlauf der Ausführungen den [14; 15]. Da die Primäradhäsion von Proteinen mit antimikrobieller bzw. antibakterieller Wirksam- der Startpunkt einer mikrobiellen Besiedlung ist, wird keit der Begriff der „efficacy“ gemeint. eine Biofilmbildung verhindert bzw. verzögert [10; 16; 17]. Aufgrund der geringen Adhäsionskräfte ist auch die Reinigbarkeit von superhydrophoben Ober- 3.1 Antimikrobielle Wirkung passiver flächen sehr gut. Weitere interessante Antiadhäsions- Oberflächen und antimikrobielle Ansätze finden sich in der Natur (Geckofuß [18], nanostrukturierte Zikadenflügelober- Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, fläche [19]). erfolgt die generelle Einteilung der Materialien an- hand der jeweiligen antimikrobiellen Technologie. Je Allerdings ist der Materialverschleiß bei allen nano- nachdem wie der antimikrobielle Wirkstoff in die strukturierten Oberflächen vor allem bei häufigen Rei- Oberfläche eingebunden ist, kann sich der zugrunde nigungs- und Desinfektionsmaßnahmen im medizini- liegende Wirkmechanismus unterscheiden. Aus Bild 3 schen Umfeld ein bisher in der Praxis ungelöstes Problem. Bild 3. Wirkmechanismen antimikrobieller Oberflächen [12] www.vdi.de
10 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen Zwitterionische polymere Ketten Einsatz in der Praxis gilt, dass der Wirkstoff in ausrei- (polymer brushes) chend hoher Konzentration auf der Oberfläche vor- handen sein muss, um eine inaktivierende Wirkung zu Zwitterionische polymere Ketten (polymer brushes) entfalten. Um einen langfristigen Effekt zu gewähr- besitzen hydrophile und hydrophobe Domänen, die leisten, muss unabhängig vom Wirkmechanismus da- die Adhäsion von Bakterien an eine Oberfläche verzö- rauf geachtet werden, dass die abgetöteten Mikroorga- gern oder sogar verhindern. Der Wirkmechanismus nismen regelmäßig von der Oberfläche zu entfernen wird so beschrieben, dass die hydrophilen Bereiche sind. Die tote Biomasse kann zum einen den antimik- von einer Hydrathülle umgeben sind, die die Protein- robiellen Effekt maskieren, zum anderen bietet sie or- adsorption verhindert. Die Adhäsionskräfte sind so ganisches Substrat für neu eingetragene Mikroorga- schwach, dass die Bakterien die Oberfläche nicht als nismen. solche „erkennen“, in der Wasserphase bleiben und Daher sind sowohl Reinigungs- als auch Desinfekti- dadurch empfindlicher gegenüber Antibiotika bzw. onsmaßnahmen zur Basishygiene weiterhin entspre- Bioziden sind [20]. Zwitterionische polymere Ketten chend der einrichtungsindividuellen Hygienepläne können Bakterienzellen also nicht inaktivieren, son- durchzuführen. dern verhindern nur ihre Anheftung und damit die weitere Vermehrung. Zur Abtötung von Krankheitser- regern müssten entsprechend antimikrobiell wirksame Partikel, z. B. Silber, eingebettet werden [21]. Für den 3.2.1 Antimikrobielle Wirkung kontakt- Einsatz im medizinischen Umfeld muss die Praxis- aktiver Oberflächen tauglichkeit dieser Technologie noch bestätigt wer- den, auch da Bakterien in der Regel eingebettet in or- ganischen Verschmutzungen (Blut, Speichel, Haut- Quarternäre Ammoniumverbindungen schuppen etc.) auftreten und nicht vollkommen frei (QAV) und zugänglich sind. Die antimikrobielle Aktivität von quaternären Ammo- niumverbindungen wird generell über die Länge der 3.2 Wirkmechanismen aktiver N-Alkylkette beeinflusst. So zeigen kürzere Ketten- Oberflächen längen eine optimale Wirkung gegen grampositive Bakterienstämme, während Alkylgruppen mit mehr Generell lassen sich die Funktionsmechanismen anti- Kohlenstoffatomen eine bessere Wirkung gegen mikrobiell wirkender Substanzen nach deren Wirkung gramnegative Bakterien zeigen. Die Aktivität basiert auf Mikroorganismen wie folgt einteilen: dabei auf der elektrostatischen Wechselwirkung zwi- schen positiv geladenen Bestandteilen der Substanz Zerstörung oder Vernetzung der Zytoplasma- und der negativ geladenen Bakterienmembran sowie membran der Denaturierung von Strukturproteinen und Enzy- men im Membrankern [11]. Zerstörung der Struktur von Eiweißen In der Praxis ist es schwierig, QAVs in Beschichtun- Hemmung/Inaktivierung der Zellwand-, Nuklein- gen einzubinden, ohne dass sie ihre Wirksamkeit ver- säure- und Proteinbiosynthese und der Synthese lieren. Die meisten Formulierungen enthalten anioni- von extrazellulär polymeren Substanzen (EPS) sche Bindemittel wie hydrofunktionelle Polyakrylate oder Polyester, die mit den QAVs koagulieren und so Schädigung des Erbguts (Nukleinsäuren) ihre Wirksamkeit maskieren. Außerdem müssen die Wirkstoffe durch geeignete Beschichtungsformulie- Hemmung der Zell-Zell-Kommunikation rungen an die Oberfläche kommen, um sich an der Die Geschwindigkeit der Inaktivierung für Bakterien Grenzfläche fest/gasförmig ausrichten zu können. Um hängt von dem Abtötungsmechanismus und der Kon- dieser Herausforderung zu begegnen, werden die bio- zentration des Wirkstoffs ab: Je weiter der Wirkstoff ziden Gruppen wie QAVs oder antimikrobielle Pro- zur Entfaltung seiner Wirksamkeit in die Bakterien- teine (AMP) über Polymerketten oder Zellulose als zelle eindringen muss, desto länger ist die benötigte Nanofasern an die Beschichtungen gebunden („Spacer Kontaktzeit. Eine Zerstörung der Zytoplasmamemb- Effect“). Dies gewährleistet, dass die Moleküle die ran geschieht z. B. innerhalb von Minuten, während Zytoplasmamembran der Bakterien erreichen und ste- die Störung oder Unterbrechung des Stoffwechsels rische Effekte verhindert werden, um antimikrobiell der Mikroorganismen meist erst nach Stunden zur In- zu wirken [22 bis 24]. aktivierung führt. Entsprechend verlangsamt sich die Abtötungsgeschwindigkeit, wenn die Konzentration des Wirkstoffs auf der Oberfläche gering ist. Für den www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 11 Für den Einsatz in der Praxis muss gewährleistet sein, Kupfer dass die Wirkung auch nach mechanischer und chemi- scher Reinigung bestehen bleibt bzw. sich nach Abra- Kupfer, Kupferlegierungen und Beschichtungen mit sion der obersten Schichten, die Wirkstoffe erneut Kupferpartikeln besitzen antimikrobielle Eigenschaf- ausrichten können. Zudem ist die ökologische und ten sowohl gegen grampositive wie gramnegative toxikologische Bedenklichkeit zu berücksichtigen. Bakterien [53; 57; 59]. Darüber hinaus verbraucht sich der Wirkstoff nicht über die Einsatzdauer und es ist ein antimikrobieller Effekt auch bei verschmutzter Bakteriophagen, antimikrobielle Peptide Oberfläche nachweisbar [26]. Antimikrobielle Peptide (AMPs) bestehen typischer Mindestens vier verschiedene Erklärungsmuster wer- Weise aus kationischen und hydrophoben Aminosäu- den derzeit weltweit untersucht: ren mit einer Gesamtlänge von 12 bis 50 Peptideinhei- ten. Der genaue Wirkungsmechanismus von AMPs ist Kupfer bewirkt, dass organische und anorgani- noch unbekannt. Es wird angenommen, dass sie durch sche Zellbestandteile durch die Außenmembran ihre positive Ladung die negativ geladene bakterielle von Bakterien austreten. Zellmembran permeabilisieren. Studien zeigen aber Kupfer stört das osmotische Gleichgewicht. auch, dass einige AMPs die Transkription, Translation oder andere Prozesse wie die DNA-, RNA- und Pro- Kupfer bindet sich an Proteine, die kein Kupfer teinsynthese oder auch die bakterielle Zellwandsyn- benötigen. these hemmen können. Die Herstellung von AMPs kann im Bereich von 1.000 Euro/kg bis 1.000.000 Kupfer verursacht oxidativen Stress, indem es Euro/kg liegen. AMPs lassen sich ebenfalls an Poly- Wasserstoffperoxid erzeugt. merketten anbinden. AMPs zeigen ein breites Wir- kungsspektrum gegen Bakterien und Pilze und gelten Für die Kupferwirkung wird von einer physikalischen als zuverlässige, wenn auch kostenintensivere Alter- Reaktion ausgegangen, die dem ansonsten bioche- native für antibiotika-beschichtete Medizinprodukte misch gleichen Wirkmechanismus wie bei entspre- [1]. chenden Metallpartikeln vorgeschaltet ist („Batterie- Kurzschluss-Effekt“) [26]. Bekannt ist, dass sich im Eine etwas kostengünstigere und ebenfalls neue Alter- Inneren von abgetöteten Bakterien Kupferionen nach- native ist die Immobilisierung von Bakteriophagen weisen lassen. Wie das Kupfer ins Innere der Zellen (Viren) auf Oberflächen. Diese sind wirtsspezifisch gelangt, ist noch unklar, ebenso, wie der bakterizide und können ein breites Wirtsspektrum über mehrere Prozess ausgelöst wird. In Laborversuchen konnte Bakterienstämme oder -arten haben. Die Anlagerung nachgewiesen werden, dass Bakterien nur dann inakti- von Bakteriophagen an eine Oberfläche kann durch viert werden, wenn diese in direktem Kontakt mit der Sorption, elektrostatische Bindung und kovalente Bin- kupferhaltigen Oberfläche stehen. Einzelne Kupferio- dung erreicht werden [25]. nen in einer Flüssigkeit reichen dafür oft nicht aus [27]. Die beiden alternativen Ansätze sind jedoch im medi- zinischen Bereich eher für den Einsatz bei Implanta- Im Gegensatz zu anderen metallischen oder organi- ten oder Kathetern geeignet, da sie zur Entfaltung ih- schen, ausschließlich toxischen Stoffen, steuert Kup- rer Wirksamkeit ein physiologisches Milieu (Feuch- fer als Biometall bei allen Lebensformen viele zent- tigkeit, pH-Wert, Salzgehalt) brauchen. Darüber hin- rale Prozesse des Zellstoffwechsels. Mechanismen der aus sind die „Biomoleküle“ anfällig für proteolyti- zellulären Homöostase (z. B. Kupferimport und schen Abbau. -export) werden seit einigen Jahren intensiv erforscht und sukzessive aufgeklärt. Eine Überfrachtung des „Entsorgungsmechanismus“ der Zellen gilt als Ursa- 3.2.2 Antimikrobielle Wirkung ionen- che der Inaktivierungseigenschaft von Kupfer. Genau freisetzender Oberflächen diese Überversorgung wird durch den Kontakt bakte- rieller Zellen mit Kupfer erreicht. Die Kombination Massive Oberflächen, die antimikrobiell wirksame aus „Kupferüberversorgung“ der Bakterienzelle mit Ionen freisetzen, haben den Effekt einer dauerhaften „Multi-Targeting“, bei dem Kupfer an vielen Stellen Wirkung, da das monolithische Material über die Le- des Bakterien-Stoffwechsels eingreifen kann, macht bensdauer des Produkts aktive Reagenzien abgibt. das Element zu einem unspezifischen – nicht nur auf Oberflächenbeschichtungen mit Metallpartikeln haben ein oder zwei Angriffspunkte beschränkten – Wirk- hingegen eine zeitlich begrenzte Wirkung, da der Io- stoff [28]. Allerdings gibt es einige Untersuchungen, nenfluss endlich ist und die Beschichtung durch Be- die belegen, dass es durch eine längere Exposition mit schädigung an Wirksamkeit verlieren kann. www.vdi.de
12 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen Kupfer zur Ausbildung von Toleranzen und Resisten- In situ generierte Radikale zen kommt, vor allem durch die Entwicklung von „Efflux-Systemen“. Eine Alternative zu den sich verbrauchenden Bioziden sind (foto-)katalytisch aktive Substanzen wie TiO2, das bei UV-Strahlung reaktive Sauerstoffspezies Kupfer(nano)partikel (ROS) bildet. Die wichtigsten sind Im Gegensatz zur Verwendung von massivem Kup- das Hyper- oder Superoxid-Anion (O2–), fermaterial können Lacke Kupfer(nano)partikel ent- halten. Um eine bessere Verteilung an der Oberfläche das Hydroxyl-Radikal (•OH), zu erlangen und um die Freisetzung der antimikrobiell Wasserstoffperoxid (H2O2) und wirksamen Kupferionen zu verzögern, werden Kup- ferpartikel z. B. mit Silikapartikeln überzogen und so Singulett-Sauerstoff (1O2). in die Lacke einformuliert. Die Anwesenheit von Kupferionen führt zur Erhöhung der Membranperme- Die Anwesenheit der ROS bewirken oxidativen Stress abilität, Deaktivierung der Atmungskette von Bakte- bei den Mikroorganismen, das heißt, dass die organi- rien und Störung der Funktion von Enzymen/Protei- schen Moleküle von außen nach innen oxidiert wer- nen. den. Zunächst also wird die Zellmembran porös bis hin zur Zerstörung der DNA. TiO2 ist als Weißpig- ment in vielen Fassadenfarben enthalten, die natürli- Silber cherweise UV-Strahlung ausgesetzt sind. In medizini- schen Einrichtungen müssten die Oberflächen aktiv Die bakteriziden Mechanismen von Silber-Nanoparti- mit UV Licht aktiviert werden, was nicht immer an- keln sind noch immer nicht vollständig aufgeklärt und wendbar ist. daher Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Bei gramnegativen Bakterien wie E. coli werden durch die Deshalb konzentriert sich die derzeitige Forschung Silberionen (Ag+-Ionen) sogenannte „Pits“ in der auf die Verschiebung der fotokatalytischen Aktivität Zellwand erzeugt, die die Membranpermeabilität er- solcher Beschichtungen in Richtung des sichtbaren höhen und die Atmungskette deaktivieren [11; 29]. Lichtbereichs, z. B. über den Effekt der Oberflächen- Darüber hinaus basiert die antimikrobielle Wirkung plasmonenresonanz durch Zugabe von Silber-Nano- von Silberionen unter anderem auf der Reaktion mit partikeln [34] oder Molybdän [35]. In bestimmten Thiolgruppen (Sulfhydrylgruppen: –SH). Thiolgrup- Kristallmodifikationen konnte fotokatalytische Akti- pen sind in einer Reihe von Enzymen und anderen vität auch im sichtbaren Licht nachgewiesen werden. Proteinen enthalten, die durch die Bindung an Ag+ in Wenn eine Kombination von lichtempfindlichen Farb- ihrer Funktionsweise beeinträchtigt werden [30]. Die stoffen wie Kristallviolett mit antimikrobiellen ZnO- viruziden Eigenschaften von Silber werden auch auf Nanopartikeln in Polymeroberflächen eingebaut ihre Bindung mit –SH-Gruppen zurückgeführt. wurde, konnte eine synergistische fotokatalytische an- timikrobielle Aktivität mit typischen weißen Licht- Allerdings sind im Kontext der Silbertechnologie quellen in Krankenhausumgebungen nachgewiesen noch wichtige Punkte wie die Definition der minima- werden [34]. Es wird angenommen, dass die stärkere len Hemm-Konzentration (MHK – die niedrigste Kon- antimikrobielle Wirksamkeit durch den Triplett-Zu- zentration eines Wirkstoffs, bei dem die Vermehrung stand des Farbstoffs verursacht wird und nicht durch von Mikroorganismen mit bloßem Auge nicht wahr- eine Erhöhung der Konzentration von ROS [36]. genommen werden kann), das Auftreten von Resisten- Durch die Bildung von ROS ergibt sich in der Praxis zen und Nebenwirkungen auf den Menschen zu klären das Problem, dass das in der Regel organische Binde- [31]. Es wurde schon in den 1980er-Jahren gezeigt, mittel der Beschichtungen abgebaut wird. dass eine längere Exposition mit Silber beaufschlag- ten Ionenaustauschern zu einer Adaptation der Bakte- rien-Biozönose führen kann und große Konzentratio- Metalloxid-Lewis-Säuren nen an Ag+-Ionen toleriert werden können [32]. Unge- achtet der antimikrobiellen Eigenschaften von Silber Mit Metalloxid-Lewis-Säuren wie MoO3 oder WO3 sind bei Anwendungen auf verletzter Haut wie Wun- ausgestattete Oberflächen besitzen ebenfalls eine den auch die zytotoxischen Eigenschaften im Rahmen breite antimikrobielle Wirkung [37]. Ihr Wirkmecha- von Prüfungen zur Biokompatibilität zu berücksichti- nismus beruht auf der In-situ-Erzeugung von H3O+- gen [33]. Ionen durch die Reaktion mit Feuchtigkeit aus der Luft [9; 38]. Die so angesäuerten Oberflächen haben einen pH-Wert von 4,5 bis 5,5. www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 13 H3O+-Ionen diffundieren in das Innere der Zellmemb- Weiterhin wird am Einsatz von mikrobiologischen ran und beeinflussen das pH-Gleichgewicht und die Stoffwechselprodukten geforscht wie Quorum-sen- Transportsysteme der Zelle negativ [9]. sing- und Quorum-quenching-Molekülen oder auch an der Beeinflussung des Mikrobioms auf einer Ober- fläche. Hierbei sollen Oberflächen mit nicht pathoge- 3.3 Ausblick auf Zukunftstechnologien nen Mikroorganismen ausgestattet werden, wodurch sich Pathogene nicht vermehren können. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass sich weitere Technologien in der Entwicklung befin- den, die aber noch sehr weit von der praxisrelevanten Anwendung entfernt sind. Dazu gehört die Einbettung von (Nano-)Partikeln wie Carbon Nanotubes (CNTs), Graphene or Diamond like Carbons (DLCs), Carbon quantum dots (CDs), Eisenoxide (z. B. Fe3O4-Nanopartikel oder SPIONs (superparamagnetisches Eisenoxid)) [11]. www.vdi.de
14 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 4 Rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen Die Medizinprodukteverordnung MDR 2017/745 die Kontaktzeit der Mikroorganismen mit dem schreibt im Anhang I, Kapitel II vor, dass die Pro- Körper dukte und ihre Herstellungsverfahren so ausgelegt anzupassen. werden, dass ein Infektionsrisiko für Patienten, An- wender und Dritte ausgeschlossen oder so gering wie Auch das RKI sieht Risiken bei der Auslobung anti- möglich gehalten wird. Daraus lässt sich die Forde- mikrobieller Oberflächen wie einer möglichen nach- rung nach einem quantifizierbaren Ausmaß der Infek- lassenden Wirksamkeit durch tionsprävention herleiten. Eine solche Quantifizierung wird beispielsweise im Rahmen einer klinischen Be- Abnutzung von antimikrobiellen Beschichtungen wertung erforderlich, denn Auslobungen und spezielle oder Verschmutzung, Produktmerkmale müssen auf Daten beruhen, die ob- jektiv nachvollziehbar und prüfbar sind. Bei der kon- Kreuzreaktionen mit chemischen Substanzen, kreten Umsetzung dieser Forderung verweist die MDR zwar auf harmonisierte Normen, doch aktuell Förderung der Resistenzbildung, sind diese, wie in Abschnitt 5 dieses Statusreports dargelegt, technisch nicht geeignet, eine Quantifizie- ungeklärte Öko-/Humantoxizität sowie rung der Infektionsprävention zu ermöglichen. Vermittlung einer falschen Sicherheit und Weiterhin kommen bei der Hygiene von Medizinpro- Vernachlässigung der evidenzbasierten Standard- dukten hygiene [39]. das Infektionsschutzgesetz (IfSG), Diese Risiken lassen sich jedoch nicht auf alle Wirk- die Verordnung über das Errichten, Betreiben und stoffklassen verallgemeinern, sondern müssen im kon- Anwenden von Medizinprodukten (Medizinpro- kreten Fall der Nutzung einer spezifischen Hygie- dukte-Betreiberverordnung – MPBetreibV), nemaßnahme individuell ermittelt werden [40]. Wei- terhin fordert die aktuelle EU-Biozidprodukte-Verord- die „Anforderungen an die Hygiene bei der Auf- nung 528/2012 (BPR) in den entsprechenden Leitli- bereitung von Medizinprodukten“ der Kommis- nien zur Wirksamkeitsbewertung (Guidance on the sion für Krankenhaushygiene und Infektionsprä- Biocidal Products Regulation – Volume II Efficacy – vention (KRINKO) beim Robert Koch-Institut Assessment and Evaluation (Parts B + C)) einen abge- (RKI) und des Bundesinstituts für Arzneimittel stuften Prüfprozess zur Wirksamkeitsbeurteilung anti- und Medizinprodukte (BfArM) (Stand: 2012, er- mikrobieller Oberflächen. Demnach sollten die Pro- gänzt 2018) und dukte zunächst unter relevanten Bedingungen geprüft werden (Feuchte und Temperatur), um den „Proof of Normen für das Aufbereiten von Medizinproduk- principle“ zu belegen. Anschließend soll die prakti- ten (z. B. VDI 5700 Blatt1) sowie für die Herstel- sche Anwendung im Labor unter praxisnahen Bedin- lerangaben in der Gebrauchsanweisung gungen simuliert werden, um die Dauer des Effekts, die Dauer bis zum Wirkeintritt oder den Einfluss von zur Anwendung. Auch die US-amerikanische Zulas- Reinigungsvorgängen und Alterungsprozessen zu be- sungsbehörde FDA empfahl in einer 510 K premarket urteilen. Sofern eine Aussage zu einem gesundheitli- notification (Submissions for Medical Devices that in- chen Nutzen eines Produkts getroffen wird, fordern clude antimicrobial agents, draft guidance), zur Beur- die Leitlinien unter Umständen in einem dritten teilung antimikrobieller Produktoberflächen im Ge- Schritt Feldstudien zum Wirksamkeitsnachweis. sundheitswesen die klinische Nutzung zu simulieren, das heißt die vorgesehene Praxisanwendung zu be- Betrachtet man z. B. die Lieferkette in der Lack- rücksichtigen und industrie, so steht am Anfang der Hersteller des anti- mikrobiellen Additivs, das im Rahmen des „Biozid- Temperatur, rechts“ verkehrsfähig sein muss. Das antimikrobielle Körperflüssigkeit, Additiv wird vom Lackhersteller in einen antimikro- biellen Lack einformuliert. Der Hersteller muss diese Dynamik der Umgebung sowie Formulierung als Biozidprodukt zulassen, sofern www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 15 keine Übergangsregelungen zur temporär zulassungs- Mittels der gesetzlichen Regelungen der Biozidpro- freien Verkehrsfähigkeit anwendbar sind. Der indust- dukteverordnung wird gewährleistet, dass Biozide so- rielle Verwender, der mit dem antimikrobiellen Lack wohl wirksam gegen Schadorganismen sein müssen z. B. Möbel, Türklinken und Lichtschalter ausstattet, und dennoch insbesondere hinsichtlich ihrer Auswir- stellt damit sogenannte „behandelte Waren“ her. kungen auf Gesundheit und Umwelt sicher gehand- Diese sind im Fall der Auslobung einer bioziden habt werden können. Andererseits stellt die Biozid- Funktion oder bei Vorliegen entsprechender Vor- produkteverordnung eine Innovationsbremse für die schriften in der Genehmigung des enthaltenen Wirk- Entwicklung neuer antimikrobieller Technologien dar stoffs kennzeichnungspflichtig. Allerdings ist festzu- [42]. stellen, dass Produkte, die bislang in Deutschland als „behandelte Waren“ angesehen worden sind, z. B. ein Die Biozidprodukteverordnung definiert: Hundebett mit einem Insektizid, ein T-Shirt, ein Schlafsack mit Repellentwirkung oder beschichtete Biozidprodukte (Art. 3 Abs. 1 Bst. a): Türklinken (nicht jedoch Türklinken aus massivem ‒ jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch in der Kupfer, die aufgrund ihrer intrinsischen antimikro- Form, in der er/es zum Verwender gelangt, biellen Wirkweise nicht als „behandelte“ Ware gel- und der/das aus einem oder mehreren Wirk- ten), von vielen anderen Mitgliedsstaaten als Biozid- stoffen besteht, diese enthält oder erzeugt, produkte identifiziert werden (siehe CA-May18- der/das dazu bestimmt ist, auf andere Art als Doc.6.1.b [41]). Das würde den Zulassungsaufwand durch bloße physikalische oder mechanische in Deutschland noch einmal stark erhöhen. Für die Einwirkung Schadorganismen zu zerstören, Forschung an und Entwicklung von neuen Biozidpro- abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre dukten beinhaltet die Biozidprodukteverordnung Son- Wirkung zu verhindern oder sie in anderer derregelungen gemäß Artikel 56, um entsprechend er- Weise zu bekämpfen; forderliche Arbeiten unabhängig von der Verkehrsfä- higkeit des jeweiligen Wirkstoffs oder Produkts zu er- ‒ jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch, der/ möglichen. Ein hoher zeitlicher und finanzieller Auf- das aus Stoffen oder Gemischen erzeugt wird, wand der Genehmigung von neuen antimikrobiellen die selbst nicht unter den ersten Gedanken- Wirkstoffen und der Zulassung von Biozidprodukten strich fallen und der/das dazu bestimmt ist, bzw. Biozidproduktfamilien gepaart mit der Unsicher- auf andere Art als durch bloße physikalische heit, wie man die antimikrobielle Wirkung der Ober- oder mechanische Einwirkung Schadorganis- flächen nachweisen soll, lassen viele Lackhersteller men zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich davor zurückschrecken, antimikrobielle Beschichtun- zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder gen zu entwickeln oder Anwender antimikrobielle Be- sie in anderer Weise zu bekämpfen. schichtungen einzusetzen. Dazu kommt die Unsicher- heit, was als Biozidprodukt und was als behandelte behandelte Waren (Art. 3 Abs. 1 Bst. l): Ware qualifiziert wird, denn falls z. B. auch antimik- robiell ausgestattete Krankenhausmöbel separate Bio- ‒ alle Stoffe, Gemische oder Erzeugnisse, die zidprodukte wären, wäre der Einsatz von antimikro- mit einem oder mehreren Biozidprodukten be- biellen Beschichtungen nicht mehr wirtschaftlich. handelt wurden oder denen ein oder mehrere Biozidprodukte absichtlich zugesetzt wurden. www.vdi.de
16 VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen 5 Bewertung praxisrelevanter Prüfverfahren für Hygienemaßnahmen 5.1 Hintergrund kaum systematische klinische Studien. In der rando- misierten klinischen Multicenter-Studie von Salgado Im Krankenhaus erworbene (nosokomiale) Infektio- et al. [47] konnte gezeigt werden, dass Patienten in nen und antimikrobielle Resistenzen haben sich zu ei- mit massiven Kupferoberflächen ausgestatteten Be- ner weltweiten Bedrohung entwickelt. Basierend auf handlungsräumen auf Intensivstationen, z. B. den Daten des europäischen HAI-Netzwerks für Kran- kenhausinfektionen (Healthcare-associated Infections Bettgriffe und -gitter, Surveillance Network) infizieren sich in Europa jähr- Beistelltische, lich etwa 3,2 Millionen Patienten nach einem Aufent- halt in Gesundheitseinrichtungen und etwa 37.000 Infusionsständer, Personen versterben als direkte Konsequenz einer sol- chen Ansteckung [43; 44]. Einer aktuellen Prävalenz- Klingelknöpfe sowie studie zufolge machen davon Infektionen, die über in- vasiv angewendete Medizinprodukte erfolgen, etwa Türbeschläge 25,6 % aus [33]. Auch nicht belebte Oberflächen, wie Nachttische oder Textilien, können als Quellen für die eine signifikant geringere Rate an nosokomialen In- Übertragung von Krankheitskeimen angesehen wer- fektionen aufweisen und auch signifikant geringer mit den [36]. Bakterien wie resistenten Krankheitserregern wie MRSA und VRE besiedelt waren als Patienten, die kupferfreien Kon- Vancomycin-resistenter Enterokokkus (VRE), trollräumen zugewiesen wurden [47; 48]. Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus Doch nicht nur zur Anwendung im Krankenhausbe- (MRSA) und reich, auch zur Entwicklung neuer Materialien sowie zur Effektivitätskontrolle regelmäßig durchgeführter Acinetobacter baumannii Reinigungsmaßnahmen am Inventar, sind solide Prüf- verfahren erforderlich, die möglichst standardisiert sind in der Lage, über mehrere Wochen auf Oberflä- und in jeder Einrichtung reproduzierbar durchgeführt chen zu überleben. Durch Berührung kontaminierter werden. Dies ist mitunter nicht immer leicht: Denn Oberflächen durch den Patienten selbst, seine Besu- während in der Praxis eine vorhandene Kontamination cher oder durch den Untersucher bzw. das Personal auch bei geringen Keimzahlen zuverlässig nachgewie- kommt es zu Keimübergängen auf den Patienten [46]. sen werden sollte, können in der Materialentwicklung in der Regel Oberflächen nicht mit praxisnahen Erre- Die Unterbrechung solcher Infektionsketten erfolgt in germengen kontaminiert werden, um diese bezüglich Einrichtungen des Gesundheitswesens bisher durch ihrer Wirksamkeit standardisiert zu evaluieren. gezielte und etablierte Hygienemaßnahmen. Regelmä- ßige Hand- und Oberflächendesinfektionen reduzieren effektiv die Keimbelastung der Oberflächen. Unter- stützt werden Hand- und Oberflächendesinfektionen 5.2 Grundlegender Aufbau der Prüf- durch Qualitätsstandards für die Desinfektion sowie verfahren und Wirkprinzipien der ein routinemäßiges mikrobiologisches Screening der Agenzien Oberflächen. Solch etablierte Hygienemaßnahmen werden zunehmend ergänzt durch innovative Techno- Der sogenannte Agardiffusionstest ist ein mikrobiolo- logien. Denn beispielsweise durch den zeitgleichen gisches bzw. immunologisches Prüfverfahren, bei Einsatz keimabwehrender antimikrobieller Oberflä- dem die Diffusion biologisch aktiver Stoffe in einem chen mit Desinfektions- und Hygieneprotokollen kann Nährmedium (Agarmedium) untersucht wird. Die die Keimbelastung und somit auch das Infektionsri- Prüfung stammt ursprünglich aus der Antibiotikafor- siko weiter reduziert werden. Antimikrobielle Ober- schung, um die Antibiotikaempfindlichkeit nachzu- flächen könnten dabei einen Kontaminationsschutz weisen. Die zu überprüfenden Materialien werden auf darstellen. Jedoch ist es bislang unklar, in welchem homogen mit Keimen beimpftem Agar-Nährboden Umfang diese Zusatzmaßnahme im Zeitraum zwi- aufgelegt (oder in solche Nährböden eingegossen) und schen Reinigung und Desinfektion wirkt. Bis heute im Brutschrank inkubiert. Die „keimfreie“ Zone gibt es zu diesem kontrovers diskutierten Thema (Hemmhof oder Halo), die um das aufgelegte antimik- www.vdi.de
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