Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE

Die Seite wird erstellt Moritz Heinrich
 
WEITER LESEN
Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
Antimikrobielle Oberflächen
zur Infektionsprävention

Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren
sowie rechtliche und regulatorische
Rahmenbedingungen

VDI-Statusreport
April 2020
                                      Bild: © Prof. Dr. med. Clemens Bulitta
Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
Vorwort
Dieser Statusreport erfasst den aktuellen Stand mikro-   Der Einsatz antimikrobieller Oberflächentechnologien
biologischer, biotechnologischer und werkstoffbasier-    sowie ihre Wirksamkeitsprüfung sind durchaus kont-
ter Verfahren für das Management hygienisch rele-        roverse Themen, zu denen weltweit geforscht wird
vanter Oberflächen, bewertet sie hinsichtlich der Pra-   und neue Erkenntnisse entstehen. Dieser Statusreport
xisrelevanz und gibt Empfehlungen für Anwender und       spiegelt den aktuellen Arbeits- und Kenntnisstand ei-
Hersteller.                                              ner Arbeitsgruppe im VDI-Fachausschuss „Manage-
                                                         ment hygienisch relevanter Flächen in medizinischen
Als Einstieg wird ein Überblick zu Technologien und      Einrichtungen“ wider, erhebt aber keinen Anspruch
Prüfverfahren für Hygienemaßnahmen gegeben, bei          auf Vollständigkeit.
denen antimikrobielle Materialien/Substanzen, mas-
sive Oberflächen und Oberflächenbeschichtungen ein-      Um dem dynamischen Wissenszuwachs Rechnung zu
gesetzt werden.                                          tragen, sollen neue Erkenntnisse künftig als Fort-
                                                         schreibung in den Statusreport mit aufgenommen wer-
Der Statusreport ermöglicht in Abhängigkeit von der      den. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen,
Anwendung, dem Werkstoff und Wirkstoff eine weit-        dass antimikrobiell wirksame Oberflächen derzeit als
gehend praxisnahe Leistungsbeurteilung der antimik-      ergänzende Barriere zur Unterstützung der Flächenhy-
robiellen Oberfläche zur Infektionsprävention. Auf       giene (Reinigung und Desinfektion) dienen und diese
Basis neuer Prüfansätze werden erste Handlungsemp-       Maßnahmen nicht ersetzen.
fehlungen für Hersteller und Betreiber abgeleitet, da-
mit diese unter Berücksichtigung gestiegener rechtli-
cher und regulatorischer Anforderungen und der Nut-
zen-Risiko-Abwägung geeignete praxisrelevante Prüf-
verfahren auswählen können.

Düsseldorf im April 2020

Prof. Dr. med. Clemens Bulitta                           Prof. Dr. Dirk Höfer
Vorsitzender des VDI-Fachausschusses                     Mitglied im VDI-Fachausschuss
„Management hygienisch relevanter Flächen                „Management hygienisch relevanter Flächen
in medizinischen Einrichtungen“                          in medizinischen Einrichtungen“ und
                                                         Leiter des Autorenteams der Arbeitsgruppe

                                                                                                 www.vdi.de
Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
Mitglieder des VDI-Fachausschusses „Management hygienisch relevanter
             Flächen in medizinischen Einrichtungen“
             Prof. Dr. Clemens Bulitta, HS Amberg-Weiden, Institut für Medizintechnik (Vorsitzender des Fachausschusses)

             Dr.-Ing. Inka Dreßler, TU Braunschweig, Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz

             Dr. Jürgen Gebel, Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit, Universität Bonn

             Dr. Stefan Haas, Siemens Healthineers AG, Erlangen

             Dipl.-Ing. Susanne Harpel, Institut für Hygiene und Umweltmedizin, Universitätsklinikum Gießen

             Dipl.-Ing. Markus Heid, Canon Medical Systems GmbH, Neuss

             Prof. Dr. Dirk Höfer, Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Alltagskultur, Bewegung und Gesundheit

             Dr.-Ing. Ariane Jungmeier, Siemens Healthineers AG, Erlangen

             Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft, TU Berlin, Fachgebiet Medizintechnik

             Dr.-Ing. Ute Müller, BMP Competence GmbH, Alsdorf

             Dr. Klaus Ockenfeld, Deutsches Kupferinstitut e.V., Düsseldorf

             Nina Passoth, life sciences communications, Berlin

             Dipl.-Ing. Thomas Riedel, Canon Medical Systems GmbH, Neuss

             Dipl.-Ing. Holger Scholl, Hitachi Medical Systems Logistics and Services, Krefeld

             Dr. Simone Schulte, Evonik Resource Efficiency GmbH, Essen

             Dr. Martin Seifert, Siemens Healthineers AG, Kemnath

             Stefan Thal, Drägerwerk AG, Lübeck

             Dipl.-Ing. (FH) Marc Thanheiser, Robert Koch-Institut, Berlin

             Dr. Frank Wille, HYBETA GmbH, Münster

             Dr. Frank Wolschendorf, HTK Hygiene Technologie Kompetenzzentrum GmbH, Bamberg

             Autorenteam der Arbeitsgruppe
             Prof. Dr. Clemens Bulitta

             Prof. Dr. Dirk Höfer (Leiter Autorenteam)

             Nina Passoth

             Dr. Simone Schulte

             Dr. Martin Seifert

www.vdi.de
Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen    3

Inhalt
Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen                                                3
1    Zusammenfassung                                                                              4
2    Material                                                                                     5
     2.1 Passive Beschichtungen                                                                   6
     2.2   Aktive Materialien                                                                     7
3    Wirkmechanismen antimikrobieller Substanzen                                                  9
     3.1 Antimikrobielle Wirkung passiver Oberflächen                                             9
     3.2   Wirkmechanismen aktiver Oberflächen                                                    10
           3.2.1 Antimikrobielle Wirkung kontaktaktiver Oberflächen                               10
           3.2.2 Antimikrobielle Wirkung ionenfreisetzender Oberflächen                           11
     3.3   Ausblick auf Zukunftstechnologien                                                      13
4    Rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen                                              14
5    Bewertung praxisrelevanter Prüfverfahren für Hygienemaßnahmen                                16
     5.1 Hintergrund                                                                              16
     5.2   Grundlegender Aufbau der Prüfverfahren und Wirkprinzipien der
           Agenzien                                                                               16
     5.3   Einstufung international üblicher (normativer) Methoden                                19
     5.4   Experimentelle Prüfverfahren                                                           21
     5.5   Alternative, nicht kulturelle Methoden                                                 23
6    Fazit und Ausblick                                                                           29

                                                                                        www.vdi.de
Antimikrobielle Oberflächen zur Infektionsprävention - Werk- und Wirkstoffe, Prüfverfahren sowie rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen - VDE
4   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             1 Zusammenfassung
             Um das Risiko der Verbreitung von pathogenen Erre-       Methoden zur Anwendung. Die Wirkmechanismen
             gern über Berührungsoberflächen zu verringern, wer-      antimikrobieller Substanzen werden, soweit bekannt,
             den – neben Maßnahmen zur Standardhygiene – anti-        im Report vorgestellt. Die derzeit existierenden nor-
             mikrobielle Technologien und Werkstoffe genutzt. In      mativen Vorgaben werden jedoch den vielfältigen
             Abhängigkeit von der angewandten Technologie und         Fragestellungen, Anforderungen bzw. Anwendungs-
             den chemisch-physikalischen Möglichkeiten der be-        fällen vor allem aus der klinisch infektiologisch rele-
             teiligten Komponenten (Material, Wirkstoff, Impräg-      vanten Sicht nicht voll gerecht: Es ist mit normativen
             nierungsverfahren) kann eine Wirksamkeit der Ober-       Methoden bisher nicht möglich, den Beitrag antimik-
             flächen gegen diverse Mikroorganismen entweder           robiell wirksamer Produkte zur Unterbrechung von
             durch Nutzung von massiven Materialien mit intrinsi-     Infektionsketten zu bewerten oder eine Nutzen-Ri-
             scher antimikrobieller Eigenschaft oder durch Be-        siko-Abwägung vorzunehmen, da ihr Prüfaufbau die
             schichtung wie auch Imprägnierung mit antimikro-         Praxisanwendung nicht berücksichtigt. Dies betrifft
             biellen oder antiadhäsiven Stoffen erzielt werden.       z. B. verschmutze Oberflächen, Austrocknung,
                                                                      Mischpopulationen, Umweltorganismen sowie die
             Die antimikrobielle Ausstattung von Oberflächen er-      Ausbildung von Überdauerungsformen (z. B. viable
             folgt insbesondere in hygienesensiblen Bereichen.        but not culturable, VBNC). Vielen Firmen ist daher
             Anwendungsbereiche sind vor allem Oberflächen von        unklar, wie eine praxisnahe Prüfung antimikrobieller
             medizintechnischen Geräten und Bedarfsgegenstände        Oberflächen aussehen kann. Demgegenüber finden
             in Krankenhäusern sowie in Einrichtungen des ambu-       sich weltweit in Forschungs- und Entwicklungslabo-
             lanten Gesundheits- und Sozialwesens. Hinzu kom-         ren eine Vielzahl experimenteller Prüfansätze, die
             men Oberflächen im öffentlichen Raum, im Lebens-         neue Möglichkeiten der Bewertung antimikrobieller
             mittelsektor und in der Tierhaltung. Die Betrachtung     Oberflächen eröffnen: Diese benötigen jedoch zu-
             von Berührungsoberflächen über das Gesundheitswe-        nächst eine technologische Bewertung, um ihre Gren-
             sen hinaus entspricht dem sektorübergreifenden, inter-   zen und Einsatzgebiete wissenschaftlich zu erfassen
             disziplinären One-Health-Ansatz, der die enge Zu-        und sie den interessierten Industriezweigen zur Verfü-
             sammenarbeit zwischen der Human- und Veterinär-          gung zu stellen.
             medizin als Voraussetzung für die Erhaltung und För-
             derung der Gesundheit von Mensch und Tier, für die       Es ist zu beachten, dass passende Prüfmethoden im-
             Einsparung von Ressourcen und den Erhalt einer in-       mer in Abhängigkeit von dem postulierten Wirkme-
             takten Umwelt verfolgt. Der Statusreport ermöglicht      chanismus auszuwählen sind. Auch sollten Prüfme-
             in Abhängigkeit von der Anwendung, dem Werkstoff         thoden gewählt werden, die deutlich mehr Anwen-
             und Wirkstoff eine weitgehend praxisnahe Leistungs-      dungsbezug zeigen als die derzeitigen normierten
             beurteilung der antimikrobiellen Oberfläche zur In-      Verfahren. Die bekannten praxisrelevanten Prüfver-
             fektionsprävention.                                      fahren für Hygienemaßnahmen werden im Statusre-
                                                                      port vorgestellt und bewertet. Die bisher noch experi-
              Generell gilt für antimikrobielle Oberflächen: Sie      mentellen Methoden sollten alsbald standardisiert und
              dienen zur Ergänzung der Flächenhygiene und er-         etabliert werden, um dem Entwickler, Hersteller und
              setzen die im einrichtungsspezifischen Hygiene-         Anwender gleichermaßen die notwendige, praxistaug-
              plan ausgewiesenen Hygienemaßnahmen (Reini-             liche, hygienische Sicherheit zu bieten.
              gung, Desinfektion) nicht. Daher sind sowohl Rei-
                                                                      Eine zukunftsfähige optimierte Hygiene im Gesund-
              nigungs- als auch Desinfektionsmaßnahmen zur
                                                                      heitswesen benötigt Labor-, Feld-, und Benchmark-
              Basishygiene weiterhin entsprechend der einrich-
                                                                      tests, die dabei helfen, die Wirksamkeit von antimik-
              tungsindividuellen Hygienepläne durchzuführen
                                                                      robiellen Werk- und Wirkstoffen, auch im Zusam-
              und die Vorgaben der Kommission für Kranken-
                                                                      menspiel mit neuen Reinigungsprozessen, exakt zu
              haushygiene und Infektionsprävention (KRINKO)
                                                                      bewerten. Mit Blick auf das drängende Problem stei-
              zu berücksichtigen.
                                                                      gender Resistenzen ist die Politik gefordert, notwen-
                                                                      dige Forschungsprojekte zu ergänzenden Hygiene-
             Rechtliche und regulatorische Anforderungen sehen        maßnahmen zu fördern und zu finanzieren. Dabei
             einen produkt- und anwendungsspezifischen Nach-          sollten auch das Mikrobiom betreffende Fragen ver-
             weis der Wirksamkeit vor, zum Teil bis hin zur Be-       bindlich aufgenommen werden. Gleiches gilt für Un-
             wertung einer spezifischen Infektionsprävention. Auf     tersuchungen, die klären, inwiefern antimikrobielle
             der Laborebene kommen zur Wirkungsbeurteilung an-        Oberflächen die Resistenzentwicklung beschleunigen
             timikrobiell wirksamer Oberflächen daher unterschied-    und/oder verstärken sowie zur Verringerung der Orga-
             liche, für den jeweiligen Anwendungsfall ausgewählte     nismenvielfalt beitragen können.

www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen          5

2 Material
Unter dem Begriff der antimikrobiellen Oberflächen        rund 30 % der Publikationen auf silberbasierte Sys-
sind Materialien und Substanzen zusammengefasst,          teme, 17 % auf Chitosan und 14 % auf Titan fokussie-
die das Wachstum und die Vermehrung von Mikroor-          ren. Kupfer- und zinkbasierte Beschichtungen spielen
ganismen begrenzen oder verhindern.                       im Forschungsumfeld aktuell eher eine untergeord-
                                                          nete Rolle (5 % und 4 %) [2]. Von Beschichtungen
Im Bereich von Forschung und Entwicklung wie auch         abzugrenzen sind Oberflächen von monolithischen
in der derzeitigen industriellen Fertigung stehen anti-   Materialien, z. B. reines Kupfer und Kupferlegierun-
mikrobielle Oberflächen aufgrund eines breiten Wir-       gen in Form von Werkstoffen [67]. Die breite For-
kungsspektrums im Fokus. Diese Flächen unterschei-        schung zu dieser Materialklasse fand bei der Auswer-
den sich zum Teil stark in ihrer Wirksamkeit aufgrund     tung durch AMiCI keine Berücksichtigung.
des zugrunde liegenden Wirkmechanismus. Die
Mehrheit der aktuell eingesetzten antimikrobiell wir-     Grundsätzlich werden antimikrobielle Materialien
kenden Substanzen basiert auf Hydrogelen, Polyethy-       nach ihrem zugrunde liegenden Wirkmechanismus
lenglykol (PEG), anorganischen und organischen            nach „aktiv“ (Wirkstoff freisetzend sowie kontaktak-
(Nano-)Partikeln, antimikrobiellen Peptiden (AMP)         tiv) und „passiv“ klassifiziert (vgl. Bild 1). Das Ober-
und quaternären Ammoniumverbindungen (QAC) [1].           flächendesign (chemische oder strukturelle Modifika-
Durch chemische Modifikationen und Kombinationen          tion der Oberfläche) ist hierbei von großer Bedeutung.
der einzelnen Wirkstoffe erweitert sich das Feld der      Die Struktur bzw. Topografie können beispielsweise
antimikrobiellen Substanzen noch einmal.                  den hygienischen Zustand der Oberfläche in vorteil-
                                                          hafter Weise beeinflussen, z. B. durch eine Verringe-
Eine im Rahmen des EU-COST-Netzwerks AMiCI                rung der mikrobiellen Beladung. Dabei liegt auf der
(Anti Microbial Coating Innovations) durchgeführte        Verschleißeigenschaft der Oberflächen ein besonderes
Literaturrecherche in Bezug auf antimikrobielle Sub-      Augenmerk, da diese erheblich die Anschmutzung
stanzen und Beschichtungen und die zugrunde liegen-       und Reinigbarkeit beeinflusst [3; 4]
de antimikrobielle Strategie hat gezeigt, dass sich

Bild 1. Etablierte (fett hervorgehoben) und potenziell anstehende (normal) Strategien für antimikrobi-
elle Wirkstoffe (in Anlehnung an [1])

       PEG       Polyethylenglykol
       QAC       quaternäre Ammoniumverbindungen
       AMP       antimikrobielle Peptide

                                                                                                     www.vdi.de
6   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             Es ist daher essenziell, dass multidisziplinäres Fach-   anfälliger Patientengruppen wie Neonaten und Im-
             wissen in den Entwicklungsprozess einfließt. Nur so      munsupprimierte) und Umwelt toxikologisch unbe-
             können aus mikrobiologischer und werkstoffwissen-        denklich sein müssen. Außerdem müssen – außer bei
             schaftlicher Perspektive                                 massiven Werkstoffen (die mit dem Wirkstoff gleich-
                                                                      zusetzen sind) – die Wirkstoffe so in das behandelte
                mögliche Wechselwirkungen zwischen der Ober-         Material eingebunden sein, dass sie nicht undefiniert
                 fläche und den in der jeweiligen Umgebung am         freigesetzt werden (z. B. ausgasen) und über den Le-
                 wahrscheinlichsten vorkommenden Mikroorga-           benszyklus permanent zur Verfügung stehen. Letzt-
                 nismen bewertet,                                     lich muss gewährleistet werden, dass bei der Entsor-
                                                                      gung der behandelten Materialien, z. B. in Müllver-
                Verschleißmechanismen charakterisiert und            brennungsanlagen, keine Schadstoffreste entstehen.
                für die Aufbereitung geeignete Reinigungs- und       Der Fokus des Statusreports liegt auf den antimikro-
                 Desinfektionsmittel festgelegt werden.               biellen Materialen und deren chemischen Modifikati-
                                                                      onen, die derzeit in der Praxis bereits genutzt werden
             Darüber hinaus spielen Realisierbarkeit, Produktions-
                                                                      bzw. am weitesten wissenschaftlich untersucht sind.
             kosten und Verträglichkeit mit herkömmlichen Be-
                                                                      Der zugrunde liegende Wirkmechanismus bzw. die
             schichtungssystemen und deren Eigenschaften eine
                                                                      Wirkung auf Mikroorganismen sowie etablierter Prüf-
             große Rolle. Damit hat auch der gesamte Herstel-
                                                                      methoden zur antimikrobiellen Wirksamkeit stehen
             lungs- und Fertigungsprozess einen erheblichen Ein-
                                                                      dabei im Vordergrund. Wo erforderlich, wird auf Be-
             fluss auf die Wirksamkeit der antimikrobiellen Ober-
                                                                      schichtungstechnologien aus Gründen der Vollstän-
             flächen (z. B. thermische Vernetzungsprozesse, Ein-
                                                                      digkeit eingegangen. Die nachfolgenden Angaben be-
             bettung partikulärer Stoffsysteme in, sowie deren Par-
                                                                      züglich der Wirksamkeit können nur als orientierend
             tikelverteilung an der Oberfläche, ionische Wechsel-
                                                                      angesehen werden, da eine valide realitätsnahe Prüf-
             wirkung).
                                                                      methode bislang nicht zur Verfügung steht.
             Für die Anwendung hygienisch relevanter Oberflä-
             chen in der Infektions- und Kontaminationsprävention
             müssen bestimmte Anforderungen an die antimikro-         2.1    Passive Beschichtungen
             biellen Eigenschaften erfüllt werden, die praxisnahe
             Prüfungen berücksichtigen sollten:                       Die Oberflächeneigenschaften wie Rauheit, Oberflä-
                                                                      chenenergie (z. B. Benetzbarkeit) und der Gehalt an
                mechanische und chemische Beständigkeit              Nährstoffen wie auch an toxischen Substanzen (z. B.
                                                                      Restmonomere) beeinflussen zum Teil sehr stark die
                breites Wirkungsspektrum gegenüber Viren,            Anhaftung (Adhäsion) der Bakterien und die damit
                 Bakterien und Pilzen                                 mögliche einhergehende Ausbildung eines Biofilms
                                                                      (Bild 2).
                schneller antimikrobieller Wirkungseintritt inner-
                 halb von 5 min bis 60 min mit hoher Reduktion
                 mit mindestens drei Log10-Stufen

                Wirksamkeit an der Grenzfläche fest/gasförmig

                Langzeiteffekt über die Lebensdauer einer Be-
                 schichtung bzw. Wirkverlust bei schadhafter
                 Beschichtung

                Wirksamkeit auch bei organisch und anorganisch
                 verschmutzter Oberfläche (z. B. Fett, Blut,
                 Schweiß, Partikel)
                                                                      Bild 2. Schematische Darstellung der Phasen
                keine Förderung der Ausbildung von Resistenzen       während der Ausbildung eines Biofilms auf ei-
                                                                      ner Substratoberfläche [5]
                kein Allergisierungspotenzial
                                                                      Bei passiven Beschichtungen wird unter anderem die
                keine adversen Effekte auf Mensch und Umwelt         Strategie verfolgt, durch eine maßgeschneiderte Ober-
                 (auch nach dem Lebenszyklus)                         flächenstrukturierung oder Funktionalisierung die
                                                                      Kontaktkraft zwischen Mikroorganismen und der Be-
             Ebenfalls zu beachten ist, dass die verwendeten anti-    schichtung zu reduzieren (Anti-Adhäsion). Dadurch
             mikrobiellen Substanzen auch bei Langzeitwirkung         können Bakterien leicht von der Oberfläche entfernt
             grundsätzlich für Mensch (einschließlich besonders       werden, noch bevor sich ein Biofilm ausbilden kann.

www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen         7

Darüber hinaus werden verschiedene Technologien            Wie bereits einleitend erwähnt unterscheiden sich me-
gezielt miteinander kombiniert. So können beispiels-       tallbasierte, partikuläre Stoffsysteme von monolithi-
weise in eine antiadhäsive Oberfläche Wirkstoff frei-      schen Metalloberflächen. Der zugrunde liegende
setzende Materialien eingebettet oder gezielt die          Wirkmechanismus ist zwar der gleiche wie bei den
Oberflächenenergie erniedrigt und die Polarität einer      entsprechenden Metallpartikeln, jedoch verbraucht
Oberfläche erhöht werden. Dadurch ist es möglich,          sich der Wirkstoff nicht über die Einsatzdauer.
die Benetzbarkeit und somit die Anhaftung von Bak-
terien deutlich zu reduzieren. Beispielsweise sind die     Für Metalloxide wie Titanoxid (TiO2), Zinkoxid
bakteriellen Adhäsionskräfte auf einer nanostruktu-        (ZnO), Magnesiumoxid (MgO) oder den frühen Über-
rierten, hydrophilen Aluminiumoberfläche um den            gangsmetalloxiden wie Molybdänoxid (MoO3), Wolf-
Faktor 4 geringer als im Vergleich zur elektropolier-      ramoxid (WoO3) oder Zinkmolybdat (ZnMoO4) wird
ten Oberfläche desselben Materials [6].                    ebenfalls eine breite antimikrobielle Wirksamkeit be-
                                                           richtet [9]. Die Wirkmechanismen sind dabei jedoch
Die Nanostrukturierung und Hydrophilierung von             zum Teil unterschiedlich und können beispielsweise
Oberflächen mittels Polystyrol-Nanofasern in Kombi-        eine auf fotokatalytische Aktivität der eingesetzten
nation mit einer Plasmabehandlung zur Aktivierung          Substanzen und der daraus resultierenden Bildung von
der Oberfläche resultiert in einer geringeren Anhaf-       freien Radikalen oder der Erzeugung energiereicher
tung von Mikroorganismen [1].                              Oberflächen zurückgeführt werden.

Polymere Hydrogele (z. B. Polyacrylsäure (PAA), Po-        Eine weitere Gruppe innerhalb der anorganischen
lyethylenglykol (PEG)) bilden die Basis für eine Viel-     Substanzen sind Si-Polymere, z. B. Polysiloxane.
zahl an unterschiedlichen Modifikationen. Von Hyd-         Analysen an mit quaternären Ammoniumsalzen modi-
rogelen abgeleitete und mit Metall-Nanopartikeln,          fizierten Block-Copolymeren zeigten eine antibakteri-
Metalloxid-Nanopartikeln, Chitosan-Partikeln oder          elle Aktivität. Superhydrophobe Beschichtungen auf
AMPs funktionalisierte Beschichtungen oder Materi-         Basis von Siloxanen und Fluorosiloxanen zeigen eine
alverbünde weisen antimikrobielle Eigenschaften auf        sehr geringe Adsorption der Proteinschicht und behin-
[7]. Die Einordnung in die Kategorie der passiven an-      dern dadurch effektiv die Ausbildung eines Biofilms
timikrobiellen Wirkstoffe hängt von den intrinsischen      [10].
Materialeigenschaften ab. Technisch werden funktio-
nalisierte Hydrogele bereits als Membranen, Wirk-          Beschichtungen auf Basis von Kohlenstoff-Nanoröhr-
stofftransportsysteme oder Wundauflagen eingesetzt         chen (CNT), Graphenoxid (GO) oder „diamond like
[7].                                                       carbon“ (DLC) zeigen eine antibakterielle Wirkung
                                                           und eine geringe Zytotoxizität. Aktuell wird noch un-
                                                           tersucht, ob diese Materialien als kontaktaktiv oder
2.2    Aktive Materialien                                  Wirkstoff freisetzend einzustufen sind [1]. CNTs las-
                                                           sen sich zwar einfach in Polymere bzw. polymere
                                                           Oberflächen einbinden, zeigen jedoch eine geringere
                                                           antimikrobielle Aktivität als vergleichsweise Be-
Anorganische Substanzen
                                                           schichtungen auf Basis von GO. Auch lässt sich durch
                                                           Kombination mit anderen antimikrobiell wirksamen
Zu den aktiven Materialien zählt jene Gruppe an Sub-
                                                           Substanzen wie Chitosan, einer chemischen Modifika-
stanzen, bei welchen der Wirkstoff an der Oberfläche
                                                           tion von CNTs oder einer Erhöhung der Länge der
der Substanz freigesetzt wird und dadurch an die Um-
                                                           Nanoröhrchen zusätzlich die Aktivität steigern [1].
gebung abgegeben werden kann. Die wohl bekann-
teste Technologie basiert auf der Verwendung von
metallbasierten (Nano-)Partikeln, die durch geeignete
Beschichtungsverfahren auf einer Oberfläche apple-         Organische Substanzen
ziert oder in eine Oberfläche integriert werden. Frei-
gesetzte Metallionen (z. B. Ag+, Cu2+, Zn2+-Ionen)         Im Gegensatz zu den metallischen oder metalloxidi-
stellen in diesem Fall den Wirkstoff dar. Bei partiku-     schen (Nano-)Partikeln weisen organische (Nano-)
lären Wirksubstanzen wird die antimikrobielle Aktivi-      Partikel eine geringere Temperaturstabilität auf und
tät maßgeblich von der Synthesemethode der Pulver          können daher nur bei spezifischen Beschichtungstech-
und der daraus resultierenden Eigenschaften wie Par-       nologien Anwendung finden. Aufgrund der antimikro-
tikelgröße, Form oder Partikelmorphologie sowie der        biellen Eigenschaften dieser Materialklasse ist diese
von der Verarbeitungstechnologie abhängigen Ein-           ebenfalls in den Fokus von Forschung und Entwick-
bringung der Partikel in die Oberfläche beeinflusst.       lung gerückt.
Weiterführende Informationen zur Nutzung von Na-
                                                           Das aus dem Exoskelett von Krustentieren oder den
nopartikeln finden sich unter anderem im VDI-Status-
                                                           Zellwänden von Pilzen synthetisierte Polysaccharid
report zur Keimreduzierung im klinischen Umfeld [8].
                                                           Chitosan wird häufig in Form von Nanopartikeln in

                                                                                                   www.vdi.de
8   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             Oberflächen eingebracht und zeigt auch in Kombina-      dass die Moleküle die Außenhüllen der Bakterien,
             tion mit anderen antimikrobiellen Substanzen eine       Pilze oder Viren erreichen können und sich keine ste-
             breite antibakterielle, antivirale und fungizide Kon-   rische Hinderungsprobleme ergeben, werden diese
             taktwirkung [11].                                       entweder an eine flexible, kovalent gebundene Poly-
                                                                     merkette (polymer brush) angedockt (Spacer-Effekt)
             Quaternäre Ammoniumverbindungen (QAV) wie               oder direkt an Nanofasern angebunden, z. B. Cellu-
             Benzalkonium- oder Cetrimoniumchlorid sind be-          lose, CNTs oder Silika [1].
             kannte Desinfektionsmittel. Bei kontaktaktiven Be-
             schichtungen kommen QAVs als auf der Oberfläche         Hyperverzweigte Polyethylenimine (PEI) und Modifi-
             immobilisierte Moleküle zum Einsatz. Kontaktaktive      kationen (z. B. N-Alkylierung, Umsetzung von pri-
             Substanzen oder Beschichtungen zeichnen sich da-        mären oder sekundären Aminen in tertiäre Amine
             durch aus, dass erst nach Kontakt mit dem Organis-      oder über Metallnanopartikeln) kommen ebenfalls auf
             mus oder Virus die antimikrobielle Wirkung entfaltet    verschiedenen organischen, anorganischen, natürli-
             und somit der Wirkstoff nicht ständig an der Oberflä-   chen, synthetischen, monolithischen, porösen Oberflä-
             che freigesetzt wird.                                   chen einschließlich kommerzieller Kunststoffe, Texti-
                                                                     lien und Glas zum Einsatz. Darüber hinaus haben Un-
             Eine Umsetzungshürde für diese Technologie besteht      tersuchungen an bestimmten Materialkombinationen
             gegenwärtig noch darin, dass organische antimikrobi-    gezeigt, dass die Inaktivierung von pathogenen und
             elle Moleküle an Aktivität verlieren, sobald diese an   antibiotikaresistenten Stämmen ohne Resistenzbil-
             eine Oberfläche gebunden sind. Um zu gewährleisten,     dung erfolgt [11].

www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen          9

3 Wirkmechanismen antimikrobieller Substanzen
Beeinflusst ein Wirkprinzip Mikroorganismen negativ       geht hervor, dass bei passiven Materialien die mikro-
in deren Vitalität wird die Substanz als antimikrobiell   bielle Besiedlung allein durch eine gezielte physikali-
wirksam bezeichnet. Richtet sich die antimikrobielle      sche Modifikation der Oberfläche eingeschränkt bzw.
Wirkung gegen Bakterien wird sie als bakterizid be-       verhindert wird.
zeichnet. Bei Pilzen werden entsprechend die Begriffe
„levurozid“/“fungizid“, bei Viren „viruzid“ verwen-
det. (Länderspezifische Unterschiede sind zu beach-       Nanostrukturierte Oberflächen –
ten, ab wann ein Wirkstoff als wirksam bezeichnet         Superhydrophob
werden darf.)
                                                          Superhydrophobe Oberflächen (Kontaktwinkel
Zudem werden im Kontext der antimikrobiellen Wirk-
                                                          θ > 150°) werden dem Lotuseffekt aus der Natur
samkeit im englischen Sprachraum häufig die Begriff-
                                                          nachempfunden. Das Blatt der Lotusblume hat eine
lichkeiten „efficacy“, „effectiveness“ oder „efficien-
                                                          hierarchisch aufgebaute Mikro-/Nanostruktur. Unter
cy“ verwendet. Generell beschreibt der Begriff „effi-
                                                          realen Bedingungen hängt die Adhäsion von Mikroor-
cacy“ die Wirksamkeit des Wirkstoffs unter kontrol-
                                                          ganismen fast immer von der Bildung einer Protein-
lierten klinischen oder Laborbedingungen. Während
                                                          schicht auf der Oberfläche und dem Vorhandensein
mit „effectiveness“ die Wirkung unter Praxisbedin-
                                                          von Adhäsionsstellen auf dieser gebildeten Protein-
gungen, also im realen Umfeld bezeichnet wird. Der
                                                          schicht ab (z. B. organische Beladung wie Fingerab-
Begriff „efficiency“ charakterisiert wiederum die Ef-
                                                          druck, Blut, Speichel) [13]. Durch die superhydropho-
fizienz der Oberfläche und stellt einen Zusammen-
                                                          ben Oberflächeneigenschaften in Kombination mit ei-
hang zur Wirtschaftlichkeit der eingesetzten antimik-
                                                          ner Nanostrukturierung und z. B. Polyzwitterionen
robiellen Technologie her. Falls nicht anders gekenn-
                                                          kann die Ausbildung der Proteinschicht reduziert wer-
zeichnet, ist im weiteren Verlauf der Ausführungen
                                                          den [14; 15]. Da die Primäradhäsion von Proteinen
mit antimikrobieller bzw. antibakterieller Wirksam-
                                                          der Startpunkt einer mikrobiellen Besiedlung ist, wird
keit der Begriff der „efficacy“ gemeint.
                                                          eine Biofilmbildung verhindert bzw. verzögert [10;
                                                          16; 17]. Aufgrund der geringen Adhäsionskräfte ist
                                                          auch die Reinigbarkeit von superhydrophoben Ober-
3.1    Antimikrobielle Wirkung passiver                   flächen sehr gut. Weitere interessante Antiadhäsions-
       Oberflächen                                        und antimikrobielle Ansätze finden sich in der Natur
                                                          (Geckofuß [18], nanostrukturierte Zikadenflügelober-
Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt,         fläche [19]).
erfolgt die generelle Einteilung der Materialien an-
hand der jeweiligen antimikrobiellen Technologie. Je      Allerdings ist der Materialverschleiß bei allen nano-
nachdem wie der antimikrobielle Wirkstoff in die          strukturierten Oberflächen vor allem bei häufigen Rei-
Oberfläche eingebunden ist, kann sich der zugrunde        nigungs- und Desinfektionsmaßnahmen im medizini-
liegende Wirkmechanismus unterscheiden. Aus Bild 3        schen Umfeld ein bisher in der Praxis ungelöstes
                                                          Problem.

Bild 3. Wirkmechanismen antimikrobieller Oberflächen [12]

                                                                                                    www.vdi.de
10   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             Zwitterionische polymere Ketten                            Einsatz in der Praxis gilt, dass der Wirkstoff in ausrei-
             (polymer brushes)                                          chend hoher Konzentration auf der Oberfläche vor-
                                                                        handen sein muss, um eine inaktivierende Wirkung zu
             Zwitterionische polymere Ketten (polymer brushes)          entfalten. Um einen langfristigen Effekt zu gewähr-
             besitzen hydrophile und hydrophobe Domänen, die            leisten, muss unabhängig vom Wirkmechanismus da-
             die Adhäsion von Bakterien an eine Oberfläche verzö-       rauf geachtet werden, dass die abgetöteten Mikroorga-
             gern oder sogar verhindern. Der Wirkmechanismus            nismen regelmäßig von der Oberfläche zu entfernen
             wird so beschrieben, dass die hydrophilen Bereiche         sind. Die tote Biomasse kann zum einen den antimik-
             von einer Hydrathülle umgeben sind, die die Protein-       robiellen Effekt maskieren, zum anderen bietet sie or-
             adsorption verhindert. Die Adhäsionskräfte sind so         ganisches Substrat für neu eingetragene Mikroorga-
             schwach, dass die Bakterien die Oberfläche nicht als       nismen.
             solche „erkennen“, in der Wasserphase bleiben und
                                                                        Daher sind sowohl Reinigungs- als auch Desinfekti-
             dadurch empfindlicher gegenüber Antibiotika bzw.
                                                                        onsmaßnahmen zur Basishygiene weiterhin entspre-
             Bioziden sind [20]. Zwitterionische polymere Ketten
                                                                        chend der einrichtungsindividuellen Hygienepläne
             können Bakterienzellen also nicht inaktivieren, son-
                                                                        durchzuführen.
             dern verhindern nur ihre Anheftung und damit die
             weitere Vermehrung. Zur Abtötung von Krankheitser-
             regern müssten entsprechend antimikrobiell wirksame
             Partikel, z. B. Silber, eingebettet werden [21]. Für den   3.2.1    Antimikrobielle Wirkung kontakt-
             Einsatz im medizinischen Umfeld muss die Praxis-                    aktiver Oberflächen
             tauglichkeit dieser Technologie noch bestätigt wer-
             den, auch da Bakterien in der Regel eingebettet in or-
             ganischen Verschmutzungen (Blut, Speichel, Haut-           Quarternäre Ammoniumverbindungen
             schuppen etc.) auftreten und nicht vollkommen frei         (QAV)
             und zugänglich sind.
                                                                        Die antimikrobielle Aktivität von quaternären Ammo-
                                                                        niumverbindungen wird generell über die Länge der
             3.2     Wirkmechanismen aktiver                            N-Alkylkette beeinflusst. So zeigen kürzere Ketten-
                     Oberflächen                                        längen eine optimale Wirkung gegen grampositive
                                                                        Bakterienstämme, während Alkylgruppen mit mehr
             Generell lassen sich die Funktionsmechanismen anti-        Kohlenstoffatomen eine bessere Wirkung gegen
             mikrobiell wirkender Substanzen nach deren Wirkung         gramnegative Bakterien zeigen. Die Aktivität basiert
             auf Mikroorganismen wie folgt einteilen:                   dabei auf der elektrostatischen Wechselwirkung zwi-
                                                                        schen positiv geladenen Bestandteilen der Substanz
                  Zerstörung oder Vernetzung der Zytoplasma-           und der negativ geladenen Bakterienmembran sowie
                   membran                                              der Denaturierung von Strukturproteinen und Enzy-
                                                                        men im Membrankern [11].
                  Zerstörung der Struktur von Eiweißen
                                                                        In der Praxis ist es schwierig, QAVs in Beschichtun-
                  Hemmung/Inaktivierung der Zellwand-, Nuklein-        gen einzubinden, ohne dass sie ihre Wirksamkeit ver-
                   säure- und Proteinbiosynthese und der Synthese       lieren. Die meisten Formulierungen enthalten anioni-
                   von extrazellulär polymeren Substanzen (EPS)         sche Bindemittel wie hydrofunktionelle Polyakrylate
                                                                        oder Polyester, die mit den QAVs koagulieren und so
                  Schädigung des Erbguts (Nukleinsäuren)               ihre Wirksamkeit maskieren. Außerdem müssen die
                                                                        Wirkstoffe durch geeignete Beschichtungsformulie-
                  Hemmung der Zell-Zell-Kommunikation
                                                                        rungen an die Oberfläche kommen, um sich an der
             Die Geschwindigkeit der Inaktivierung für Bakterien        Grenzfläche fest/gasförmig ausrichten zu können. Um
             hängt von dem Abtötungsmechanismus und der Kon-            dieser Herausforderung zu begegnen, werden die bio-
             zentration des Wirkstoffs ab: Je weiter der Wirkstoff      ziden Gruppen wie QAVs oder antimikrobielle Pro-
             zur Entfaltung seiner Wirksamkeit in die Bakterien-        teine (AMP) über Polymerketten oder Zellulose als
             zelle eindringen muss, desto länger ist die benötigte      Nanofasern an die Beschichtungen gebunden („Spacer
             Kontaktzeit. Eine Zerstörung der Zytoplasmamemb-           Effect“). Dies gewährleistet, dass die Moleküle die
             ran geschieht z. B. innerhalb von Minuten, während         Zytoplasmamembran der Bakterien erreichen und ste-
             die Störung oder Unterbrechung des Stoffwechsels           rische Effekte verhindert werden, um antimikrobiell
             der Mikroorganismen meist erst nach Stunden zur In-        zu wirken [22 bis 24].
             aktivierung führt. Entsprechend verlangsamt sich die
             Abtötungsgeschwindigkeit, wenn die Konzentration
             des Wirkstoffs auf der Oberfläche gering ist. Für den

www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen          11

Für den Einsatz in der Praxis muss gewährleistet sein,    Kupfer
dass die Wirkung auch nach mechanischer und chemi-
scher Reinigung bestehen bleibt bzw. sich nach Abra-      Kupfer, Kupferlegierungen und Beschichtungen mit
sion der obersten Schichten, die Wirkstoffe erneut        Kupferpartikeln besitzen antimikrobielle Eigenschaf-
ausrichten können. Zudem ist die ökologische und          ten sowohl gegen grampositive wie gramnegative
toxikologische Bedenklichkeit zu berücksichtigen.         Bakterien [53; 57; 59]. Darüber hinaus verbraucht
                                                          sich der Wirkstoff nicht über die Einsatzdauer und es
                                                          ist ein antimikrobieller Effekt auch bei verschmutzter
Bakteriophagen, antimikrobielle Peptide                   Oberfläche nachweisbar [26].

Antimikrobielle Peptide (AMPs) bestehen typischer         Mindestens vier verschiedene Erklärungsmuster wer-
Weise aus kationischen und hydrophoben Aminosäu-          den derzeit weltweit untersucht:
ren mit einer Gesamtlänge von 12 bis 50 Peptideinhei-
ten. Der genaue Wirkungsmechanismus von AMPs ist             Kupfer bewirkt, dass organische und anorgani-
noch unbekannt. Es wird angenommen, dass sie durch            sche Zellbestandteile durch die Außenmembran
ihre positive Ladung die negativ geladene bakterielle         von Bakterien austreten.
Zellmembran permeabilisieren. Studien zeigen aber
                                                             Kupfer stört das osmotische Gleichgewicht.
auch, dass einige AMPs die Transkription, Translation
oder andere Prozesse wie die DNA-, RNA- und Pro-             Kupfer bindet sich an Proteine, die kein Kupfer
teinsynthese oder auch die bakterielle Zellwandsyn-           benötigen.
these hemmen können. Die Herstellung von AMPs
kann im Bereich von 1.000 Euro/kg bis 1.000.000              Kupfer verursacht oxidativen Stress, indem es
Euro/kg liegen. AMPs lassen sich ebenfalls an Poly-           Wasserstoffperoxid erzeugt.
merketten anbinden. AMPs zeigen ein breites Wir-
kungsspektrum gegen Bakterien und Pilze und gelten        Für die Kupferwirkung wird von einer physikalischen
als zuverlässige, wenn auch kostenintensivere Alter-      Reaktion ausgegangen, die dem ansonsten bioche-
native für antibiotika-beschichtete Medizinprodukte       misch gleichen Wirkmechanismus wie bei entspre-
[1].                                                      chenden Metallpartikeln vorgeschaltet ist („Batterie-
                                                          Kurzschluss-Effekt“) [26]. Bekannt ist, dass sich im
Eine etwas kostengünstigere und ebenfalls neue Alter-     Inneren von abgetöteten Bakterien Kupferionen nach-
native ist die Immobilisierung von Bakteriophagen         weisen lassen. Wie das Kupfer ins Innere der Zellen
(Viren) auf Oberflächen. Diese sind wirtsspezifisch       gelangt, ist noch unklar, ebenso, wie der bakterizide
und können ein breites Wirtsspektrum über mehrere         Prozess ausgelöst wird. In Laborversuchen konnte
Bakterienstämme oder -arten haben. Die Anlagerung         nachgewiesen werden, dass Bakterien nur dann inakti-
von Bakteriophagen an eine Oberfläche kann durch          viert werden, wenn diese in direktem Kontakt mit der
Sorption, elektrostatische Bindung und kovalente Bin-     kupferhaltigen Oberfläche stehen. Einzelne Kupferio-
dung erreicht werden [25].                                nen in einer Flüssigkeit reichen dafür oft nicht aus
                                                          [27].
Die beiden alternativen Ansätze sind jedoch im medi-
zinischen Bereich eher für den Einsatz bei Implanta-      Im Gegensatz zu anderen metallischen oder organi-
ten oder Kathetern geeignet, da sie zur Entfaltung ih-    schen, ausschließlich toxischen Stoffen, steuert Kup-
rer Wirksamkeit ein physiologisches Milieu (Feuch-        fer als Biometall bei allen Lebensformen viele zent-
tigkeit, pH-Wert, Salzgehalt) brauchen. Darüber hin-      rale Prozesse des Zellstoffwechsels. Mechanismen der
aus sind die „Biomoleküle“ anfällig für proteolyti-       zellulären Homöostase (z. B. Kupferimport und
schen Abbau.                                              -export) werden seit einigen Jahren intensiv erforscht
                                                          und sukzessive aufgeklärt. Eine Überfrachtung des
                                                          „Entsorgungsmechanismus“ der Zellen gilt als Ursa-
3.2.2 Antimikrobielle Wirkung ionen-                      che der Inaktivierungseigenschaft von Kupfer. Genau
      freisetzender Oberflächen                           diese Überversorgung wird durch den Kontakt bakte-
                                                          rieller Zellen mit Kupfer erreicht. Die Kombination
Massive Oberflächen, die antimikrobiell wirksame          aus „Kupferüberversorgung“ der Bakterienzelle mit
Ionen freisetzen, haben den Effekt einer dauerhaften      „Multi-Targeting“, bei dem Kupfer an vielen Stellen
Wirkung, da das monolithische Material über die Le-       des Bakterien-Stoffwechsels eingreifen kann, macht
bensdauer des Produkts aktive Reagenzien abgibt.          das Element zu einem unspezifischen – nicht nur auf
Oberflächenbeschichtungen mit Metallpartikeln haben       ein oder zwei Angriffspunkte beschränkten – Wirk-
hingegen eine zeitlich begrenzte Wirkung, da der Io-      stoff [28]. Allerdings gibt es einige Untersuchungen,
nenfluss endlich ist und die Beschichtung durch Be-       die belegen, dass es durch eine längere Exposition mit
schädigung an Wirksamkeit verlieren kann.

                                                                                                    www.vdi.de
12   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             Kupfer zur Ausbildung von Toleranzen und Resisten-       In situ generierte Radikale
             zen kommt, vor allem durch die Entwicklung von
             „Efflux-Systemen“.                                       Eine Alternative zu den sich verbrauchenden Bioziden
                                                                      sind (foto-)katalytisch aktive Substanzen wie TiO2,
                                                                      das bei UV-Strahlung reaktive Sauerstoffspezies
             Kupfer(nano)partikel                                     (ROS) bildet. Die wichtigsten sind

             Im Gegensatz zur Verwendung von massivem Kup-               das Hyper- oder Superoxid-Anion (O2–),
             fermaterial können Lacke Kupfer(nano)partikel ent-
             halten. Um eine bessere Verteilung an der Oberfläche        das Hydroxyl-Radikal (•OH),
             zu erlangen und um die Freisetzung der antimikrobiell
                                                                         Wasserstoffperoxid (H2O2) und
             wirksamen Kupferionen zu verzögern, werden Kup-
             ferpartikel z. B. mit Silikapartikeln überzogen und so      Singulett-Sauerstoff (1O2).
             in die Lacke einformuliert. Die Anwesenheit von
             Kupferionen führt zur Erhöhung der Membranperme-         Die Anwesenheit der ROS bewirken oxidativen Stress
             abilität, Deaktivierung der Atmungskette von Bakte-      bei den Mikroorganismen, das heißt, dass die organi-
             rien und Störung der Funktion von Enzymen/Protei-        schen Moleküle von außen nach innen oxidiert wer-
             nen.                                                     den. Zunächst also wird die Zellmembran porös bis
                                                                      hin zur Zerstörung der DNA. TiO2 ist als Weißpig-
                                                                      ment in vielen Fassadenfarben enthalten, die natürli-
             Silber                                                   cherweise UV-Strahlung ausgesetzt sind. In medizini-
                                                                      schen Einrichtungen müssten die Oberflächen aktiv
             Die bakteriziden Mechanismen von Silber-Nanoparti-       mit UV Licht aktiviert werden, was nicht immer an-
             keln sind noch immer nicht vollständig aufgeklärt und    wendbar ist.
             daher Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Bei
             gramnegativen Bakterien wie E. coli werden durch die     Deshalb konzentriert sich die derzeitige Forschung
             Silberionen (Ag+-Ionen) sogenannte „Pits“ in der         auf die Verschiebung der fotokatalytischen Aktivität
             Zellwand erzeugt, die die Membranpermeabilität er-       solcher Beschichtungen in Richtung des sichtbaren
             höhen und die Atmungskette deaktivieren [11; 29].        Lichtbereichs, z. B. über den Effekt der Oberflächen-
             Darüber hinaus basiert die antimikrobielle Wirkung       plasmonenresonanz durch Zugabe von Silber-Nano-
             von Silberionen unter anderem auf der Reaktion mit       partikeln [34] oder Molybdän [35]. In bestimmten
             Thiolgruppen (Sulfhydrylgruppen: –SH). Thiolgrup-        Kristallmodifikationen konnte fotokatalytische Akti-
             pen sind in einer Reihe von Enzymen und anderen          vität auch im sichtbaren Licht nachgewiesen werden.
             Proteinen enthalten, die durch die Bindung an Ag+ in     Wenn eine Kombination von lichtempfindlichen Farb-
             ihrer Funktionsweise beeinträchtigt werden [30]. Die     stoffen wie Kristallviolett mit antimikrobiellen ZnO-
             viruziden Eigenschaften von Silber werden auch auf       Nanopartikeln in Polymeroberflächen eingebaut
             ihre Bindung mit –SH-Gruppen zurückgeführt.              wurde, konnte eine synergistische fotokatalytische an-
                                                                      timikrobielle Aktivität mit typischen weißen Licht-
             Allerdings sind im Kontext der Silbertechnologie         quellen in Krankenhausumgebungen nachgewiesen
             noch wichtige Punkte wie die Definition der minima-      werden [34]. Es wird angenommen, dass die stärkere
             len Hemm-Konzentration (MHK – die niedrigste Kon-        antimikrobielle Wirksamkeit durch den Triplett-Zu-
             zentration eines Wirkstoffs, bei dem die Vermehrung      stand des Farbstoffs verursacht wird und nicht durch
             von Mikroorganismen mit bloßem Auge nicht wahr-          eine Erhöhung der Konzentration von ROS [36].
             genommen werden kann), das Auftreten von Resisten-       Durch die Bildung von ROS ergibt sich in der Praxis
             zen und Nebenwirkungen auf den Menschen zu klären        das Problem, dass das in der Regel organische Binde-
             [31]. Es wurde schon in den 1980er-Jahren gezeigt,       mittel der Beschichtungen abgebaut wird.
             dass eine längere Exposition mit Silber beaufschlag-
             ten Ionenaustauschern zu einer Adaptation der Bakte-
             rien-Biozönose führen kann und große Konzentratio-       Metalloxid-Lewis-Säuren
             nen an Ag+-Ionen toleriert werden können [32]. Unge-
             achtet der antimikrobiellen Eigenschaften von Silber     Mit Metalloxid-Lewis-Säuren wie MoO3 oder WO3
             sind bei Anwendungen auf verletzter Haut wie Wun-        ausgestattete Oberflächen besitzen ebenfalls eine
             den auch die zytotoxischen Eigenschaften im Rahmen       breite antimikrobielle Wirkung [37]. Ihr Wirkmecha-
             von Prüfungen zur Biokompatibilität zu berücksichti-     nismus beruht auf der In-situ-Erzeugung von H3O+-
             gen [33].                                                Ionen durch die Reaktion mit Feuchtigkeit aus der
                                                                      Luft [9; 38]. Die so angesäuerten Oberflächen haben
                                                                      einen pH-Wert von 4,5 bis 5,5.

www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen       13

H3O+-Ionen diffundieren in das Innere der Zellmemb-         Weiterhin wird am Einsatz von mikrobiologischen
ran und beeinflussen das pH-Gleichgewicht und die           Stoffwechselprodukten geforscht wie Quorum-sen-
Transportsysteme der Zelle negativ [9].                     sing- und Quorum-quenching-Molekülen oder auch
                                                            an der Beeinflussung des Mikrobioms auf einer Ober-
                                                            fläche. Hierbei sollen Oberflächen mit nicht pathoge-
3.3     Ausblick auf Zukunftstechnologien                   nen Mikroorganismen ausgestattet werden, wodurch
                                                            sich Pathogene nicht vermehren können.
Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass
sich weitere Technologien in der Entwicklung befin-
den, die aber noch sehr weit von der praxisrelevanten
Anwendung entfernt sind. Dazu gehört die Einbettung
von (Nano-)Partikeln wie

     Carbon Nanotubes (CNTs),

     Graphene or Diamond like Carbons (DLCs),

     Carbon quantum dots (CDs),

     Eisenoxide (z. B. Fe3O4-Nanopartikel oder
      SPIONs (superparamagnetisches Eisenoxid))
      [11].

                                                                                                     www.vdi.de
14   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             4 Rechtliche und regulatorische
               Rahmenbedingungen
             Die Medizinprodukteverordnung MDR 2017/745                  die Kontaktzeit der Mikroorganismen mit dem
             schreibt im Anhang I, Kapitel II vor, dass die Pro-          Körper
             dukte und ihre Herstellungsverfahren so ausgelegt
                                                                      anzupassen.
             werden, dass ein Infektionsrisiko für Patienten, An-
             wender und Dritte ausgeschlossen oder so gering wie      Auch das RKI sieht Risiken bei der Auslobung anti-
             möglich gehalten wird. Daraus lässt sich die Forde-      mikrobieller Oberflächen wie einer möglichen nach-
             rung nach einem quantifizierbaren Ausmaß der Infek-      lassenden Wirksamkeit durch
             tionsprävention herleiten. Eine solche Quantifizierung
             wird beispielsweise im Rahmen einer klinischen Be-          Abnutzung von antimikrobiellen Beschichtungen
             wertung erforderlich, denn Auslobungen und spezielle         oder Verschmutzung,
             Produktmerkmale müssen auf Daten beruhen, die ob-
             jektiv nachvollziehbar und prüfbar sind. Bei der kon-       Kreuzreaktionen mit chemischen Substanzen,
             kreten Umsetzung dieser Forderung verweist die
             MDR zwar auf harmonisierte Normen, doch aktuell             Förderung der Resistenzbildung,
             sind diese, wie in Abschnitt 5 dieses Statusreports
             dargelegt, technisch nicht geeignet, eine Quantifizie-      ungeklärte Öko-/Humantoxizität sowie
             rung der Infektionsprävention zu ermöglichen.
                                                                         Vermittlung einer falschen Sicherheit und
             Weiterhin kommen bei der Hygiene von Medizinpro-
                                                                         Vernachlässigung der evidenzbasierten Standard-
             dukten
                                                                          hygiene [39].
                das Infektionsschutzgesetz (IfSG),
                                                                      Diese Risiken lassen sich jedoch nicht auf alle Wirk-
                die Verordnung über das Errichten, Betreiben und     stoffklassen verallgemeinern, sondern müssen im kon-
                 Anwenden von Medizinprodukten (Medizinpro-           kreten Fall der Nutzung einer spezifischen Hygie-
                 dukte-Betreiberverordnung – MPBetreibV),             nemaßnahme individuell ermittelt werden [40]. Wei-
                                                                      terhin fordert die aktuelle EU-Biozidprodukte-Verord-
                die „Anforderungen an die Hygiene bei der Auf-       nung 528/2012 (BPR) in den entsprechenden Leitli-
                 bereitung von Medizinprodukten“ der Kommis-          nien zur Wirksamkeitsbewertung (Guidance on the
                 sion für Krankenhaushygiene und Infektionsprä-       Biocidal Products Regulation – Volume II Efficacy –
                 vention (KRINKO) beim Robert Koch-Institut           Assessment and Evaluation (Parts B + C)) einen abge-
                 (RKI) und des Bundesinstituts für Arzneimittel       stuften Prüfprozess zur Wirksamkeitsbeurteilung anti-
                 und Medizinprodukte (BfArM) (Stand: 2012, er-        mikrobieller Oberflächen. Demnach sollten die Pro-
                 gänzt 2018) und                                      dukte zunächst unter relevanten Bedingungen geprüft
                                                                      werden (Feuchte und Temperatur), um den „Proof of
                Normen für das Aufbereiten von Medizinproduk-        principle“ zu belegen. Anschließend soll die prakti-
                 ten (z. B. VDI 5700 Blatt1) sowie für die Herstel-   sche Anwendung im Labor unter praxisnahen Bedin-
                 lerangaben in der Gebrauchsanweisung                 gungen simuliert werden, um die Dauer des Effekts,
                                                                      die Dauer bis zum Wirkeintritt oder den Einfluss von
             zur Anwendung. Auch die US-amerikanische Zulas-          Reinigungsvorgängen und Alterungsprozessen zu be-
             sungsbehörde FDA empfahl in einer 510 K premarket        urteilen. Sofern eine Aussage zu einem gesundheitli-
             notification (Submissions for Medical Devices that in-   chen Nutzen eines Produkts getroffen wird, fordern
             clude antimicrobial agents, draft guidance), zur Beur-   die Leitlinien unter Umständen in einem dritten
             teilung antimikrobieller Produktoberflächen im Ge-       Schritt Feldstudien zum Wirksamkeitsnachweis.
             sundheitswesen die klinische Nutzung zu simulieren,
             das heißt die vorgesehene Praxisanwendung zu be-         Betrachtet man z. B. die Lieferkette in der Lack-
             rücksichtigen und                                        industrie, so steht am Anfang der Hersteller des anti-
                                                                      mikrobiellen Additivs, das im Rahmen des „Biozid-
                Temperatur,                                          rechts“ verkehrsfähig sein muss. Das antimikrobielle
                Körperflüssigkeit,                                   Additiv wird vom Lackhersteller in einen antimikro-
                                                                      biellen Lack einformuliert. Der Hersteller muss diese
                Dynamik der Umgebung sowie                           Formulierung als Biozidprodukt zulassen, sofern

www.vdi.de
VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen        15

keine Übergangsregelungen zur temporär zulassungs-        Mittels der gesetzlichen Regelungen der Biozidpro-
freien Verkehrsfähigkeit anwendbar sind. Der indust-      dukteverordnung wird gewährleistet, dass Biozide so-
rielle Verwender, der mit dem antimikrobiellen Lack       wohl wirksam gegen Schadorganismen sein müssen
z. B. Möbel, Türklinken und Lichtschalter ausstattet,     und dennoch insbesondere hinsichtlich ihrer Auswir-
stellt damit sogenannte „behandelte Waren“ her.           kungen auf Gesundheit und Umwelt sicher gehand-
Diese sind im Fall der Auslobung einer bioziden           habt werden können. Andererseits stellt die Biozid-
Funktion oder bei Vorliegen entsprechender Vor-           produkteverordnung eine Innovationsbremse für die
schriften in der Genehmigung des enthaltenen Wirk-        Entwicklung neuer antimikrobieller Technologien dar
stoffs kennzeichnungspflichtig. Allerdings ist festzu-    [42].
stellen, dass Produkte, die bislang in Deutschland als
„behandelte Waren“ angesehen worden sind, z. B. ein       Die Biozidprodukteverordnung definiert:
Hundebett mit einem Insektizid, ein T-Shirt, ein
Schlafsack mit Repellentwirkung oder beschichtete            Biozidprodukte (Art. 3 Abs. 1 Bst. a):
Türklinken (nicht jedoch Türklinken aus massivem
                                                              ‒   jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch in der
Kupfer, die aufgrund ihrer intrinsischen antimikro-
                                                                  Form, in der er/es zum Verwender gelangt,
biellen Wirkweise nicht als „behandelte“ Ware gel-
                                                                  und der/das aus einem oder mehreren Wirk-
ten), von vielen anderen Mitgliedsstaaten als Biozid-
                                                                  stoffen besteht, diese enthält oder erzeugt,
produkte identifiziert werden (siehe CA-May18-
                                                                  der/das dazu bestimmt ist, auf andere Art als
Doc.6.1.b [41]). Das würde den Zulassungsaufwand
                                                                  durch bloße physikalische oder mechanische
in Deutschland noch einmal stark erhöhen. Für die
                                                                  Einwirkung Schadorganismen zu zerstören,
Forschung an und Entwicklung von neuen Biozidpro-
                                                                  abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre
dukten beinhaltet die Biozidprodukteverordnung Son-
                                                                  Wirkung zu verhindern oder sie in anderer
derregelungen gemäß Artikel 56, um entsprechend er-
                                                                  Weise zu bekämpfen;
forderliche Arbeiten unabhängig von der Verkehrsfä-
higkeit des jeweiligen Wirkstoffs oder Produkts zu er-        ‒   jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch, der/
möglichen. Ein hoher zeitlicher und finanzieller Auf-             das aus Stoffen oder Gemischen erzeugt wird,
wand der Genehmigung von neuen antimikrobiellen                   die selbst nicht unter den ersten Gedanken-
Wirkstoffen und der Zulassung von Biozidprodukten                 strich fallen und der/das dazu bestimmt ist,
bzw. Biozidproduktfamilien gepaart mit der Unsicher-              auf andere Art als durch bloße physikalische
heit, wie man die antimikrobielle Wirkung der Ober-               oder mechanische Einwirkung Schadorganis-
flächen nachweisen soll, lassen viele Lackhersteller              men zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich
davor zurückschrecken, antimikrobielle Beschichtun-               zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder
gen zu entwickeln oder Anwender antimikrobielle Be-               sie in anderer Weise zu bekämpfen.
schichtungen einzusetzen. Dazu kommt die Unsicher-
heit, was als Biozidprodukt und was als behandelte           behandelte Waren (Art. 3 Abs. 1 Bst. l):
Ware qualifiziert wird, denn falls z. B. auch antimik-
robiell ausgestattete Krankenhausmöbel separate Bio-          ‒   alle Stoffe, Gemische oder Erzeugnisse, die
zidprodukte wären, wäre der Einsatz von antimikro-                mit einem oder mehreren Biozidprodukten be-
biellen Beschichtungen nicht mehr wirtschaftlich.                 handelt wurden oder denen ein oder mehrere
                                                                  Biozidprodukte absichtlich zugesetzt wurden.

                                                                                                    www.vdi.de
16   VDI-Statusreport – Leistungsbeschreibung antimikrobieller Oberflächen

             5 Bewertung praxisrelevanter Prüfverfahren
               für Hygienemaßnahmen
             5.1     Hintergrund                                      kaum systematische klinische Studien. In der rando-
                                                                      misierten klinischen Multicenter-Studie von Salgado
             Im Krankenhaus erworbene (nosokomiale) Infektio-         et al. [47] konnte gezeigt werden, dass Patienten in
             nen und antimikrobielle Resistenzen haben sich zu ei-    mit massiven Kupferoberflächen ausgestatteten Be-
             ner weltweiten Bedrohung entwickelt. Basierend auf       handlungsräumen auf Intensivstationen, z. B.
             den Daten des europäischen HAI-Netzwerks für Kran-
             kenhausinfektionen (Healthcare-associated Infections          Bettgriffe und -gitter,
             Surveillance Network) infizieren sich in Europa jähr-
                                                                           Beistelltische,
             lich etwa 3,2 Millionen Patienten nach einem Aufent-
             halt in Gesundheitseinrichtungen und etwa 37.000              Infusionsständer,
             Personen versterben als direkte Konsequenz einer sol-
             chen Ansteckung [43; 44]. Einer aktuellen Prävalenz-          Klingelknöpfe sowie
             studie zufolge machen davon Infektionen, die über in-
             vasiv angewendete Medizinprodukte erfolgen, etwa              Türbeschläge
             25,6 % aus [33]. Auch nicht belebte Oberflächen, wie
             Nachttische oder Textilien, können als Quellen für die   eine signifikant geringere Rate an nosokomialen In-
             Übertragung von Krankheitskeimen angesehen wer-          fektionen aufweisen und auch signifikant geringer mit
             den [36]. Bakterien wie                                  resistenten Krankheitserregern wie MRSA und VRE
                                                                      besiedelt waren als Patienten, die kupferfreien Kon-
                  Vancomycin-resistenter Enterokokkus (VRE),         trollräumen zugewiesen wurden [47; 48].

                  Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus      Doch nicht nur zur Anwendung im Krankenhausbe-
                   (MRSA) und                                         reich, auch zur Entwicklung neuer Materialien sowie
                                                                      zur Effektivitätskontrolle regelmäßig durchgeführter
                  Acinetobacter baumannii                            Reinigungsmaßnahmen am Inventar, sind solide Prüf-
                                                                      verfahren erforderlich, die möglichst standardisiert
             sind in der Lage, über mehrere Wochen auf Oberflä-       und in jeder Einrichtung reproduzierbar durchgeführt
             chen zu überleben. Durch Berührung kontaminierter        werden. Dies ist mitunter nicht immer leicht: Denn
             Oberflächen durch den Patienten selbst, seine Besu-      während in der Praxis eine vorhandene Kontamination
             cher oder durch den Untersucher bzw. das Personal        auch bei geringen Keimzahlen zuverlässig nachgewie-
             kommt es zu Keimübergängen auf den Patienten [46].       sen werden sollte, können in der Materialentwicklung
                                                                      in der Regel Oberflächen nicht mit praxisnahen Erre-
             Die Unterbrechung solcher Infektionsketten erfolgt in
                                                                      germengen kontaminiert werden, um diese bezüglich
             Einrichtungen des Gesundheitswesens bisher durch
                                                                      ihrer Wirksamkeit standardisiert zu evaluieren.
             gezielte und etablierte Hygienemaßnahmen. Regelmä-
             ßige Hand- und Oberflächendesinfektionen reduzieren
             effektiv die Keimbelastung der Oberflächen. Unter-
             stützt werden Hand- und Oberflächendesinfektionen        5.2     Grundlegender Aufbau der Prüf-
             durch Qualitätsstandards für die Desinfektion sowie              verfahren und Wirkprinzipien der
             ein routinemäßiges mikrobiologisches Screening der               Agenzien
             Oberflächen. Solch etablierte Hygienemaßnahmen
             werden zunehmend ergänzt durch innovative Techno-        Der sogenannte Agardiffusionstest ist ein mikrobiolo-
             logien. Denn beispielsweise durch den zeitgleichen       gisches bzw. immunologisches Prüfverfahren, bei
             Einsatz keimabwehrender antimikrobieller Oberflä-        dem die Diffusion biologisch aktiver Stoffe in einem
             chen mit Desinfektions- und Hygieneprotokollen kann      Nährmedium (Agarmedium) untersucht wird. Die
             die Keimbelastung und somit auch das Infektionsri-       Prüfung stammt ursprünglich aus der Antibiotikafor-
             siko weiter reduziert werden. Antimikrobielle Ober-      schung, um die Antibiotikaempfindlichkeit nachzu-
             flächen könnten dabei einen Kontaminationsschutz         weisen. Die zu überprüfenden Materialien werden auf
             darstellen. Jedoch ist es bislang unklar, in welchem     homogen mit Keimen beimpftem Agar-Nährboden
             Umfang diese Zusatzmaßnahme im Zeitraum zwi-             aufgelegt (oder in solche Nährböden eingegossen) und
             schen Reinigung und Desinfektion wirkt. Bis heute        im Brutschrank inkubiert. Die „keimfreie“ Zone
             gibt es zu diesem kontrovers diskutierten Thema          (Hemmhof oder Halo), die um das aufgelegte antimik-

www.vdi.de
Sie können auch lesen