Archäologie der Gegenwart

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Archäologie der Gegenwart

                                                                                                                      Alexander Veling

Zusammenfassung – Der Beitrag plädiert aus einer theoretisch informierten Perspektive für eine Ausweitung archäologischer Forschun­
gen über die Moderne hinaus auf die Gegenwart. Diese Erweiterung des archäologischen Panoramas ermöglicht nicht nur eine Reflexion
des ‚archäologischen Blicks‘, sondern auch den Ausbau der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Relevanz archäologischer For­
schung. Dabei ergeben sich neuartige theoretische, methodische, empirische, rechtliche und ethische Herausforderungen, die der Schär­
fung und Weiterentwicklung der Archäologien, ihres Selbstverständnisses und Methodenrepertoires dienen können. Obwohl eine Archäo­
logie der Gegenwart bisher kaum im deutschsprachigen Raum vertreten wird, sollte die aktuell hohe wissenschaftliche Aufmerksamkeit
auf materielle Phänomene genutzt werden, dieses Projekt anzugehen und die Archäologien künftig im Feld der gegenwartsbezogenen
Disziplinen zu positionieren, solange ein fächerübergreifendes Interesse an Kooperationen und archäologischen Perspektiven existiert.

Schlagworte – Archäologie; Archäologie der Gegenwart; Historische Archäologie; Theorie; Materialität; Disziplinarität; DGUF Tagung
2020

Title – Archaeology of the Present

Abstract – The article pleads for an expansion of archaeological research beyond the modern era to the presence from a theoretically
informed perspective. A broadening of the archaeological panorama not only enables a reflection of the ‚archaeological perspective‘, but
also to expand the social and academic relevance of archaeological research. This results in new theoretical, methodological, empirical,
legal, and ethical challenges that can sharpen and develop archaeology, its self-image, and its methodological repertoire. Although an
‚archaeology of the present‘ has hardly been advocated in the German-speaking countries so far, the current academic attention on mate­
rial phenomena should be used to intensify this project and position archaeology in the field of disciplines directly addressing the world of
today, as long as there is a transdisciplinary interest in cooperation and archaeological perspectives.

Key words – archaeology; archaeology of the present; contemporary archaeology; historical archaeology; theory; materiality; disciplinarity;
DGUF conference 2020

Panorama einer Debatte                                                    Debatte verlieren und langfristig in akademische
                                                                          Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Seit einigen Jahren widmen sich verschiedene                                  Die Vorbehalte gegenüber einer archäolo­
Disziplinen verstärkt der Erforschung materia­                            gischen Erforschung der Moderne, die in Teilen
ler Phänomene. Dabei bildet sich zunehmend ein                            des Faches bestehen, lassen sich hier nahtlos an­
fächerübergreifendes Forschungsfeld heraus, des­                          knüpfen. Während nach meinen Erfahrungen in
sen Ausgangspunkte in so unterschiedlichen Per­                           anderen Kultur- und Sozialwissenschaften ein
spektiven wie ethnologischer Forschung zu ma­                             großes Interesse an archäologischen Forschungs­
terieller Kultur (Hahn, 2005) oder soziologischer                         perspektiven und eine beeindruckende intel­
Raumforschung (Löw, 2001) bis hin zu neomateri­                           lektuelle Offenheit bestehen – was auch auf die
alistischer Philosophie (Barad, 2012) liegen. Dieses                      außerakademische Öffentlichkeit zutrifft –, gerät
theoretisch über „Materialität“ verknüpfte Feld                           eine archäologische Erforschung der Moderne
zeichnet sich nicht nur durch eine lebhafte Debat­                        vor allem fachintern in Rechtfertigungsdruck,
te um Theorie und Konzepte aus, sondern auch                              wobei die prekäre Gesamtsituation hinsichtlich
durch innovative methodische Überlegungen                                 Stellen und Drittmittel wahrscheinlich eine zen­
und kreative empirische Analysen. Die deutsch­                            trale Ursache darstellt. Auffällig sind hier die
sprachigen Archäologien nehmen jedoch nicht                               Diskrepanzen zwischen großem denkmalpflege­
nur eine völlig untergeordnete Rolle in diesen                            rischem Bedarf und wachsendem öffentlichen In­
Debatten ein, sondern ignorieren sie darüber hi­                          teresse auf der einen und der kaum vorhandenen
naus sogar weitgehend. Die Chance einer umfas­                            Verankerung im Rahmen der universitären Lehre,
senden theoretischen Erneuerung, methodischen                             Stellengestaltung und Forschung auf der anderen
Aktualisierung und disziplinären Positionierung                           Seite (vgl. Mehler; Ickerodt; Theune, in diesem
der Archäologien wird somit verpasst. Dadurch                             Band). Auch wenn hier die Diskussionen um ge­
besteht die Gefahr, dass die Archäologien sogar                           änderte Anforderungen des archäologischen Ar­
bei einem ihrer Kernelemente – Materialität – den                         beitsmarktes oder die Frage der „Zuständigkeit“
Anschluss an den Stand der wissenschaftlichen                             zwischen verschiedenen archäologischen Fach­

Eingereicht: 27. Nov. 2020                                                             Archäologische Informationen 43, 2020, 101-106
angenommen: 15. Dez. 2020                                                                                                  CC BY 4.0
online publiziert: 21. Dez. 2020                                    101                     DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
                                                                                         DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Alexander Veling

vereinen sowie im Rahmen der Drittmittelakqui­               schung der Gegenwart gelagert ist. Bezieht man
se eine wichtige Rolle einnehmen (Vortrag Han-               archäologische Forschung auf die Gegenwart,
sen, DGUF-Tagung 2020), hat eine archäologische              ergeben sich vielfältige Überschneidungen mit
Erforschung der Moderne auch weitreichende                   Architektur-, Raum- und Stadtforschung, Regi­
Konsequenzen für die Reflexion und das Über­                 onal-, Sozial- oder Wirtschaftsgeografie, mit De­
denken der archäo­logischen Forschungspraxis                 sign-, Ingenieurs- u. Technikwissenschaften bis
selbst (Bernbeck & Pollock, in diesem Band). Da­             hin zu Sozial- und Kulturanthropologie, Soziolo­
durch betrifft die Debatte um eine Archäologie               gie und einer breiten fächerübergreifenden Refle­
der Moderne nicht nur einen spezifischen Epo­                xion eines Anthropozäns. Der spezifische Beitrag
chendiskurs, sondern die Archäologien in ihrer               der Archäologie und ihre besondere Attraktivi­
Gesamtheit.                                                  tät liegt hier in ihrem breiten Fundus detailliert
   Zweifel an einer archäologischen Erforschung              ausgearbeiteter Techniken und Forschungsprak­
der Moderne sind damit nicht zu trennen von                  tiken, in ihrer Forschungsinfrastruktur und der
Zweifeln an einer genuin archäologischen For­                besonders sensibilisierten Perspektive. Gerade
schungsperspektive überhaupt. Wenn es den                    bei rezenten Kontexten lässt sich, aufgrund des
Archäologien nicht gelingen sollte, eine rele­               umfangreichen und vielfältigen Quellenbe­
vante eigenständige Perspektive auf die Mo­                  standes, das gesamte Repertoire des archäolo­
derne zu entwickeln, die über das hinaus geht,               gischen Methodenkanons ausbreiten, was bei
was verschiedenste Nachbardisziplinen bereits                verschiedenen Prospektionsverfahren beginnt,
erforschen, geraten auch eine Archäologie der                über Survey- und Feldbegehungstechniken und
Spätantike oder des Mesolithikums in Rechtferti­             archäologische Ausgrabungen läuft und bis hin
gungsdruck, weil man im Kern auf dasselbe ar­                zur Freilegung, Bergung, Dokumentation, Klassi­
chäologische Methodenrepertoire zurückgreifen                fikation, Analyse, Präsentation und Vermittlung
kann, vergleichbare Konzepte verwendet und                   von Materiellem geht. Die ursprünglich histo­
damit dieselbe wissenschaftliche Perspektive be­             rische Perspektive der Archäologien schwingt
dient. Der Fokus der Diskussion sollte daher nicht           dabei als Ressource mit, weil eine archäologische
nur auf dem Gegenstand liegen – der Moderne,                 Forschungsperspektive immer multitemporal ar­
sondern auf der Perspektive – Archäologie.                   beitet und ihre Gegenstände historisiert, also hi­
                                                             storisch einbettet und problematisiert.
                                                                 Der ‚archäologische Blick‘ kann sich aber nur
Der ‚archäologische Blick‘                                   dann produktiv auf die Gegenwart entfalten,
                                                             wenn er im Fach verankert wird – ansonsten
Verschiedene archäologische Forschungsgegen­                 bleibt er verschlossen oder wandert disziplinär
stände – beispielsweise Epochen, Räume, Zeiten,              aus. Obwohl eine Systematisierung eines solchen
Kulturen, Artefakte oder Praktiken (Veling, 2019)            Forschungsfeldes bereits in den 1970er-Jahren be­
– erfordern verschiedene Kombinationen archäo­               gonnen wurde (Rathje, 1979; Gould & Schiffer,
logischer Methoden und Forschungstechniken.                  1981; Fewster, 2013), ist es in den deutschspra­
Die Verbindung einzelner Archäologien ergibt                 chigen Archäologien bisher kaum vertreten. Ab­
sich dabei aus dem gemeinsamen Ansatz, auf                   sichtlich abzuwarten, bis rezente materiale Phäno­
materiale Informationen zu fokussieren, um diese             mene künftig in das Bodenarchiv übergegangen
verschiedenen Phänomene zu untersuchen. Die                  und den zahlreichen damit verbundenen tapho­
archäologie-spezifische Perspektive bezeichne ich            nomischen Prozessen unterworfen sein werden,
als den ‚archäologischen Blick‘. Dieser ‚archäolo­           reduziert den archäologischen Methodenkanon
gische Blick‘ lässt sich besonders gut dann einset­          auf das Verfahren der Ausgrabung und somit auf
zen, wenn er mit Feldforschung verbunden wird,               ein einzelnes seiner Elemente. Eine Archäologie
also mit Forschungsansätzen, die Phänomene                   der Gegenwart ist daher auch ein Anlass, archäo­
nicht entkoppelt, sondern in ihrem jeweiligen                logische Forschung weiterzuentwickeln und neue
Kontext ‚vor Ort‘ bzw. ‚in situ‘ untersuchen (zum            Ansätze zu entwerfen, die sich auch für andere
Folgenden Coughlan & Veling, in Vorb.).                      archäologische Kontexte anwenden lassen, bei­
    Betrachtet man Archäologie befreit von einzel­           spielsweise solche der Vormoderne.
nen Forschungsgegenständen als eine auf Feld­
forschung basierende und materiale Analysen
ausgerichtete Forschungshaltung (vgl. Rathje,                Zwischen Denkmalpflege und Sozialforschung
1979; Lucas, 2015), stellt sich automatisch die Fra­
ge, wie der Beitrag einer archäologischen Erfor­             Während die Differenzierung zwischen Archäo­

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne              102
Archäologie der Gegenwart

logie der Moderne und der Gegenwart vollzogen                Dadurch ergeben sich besondere Anforderungen
ist (Überblick über die jüngere Debatte bei Har-             an die Ausbildung und Methodenkenntnisse, die
rison & Breithoff, 2017; grundlegend Harrison &              im deutschsprachigen Raum bisher nicht bzw.
Schofield, 2010), steht die Debatte um die Ausge­            kaum im Archäologiestudium vermittelt werden.
staltung einer Archäologie der Gegenwart noch                    Besondere Anforderungen stellen sich auch,
am Anfang (vgl. Müller, in diesem Band). Die                 was die rechtliche Situation und Fragen des Denk­
Unterschiede ergeben sich aufgrund der verschie­             malschutzes und der Forschungsethik angeht, die
denen Forschungsgegenstände, was die spezi­                  bisher noch wenig entwickelt erscheinen, bezo­
fisch zum Einsatz kommenden Methoden angeht,                 gen auf die Forschungssituation in Deutschland
ebenso wie disziplinäre Kooperationen, die bei               (vgl. Arndt u.a., 2018, 238-239). Deutlich anders
der zeitgeschichtlich orientierten Archäologie der           gestalten sich auch der Arbeitsmarkt und die Be­
Moderne vor allem die Geschichtswissenschaften               rufsaussichten. Während sich für eine historisch
und, bei der Archäologie der Gegenwart, die So­              ausgerichtete Archäologie ein breites Feld von
zialwissenschaften betreffen.                                Denkmalpflege über Grabungsfirmen bis hin zu
    Aus archäologischer Perspektive gerät die ge­            Museen als Arbeitsmarkt etabliert hat, ergeben
genwärtige Welt als in wesentlichen Bestandtei­              sich für eine gegenwartsbezogene Archäologie
len materiell fundiert, konstituiert und legitimiert         bisher kaum bzw. keine Stellen, selbst innerhalb
in den Blick. Somit werden das Materielle selbst             der Universitäten. Somit ist dieses Forschungs­
ebenso wie dessen (De-)Materialisierungen zum                feld derzeit hochgradig von den Konjunkturen
Forschungsgegenstand. Weniger abstrakt ausge­                des Drittmittelmarktes abhängig bzw. wird
drückt, wird die Gegenwart somit auf den archäo­             zu einem Nebenprojekt der ‚eigentlichen‘ For­
logischen Seziertisch verfrachtet. Sie wird gewis­           schungstätigkeit. Anders als beispielsweise bei
sermaßen archäologisiert. Das beginnt bei ihren              einer Archäologie des 19. oder 20. Jahrhunderts
Architekturen und Infrastrukturen, geht über                 besteht kein gesetzlicher Auftrag zur Forschung,
Produktion, Austausch, Aneignung, Modifika­                  sondern diese rechtfertigt sich ausschließlich über
tion, Konsum, Abfall und Verwertung von Din­                 öffentliches Interesse und erworbene Drittmittel
gen bis hin zu der gesellschaftlichen Bedeutung              im Rahmen einzelner Forschungsprojekte.
von Gütern und Rolle von Artefakten in sozialen                  Abgesehen vom öffentlichen Interesse und ei­
Interaktionen (vgl. Veling, 2019; im Kontrast zu             ner daraus gespeisten gesellschaftlichen Bedeu­
den Vorschlägen z. B. von Harrison, 2011; Edge-              tung stellt sich somit immer auch die Frage der
worth, 2014; Lane, 2015; Nativ, 2018; González-              wissenschaftlichen Relevanz. Eine archäologische
Ruibal, 2019; Nativ & Lucas, 2020).                          Forschung, die sich ausschließlich als historische
    Eine solche Archäologie der Gegenwart weist              Disziplin versteht, wird ihren derzeitigen universi­
zahlreiche Überschneidungen mit der Sozial- und              tären Status nur behalten, solange historischer For­
Kulturanthropologie auf. Offen ist daher, wie die­           schung gesellschaftlich wie politisch eine hohe Be­
ses Forschungsfeld universitär verankert werden              deutung zugesprochen wird – was derzeit (noch)
kann (McAtackney, 2020, 226-227). Eine Verortung             der Fall ist (vgl. Nativ & Lucas, 2020). Sofern sich
in der Historischen Archäologie ist ebenso wie in            Debatten dahingehend verändern, dass sich die
der Sozial- und Kulturanthropologie mit Kompro­              gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit enthisto­
missen verbunden, was die Forschungsdiskurse                 risiert – was sicher ein problematischer Vorgang
angeht oder den methodischen Zugang. Während                 wäre –, würde auch eine Archäologie in Rechtferti­
eine Archäologie der Moderne eine enge Anknüp­               gungsdruck geraten, die sich ausschließlich davon
fung an geschichtswissenschaftliche Diskurse                 ernährt, zeitliche oder räumliche Kontexte zu er­
sucht (Industrialisierung, Kolonialismus, Natio­             forschen, in denen sie einen privilegierten Zugang
nalismus, etc.) und archäologische Methoden mit              oder ein empirisches Monopol beansprucht. Wäh­
Archivarbeit, Dokumentenanalyse oder Zeitzeu­                rend der Ausbau verschiedener historisch orien­
geninterviews kombiniert (z. B. González-Ruibal,             tierter naturwissenschaftlicher Forschungsansätze
2020; Bernbeck, 2017; Dézsi, 2018; Theune, 2015),            die Marktstellung der Archäologien herausfordert
rutscht eine Archäologie der Gegenwart in ein                und sie ihres Monopols auch in sicher geglaub­
hybrides Feld aus Archäologie, Ethnografie, Stadt­           ten Kontexten beraubt hat – zu nennen sind hier
planung, Produktdesign, Soziologie etc. und ver­             aDNA-Forschung, Isotopenanalysen, naturwis­
bindet Archäologie mit verschiedenen Beobach­                senschaftliche Datierungsverfahren und material­
tungs-, Analyse und Teilnahmeverfahren (z. B.                wissenschaftliche Forschungen zu Objekten und
De León, 2015; Golovnev, Kukanov & Perevalova,               Befunden –, schält sich die Frage heraus, wo der
2018; Porr, 1998; Coughlan & Veling, in Vorb.).              spezifische Beitrag explizit archäologischer For­

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Alexander Veling

schung heute besteht. Eine Archäologisierung                Modifikationsspuren wurde mit verschiedenen
der Gegenwart ermöglicht hier eine Reflexion,               ethnografischen Beobachtungsverfahren verbun­
die aufgrund neuartiger disziplinärer Konstellati­          den und in praxisorientierte Artefaktbiografien
onen und empirischer Gegenstände das Potenzi­               überführt. Eine zeitliche Differenzierung und Ge­
al besitzt, zu einer grundlegenden theoretischen,           samtanalyse der Artefakte offenbaren dabei die
methodischen und empirischen Aktualisierung                 Formierung und Konsolidierung einer materiel­
der Archäologien beizutragen, die notwendig ist,            len Kultur des Grenzübertritts (De León, 2013).
wenn die Archäologien wissenschaftlich einfluss­                In der Zusammenschau von archäologischen
reich und spannende Partnerinnen in inter- und              und ethnografischen Verfahren ergeben sich viel­
transdisziplinären Forschungen bleiben bzw. wer­            fältige Einblicke in Strategien, Organisation, Ma­
den möchten.                                                terialität und Wahrnehmung der rezenten Migra­
                                                            tionsprozesse. Diese Forschungen ermöglichen
                                                            eine Thematisierung von Ereignissen und Erfah­
Schritte in die Hybridisierung                              rungen, die sich, häufig auf rechtliche Aspekte
                                                            reduziert, außerhalb der öffentlichen Wahrneh­
Ein besonders eindrückliches Beispiel für eine Ar­          mung ereignen und empathische Erfahrungen,
chäologie der Gegenwart sind die Forschungen                individualisierte Perspektiven und menschliche
von Jason De León zur nicht staatlich autorisier­           Wahrnehmungen unterschlagen (zusammenfas­
ten Migration zwischen Mexiko und den USA.                  send De León, 2015). Die Forschungen von De
Im Rahmen des 2009 gestarteten Undocumented                 León deuten das große Potenzial einer Hybridi­
Migration Projects wurden v. a. archäologische              sierung archäologischer und ethnografischer Per­
und ethnografische Methoden im Rahmen mehr­                 spektiven an, die im Rahmen einer Archäologie
jähriger Feldforschungen auf beiden Seiten der le­          (-sierung) der Gegenwart zusammenkommen.
bensfeindlichen, ariden Grenze zusammengeführt.
    Im Rahmen der Forschungen wurden verschie­
denste Plätze bzw. Orte, die im Zusammenhang                Die Archäologisierung der Gegenwart
mit Grenzübertritten stehen, durch Feldbege­
hungen erschlossen, dokumentiert, anhand der                Eine Archäologie der Gegenwart findet sich in
Lage, Gestaltung und Artefakte interpretiert und            einem hybriden Feld verschiedener Kultur- und
mit verschiedenen Akteuren der Grenze in Ver­               Sozialwissenschaften wieder, wobei sich zualler­
bindung gebracht. Migrant sites wurden beispiels­           erst Ethnografie als Interaktions-, Kooperations-
weise aufgrund einer umfangreichen Analyse der              und Gesprächspartnerin anbietet. Ethnografie
Verteilung von Artefakten wie Rucksäcken, Sport­            und Archäologie begegnen sich gewissermaßen
taschen, Handtaschen, Lippenstiften, Taschen­               im Feld, wenn Kelle, Aufnahmegerät, Fundtü­
spiegeln, Haargummis, Sonnenbrillen, Plastikfo­             ten, Kamera und Notizbuch aufeinandertreffen
lie, Löffel, Streichhölzer, Kleidungsstücke etc. in         (Coughlan & Veling, in Vorb.; nicht zu verwech­
Kategorien wie camp sites, rest sites, pickup sites         seln mit Ethnoarchaeology [David & Kramer,
etc. unterschieden, kartiert und analysiert. Dieser         2001; Arthur & Arthur, 2005; González-Ruibal,
archäologische Zugang wurde um in qualitativen              2016], Ethnography of Archaeology [Edgeworth,
Interviews thematisierten Erfahrungen und Wahr­             2006], Archaeological Ethnography [Meskell,
nehmungen beteiligter Migranten und Migran­                 2005; Hamilakis & Anagnostopoulos, 2009] oder
tinnen ergänzt, wobei die archäologische Analyse            Archaeo-Ethnography [Harrison & Schofield,
das Verständnis über die Interviews hinaus deut­            2009]). Dadurch unterscheidet sie sich vor allem
lich erweitert (Gokee & De León, 2014).                     methodisch und auch hinsichtlich ihrer For­
    Ein weiteres Element sind detaillierte Analy­           schungshaltung von einer Archäologie der Mo­
sen der gefundenen Artefakte, wobei der Fokus               derne, da sie keine zeitgeschichtliche, sondern
auf Spuren von Gebrauch und Modifikation gelegt             eine gegenwartsdiag­  nostische Perspektive ein­
wurde. Über die gefundenen Artefakte und deren              nimmt und sich nicht an die Geschichts-, sondern
Zustand können direkte Rückschlüsse auf spezi­              die Sozialwissenschaften anlehnt.
fische Anforderungen des Grenzübertritts und                   Eine solche Archäologie versteht sich vorder­
körperliche wie sensuelle Erfahrungen (Schmer­              gründig als ein Verfahren qualitativer Sozialfor­
zen, Durst, Erschöpfung, Hygienemangel, etc.)               schung und empirischer Kulturwissenschaft, der
gezogen werden, aber auch die Materialität von              fundamental historisierte Blick bleibt dem archäo­
Migration und Grenze thematisiert. Die archäo­              logischen Zugang aber grundsätzlich erhalten.
logisch informierte Analyse von Gebrauchs- und              Was Theorie und Methodologie angeht, lässt sich

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne             104
Archäologie der Gegenwart

die Klammer verschiedener Archäologien nicht                      Zeitgeschichte. Bielefeld: Transcript.
durch unterschiedliche Forschungsgegenstände
oder disziplinäre Konstellationen auflösen. Eine                  Coughlan J. & Veling A. (in Vorb.). Practice indiscipline:
Archäologie der Gegenwart akademisch zu eta­                      exploring the common ground between archaeology and
                                                                  ethnography.
blieren wäre somit ein strategisches Mittel, um
den Anschluss an die Theoriedebatte auszubauen
                                                                  David, N. & C. Kramer (eds) (2001). Ethnoarchaeology
und einen ‚archäologischen Blick‘ auf materiale                   in Action. Cambridge: Cambridge University Press.
Phänomene im transdisziplinären Diskurs zu po­
sitionieren. Das derzeit große Interesse und die in               De León, J. (2013). Undocumented migration, use
vielen Sozial- und Kulturwissenschaften in den                    wear, and the materiality of habitual suffering in the
letzten Jahren vollzogene Hinwendung zum Ma­                      Sonoran Desert. Journal of Material Culture, 18(4), 321-
terialen (material turn) haben ein geeignetes Zeit­               345. https://doi.org/10.1177/1359183513496489
fenster für einen solchen Schritt geöffnet.
    Die Archäologien sollten dabei nicht nur ihre                 De León, J. (2015). The land of open graves: living and
wissenschaftliche, sondern auch ihre gesellschaft­                dying on the migrant trail. Oakland: University of
                                                                  California Press.
liche Relevanz immer wieder in Angriff nehmen.
Eine solche Relevanz haben sie dann, wenn sie aus
                                                                  Dézsi, A. (2018). Zeitgeschichtliche Archäologie des
materialer Perspektive unser Wissen und unsere                    20. Jahrhunderts an Orten des Protests und der „Freien
Wahrnehmung hinterfragen, herausfordern und                       Republik Wendland“. In Nikulka, F., Hofmann, D. &
erweitern, eigenständige Narrationen und Per­                     Schumann, R. (Hrsg.), Menschen - Dinge - Orte. Aktuelle
spektiven entwickeln und so eine Wirkung entfal­                  Forschungen des Instituts für Vor- und Frühgeschichtliche
ten. Die Wendung eines ‚archäologischen Blicks‘                   Archäologie der Universität Hamburg. (S. 195-202).
auf die Gegenwart ermöglicht beide genannten                      Hamburg: Institut für Vor- und Frühgeschichtliche
Relevanzen zugleich auszubauen. Daher lautet                      Archäologie.
die zentrale Frage meiner Meinung nach nicht, ob
wir (mehr) Archäologie der Moderne brauchen,                      Edgeworth, M. (ed.) (2006). Ethnographies of
                                                                  Archaeological Practice: Cultural Encounters, Material
der Neuzeit, des Mittelalters, der Antike oder
                                                                  Transformations. Lanham: Altamira Press.
der Gegenwart, sondern ob wir überhaupt einen
‚archäologischen Blick‘ auf Phänomene wollen.                     Edgeworth, M. (2014). Archaeology of the
Sollte hier im Fach Einigkeit bestehen, sollte das                Anthropocene. Journal of Contemporary Archaeology,
Projekt einer Archäologie der Gegenwart auch im                   1(1), 73-132. https://doi.org/10.1558/jca.v1i1.73
deutschsprachigen Raum breit angegangen wer­
den, bevor sich das derzeit bestehende Fenster                    Fewster, K. (2013). The relationship between
schließt und das transdisziplinäre Interesse am                   Ethnoarchaeology and Archaeologies of the
Materiellen wieder verblasst.                                     Contemporary Past: a Historical Investigation. In
                                                                  Graves-Brown, P., Harrison, R. & Piccini, A. (eds), The
                                                                  Oxford Handbook of the Archaeology of the Contemporary
                                                                  world. (p. 27-39). Oxford: Oxford University Press.
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                                                                  jca.v1i1.133
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Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin:
Suhrkamp.
                                                                  González-Ruibal, A. (2019). An Archaeology of the
                                                                  Contemporary Era. Abingdon: Routledge.
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                                                            105                    DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Alexander Veling

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                                                                 Frühgeschichte, Mittelalter- und Neuzeitarchäo­
annurev-anthro-102116-041401
                                                                 logie, Provinzialrömische Archäologie), Sozio­
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Ethnography, Auto-Archaeology: Introducing                       Frankfurt a. d. Oder und Berlin studiert. Er pro­
Archaeologies of the Contemporary Past. Archaeologies,           moviert als Stipendiat der Berlin Graduate School
5, 185-209. https://doi.org/10.1007/s11759-009-9100-5            of Ancient Studies zu einem methodologischen
                                                                 Thema mit frühgeschichtlicher Ausrichtung. Sei­
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Anthropocene: A critical assessment of its scope and
                                                                 AG Theorien in der Archäologie e.V. (AG TidA).
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                                                                                 Freie Universität Berlin
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Suhrkamp.                                                                           Fabeckstraße 23-25
                                                                                       14195 Berlin
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DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne                  106
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