Archäologie der Gegenwart
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Archäologie der Gegenwart Alexander Veling Zusammenfassung – Der Beitrag plädiert aus einer theoretisch informierten Perspektive für eine Ausweitung archäologischer Forschun gen über die Moderne hinaus auf die Gegenwart. Diese Erweiterung des archäologischen Panoramas ermöglicht nicht nur eine Reflexion des ‚archäologischen Blicks‘, sondern auch den Ausbau der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Relevanz archäologischer For schung. Dabei ergeben sich neuartige theoretische, methodische, empirische, rechtliche und ethische Herausforderungen, die der Schär fung und Weiterentwicklung der Archäologien, ihres Selbstverständnisses und Methodenrepertoires dienen können. Obwohl eine Archäo logie der Gegenwart bisher kaum im deutschsprachigen Raum vertreten wird, sollte die aktuell hohe wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf materielle Phänomene genutzt werden, dieses Projekt anzugehen und die Archäologien künftig im Feld der gegenwartsbezogenen Disziplinen zu positionieren, solange ein fächerübergreifendes Interesse an Kooperationen und archäologischen Perspektiven existiert. Schlagworte – Archäologie; Archäologie der Gegenwart; Historische Archäologie; Theorie; Materialität; Disziplinarität; DGUF Tagung 2020 Title – Archaeology of the Present Abstract – The article pleads for an expansion of archaeological research beyond the modern era to the presence from a theoretically informed perspective. A broadening of the archaeological panorama not only enables a reflection of the ‚archaeological perspective‘, but also to expand the social and academic relevance of archaeological research. This results in new theoretical, methodological, empirical, legal, and ethical challenges that can sharpen and develop archaeology, its self-image, and its methodological repertoire. Although an ‚archaeology of the present‘ has hardly been advocated in the German-speaking countries so far, the current academic attention on mate rial phenomena should be used to intensify this project and position archaeology in the field of disciplines directly addressing the world of today, as long as there is a transdisciplinary interest in cooperation and archaeological perspectives. Key words – archaeology; archaeology of the present; contemporary archaeology; historical archaeology; theory; materiality; disciplinarity; DGUF conference 2020 Panorama einer Debatte Debatte verlieren und langfristig in akademische Bedeutungslosigkeit abrutschen. Seit einigen Jahren widmen sich verschiedene Die Vorbehalte gegenüber einer archäolo Disziplinen verstärkt der Erforschung materia gischen Erforschung der Moderne, die in Teilen ler Phänomene. Dabei bildet sich zunehmend ein des Faches bestehen, lassen sich hier nahtlos an fächerübergreifendes Forschungsfeld heraus, des knüpfen. Während nach meinen Erfahrungen in sen Ausgangspunkte in so unterschiedlichen Per anderen Kultur- und Sozialwissenschaften ein spektiven wie ethnologischer Forschung zu ma großes Interesse an archäologischen Forschungs terieller Kultur (Hahn, 2005) oder soziologischer perspektiven und eine beeindruckende intel Raumforschung (Löw, 2001) bis hin zu neomateri lektuelle Offenheit bestehen – was auch auf die alistischer Philosophie (Barad, 2012) liegen. Dieses außerakademische Öffentlichkeit zutrifft –, gerät theoretisch über „Materialität“ verknüpfte Feld eine archäologische Erforschung der Moderne zeichnet sich nicht nur durch eine lebhafte Debat vor allem fachintern in Rechtfertigungsdruck, te um Theorie und Konzepte aus, sondern auch wobei die prekäre Gesamtsituation hinsichtlich durch innovative methodische Überlegungen Stellen und Drittmittel wahrscheinlich eine zen und kreative empirische Analysen. Die deutsch trale Ursache darstellt. Auffällig sind hier die sprachigen Archäologien nehmen jedoch nicht Diskrepanzen zwischen großem denkmalpflege nur eine völlig untergeordnete Rolle in diesen rischem Bedarf und wachsendem öffentlichen In Debatten ein, sondern ignorieren sie darüber hi teresse auf der einen und der kaum vorhandenen naus sogar weitgehend. Die Chance einer umfas Verankerung im Rahmen der universitären Lehre, senden theoretischen Erneuerung, methodischen Stellengestaltung und Forschung auf der anderen Aktualisierung und disziplinären Positionierung Seite (vgl. Mehler; Ickerodt; Theune, in diesem der Archäologien wird somit verpasst. Dadurch Band). Auch wenn hier die Diskussionen um ge besteht die Gefahr, dass die Archäologien sogar änderte Anforderungen des archäologischen Ar bei einem ihrer Kernelemente – Materialität – den beitsmarktes oder die Frage der „Zuständigkeit“ Anschluss an den Stand der wissenschaftlichen zwischen verschiedenen archäologischen Fach Eingereicht: 27. Nov. 2020 Archäologische Informationen 43, 2020, 101-106 angenommen: 15. Dez. 2020 CC BY 4.0 online publiziert: 21. Dez. 2020 101 DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Alexander Veling vereinen sowie im Rahmen der Drittmittelakqui schung der Gegenwart gelagert ist. Bezieht man se eine wichtige Rolle einnehmen (Vortrag Han- archäologische Forschung auf die Gegenwart, sen, DGUF-Tagung 2020), hat eine archäologische ergeben sich vielfältige Überschneidungen mit Erforschung der Moderne auch weitreichende Architektur-, Raum- und Stadtforschung, Regi Konsequenzen für die Reflexion und das Über onal-, Sozial- oder Wirtschaftsgeografie, mit De denken der archäologischen Forschungspraxis sign-, Ingenieurs- u. Technikwissenschaften bis selbst (Bernbeck & Pollock, in diesem Band). Da hin zu Sozial- und Kulturanthropologie, Soziolo durch betrifft die Debatte um eine Archäologie gie und einer breiten fächerübergreifenden Refle der Moderne nicht nur einen spezifischen Epo xion eines Anthropozäns. Der spezifische Beitrag chendiskurs, sondern die Archäologien in ihrer der Archäologie und ihre besondere Attraktivi Gesamtheit. tät liegt hier in ihrem breiten Fundus detailliert Zweifel an einer archäologischen Erforschung ausgearbeiteter Techniken und Forschungsprak der Moderne sind damit nicht zu trennen von tiken, in ihrer Forschungsinfrastruktur und der Zweifeln an einer genuin archäologischen For besonders sensibilisierten Perspektive. Gerade schungsperspektive überhaupt. Wenn es den bei rezenten Kontexten lässt sich, aufgrund des Archäologien nicht gelingen sollte, eine rele umfangreichen und vielfältigen Quellenbe vante eigenständige Perspektive auf die Mo standes, das gesamte Repertoire des archäolo derne zu entwickeln, die über das hinaus geht, gischen Methodenkanons ausbreiten, was bei was verschiedenste Nachbardisziplinen bereits verschiedenen Prospektionsverfahren beginnt, erforschen, geraten auch eine Archäologie der über Survey- und Feldbegehungstechniken und Spätantike oder des Mesolithikums in Rechtferti archäologische Ausgrabungen läuft und bis hin gungsdruck, weil man im Kern auf dasselbe ar zur Freilegung, Bergung, Dokumentation, Klassi chäologische Methodenrepertoire zurückgreifen fikation, Analyse, Präsentation und Vermittlung kann, vergleichbare Konzepte verwendet und von Materiellem geht. Die ursprünglich histo damit dieselbe wissenschaftliche Perspektive be rische Perspektive der Archäologien schwingt dient. Der Fokus der Diskussion sollte daher nicht dabei als Ressource mit, weil eine archäologische nur auf dem Gegenstand liegen – der Moderne, Forschungsperspektive immer multitemporal ar sondern auf der Perspektive – Archäologie. beitet und ihre Gegenstände historisiert, also hi storisch einbettet und problematisiert. Der ‚archäologische Blick‘ kann sich aber nur Der ‚archäologische Blick‘ dann produktiv auf die Gegenwart entfalten, wenn er im Fach verankert wird – ansonsten Verschiedene archäologische Forschungsgegen bleibt er verschlossen oder wandert disziplinär stände – beispielsweise Epochen, Räume, Zeiten, aus. Obwohl eine Systematisierung eines solchen Kulturen, Artefakte oder Praktiken (Veling, 2019) Forschungsfeldes bereits in den 1970er-Jahren be – erfordern verschiedene Kombinationen archäo gonnen wurde (Rathje, 1979; Gould & Schiffer, logischer Methoden und Forschungstechniken. 1981; Fewster, 2013), ist es in den deutschspra Die Verbindung einzelner Archäologien ergibt chigen Archäologien bisher kaum vertreten. Ab sich dabei aus dem gemeinsamen Ansatz, auf sichtlich abzuwarten, bis rezente materiale Phäno materiale Informationen zu fokussieren, um diese mene künftig in das Bodenarchiv übergegangen verschiedenen Phänomene zu untersuchen. Die und den zahlreichen damit verbundenen tapho archäologie-spezifische Perspektive bezeichne ich nomischen Prozessen unterworfen sein werden, als den ‚archäologischen Blick‘. Dieser ‚archäolo reduziert den archäologischen Methodenkanon gische Blick‘ lässt sich besonders gut dann einset auf das Verfahren der Ausgrabung und somit auf zen, wenn er mit Feldforschung verbunden wird, ein einzelnes seiner Elemente. Eine Archäologie also mit Forschungsansätzen, die Phänomene der Gegenwart ist daher auch ein Anlass, archäo nicht entkoppelt, sondern in ihrem jeweiligen logische Forschung weiterzuentwickeln und neue Kontext ‚vor Ort‘ bzw. ‚in situ‘ untersuchen (zum Ansätze zu entwerfen, die sich auch für andere Folgenden Coughlan & Veling, in Vorb.). archäologische Kontexte anwenden lassen, bei Betrachtet man Archäologie befreit von einzel spielsweise solche der Vormoderne. nen Forschungsgegenständen als eine auf Feld forschung basierende und materiale Analysen ausgerichtete Forschungshaltung (vgl. Rathje, Zwischen Denkmalpflege und Sozialforschung 1979; Lucas, 2015), stellt sich automatisch die Fra ge, wie der Beitrag einer archäologischen Erfor Während die Differenzierung zwischen Archäo DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne 102
Archäologie der Gegenwart logie der Moderne und der Gegenwart vollzogen Dadurch ergeben sich besondere Anforderungen ist (Überblick über die jüngere Debatte bei Har- an die Ausbildung und Methodenkenntnisse, die rison & Breithoff, 2017; grundlegend Harrison & im deutschsprachigen Raum bisher nicht bzw. Schofield, 2010), steht die Debatte um die Ausge kaum im Archäologiestudium vermittelt werden. staltung einer Archäologie der Gegenwart noch Besondere Anforderungen stellen sich auch, am Anfang (vgl. Müller, in diesem Band). Die was die rechtliche Situation und Fragen des Denk Unterschiede ergeben sich aufgrund der verschie malschutzes und der Forschungsethik angeht, die denen Forschungsgegenstände, was die spezi bisher noch wenig entwickelt erscheinen, bezo fisch zum Einsatz kommenden Methoden angeht, gen auf die Forschungssituation in Deutschland ebenso wie disziplinäre Kooperationen, die bei (vgl. Arndt u.a., 2018, 238-239). Deutlich anders der zeitgeschichtlich orientierten Archäologie der gestalten sich auch der Arbeitsmarkt und die Be Moderne vor allem die Geschichtswissenschaften rufsaussichten. Während sich für eine historisch und, bei der Archäologie der Gegenwart, die So ausgerichtete Archäologie ein breites Feld von zialwissenschaften betreffen. Denkmalpflege über Grabungsfirmen bis hin zu Aus archäologischer Perspektive gerät die ge Museen als Arbeitsmarkt etabliert hat, ergeben genwärtige Welt als in wesentlichen Bestandtei sich für eine gegenwartsbezogene Archäologie len materiell fundiert, konstituiert und legitimiert bisher kaum bzw. keine Stellen, selbst innerhalb in den Blick. Somit werden das Materielle selbst der Universitäten. Somit ist dieses Forschungs ebenso wie dessen (De-)Materialisierungen zum feld derzeit hochgradig von den Konjunkturen Forschungsgegenstand. Weniger abstrakt ausge des Drittmittelmarktes abhängig bzw. wird drückt, wird die Gegenwart somit auf den archäo zu einem Nebenprojekt der ‚eigentlichen‘ For logischen Seziertisch verfrachtet. Sie wird gewis schungstätigkeit. Anders als beispielsweise bei sermaßen archäologisiert. Das beginnt bei ihren einer Archäologie des 19. oder 20. Jahrhunderts Architekturen und Infrastrukturen, geht über besteht kein gesetzlicher Auftrag zur Forschung, Produktion, Austausch, Aneignung, Modifika sondern diese rechtfertigt sich ausschließlich über tion, Konsum, Abfall und Verwertung von Din öffentliches Interesse und erworbene Drittmittel gen bis hin zu der gesellschaftlichen Bedeutung im Rahmen einzelner Forschungsprojekte. von Gütern und Rolle von Artefakten in sozialen Abgesehen vom öffentlichen Interesse und ei Interaktionen (vgl. Veling, 2019; im Kontrast zu ner daraus gespeisten gesellschaftlichen Bedeu den Vorschlägen z. B. von Harrison, 2011; Edge- tung stellt sich somit immer auch die Frage der worth, 2014; Lane, 2015; Nativ, 2018; González- wissenschaftlichen Relevanz. Eine archäologische Ruibal, 2019; Nativ & Lucas, 2020). Forschung, die sich ausschließlich als historische Eine solche Archäologie der Gegenwart weist Disziplin versteht, wird ihren derzeitigen universi zahlreiche Überschneidungen mit der Sozial- und tären Status nur behalten, solange historischer For Kulturanthropologie auf. Offen ist daher, wie die schung gesellschaftlich wie politisch eine hohe Be ses Forschungsfeld universitär verankert werden deutung zugesprochen wird – was derzeit (noch) kann (McAtackney, 2020, 226-227). Eine Verortung der Fall ist (vgl. Nativ & Lucas, 2020). Sofern sich in der Historischen Archäologie ist ebenso wie in Debatten dahingehend verändern, dass sich die der Sozial- und Kulturanthropologie mit Kompro gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit enthisto missen verbunden, was die Forschungsdiskurse risiert – was sicher ein problematischer Vorgang angeht oder den methodischen Zugang. Während wäre –, würde auch eine Archäologie in Rechtferti eine Archäologie der Moderne eine enge Anknüp gungsdruck geraten, die sich ausschließlich davon fung an geschichtswissenschaftliche Diskurse ernährt, zeitliche oder räumliche Kontexte zu er sucht (Industrialisierung, Kolonialismus, Natio forschen, in denen sie einen privilegierten Zugang nalismus, etc.) und archäologische Methoden mit oder ein empirisches Monopol beansprucht. Wäh Archivarbeit, Dokumentenanalyse oder Zeitzeu rend der Ausbau verschiedener historisch orien geninterviews kombiniert (z. B. González-Ruibal, tierter naturwissenschaftlicher Forschungsansätze 2020; Bernbeck, 2017; Dézsi, 2018; Theune, 2015), die Marktstellung der Archäologien herausfordert rutscht eine Archäologie der Gegenwart in ein und sie ihres Monopols auch in sicher geglaub hybrides Feld aus Archäologie, Ethnografie, Stadt ten Kontexten beraubt hat – zu nennen sind hier planung, Produktdesign, Soziologie etc. und ver aDNA-Forschung, Isotopenanalysen, naturwis bindet Archäologie mit verschiedenen Beobach senschaftliche Datierungsverfahren und material tungs-, Analyse und Teilnahmeverfahren (z. B. wissenschaftliche Forschungen zu Objekten und De León, 2015; Golovnev, Kukanov & Perevalova, Befunden –, schält sich die Frage heraus, wo der 2018; Porr, 1998; Coughlan & Veling, in Vorb.). spezifische Beitrag explizit archäologischer For 103 DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Alexander Veling schung heute besteht. Eine Archäologisierung Modifikationsspuren wurde mit verschiedenen der Gegenwart ermöglicht hier eine Reflexion, ethnografischen Beobachtungsverfahren verbun die aufgrund neuartiger disziplinärer Konstellati den und in praxisorientierte Artefaktbiografien onen und empirischer Gegenstände das Potenzi überführt. Eine zeitliche Differenzierung und Ge al besitzt, zu einer grundlegenden theoretischen, samtanalyse der Artefakte offenbaren dabei die methodischen und empirischen Aktualisierung Formierung und Konsolidierung einer materiel der Archäologien beizutragen, die notwendig ist, len Kultur des Grenzübertritts (De León, 2013). wenn die Archäologien wissenschaftlich einfluss In der Zusammenschau von archäologischen reich und spannende Partnerinnen in inter- und und ethnografischen Verfahren ergeben sich viel transdisziplinären Forschungen bleiben bzw. wer fältige Einblicke in Strategien, Organisation, Ma den möchten. terialität und Wahrnehmung der rezenten Migra tionsprozesse. Diese Forschungen ermöglichen eine Thematisierung von Ereignissen und Erfah Schritte in die Hybridisierung rungen, die sich, häufig auf rechtliche Aspekte reduziert, außerhalb der öffentlichen Wahrneh Ein besonders eindrückliches Beispiel für eine Ar mung ereignen und empathische Erfahrungen, chäologie der Gegenwart sind die Forschungen individualisierte Perspektiven und menschliche von Jason De León zur nicht staatlich autorisier Wahrnehmungen unterschlagen (zusammenfas ten Migration zwischen Mexiko und den USA. send De León, 2015). Die Forschungen von De Im Rahmen des 2009 gestarteten Undocumented León deuten das große Potenzial einer Hybridi Migration Projects wurden v. a. archäologische sierung archäologischer und ethnografischer Per und ethnografische Methoden im Rahmen mehr spektiven an, die im Rahmen einer Archäologie jähriger Feldforschungen auf beiden Seiten der le (-sierung) der Gegenwart zusammenkommen. bensfeindlichen, ariden Grenze zusammengeführt. Im Rahmen der Forschungen wurden verschie denste Plätze bzw. Orte, die im Zusammenhang Die Archäologisierung der Gegenwart mit Grenzübertritten stehen, durch Feldbege hungen erschlossen, dokumentiert, anhand der Eine Archäologie der Gegenwart findet sich in Lage, Gestaltung und Artefakte interpretiert und einem hybriden Feld verschiedener Kultur- und mit verschiedenen Akteuren der Grenze in Ver Sozialwissenschaften wieder, wobei sich zualler bindung gebracht. Migrant sites wurden beispiels erst Ethnografie als Interaktions-, Kooperations- weise aufgrund einer umfangreichen Analyse der und Gesprächspartnerin anbietet. Ethnografie Verteilung von Artefakten wie Rucksäcken, Sport und Archäologie begegnen sich gewissermaßen taschen, Handtaschen, Lippenstiften, Taschen im Feld, wenn Kelle, Aufnahmegerät, Fundtü spiegeln, Haargummis, Sonnenbrillen, Plastikfo ten, Kamera und Notizbuch aufeinandertreffen lie, Löffel, Streichhölzer, Kleidungsstücke etc. in (Coughlan & Veling, in Vorb.; nicht zu verwech Kategorien wie camp sites, rest sites, pickup sites seln mit Ethnoarchaeology [David & Kramer, etc. unterschieden, kartiert und analysiert. Dieser 2001; Arthur & Arthur, 2005; González-Ruibal, archäologische Zugang wurde um in qualitativen 2016], Ethnography of Archaeology [Edgeworth, Interviews thematisierten Erfahrungen und Wahr 2006], Archaeological Ethnography [Meskell, nehmungen beteiligter Migranten und Migran 2005; Hamilakis & Anagnostopoulos, 2009] oder tinnen ergänzt, wobei die archäologische Analyse Archaeo-Ethnography [Harrison & Schofield, das Verständnis über die Interviews hinaus deut 2009]). Dadurch unterscheidet sie sich vor allem lich erweitert (Gokee & De León, 2014). methodisch und auch hinsichtlich ihrer For Ein weiteres Element sind detaillierte Analy schungshaltung von einer Archäologie der Mo sen der gefundenen Artefakte, wobei der Fokus derne, da sie keine zeitgeschichtliche, sondern auf Spuren von Gebrauch und Modifikation gelegt eine gegenwartsdiag nostische Perspektive ein wurde. Über die gefundenen Artefakte und deren nimmt und sich nicht an die Geschichts-, sondern Zustand können direkte Rückschlüsse auf spezi die Sozialwissenschaften anlehnt. fische Anforderungen des Grenzübertritts und Eine solche Archäologie versteht sich vorder körperliche wie sensuelle Erfahrungen (Schmer gründig als ein Verfahren qualitativer Sozialfor zen, Durst, Erschöpfung, Hygienemangel, etc.) schung und empirischer Kulturwissenschaft, der gezogen werden, aber auch die Materialität von fundamental historisierte Blick bleibt dem archäo Migration und Grenze thematisiert. Die archäo logischen Zugang aber grundsätzlich erhalten. logisch informierte Analyse von Gebrauchs- und Was Theorie und Methodologie angeht, lässt sich DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne 104
Archäologie der Gegenwart die Klammer verschiedener Archäologien nicht Zeitgeschichte. Bielefeld: Transcript. durch unterschiedliche Forschungsgegenstände oder disziplinäre Konstellationen auflösen. Eine Coughlan J. & Veling A. (in Vorb.). Practice indiscipline: Archäologie der Gegenwart akademisch zu eta exploring the common ground between archaeology and ethnography. blieren wäre somit ein strategisches Mittel, um den Anschluss an die Theoriedebatte auszubauen David, N. & C. Kramer (eds) (2001). Ethnoarchaeology und einen ‚archäologischen Blick‘ auf materiale in Action. Cambridge: Cambridge University Press. Phänomene im transdisziplinären Diskurs zu po sitionieren. Das derzeit große Interesse und die in De León, J. (2013). Undocumented migration, use vielen Sozial- und Kulturwissenschaften in den wear, and the materiality of habitual suffering in the letzten Jahren vollzogene Hinwendung zum Ma Sonoran Desert. Journal of Material Culture, 18(4), 321- terialen (material turn) haben ein geeignetes Zeit 345. https://doi.org/10.1177/1359183513496489 fenster für einen solchen Schritt geöffnet. Die Archäologien sollten dabei nicht nur ihre De León, J. (2015). The land of open graves: living and wissenschaftliche, sondern auch ihre gesellschaft dying on the migrant trail. Oakland: University of California Press. liche Relevanz immer wieder in Angriff nehmen. Eine solche Relevanz haben sie dann, wenn sie aus Dézsi, A. (2018). Zeitgeschichtliche Archäologie des materialer Perspektive unser Wissen und unsere 20. Jahrhunderts an Orten des Protests und der „Freien Wahrnehmung hinterfragen, herausfordern und Republik Wendland“. In Nikulka, F., Hofmann, D. & erweitern, eigenständige Narrationen und Per Schumann, R. (Hrsg.), Menschen - Dinge - Orte. Aktuelle spektiven entwickeln und so eine Wirkung entfal Forschungen des Instituts für Vor- und Frühgeschichtliche ten. Die Wendung eines ‚archäologischen Blicks‘ Archäologie der Universität Hamburg. (S. 195-202). auf die Gegenwart ermöglicht beide genannten Hamburg: Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Relevanzen zugleich auszubauen. Daher lautet Archäologie. die zentrale Frage meiner Meinung nach nicht, ob wir (mehr) Archäologie der Moderne brauchen, Edgeworth, M. (ed.) (2006). Ethnographies of Archaeological Practice: Cultural Encounters, Material der Neuzeit, des Mittelalters, der Antike oder Transformations. Lanham: Altamira Press. der Gegenwart, sondern ob wir überhaupt einen ‚archäologischen Blick‘ auf Phänomene wollen. Edgeworth, M. (2014). Archaeology of the Sollte hier im Fach Einigkeit bestehen, sollte das Anthropocene. Journal of Contemporary Archaeology, Projekt einer Archäologie der Gegenwart auch im 1(1), 73-132. https://doi.org/10.1558/jca.v1i1.73 deutschsprachigen Raum breit angegangen wer den, bevor sich das derzeit bestehende Fenster Fewster, K. (2013). The relationship between schließt und das transdisziplinäre Interesse am Ethnoarchaeology and Archaeologies of the Materiellen wieder verblasst. Contemporary Past: a Historical Investigation. In Graves-Brown, P., Harrison, R. & Piccini, A. (eds), The Oxford Handbook of the Archaeology of the Contemporary world. (p. 27-39). Oxford: Oxford University Press. Literatur Gokee, C. & De León, J. (2014). Sites of Contention: Arndt, B., Halle, U., Ickerodt, U., Jungklaus, B., Archaeological classification and political discourse Mehler, N., Müller, U., Nawroth, M., Peine, H.-W., in the US-Mexico Borderlands. Journal of Contemporary Theune, C. & Wemhoff, M. (2018). Leitlinien zu einer Archaeology, 1(1), 133-163. https://doi.org/10.1558/ Archäologie der Moderne. Blickpunkt Archäologie, jca.v1i1.133 4/2017, 236-245. Golovnev, A. V., Kukanov, D. A. & Perevalova, E. Arthur, J. W., & Arthur, K. W. (2005). V. (2018). Arctic: Atlas of Nomadic Technologies. St. Ethnoarchaeology. In H. D. G. Maschner & C. Petersburg: MAE RAS Publications. Chippindale (eds), Handbook of Archaeological Methods. (p. 216-269). Lanham: Altamira Press. González-Ruibal, A. (2016). Ethnoarchaeology or simply archaeology? World Archaeology, 48(5), 687-692. Barad, K. (2012). Agentieller Realismus. Über die https://doi.org/10.1080/00438243.2016.1209125 Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin: Suhrkamp. González-Ruibal, A. (2019). An Archaeology of the Contemporary Era. Abingdon: Routledge. Bernbeck, R. (2017). Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der González-Ruibal, A. (2020). The archaeology of the 105 DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
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