Armutspolitik gemeinsam gestalten - Soziale Sicherheit CHSS
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Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 3 | 2020 FAMILIE, GENERATIONEN UND GESELLSCHAFT Armutspolitik gemeinsam gestalten Emanuela Chiapparini, Claudia Schuwey, Michelle Beyeler; Berner Fachhochschule Caroline Reynaud, Sophie Guerry, Barbara Lucas, Nathalie Blanchet; Fachhochschule Westschweiz Massnahmen der Armutsprävention und -bekämpfung sollten gemeinsam mit den betroffenen Personen erarbeitet, durchgeführt und evaluiert werden. Für die Ausgestaltung gibt es vielfältige Möglichkeiten. Eine neue Studie zeigt einige davon auf und beschreibt, unter welchen Bedingungen Partizipation gelingen kann. Die Praxis zeigt: Die Partizipation von Menschen an Ent- Lage ist, informierte politische Entscheidungen zu treffen scheidungen und Massnahmen, die ihr eigenes Leben oder und letztendlich – durch die verstärkte Wirksamkeit ent- das Leben in der Gemeinschaft betreffen, birgt grosses sprechender Massnahmen – Armut und soziale Ausgren- Potenzial – für die beteiligten Organisationen und Institu- zung zu verhindern oder zumindest zu reduzieren. Die tionen, für die Gesellschaft und Politik und vor allem auch angesprochenen Menschen fühlen sich durch die Teilhabe für die betroffenen Personen selbst. Wenn Mitarbeitende respektiert und ernst genommen. Dadurch können sie von sozialen Diensten und anderen Organisationen und auch verschiedene Kompetenzen weiterentwickeln. Sie Institutionen die Ideen, das Wissen, die Erfahrungen und erfahren Selbstwirksamkeit und stärken den Glauben an Anliegen der Zielgruppen verstärkt einbeziehen, können die eigenen Fähigkeiten – ein Glaube, der vielen armutsbe- sie ihr Problemverständnis verbessern und auf dieser troffenen Menschen abhandengekommen ist, ebenso wie Grundlage Prozesse und Strukturen wirksamer ausgestal- das Gefühl, in der Gesellschaft eine Stimme zu haben und ten. Das stärkt das gegenseitige Vertrauen und erleichtert über Handlungsspielräume zu verfügen, die sie mitgestal- die Kommunikation. Die Partizipation der besonders vul- ten und vergrössern können. Die verstärkte Nutzung von nerablen und marginalisierungsgefährdeten Menschen Handlungsspielräumen kann weitere Verbesserungen in führt auch zu einer inklusiveren Gesellschaft, die in der der jeweils individuellen Armutssituation bewirken – etwa 45
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 3 | 2020 im finanziellen, materiellen, sozialen oder gesundheitli- bände sowie aus Expertinnen und Experten und zwei Sozi- chen Bereich. alhilfeempfängerinnen zusammen (République et Canton de Genève 2019). – Im Jahr 2018 entwickelte der Verband ARTIAS in der fran- zösischen Schweiz ein partizipatives Programm für Lang- Durch Partizipation zeitbeziehende der Sozialhilfe. In Kleingruppen konnten, und Teilhabe fühlen gemäss internen Dokumenten, insgesamt 60 Teilnehmer und Teilnehmerinnen ihre Bedürfnisse formulieren und sich gerade vulnerable Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Betreuung aufzei- gen. Übergeordnetes Ziel war es, die Beratungsprozesse Menschen respektiert in Integrations- oder Beschäftigungsprogrammen zu op- timieren, z. B. durch die Koordination zwischen den ver- und fähig, verschiedene schiedenen Diensten oder die Bekämpfung von Stigma- Kompetenzen tisierung über ein differenziertes Verständnis für die Erfahrungen der betroffenen Personen bei den Fachper- weiterzuentwickeln. sonen. – Auch die Sozialdienste Biel und Basel führten verschiede- ne Workshops und Konferenzen mit Sozialhilfebeziehen- den und Fachpersonen durch, in denen Klientinnen und VIELFÄLTIGE BEISPIELE Projekte, in denen die Selbst- Klienten Vorschläge zur Verbesserung der Sozialhilfe ein- wirksamkeit und der Handlungsspielraum betroffener brachten und alle Beteiligten gemeinsam Lösungen entwi- Personen durch vermehrte Partizipation gestärkt werden ckelten (Stadt Biel 2019; Burtscher et al. 2017). konnte, gibt es in diversen Ländern und Kontexten. Dies geht aus einer im Auftrag des Bundesamts für Sozialversi- PRAXISRELEVANTE PARTIZIPATIONSMODELLE Wie die cherungen BSV durchgeführten Studie hervor (Chiapparini durch die Studie gewonnenen Einblicke in die Praxis zeig- et al. 2020): ten, bestehen in der Armutspolitik der Schweiz und anderer – In Québéc (Kanada) besteht das von der Regierung ein- Länder vielfältige weitere Partizipationsmöglichkeiten (Chi- gesetzte Comité consultatif de lutte contre la pauvreté et apparini et al. 2020). Im Rahmen des Forschungsmandats des l’exclusion sociale, in dem neben armutsbetroffenen Perso- BSV galt es, diese Partizipationsmöglichkeiten zu identifizie- nen verschiedene im Bereich der Armutsbekämpfung täti- ren, Gemeinsamkeiten zu erkennen und die Ausgestaltung ge Organisationen, Verbände und Vereine vertreten sind. der Partizipationsprozesse zu beleuchten. Das Forschungs- Zu den Aufgaben des Komitees gehört es, den zuständi- team recherchierte und analysierte über hundert partizi- gen Minister bei der Umsetzung des nationalen Gesetzes pative Projekte der Armutsbekämpfung und -prävention zur Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung zu auf kommunaler, regionaler, nationaler und internationaler beraten und Vorschläge zur Erarbeitung, Umsetzung und Ebene. Die Analyse bildete die Grundlage für die Entwick- Evaluation von damit verbundenen Strategien und Mass- lung von sechs Partizipationsmodellen. Hauptunterschei- nahmen einzubringen (vgl. CCLP). dungsmerkmal der Modelle war der Politik- oder Handlungs- – In der Schweiz ernannte der Staatsrat des Kantons Genf bereich, das heisst der Gegenstand, an dem die betroffenen eine externe Kommission, die den Auftrag erhielt, einen Personen partizipieren und den sie mitgestalten konnten. Entwurf für die Revision des Gesetzes über die Sozialhil- Diese Bereiche waren im Einzelnen: fe und die individuelle Integration (LIASI) vorzuschlagen. – die (Weiter-)Entwicklung von Strukturen und Prozessen Sie setzte sich aus Vertreterinnen und Vertretern der kan- von Dienstleistungsorganisationen, wie etwa die oben er- tonalen Sozialhilfeeinrichtung und der Praxispartnerver- wähnten Sozialdienste (Modell 1); 46
Familie, Generationen und Gesellschaft ⁄ Armutspolitik gemeinsam gestalten – die Aus- oder Weiterbildung von Fachpersonen, zum Bei- – die Erarbeitung von persönlichen oder konzeptionellen spiel im Bereich der Sozialen Arbeit (Modell 2); Grundlagen der Partizipation (Modell 6), die für die Par- – die (Weiter-)Entwicklung von politischen und rechtlichen tizipationsprozesse im Rahmen anderer Modelle wichtig Grundlagen, wie oben erwähnt, die beispielsweise eine Ar- sein können. mutsstrategie oder ein Sozialhilfegesetz beinhalten kann Neben dem Politik- und Handlungsbereich gibt es weitere (Modell 3); prägende Merkmale der Partizipationsmodelle. Dazu zählen: – der öffentliche Diskurs, in dem armutsgefährdete oder -be- – die jeweils involvierten Akteure; troffene Personen ihre eigenen Sichtweisen aufzeigen und – die Dauer der Partizipation; ihre Interessen gegenüber der Öffentlichkeit und Politik – die strukturelle Einbettung der Partizipation; ein Sozi- vertreten können (Modell 4); aldienst kann zum Beispiel permanente Strukturen wie – die Handlungsbereiche der gemeinschaftlichen Selbsthil- ein Gremium bilden, dessen Mitglieder sich regelmässig fe (Modell 5); sowie treffen und in dem Sozialhilfebeziehende Vorschläge ein- Übersicht über die Partizipationsmodelle G1 Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5 Modell 6 [1] Politik-/ Hand- (Weiter-) Aus-/Weiter (Weiter-) Öffentlicher Gemeinschaftli- Erarbeitung von lungsbereich der Entwicklung von bildung von Entwicklung Diskurs/Lobbying che Selbsthilfe Grundlagen der Partizipation Strukturen und Fachpersonen von politischen Partizipation Prozessen von und rechtlichen Dienstleistungs Grundlagen organisationen Involvierte Armutsbetroffene/-gefährdete Personen sind involviert in: Akteure Öffentliche und Hochschulen Staatliche Betroffenenorga- Selbsthilfe NGS, private Dienst- Entscheidungs- nisationen, NGO, organisationen, Verwaltungen leistungs träger/innen Verwaltungen, z.T . NGO organisationen (Hoch-)Schulen [2] Zeithorizont Modell 1.1 Modell 2.1 Modell 3.1 Modell 4.1 Modell 5.1 Modell 6.1 und strukturelle Befristete Befristete Befristete Permanente Permanente Befristete Gremien Einbettung der Gremien Strukturen an Gremien Organisationen Organisationen zur Erarbeitung von Partizipation Hochschulen von Betroffenen unter (Co-)Leitung konzeptionellen (Untermodellle) von NGO Grundlagen Modell 1.2 Modell 2.2 Modell 3.2 Modell 4.2 Modell 5.2 Modell 6.2 Permanente Permanente Unbefristete Permanente Permanente Befristete Gremien Gremien Strukturen an Gremien Gremien Organisationen zur Stärkung von Hochschulen unter Leitung von persönlichen Betroffenen Grundlagen Modell 1.3 Modell 4.3 (Un-)befristete Befristete Gremien Anstellung weist auf Untermodelle hin, die in der Studie vertieft betrachtet werden Quelle: Chiapparini et al. 2020. 47
Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 3 | 2020 bringen können, oder es kann eine einmalige Partizipati- Forschungsbericht onsmöglichkeit geschaffen werden, wie zum Beispiel die Einladung armutsbetroffener Personen an eine nationale Chiapparini, Emanuela; Schuwey, Claudia; Beyeler, Michelle; Reynaud, Caroline; Guerry, Sophie; Blanchet, Nathalie; Lucas, Barbara (2020): Modelle der Partizipa- Konferenz durch die Regierung (vgl. Grafik G1). tion armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und Zwischen den Modellen bestehen verschiedene Wechselwir- -prävention; [Bern: BSV], Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. kungen. Wenn etwa Interessenorganisationen von betroffe- 7/2020: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluati- on > Forschungspublikationen. nen Personen existieren, kann es für Behördenmitglieder einfacher sein, einzelne Personen zu rekrutieren, die bei der Nützliche Hinweise zu den relevanten Prozessschritten bei der Planung und Um- setzung von Partizipationsprojekten finden sich in Anhang A3 des Forschungs- Entwicklung bestimmter Massnahmen mitwirken könnten. berichts. Hilfreich kann es auch sein, diesen Personen zu ermöglichen, ihre persönlichen Kompetenzen, wie etwa Kommunikations- fähigkeiten, die für eine gelingende Partizipation erforder- lich sind, im Rahmen eines Workshops zu stärken. Erfahrungsberichten zufolge stehen Projektverantwortliche immer wieder ähnlichen Hindernissen und Herausforderun- gen gegenüber. Um anderen dies zu ersparen und die Über- windung von Schwierigkeiten zu erleichtern, verweist die Gelingende Partizipation Studie auf vielfältige gute Praxisbeispiele und daraus abge- leitete Empfehlungen. braucht geeignete Zum Beispiel lässt sich mit einer sorgfältigen Planung gesetzliche und politische viel erreichen: Dabei gilt es, die betroffenen Personen mög- lichst einzubeziehen, aber auch klar über die jeweiligen Rol- Rahmenbedingungen. len und Befugnisse der Beteiligten zu kommunizieren, etwa in Bezug auf die Frage, bei welchen Themen die betroffenen Personen mitentscheiden und bei welchen sie nur ihre Mei- nung bekunden dürfen. SO GELINGT PARTIZIPATION Verschiedene Faktoren sind Von zentraler Bedeutung für das Gelingen von Partizipa- ausschlaggebend dafür, ob Partizipationsprozesse angestos- tionsprojekten ist es, klare, erreichbare Ziele zu definieren. sen werden und gelingen können. Weiter gilt es, die Erreichung dieser Ziele zu überprüfen und Dazu gehören zunächst einmal die Kontextbedingungen. Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen, allenfalls durch Die Umsetzung von Partizipationsprojekten kann begüns- unabhängige externe Evaluatorinnen und Evaluatoren. tigt werden, wenn entsprechende gesetzliche und politische Damit können die Prozessverantwortlichen nicht zuletzt der Rahmenbedingungen vorhanden sind. In verschiedenen Zielgruppe gegenüber verdeutlichen, dass sie deren Partizi- Ländern ist es zum Beispiel gesetzlich vorgeschrieben, dass pation nicht als Alibiübung verstehen, sondern dass sie die Organisationen und Institutionen im Sozial- und Gesund- betroffenen Personen ernst nehmen und auch bereit sind, aus heitsbereich Klientinnenräte einsetzen. allfälligen Fehlern zu lernen. Der Entwicklung neuer Partizipationsprojekte kann auch Grundlegend für alle Schritte ist eine klare, verständli- förderlich sein, wenn die Verantwortlichen an vorhandene che und transparente Kommunikation und die Bereitschaft, Organisationen und Netzwerke und an erprobte partizipa- sich allfällig benötigte Fachkenntnisse zu Partizipationspro- tive Prozesse und Strukturen anknüpfen können. So können zessen anzueignen. Erfahrungen und Synergien genutzt und die relevanten Pro- Generell gilt: Partizipationsprozesse gelingen dann, zesse laufend weiterentwickelt werden. wenn die Sichtweisen und Erfahrungen der betroffenen Per- Ob Partizipationsprojekte gelingen, hängt auch entschei- sonen frühzeitig und möglichst umfassend berücksichtigt dend davon ab, wie diese ausgestaltet werden. Studien und und ernst genommen werden. Begegnung auf Augenhöhe 48
Familie, Generationen und Gesellschaft ⁄ Armutspolitik gemeinsam gestalten ist ein Kernelement des gesamten Prozesses und ein Erfor- dernis, das angesichts der häufig bestehenden strukturellen Ungleichheiten zwischen den Beteiligten immer wieder neu bedacht werden muss. Dafür müssen die Fachpersonen die Bereitschaft mitbrin- gen, die eigene Position zu reflektieren und gegebenenfalls eine eigene Beteiligung an Stigmatisierungsprozessen zu erkennen und zu vermeiden. LITERATUR ARTIAS, Association romande et tessinoise des institutions d’action socia- le (2019): Rapport d’activités 2018: www.artias.ch > Activités > Rapports d’activités. République et Canton de Genève (2019): Création d'une commission externe chargée de proposer une refonte de la loi sur l'aide sociale et l'insertion individuelle. Medienmitteilung des Regierungsrats vom 16. Januar 2019: Emanuela Chiapparini www.ge.ch > Publications. Dr. phil., Prof. für Soziale Arbeit im Kontext Schule Stadt Biel (2019): Gemeinsam – Ensemble. Voneinander lernen – und Partizipation am Fachbereich Soziale Arbeit, gemeinsam mit anderen die Sozialhilfe verändern. Anmeldeformular zum Berner Fachhochschule. Workshop Gemeinsam – Ensemble: www.dsi-ois.ch > Anlässe emanuela.chiapparini@bfh.ch > Workshop Gemeinsam/Ensemble > via Sozialdienst. Claudia Schuwey Burtscher, Manuela; Ost, Andreas; Salvisberg, Alexandra; MA in Sozialwissenschaften, Sozialarbeit Saricerci, Zeynep; Schwarz, Nicole (2017): Evaluation der Kundenkonferenz und Sozialpolitik, wissenschaftliche der Sozialhilfe Basel-Stadt. Studierendenprojekt Bachelor-Studium der Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz; [Basel: Hochschule für Soziale Arbeit]; Berner Fachhochschule. Bezugsquelle: Sozialhilfe Basel-Stadt, Basel. claudia.schuwey@bfh.ch CCLP, Comité consultatif de lutte contre la pauvreté et l’exclusion social : Michelle Beyeler www.cclp.gouv.qc.ca. Dr. rer. soc., Prof. für Sozialpolitik am Fachb ereich Soziale Arbeit, Berner Fachhochschule, PD für Politikwissenschaft an der Universität Zürich. michelle.beyeler@bfh.ch Caroline Reynaud Lic. phil., assoz. Prof. an der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg, Fachhochschule Westschweiz. caroline.reynaud@hefr.ch Sophie Guerry Lic. phil., assoz. Prof. an der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg, Fachhochschule Westschweiz. sophie.guerry@hefr.ch Barbara Lucas Dr. rer. pol., Prof. an der Hochschule für Soziale Arbeit Genf, Fachhochschule Westschweiz. barbara.lucas@hesge.ch Nathalie Blanchet MSc. in Politikwissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule für Soziale Arbeit Genf, Fachhochschule Westschweiz. blanchet.nathalie@gmail.com 49
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