Artifizielle Störungen - Dr. Ronald Burian - KEH Berlin
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Artifizielle Störungen Dr. Ronald Burian Berliner KL-Kurs 05./06. September 2020 Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gGmbH Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Herzbergstraße 79, 10365 Berlin, Germany www.keh-berlin.de
Frau C. 22 J. • Konsil auf der Chirurgie: – Wundheilungsstörungen nach Scherenstich in den Bauch – Krankenschwester- von einem deliranten Patienten verletzt – Freundliche junge Frau, berichtet über Kummer wegen des langen Verlaufes, weist sonstige Probleme weit von sich
Frau C. 22 J. –Negiert psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte, Habe stets Wundheilungsstörungen nach Verletzungen, in der Kindheit sei ein Immundefekt diskutiert worden –Kontakt zur Hausärztin wünscht sie nicht, weil sie sich über diese geärgert habe
Die Lage ist heikel – Der Chirurg findet die Patientin auffällig bereit zu operativen Interventionen, im Pflegepersonal finden sich Unterstützer und Skeptiker – Die Frau ist Betriebsangehörige und im Dienst verletzt worden, der Psychiater stellt psychopathologisch nichts Gravierendes fest.
Man beschließt zu warten
Übersicht • Definition und Geschichte • Verteilung und Häufigkeiten • Symptomatik • Entstehungsmodelle • Verwandte Krankheitsbilder • Therapiemöglichkeiten
Definition • ICD 10 (F68.1) – Absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen – A: Anhaltende Verhaltensweisen, mit denen Symptome erzeugt oder vorgetäuscht werden, und/oder Selbstverletzungen, um Symptome herbeizuführen
Definition • ICD 10 (F68.1) – B: Es kann keine äußere Motivation gefunden werden (z.B. finanzielle Entschädigung, Flucht vor Gefahr, mehr medizinische Versorgung etc.). Wenn ein solcher Hinweis gefunden wird, sollte die Kategorie Z76.5 (Simulation) verwendet werden – C: Häufigstes Ausschlusskriterium: Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, die die Symptome erklären könnte
Geschichte • Seit 1847 ca. 3800 Einzelfallstudien und Übersichtsarbeiten • 1951 Asher: „Münchhausen Syndrom“ • Synonyme – Mimikry-Syndrom – Koryphäen-Killer-Syndrom – Operationssucht – Factitious Disorder – Hospital-Hopper-Sydnrome
Übersicht • Definition und Geschichte • Häufigkeiten • Symptomatik • Entstehungsmodelle • Verwandte Krankheitsbilder • Therapiemöglichkeiten
Häufigkeit • Geschätzt 0,5-2% in somatisch-medizinischen Einrichtungen (Kapfhammer 2017) • Häufig in – Neurologie – Dermatologie – Innerer Medizin – Chirurgie – aber auch in der Psychiatrie
Subtypen • Artifizielle Störungen im eigentlichen Sinn („Kerngruppe“) • Münchhausen- Syndrom • Münchhausen-by-proxy- Syndrom
Geschlechterverteilung • „Kerngruppe“ der Artifiziellen Störungen: – Weiblich: Männlich = 5:1 – 20.-30. Lj. – >50% Angehörige medizinischer Assistenzberufe (Krahn 2003) – Häufig allein oder getrennt lebend
Symptome und Methoden Symptom Methode Diagnostik Infektion Speichel/Kotkontamination Mikrobiologie/Abstrich Hypoglykämie/Koma Heimliche Insulininjektion HbA1c oder orale Antidiabetika Unklares Fieber Thermometermanipulation Fieber/Pulsmessung Diarrhoe Laxantieneinnahme Laxansnachweis im Stuhl Koagulopathie Warfarin Serumnachweis Anämie Selbstentnahme von Blut Hämocculttest, Einstichstellen?, Eisenabsorbtion o.B. Proteinurie Eiweißbeimengung zum Wiederholungsmessungen- Urin >Starke Schwankungen? Panzytopenie Methotrexat Serumnachweis Hyperthyreoidismus Thyroxin Niedriges Thyreoglobulin
Artifizielle Störung (1) • Warum ist die Störung lebensgefährlich? – Kasuistik: • 31-jährige Krankenpflegerin als Patientin in der Notaufnahme • Grippale Symptome, Husten, Fieber • Plötzlicher Tod • Selbstinjektion von Maisstärke -> multiple Embolien • Quelle: – Nichols et al.: In the shadow of the Baron: sudden death due to Munchausen syndrome Am J Emerg Med. 1990 May;8(3):216-9
Münchhausen-Syndrom – Männlich: Weiblich = 4:1 – 30-50 Lj. – z.T. niedriger Bildungsstand, depraviert
Münchhausen-Syndrom (1) • Fallbeispiel – 52-jähriger Mediziningenieur – Drängt auf Operation im Leistenkanal wegen „Einstülpung“ – Seit ca. 5 Jahren etwa 15 Operationen in verschiedenen Kliniken – Multiple Symptome an verschiedenen Organen (Darm, Genitalien, Bauchspeicheldrüse, Herz)
Münchhausen-Syndrom (2) – Ausschweifende Erzählungen über Therapien bei berühmten Professoren – „auf Du und Du“ – „Tragische Kindheit“, früher „Elitekader“ gewesen – Mehrfache gerichtliche Klagen auf „Kunstfehler“
Münchhausen-Syndrom (2) • Verlauf – Konfrontation mit Entscheidung, nicht zu operieren – Psychiatrische Vorstellung – Patient ist „entrüstet“, lässt sich unter Androhung einer Klage wegen „unterlassener Hilfeleistung“ sofort entlassen
Münchhausen-Syndrom: Symptomatik (3) • Wann sollte der Verdacht aufkommen? – Vorgeschichte multipler Therapien, oft in vielen verschiedenen Kliniken (z.B. multiple Operationsnarben), – „Wandern“ von Klinik zu Klinik – „Fesselnde“ Lebensgeschichte, in denen der Patient konstant die „Helden“ oder die „Opfer“ Rolle einnimmt
Münchhausen-Syndrom: Symptomatik (4) – Anamnese ausgeschmückt mit schweren Ereignissen in der Lebensgeschichte - viele tragische Todesfälle in Verwandtschaft, Unfälle, Krebs etc. („Pseudologia phantastica“) – Keine Bestätigung durch glaubwürdige Fremdanamnese – Problem: Verschleierungstaktik der Patienten
Münchhausen-by-proxy-Syndrom • Münchhausen by proxy- Syndrom: – 80% Mütter – Kinder meist unter 4 Jahren – Oft auch Misshandlungen, 50% sterben innerhalb weniger Jahre
Münchhausen-by-proxy-Syndrom (1) • Viele Fallbeispiele in der Literatur • Eltern schädigen ihre Kinder und stellen sie dann zu Behandlung vor • Mütter oft mit psychiatrischer Anamnese (56% Selbstverletzungen)
Münchhausen-by-proxy-Syndrom (2) • Primäres Ziel ist nicht die Verletzung des Kindes, sondern die Erlangung von Therapie und die soziale Anerkennung als „aufopferungsvolle“ Eltern • Verabreichung schädlicher Substanzen • Verabreichung nicht indizierter Medikation • Hypoxie-Erzeugen mit Decke/Kopfkissen • Unklare „Unfälle“ • Misshandlungen
Münchhausen-by-proxy-Syndrom (2) • Wann sollte der Verdacht aufkommen? – Eltern wirken oft sehr bemüht und fürsorglich – Sind oft „sehr kooperativ“ und selbst mit sehr riskanten Therapien einverstanden – Verhindern Einzelbehandlung des Kindes ohne ihre Anwesenheit – Verschleierung der Vorgeschichte, Erschwerung der Anamnese – Zustand der Kinder verbessert sich nach räumlicher Trennung vom betreffenden Elternteil und vice versa
Münchhausen-by-proxy-Syndrom (3) • „Angel of death“- „Todesengel“ – Pflegekräfte, Pflegehelfer provozieren absichtlich Notfallsituationen bei Patienten – Herzstillstand, Atemstillstand durch Manipulation von Geräten oder Medikation – Opfer: Schwerstkranke, Alte Patienten, Babys/Kleinkinder – Meist abends/nachts – Oft erfolgreiche Reanimationen – Mögliche Motive (Studien fehlen): • Selbstaufwertung als „Retter“ • Macht/Kontrolle ausüben • Burn out, eigene Todesgedanken – Foto: Irene B, Charite (Quelle: Spiegel)
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Entstehungsmodelle • Hypothesen: – Studien durch Verdeckungsstrategien der Patienten Datenerhebung kaum möglich – Hypothesen, warum AS bei Angehörigen medizinischer Berufe häufiger vorkommen • „aufreibender Beruf“ -> eigenes Bedürfnis nach Zuwendung und Pflege • Faszination Medizin – „delegierte“ Selbstschädigung, besonders bei komorbider PKS vom Borderline-Typus
Welche Faktoren erhöhen das Risiko, eine artifizielle Störung zu bekommen? • Schwere körperliche Erkrankungen • Ärztliche Fehlbehandlungen („Ärztehass“) • Missbrauch im Kindesalter oder emotionale Vernachlässigung • Artifizielle Störungen bei den Eltern
Hypothesen zur Pathogenese (nach Kapfhammer 2017) Psychosoziale Stressoren / Traumata Aktuelle psychologische Motive in früher Entwicklung und psychosoziale Stressoren häufige Traumatisierungen unlösbare intrapsychische / familiäre (Heimerziehung, familiäre Disharmonien, Konflikte, aktuelle persönliche Verluste, körperlicher/sexueller Missbrauch, frühe Verluste, narzisstische Verletzungen im Körperselbst, somatische / psychiatrische Störungen in Familie) extreme innerfamiliäre Erschöpfung, Disharmonie, Gewalt Essstörung dissoziative somatoforme Störung Störung Persönlichkeitsstörung Substanz- offene abhängigkeit Selbstverletzung artifizielle Störung Abb. 3 8 Modell der Entwicklung artifizieller Störungen. (Nach [3])
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DD: Intentionalität und Motivation (nach Kapfhammer 2017) somatoforme / artifizielle dissoziative Simulation Störung Störung nichtintentionale kein offenkundiger intentionale primärer Symptome äußerer Anreiz Symptome äußerer Anreiz in unbewusste/unklare Motivation Krankenrolle Abb. 1 8 Konzeptuelle Differenzierung von somatoformer/dissoziativer Störung, artifizieller Störung und Simula- tion in den Dimensionen von Intentionalität der Symptomproduktion und primärer Motivation
Simulation (1) • Keine Erkrankung • u.U. kriminelle Handlung - Betrug • Vortäuschung von Krankheitssymptomen dient der Erlangung von – materieller Vorteilen (z.B. Entschädigungen, Renten) – Vergünstigungen (z.B. Entlastung vom Wehrdienst) – Medikamenten (z.B. Opiate als „Analgetika“)
Simulation (2) • Was unterscheidet Simulation von einer Artifiziellen Störung? – Simulation: • (Ziel der Vortäuschung ist „bewusst“) - • oft materielle Schädigung Dritter – Artifizielle Störung: • (Ziel der Vortäuschung ist bei oft „unbewusst“: Erlangung von Zuwendung und Aufmerksamkeit) - • oft psychische Schädigung Dritter – Unterscheidung oft schwierig, da Patienten fast nie kooperativ über ihre Motivation berichten. – Oft „fließende Übergänge“ (z.B. bei Ziel: Medikation), z.T liegt beides vor
Begleitstörungen der Artifiziellen Störungen • Persönlichkeitsstörungen – Histrionische PKS – Borderline PKS – Dissoziale PKS • Suchterkrankungen – Medikamente (Benzodiazepine!) – Drogen (Opiate!) – Alkohol • Neuropsychologische Defizite/Intelligenzminderung – Betrifft eine Subgruppe von Münchhausen-Patienten » (Diefenbacher&Heim 1997)
Übersicht • Definition und Geschichte • Häufigkeiten • Symptomatik • Entstehungsmodelle • Verwandte Krankheitsbilder • Therapiemöglichkeiten
Therapiemöglichkeiten (1) – Gemeinsames Vorgehen von somatischem Arzt mit Konsiliarpsychiater koordinieren – Je nach Konstellation auch Ethik- Komitee und Rechtsberatung einschalten – Abwägung von Menschenrechten des Patienten gegen potentielles Risiko (versteckte Kameraüberwachung, Durchsuchungen etc.) – Hohes Risiko für das Opfer bei Münchhausen by proxy- Syndrom -> schnelles Handeln
Akutes Krisenmanagement Konfrontation • „Wir gehen davon aus, dass sie sich selbst Blut abnehmen. Wir haben keine andere Ursache gefunden, aber dafür einen Stauschlauch und Kanülen in ihrem Nachtschrank“ • Vorteil: Ehrlichkeit, Klarheit • Risiko: Patientin „Verliert ihr Gesicht“ • Häufige Folge: Abstreiten, Entlassungswunsch, ggf Klage
Akutes Krisenmanagement Nichtkonfronative Technik • „Wir glauben, dass ihre Symptome ein Zeichen von Verzweiflung, vielleicht ein „Hilferuf“ sind. Wenn Menschen psychisch sehr belastet sind, fügen Sie sich manchmal selbst großen Schaden zu. Wir glauben, dass psychische Belastung ihr Hauptproblem ist. Lassen Sie uns gemeinsam herausfinden, wie wir Ihnen am besten helfen können“. • Vorteil: keine direkte Konfrontation, „Gesicht wahren“ • Risiko: das Problem wird nicht offengelegt • Häufige Folge: Patienten öffnen sich nicht wirklich, führen das Verhalten fort oder brechen später die Behandlung ab. Oder: Umschlagen in offene Selbstverletzung
Therapiemöglichkeiten (2) Weiterführende Psychotherapie • Wenn es gelingt, Patienten zu motivieren: – Wirksamkeitsbelege bisher nur in Einzelfallstudien: – Stationäre Psychotherapie in mehreren Intervallen mit zwischenzeitlicher ambulanter Behandlung (Joest et al. 2012: DBT, Plassmann et al. 1994: Psychodynamische Therapie) – Herausarbeiten des biografischen Hintergrundes der Störung (z.B. Traumata, Erkrankungen in der Kindheit, Verhalten der Eltern etc.) – Herausarbeiten der aufrechterhaltenden Faktoren (z.B. Einsamkeit, mangelnde Anerkennung, mögliche „Vorteile“ etc.) vs. der langfristigen Folgen selbstschädigenden Verhaltens
Artifizielle Störung Fallvignette- Verlauf • Fortsetzung Frau C. (22J., Krankenschwester) – Nach 8 Wochen Re-Konsil der CH: – In der Wunde wurden Keime und Verschmutzungen nachgewiesen, „wie durch Blumenerde“ – Nach Beratung: gemeinsames Gespräch von Chirurg, Pflegeleitung der Station und Konsiliarpsychiater mit der Patientin
Artifizielle Störung Fallvignette- Verlauf • Offenlegung der kontroversen Befunde • Benennung der Diagnose einer artifiziellen Störung mit gleichzeitigem Hilfsangebot • Behandlungsvertrag und Beginn mit Verhaltensanalyse
Artifizielle Störung Fallvignette- Verlauf • Erweiterung der Anamnese – Rez. Selbstverletzungen (Ritzen), Stimmungschwankungen, Leeregefühl, Impulsivität-> Borderline PKS – Anorexia nervosa in Pubertät – Benzodiazepinabhängigkeit • Motivation zu einer stationären Therapie (zunächst BZD Entzug) • Nach ca. 10 Tagen Umschlagen der verdeckten in offene Selbstverletzung-> ITS -> PsychKG
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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