Aufbruch im Umbruch Was und wohin wollen und sollen die Deutschen mit Europa im 21. Jahrhundert? Neue Bücher zur Lage der Nation. Von Thomas ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Positionen Buchkritik Aufbruch im Umbruch Was und wohin wollen und sollen die Deutschen mit Europa im 21. Jahrhundert? Neue Bücher zur Lage der Nation. Von Thomas Speckmann Beginnen wir mit der Problem- In „Die unbequeme Wahrheit“ sieht Steingart in der starken beschreibung. Darin sind die beschreibt Steingart seine Heimat Emotionalisierung der Umwelt- Deutschen traditionell besonders als ein Land mit zwei Wahrheiten: bewegung, die den Klimaschutz gut, wie die Neuerscheinungen Die eine erzählt von einer florie- auf Kosten der Vernunft durchset- zur Lage des Landes zeigen: Dort renden Exportwirtschaft, einer zen wolle – für ihn ein Fehler von werden sie aufgelistet, all die Pro- üppig gefüllten Staatskasse und historischem Ausmaß. bleme, vor denen Deutschland Deutschlands Vorreiterrolle beim So präzise Steingarts Prob- und Europa stehen – mit einer Klimaschutz. Die andere Version lembeschreibung an vielen Stel- Ausnahme: dem Corona-Virus, handelt von fehlenden ökonomi- len ist, so allgemein kommen das noch nicht in Europa ange- schen Impulsen, von prekären seine Lösungsideen daher. Zum kommen war, als diese Bücher Lebensverhältnissen und einer Beispiel schlägt er vor, den deut- geschrieben wurden. tiefgreifenden Spaltung der Ge- schen Sozialstaat neu zu den- Wenn man nach einem Au- sellschaft. Eine große Gefahr ken. Sein Vorbild ist Norwegens tor sucht, der Deutschland den Staatsfonds – der mittlerweile Spiegel vorhält, kommt Gabor größte der Welt. Er fordert darü- Steingart wie gerufen. Er pflegt ber hinaus einen „Marshallplan diese Disziplin nicht nur täglich für Integration“, neue Wege der in seinem Newsletter „Steingarts Partizipation, eine „Bildungsre- Morning Briefing“. Der ehemalige publik“ und, natürlich, ein „neu- Chefredakteur des Handelsblatts es Narrativ“ für Deutschland. und frühere Leiter der Spiegel- Büros in Berlin und Washington 2020 als Wendejahr hat mit „Deutschland – Der Ab- Den etwas weiteren Blick nach stieg eines Superstars“ bereits vor Europa und in die Welt wagt Sig- einigen Jahren einen Bestseller Gabor Steingart: Die unbequeme mar Gabriel. Der ehemalige Au- Wahrheit. Eine Rede zur Lage unserer gelandet, der als Vorläufer seines Nation. München: Penguin 2020. ßen-, Wirtschafts- und Umwelt- neuen Buches gelten kann. 160 Seiten, 16,00 Euro minister Deutschlands erkennt 124 | IP • Mai/Juni 2020
Aufbruch im Umbruch Positionen eine „große Transformation“ – schrittweise aufgebaut wurden, in der internationalen Ordnung, auch wieder Schritt für Schritt in Wirtschaft und Technologie abzubauen, wenn es zu Fort- sowie in der gesellschaftlichen schritten in den Verhandlungen und kulturellen Globalisierung. kommen sollte. Zu einer neuen Hinzu kommt ein Europa, das europäischen Russland-Strate- sich mit einer ganzen Reihe von gie würde es für Gabriel ebenso inneren und äußeren Heraus- gehören, sich unabhängiger von forderungen konfrontiert sieht russischem Erdgas zu machen, – ein Europa auf der Suche nach ohne zugleich die Liberalisierung einer neuen Rolle in der Welt des Sigmar Gabriel: Mehr Mut! des Gasmarkts aufzugeben. Als 21. Jahrhunderts. Aufbruch in ein neues Jahrzehnt. Instrument dazu empfiehlt er ei- Dabei betrachtet Gabriel 2020 Freiburg im Breisgau: Herder 2020. nen verstärkten Wettbewerb auf 336 Seiten, 25,00 Euro als Wendejahr – und das bereits dem europäischen Gasmarkt. vor Beginn der Corona-Krise: Deutschlands Bereitschaft Er weist nicht nur auf die sich zur europäischen Solidarität ist abschwächende Weltwirtschaft Lethargie und Aufbruch. Gabriel für Gabriel dabei ebenso eine hin, die seit der letzten großen beklagt eine „organisierte Ver- Selbstverständlichkeit wie das Rezession von 2008 den längsten antwortungslosigkeit“. Deutsch- Verständnis für unterschiedliche Aufschwung der Nachkriegszeit land müsse die Ärmel hochkrem- Sichtweisen der Europäer. Um hinter sich hat. Gabriel sieht die peln, bis zum Jahr 2030 digitaler, Europas „sensationelle“ Erzäh- Welt in eine „geopolitische Rezes- grüner und gerechter werden lung in die Zukunft verlängern zu sion“ eintreten. Das habe mit ei- und die soziale Marktwirtschaft können, ruft er dazu auf, zusam- nem Mangel an globaler Führung erneuern. Er plädiert für Mut menzustehen. Europa brauche als Folge wachsender amerikani- zum Staat und für Frieden als den Willen seiner Mitgliedstaa- scher Unberechenbarkeit zu tun Ziel deutscher Außen- und Si- ten zur Einigung. und mit einem im Niedergang be- cherheitspolitik. Russland will griffenen Russland, das die Sta- er dabei nicht verlieren. Drei „Megabeben“ bilität und den Zusammenhalt Gabriel betont, dass eine neue Bei dieser internationalen Ge- der USA und ihrer Verbündeten Russland-Strategie immer eine mengelage setzt auch Joschka untergraben wolle. Und dann europäische sein müsse und nie Fischer an. Als einer der Amtsvor- ist da noch ein immer mächtiger ein deutscher Alleingang sein gänger von Gabriel im Auswärti- werdendes China, das eine wett- dürfe. Dazu zählt für ihn – mit gen Amt kreisen seine Gedanken bewerbsfähige autoritäre Alter- Verweis auf die Entspannungs- ebenso um einen notwendigen native zur liberalen Weltordnung politik von Willy Brandt – auch Aufbruch Europas in einer Welt global zu verankern suche. Da militärische Stärke. Nur starke im Umbruch wie um die deutsche raus schlussfolgert Gabriel, dass Partner könnten starke Verträge Verantwortung dabei. Auch er eine große globale Krise drohe, schließen. Und nur ein einiges, sieht die Konturen einer neuen wenn wirtschaftliche Schwäche ein militärisch selbstbewusstes Weltordnung entstehen: der mit geopolitischen Krisen und und verteidigungsbereites Euro- Aufstieg Chinas, die Verlagerung Unsicherheiten zusammenträ- pa werde als Verhandlungspart- der weltpolitischen Zentralachse fe und diese sich wechselseitig ner von Moskau ernst genommen. weg vom Nordatlantik hin zum verschärften. Gabriel wirbt dafür, im Ukrai- Pazifik und zu Ostasien; eine Die Deutschen stehen in dieser ne-Konflikt die Sanktionen des Weltmacht USA, die die Lasten Situation vor der Wahl zwischen Westens gegen Russland, die der globalen F ührung nicht IP • Mai/Juni 2020 | 125
Positionen Buchkritik mehr tragen will und schon gar ropa und den Westen insgesamt nicht die einer globalen Ord- Mut machenden Ausblick bereit: nungsmacht, die aber an ihrer Die Rivalität der Großmächte im Führungsrolle unter nationalis- 21. Jahrhundert wird nach seiner tischen Vorzeichen festhält; und Prognose vor allem im nichtmili- schließlich eine „frustrierte und tärischen Bereich – in Wirtschaft, ökonomisch ineffiziente“ nuk- Technologie und der Attraktivi- leare Weltmacht Russland und tät der Gesellschaftssysteme – ein stagnierendes Europa. Dazu stattfinden. Angesichts der kommen Konflikte entlang der Größenverhältnisse zwischen eurasischen Hauptachse zwi- Joschka Fischer: Willkommen im den aufsteigenden asiatischen schen Pazifik und Europa; und 21. Jahrhundert. Europas Aufbruch und Gesellschaften und dem Westen die deutsche Verantwortung. nicht zuletzt die Auseinander- Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020. werde sich genau in dieser Aus- setzung Nationalismus versus 201 Seiten, 20,00 Euro einandersetzung eine Chance zur internationale Zusammenarbeit. Erneuerung des Westens bieten. Die Europäer und damit auch Hier sieht Fischer die Europäer die Deutschen ermahnt Fischer, Europas Marktlücke in einer guten Ausgangsposition. 30 Jahre nach dem „magischen Was tun? Fischers Empfehlungen China mit seinem totalitären und Jahr“ 1989 nicht noch einmal kommen bescheiden daher, was die USA mit ihrem radikal privat- denselben Fehler zu machen: sie realistisch wirken lässt. Die wirtschaftlichen Ansatz ließen die Radikalität und die dramati- EU sei vom Status her eine Mittel- ausreichend Raum: Die europä- schen Auswirkungen einer histo- macht, von einer globalen Groß- ische Tradition, eine Marktwirt- rischen Zäsur zu unterschätzen. macht weit entfernt, und sie solle schaft mit stärkeren etatistischen Ein „Megabeben“ namens Do- einen solchen Status auch gar und sozialen Traditionen und nald Trump zertrümmert nach Fi- nicht versuchen anzustreben. Als einer regulierungsoffeneren schers Wahrnehmung das west- strategisches Ziel für die Europäer Mentalität in der Gesellschaft, liche Bündnis in Verbindung mit deklariert Fischer, technologisch könne sich gegenüber den beiden zwei anderen Megabeben – dem in der globalen Spitzengruppe zu anderen Ansätzen als durchaus Aufstieg Chinas zur globalen bleiben und machtpolitisch so im Vorteil erweisen. Nummer eins und der digitalen stark zu werden, dass man sich Und tatsächlich könnte eine ge- Revolution, die ebenfalls kaum selbst verteidigen könne – auch lungene demokratische Regulie- einen Stein auf dem anderen las- wenn das schwer genug werden rung, die nach Fischers Definition sen werde. dürfte. Fischer bringt das in eine eine transparente politisch-gesell- Fischer erblickt folglich drei griffige Formel: „Für Europa zäh- schaftliche Debatte zur Grundlage Revolutionen auf einmal, vor len keine Statusfragen, sondern haben muss, zu einem europäi- denen die Welt und damit auch Souveränitätsfragen, Status setzt schen Exporterfolg werden. Denn Europa heute stünden – Revoluti- Souveränität voraus.“ wer als Erster erfolgreich regulie- onen, die der Alte Kontinent nach Mit Blick auf Asien hält Fi- re, so Fischer, der bestimme auch Fischers Prognose allein werde scher einen für Deutschland, Eu- international die Standards. bewältigen müssen, ohne Schutz und Deckung durch den „großen Bruder“ USA. Dessen Rückzug aus der globalen Verantwortung Dr. Thomas Speckmann sei die größte Herausforderung ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am für die Europäer. Historischen Institut der Universität Potsdam. 126 | IP • Mai/Juni 2020
Sie können auch lesen