Aufbruch nach sozialer Verwüstung - Georg Sporschill

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Georg Sporschill
Aufbruch nach sozialer Verwüstung
Das Sozialprojekt ELIJAH in Rumänien –
ein kirchlicher Beitrag

   Das Soziale: Die Option für die Armen
ist in Rumänien für die Kirche brennend.
                                                    starten. Nach dieser Zeit bewohnte eine große
     Stehen die Kirchen auf der Seite der
                                                    Horde unser erstes Kinderhaus und ließ mich
   Armen, befähigen sie die Reichen und
                                                    nicht mehr los. Der Sozialverein Concordia
   vor allem die Neureichen zum Teilen?             wurde gegründet. Die abenteuerliche Familie
   Die Ökumene im Land ist keineswegs               wuchs, und wir suchten neue Häuser. Der Ein-
    eine Selbstverständlichkeit. Wird die           satz führte mich von Rumänien weiter in die
 griechisch-katholische Kirche zwischen             Republik Moldau und nach Bulgarien. Aus den
                                                    sechs Monaten sind jetzt dreißig Jahre gewor-
   Orthodoxie und römisch-katholischer
                                                    den. Straßenkinder aus der Ceausescu-Zeit gibt
     Kirche als Märtyrerkirche geschätzt,
                                                    es nicht mehr. Die Europäische Union hat nicht
       wird ihr Raum gegeben? Die Groß-             nur die Wirtschaft, sondern auch den Sozialstaat
    kirchen verlieren an Zulauf. Wie wird           belebt. Die Kirchen konnten nach dem Ende des
       die Rolle der Freikirchen gesehen?           Kommunismus ihre sozialen Aufgaben wieder
 Bestimmend sind dogmatisches Denken                wahrnehmen. Und das Projekt Concordia wur-
                                                    de von Nachfolgern übernommen.
   und eine starke Liturgie. Wie kann die
          Bibel in die Hand der Menschen

                                                                                                                 Best Practice
    kommen, um die Unterscheidung der
                                                         Neue Aufgaben
         Geister und ein verantwortliches
                        Handeln zu fördern?             Der jesuitische Auftrag, dorthin zu gehen,
                                                    wo die Not am größten ist, führte uns nach Hos-

N    ach dem Fall des Eisernen Vorhangs im
     Dezember 1989 landeten Tausende rumä-
nische Heimkinder auf der Straße und traten
                                                                       P. Georg Sporschill SJ, geb. 1946,
                                                                       österreichischer Jesuit, gründete nach
                                                                       1989 Sozialprojekte in Rumänien, Bul-
damit vor den Vorhang der Welt. Gemeinsam                              garien, der Ukraine und in der Republik
mit der Caritas wollte sich auch der Jesuitenor-                       Moldau. Jetzt unterstützt er Ruth Zen-
                                                                       kert und ihr Projekt ELIJAH für benach-
den engagieren, um ihnen zu helfen. So wur-
                                                                       teiligte Roma-Familien. Für sein Enga-
de ich 1991 für sechs Monate nach Bukarest          gement erhielt er mehrere Ehrendoktorate und
gesandt, um eine Aktion für Straßenkinder zu        Auszeichnungen.

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man in Siebenbürgen. Nicht vergessen hatte ich,               ELIJAH –
dass viele unserer Schützlinge in Bukarest aus                eine Freundschaft wächst
Heimen und Elendsvierteln dieser Gegend ka-
men. Meine heutige Gemeinde ist verstreut über               Im Haus der ELIJAH-Gemeinschaft beginnt
sechs Dörfer, in denen viele Roma-Familien in           der Tag mit einem Morgengebet, das Volontä-
Slums leben und ihren Platz in Europa suchen.           re und Kinder vorbereiten. Einige Jugendliche
Mit Ruth Zenkert gründete ich das Sozialwerk            haben lesen gelernt, um das Tagesevangelium
ELIJAH mit dem Ziel, den Kindern eine besse-            vortragen zu können. Die Bibel hat bei den
re Zukunft zu ermöglichen, als sie ihre Eltern          Schwierigsten geschafft, was der Dorfschule
hatten (www.elijah.ro). Meine Aufgaben sind             nicht gelungen ist. Jeder, jede Einzelne spricht
für einen katholischen Priester ungewöhnlich,           einen Dank oder eine Fürbitte. Besonders schön
da es in unseren Gemeinden keine Katholiken             sind die Lieder mit Begleitung von Trommeln
gibt. Die letzten Katholiken, Siebenbürger Sach-        und verschiedenen Instrumenten. Zum Schluss
sen, haben nach der Wende Rumänien verlas-              erklärt Florin einen der 99 Namen Gottes aus
sen, ebenso wie die evangelische Mehrheit. In           dem Koran. So wird eine positive Beziehung
Hosman thront vor der Kulisse der Karpaten die          zum Fremden gestiftet. Jeden Morgen staune
verlassene Kirchenburg über dem Dorf, Zeugin            ich über die Botschaften, die mir die Jugend
für eine achthundertjährige deutsche Geschich-          schenkt. Die »participatio actuosa«, die tätige
te in Rumänien. Unser Verein ELIJAH hat die             Teilnahme aller, das liturgische Leitwort aus
kleine katholische Kirche im Dorf übernommen            dem II. Vatikanum, erfüllt sich hier. Anders als
und aus der Ruine ein Sozialzentrum gemacht.            in Ländern mit großem Wohlstand freuen sich
An Festtagen feiern wir die Messe, zu der viele         die Kinder auf jeden Gottesdienst.
kommen. Öfter aber dient die renovierte Kirche               An normalen Tagen feiere ich die Messe
als Speisesaal und Kantine. Das angebaute Pfarr-        abends in der Hauskapelle der ELIJAH-Gemein-
haus auf der einen Seite wurde zum Kindergar-           schaft. Zum engeren Kreis gehören gut zwanzig
ten, die ehemalige einklassige Schule auf der           junge Leute, die Ruth Zenkert um sich schart,
anderen Seite beherbergt eine Arztpraxis und            ehemalige Straßenkinder, die Sozialarbeiter ge-
einen Zahnarzt. So hat die katholische Kirche           worden sind, ausgestoßene Roma-Kinder aus
ohne Katholiken eine Antwort auf die neue Not           dem Dorf, junge Volontäre und ein 74-jähriger
gefunden und wieder Zulauf bekommen. Wir                Jesuit. Nicht zu vergessen zwei Hunde, die von
konzentrieren uns auf die Arbeit mit Kindern
und Jugendlichen. ELIJAH bietet zehn Program-
me an: 1. Erste Hilfe für Familien, 2. Back to
School, 3. Kantine für Schüler, 4. Musik weckt
Talente, 5. Bauhof – Tischlerei – Landwirtschaft,
6. Berufsausbildung – Hauswirtschaft und Bä-
ckerei, 7. Häuser im Romaviertel, 8. Schüler-
wohnheim in Sibiu, 9. Startwohnungen, 10.
Prophetenschule für MitarbeiterInnen.

                                                         Erste Hilfe für Familien

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Die Prophetenschule

                                                            Unser Lehrbuch für die Sozialarbeit, das
                                                       wir täglich zur Hand nehmen, ist die Bibel. Ne-
                                                       ben den Lesungen im Morgengebet und in der
                                                       Messe gibt es eine wöchentliche Bibelschule, an
                                                       der die meisten MitarbeiterInnen teilnehmen.
                                                       Momentan lesen wir das Lukas-Evangelium,
Musik weckt Talente                                    daraus ergeben sich ausführliche Diskussionen.
                                                       Die Bibel in der Hand, gemeinsam mit Katho-
der Straße zu uns kamen; sie wissen genau,             liken und Mitgliedern von Freikirchen – diese
wann Gottesdienst ist, und legen sich unter den        Ökumene ist für viele in der orthodoxen Welt
Altar. Der Ältere schnarcht manchmal. Wie gut          neu.
ist es, im Schatten des Allmächtigen zu ruhen.              An unserer Haustüre hängt das Schild
Die Geborgenheit, die unsere zwei Freunde be-          »Casa Profetilor. Prophetenschule«. Was ist das
zeugen, ist das große Angebot für uns alle.            für eine Schule?, fragen Ankömmlinge. Der Pro-
      Als wir uns 2012 in Hosman niederlie-            phet Elijah ist unser Patron. Wir möchten gegen
ßen, fürchtete der orthodoxe Pfarrer eine neue         Ungerechtigkeiten ankämpfen, Hungernden
Konkurrenz, wie er sie in der evangelischen            und Sterbenden zu Hilfe kommen; vor allem
Freikirche schon hat. Die Freiheit und die ge-         aber wollen wir wie der Prophet junge Men-
schwisterliche Hochachtung der anderen, die            schen für die sozialen Anliegen gewinnen. Das
uns das II. Vatikanum gibt, besiegten Misstrauen       Feuer ist charakteristisch für Elijah. Gegen die
und Ängste. Einmal im Monat gehe ich mit der           Götzendiener rief er Feuer vom Himmel. Gegen
jungen Schar zum Sonntagsgottesdienst in der           die böse Königin setzte er sich für die Entrechte-
orthodoxen Kirche. Mir wurde der Ehrenplatz            ten ein. Und er musste flüchten. Raben retteten
unmittelbar vor der Ikonostase zugewiesen. Der         sein Leben. »Die Raben brachten ihm Brot und
orthodoxe Pfarrer ist ein Freund geworden und          Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch

                                                                                                             Best Practice
kommt oft zum Gebet, zum Essen und zum                 am Abend« (1 Kön 17,6). Die Raben des Elijah
Singen in unser Haus. Provozierend sage ich zu         sind unser Logo geworden, weil sie auch uns
ihm, er müsste mir ein Gehalt bezahlen, da er          täglich beschenken. Nicht »Zigeuner«, sondern
sich um die alten Leute in der Kirche kümmere
und ich für ihn die Jugend- und Sozialarbeit ma-
che. Er freut sich über das Zusammenspiel und
ist nicht eifersüchtig. Er akzeptiert sogar katholi-
sche Mitglieder unseres Hauses als Taufpaten in
der orthodoxen Kirche, wenn Roma-Clans ihre
Kinder bringen. Die Paten müssen für das große
Fest aufkommen, auch die Taufe ist nicht gratis.

                                                       Ein festes Haus – wir bauen mit den Familien

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»Raben« ist in Rumänien das ärgste Schimpf-                    Die Situation der Kirchen …
wort für die Romi. Doch sie sind es, die unser
Leben spannend machen. Wer Brot gibt und                      Das Werk ELIJAH hat wie ein Meteorit
dafür Sinn empfängt, macht einen guten Deal,             in die kirchliche Landschaft Rumäniens einge-
meinte Viktor Frankl.                                    schlagen. Die Spiritualität des II. Vatikanums
     Auf seinen weiten Wegen in der Suche                war nicht hinter den Eisernen Vorhang gedrun-
nach Gott blieben Elijah Müdigkeit und Enttäu-           gen. Und der Kommunismus hatte eine soziale
schungen nicht erspart. In der größten Not ka-           Verwüstung angerichtet.
men ihm Engel zu Hilfe »Steh auf und iss! Sonst               In der letzten Volkszählung 2011 bekann-
ist der Weg zu weit für dich.« (1 Kön 19,7b) Im          ten sich 81 Prozent der Bevölkerung zur ortho-
Freundeskreis, der unser Werk trägt, sehen die           doxen Kirche, 6,2 Prozent zur protestantischen
Kinder die Engel, wenn sie beten: »Lieber Gott,          Kirche, 5,1 Prozent zur katholischen Kirche,
ich danke dir für den Engel neben mir.« Elijah           1,5 Prozent zu anderen Kirchen, 0,2 Prozent als
hinterließ mit Elischa einen tüchtigen Nach-             nicht religiös; 6 Prozent machten keine Angabe.
folger, der seinen Geist weitertrug, und viele           Die demokratische Entwicklung findet sich im
Schüler. Der Gründer der Prophetenschule starb           Dorf Hosman abgebildet. Die mächtige Kirchen-
                                                         burg wurde von den katholischen Siebenbürger
                                                         Sachsen vor 800 Jahren gebaut. Mit der Refor-
                                                         mation wurde sie vor 400 Jahren evangelisch.
                                                         Seit der Wende 1989 ist die Kirche verwaist,
                                                         weil alle Gemeindemitglieder nach Deutschland
                                                         ausgewandert sind. Sie kommen nur noch zu
                                                         Besuch, die »Sommersachsen« halten einmal
                                                         im Jahr einen Gottesdienst in der evangeli-
                                                         schen Kirche. Auf dem Friedhof an der Kirche
                                                         sind nur deutsche Namen zu lesen, soweit die
Prophetenschule für Mitarbeiter                          Grabsteine nicht von Gestrüpp und Unkraut
                                                         überwuchert sind. Sogar die Kultur des Toten-
nicht, sondern wurde im feurigen Wagen in den            gedenkens stirbt hier, weil die Leute nicht mehr
Himmel aufgenommen. Wie Elijah wünschte                  da sind. Als Besonderheit gibt es in Hosman
ich, dass viele junge Menschen die Schönheit             eine katholische Kirche, weil in der Mitte des
der Berufung zur Sozialarbeit verspüren und              19. Jahrhunderts ein Teil der sächsischen Bau-
den prophetischen Umgang mit Menschen ler-               ern mit ihrem Pfarrer unzufrieden war und sich
nen können.                                              aus Protest der katholischen Kirche anschloss.
     Jede Woche versenden wir an unseren                 So mussten sie eine Kirche bauen mit Pfarrhaus
Freundeskreis ein »Bimail« als Zeugnis, wie uns          und Schule, in der die Katholiken in deutscher
die Bibel Kraft gibt. Die Genesis und der neue           Sprache unterrichtet wurden, als Gegenüber zur
Kommentar von Georg Fischer SJ sind in die-              evangelisch-deutschen Schule im Ort. Die dritte
sem Jahr unser Lernprogramm. Wenn Sie die                Kirche im Dorf, zu der heute die meisten Men-
kostenlose Zusendung wünschen, schreiben Sie             schen gehören, ist die rumänisch-orthodoxe
an bimail@elijah.ro                                      mit ihren feierlichen Gottesdiensten, zu denen

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meist ältere Leute kommen. Ausnahmen sind            men, wonach alle Menschen als Gotteskinder
Beerdigungen, Hochzeiten und Hochfeste wie           dieselbe Würde haben. Dieser Glaubensgrund-
Weihnachten und Ostern, an denen sich die            satz ist im Blick auf die Roma-Bevölkerung heu-
Kirche füllt. Über die Liturgie hinaus gibt es in    te eine große Provokation für Kirchenführer und
dieser Gemeinde keine Sozialarbeit, keine Kin-       Politiker.
der- und Jugendarbeit, auch nicht von Seite der
politischen Gemeinde.
      Die Orthodoxen haben zwei Kirchenge-
                                                          … und die Sozialarbeit
bäude nebeneinander. Eines gehörte der unier-
ten, griechisch-katholischen Kirche, bis sie im           Sozialarbeit ist den kirchlichen Institutio-
Jahr 1948 von den Kommunisten aufgelöst              nen in der Zeit des kommunistischen Regimes
wurde. Bischöfe, Priester und Gläubige wur-          fremd geworden, weil sie Domäne des Staates
den verfolgt und ins Gefängnis geworfen, wo          war. Dazu kommt die orthodoxe Spiritualität, in
viele starben. Nach der Wiederzulassung dieser       der eher die prächtige Liturgie im Mittelpunkt
Märtyrerkirche begann ein langwieriger Streit        steht. Die katholischen Kirchen sind heute eine
zwischen griechisch-katholischen und orthodo-        Minderheit im Land, aber in Europa gut vernetzt
xen Christen um Kirchenbesitz und Gebäude,           und von dort unterstützt. In den letzten dreißig
die durch das kommunistische Dekret 1948
den Orthodoxen übertragen worden waren. In
vielen Gegenden haben sich in den vierzig Jah-
ren der Auflösung die griechisch-katholischen
Gemeindemitglieder in der orthodoxen Kirche
assimiliert.
      In Hosman gibt es wie in den meisten Ge-
meinden Rumäniens auch eine evangelische
Freikirche, die vom Ausland unterstützt wird.
Das Besondere an dieser Kirche ist der vorur-

                                                                                                           Best Practice
teilsfreie Umgang mit der Roma-Bevölkerung,          Kantine für Schüler
der sie auch materielle Hilfen und Lernbetreu-
ung anbietet. Und sie verbreiten die Bibel. Ver-     Jahren mussten die Bischöfe Kirchen und Ge-
ständlicherweise haben die »pocaiti« – die Be-       meinden wiederaufbauen und brauchten dafür
kehrten – einen starken Zulauf, was ein Ärgernis     finanzielle Mittel. Die Kirchen aus den Wohl-
für die großen Kirchen ist. Positiv gesehen ist      standsländern hatten dafür nicht immer Ver-
es eine Herausforderung an die Großkirchen,          ständnis, sie wollten Sozialprojekte. Das soziale
sich der Menschen anzunehmen und nicht dog-          Empfinden ist eine Frage der wirtschaftlichen
matisches Denken gegen die unterschiedlichen         und religiösen Entwicklung in der Freiheit, die
Kulturen zu verteidigen. Das heißt: Die Nöte         in Rumänien noch so jung ist. In Herzen und
der Menschen zur Aufgabe zu machen und ih-           Hirnen regiert bei den entscheidenden Genera-
nen die Bibel anzuvertrauen. Ein evangelischer       tionen noch oft der Diktator, dem man nicht wi-
Nachbarpfarrer meinte dazu, dass vor allem die       dersprechen darf, den man aber hinten herum
Freikirchen den religiösen Grundsatz ernst neh-      doch betrügt, so gut es geht. Auch der Hunger,

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sie machen können und wollen? Als Alternati-
                                                        ve zu den gefährlichen Geschenken, die viele
                                                        Organisationen verteilen, wodurch sie die Leu-
                                                        te aber nur unselbstständig machen und ihnen
                                                        den Sinn zum Haushalten und Planen nehmen.
                                                        Einerseits ist der freie Wille jedes Menschen zu
                                                        respektieren, andererseits ist es schmerzlich zu
                                                        sehen, wie an der ärmsten Hütte eine Satelli-
                                                        tenschüssel hängt, obwohl die einfachsten Le-
Häuser im Romaviertel                                   bensgrundlagen fehlen. In der Hand fast jeden
                                                        Kindes ist ein Handy, zumindest ein kaputtes.
der in Rumänien jahrzehntelang herrschte, ist           Wer kann, besorgt sich ein altes Auto. So wurde
nicht vergessen. Heute hat zwar jeder Mensch            Rumänien über Jahre zur Schrotthalde Euro-
zu essen, bekommt Familienbeihilfe, Sozialhilfe         pas. Die gut ausgebildeten und arbeitsfähigen
und Kindergeld, aber der Hunger sitzt nach wie          Menschen aber haben das Land verlassen, etwa
vor in der Seele. Er stiftet Gier und Angst, das        ein Drittel der Bevölkerung ist von Westeuropa
Soziale aber braucht Großherzigkeit und Frei-           angezogen und angeworben worden. Sie fehlen
heit. Die Kirchen sind noch auf dem Weg zu              in ihrer Heimat. Selbstverständlich sind mit den
mehr Gerechtigkeit. Noch gibt es einen starken          Arbeitskräften auch manche Probleme wie Kri-
Klerikalismus, der von den Ängsten der Men-             minalität, Prostitution und Betteln mitgegangen.
schen lebt. Vor allem die Frauen bekommen               Gefragt ist eine Politik des wirtschaftlichen und
einstweilen nicht jene Hochschätzung und An-            des sozialen Ausgleichs zwischen den Ländern
erkennung, die im Westen selbstverständlich zu          in Europa. Das Bildungswesen und die soziale
sein scheint. Eine andere aktuelle Gefahr ist die       Wohlfahrt in Rumänien müssen noch praktisch
Flucht ins Spirituelle, weil man für die sozialen       wachsen, auch wenn europäische Gesetze gel-
und politischen Aufgaben noch nicht gerüstet            ten. Nur so lassen sich Probleme wie Korruption
ist. Sozialprojekte wurden nach der Wende von           oder Abtreibung lösen und eine verantwortete
Ordensgemeinschaften und NGOs aus dem Aus-              Familienplanung anstreben. Gerade in den är-
land nach Rumänien gebracht, die Wurzeln aber           meren Bevölkerungsteilen sind Großfamilien
müssen noch wachsen.                                    üblich, in denen eine Frau mit dreißig Jahren bis
      In der Sozialarbeit zeigen sich diese Gefah-      zu zehn Kinder hat, alle in der Familie Analpha-
ren am deutlichsten im Umgang mit dem Geld.             beten sind und in der Folge auch keine Arbeit
Dazu passt das drastische Wort von Papst Fran-          haben. Ausbildung mit dem Ziel der Arbeitsfä-
ziskus, der eine argentinische Volksweisheit zi-        higkeit ist deshalb die Hauptaufgabe eines Sozial-
tierte: »Geld ist die Scheiße des Teufels.« Roma-       projekts, zumindest so lange, bis der Staat seine
Leute, die einmal Straßenkinder waren und seit          sozialen Verpflichtungen wahrnehmen kann.
Jahrzehnten mit uns leben und arbeiten, drücken              Verschärft wird die Not noch durch die
es lustig aus, indem sie auf Deutsch das bestim-        Vorurteile gegenüber der Roma-Bevölkerung. In
mende Interesse karikieren: »Geld, Geld, Geld.«         einem Dorf würde kaum jemand verstehen und
Damit ist auch das Betteln gemeint. Wie kann es         akzeptieren, wenn der Bürgermeister sich zu
gelingen, den Menschen Arbeit anzubieten, die           sehr für die Roma-Bevölkerung einsetzen würde.

60     Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung                           Diakonia 52 (2021)
orthodoxen Patriarchen hat er in der neuen Ka-
                                                        thedrale in Bukarest das Vaterunser gebetet, was
                                                        in der aktuellen kirchlichen Situation in diesem
                                                        Land keine Selbstverständlichkeit ist. Wichtig
                                                        war sein Treffen mit der griechisch-katholischen
                                                        Kirche, in der er sieben Märtyrerbischöfe selig-
                                                        gesprochen hat. Ihr Bekenntnis zu Christus in
                                                        der schwersten Zeit soll nicht vergessen werden.
                                                        Zugleich hat er den Neuanfang dieser kleinen
Sozialzentrum                                           Kirche zwischen schwierigen Fronten gestärkt
                                                        und sie den Großen zum Vorbild gegeben. Er
     Die Geldproblematik reicht vom rumäni-             hat sich an die Jugend gewandt, ohne zu mo-
schen Dorf bis nach Brüssel, weil die Kanäle,           ralisieren; vielmehr hat er ihnen alle Liebe zu-
über die das Geld zu den Bedürftigen fließen            gesprochen und sie aufgerufen, sich sozial und
soll, nicht vorhanden oder fehlgeleitet sind.           politisch zu engagieren. Am auffälligsten war
NGOs könnten in dieser Phase eine Überbrü-              das Treffen mit den Roma-Vertretern, das der
ckung, gleichsam Bypässe für das Herz Europas           Papst ausdrücklich gewünscht hat. Diese Volks-
bilden. Der grenzüberschreitende Einsatz von            gruppe bat er im Namen der Kirche um Verzei-
Volontären aus Rumänien und ganz Europa ist             hung für Diskriminierung und Ungerechtigkei-
dazu ein wichtiger Beitrag. Die Jungen lernen           ten und leistete somit einen mutigen Beitrag für
einander kennen und gegenseitig die unter-              die Heilung der Wunden. Das Zusammenleben
schiedlichen Talente schätzen. Auf der einen            der Volksgruppen hat er als europäische Aufgabe
Seite Wirtschaftlichkeit, Wohlstand und Geld,           formuliert. Die Kirchen sollen nicht die Wurzel
auf der anderen Seite Armut und menschliche             eines Übels der Trennung, sondern Vorreiter für
Großzügigkeit, Gastfreundschaft und eine tief           Respekt und das Zusammenleben der verschie-
verwurzelte Gläubigkeit. Wir haben einander             denen Kulturen sein.
viel zu geben.                                                Ich habe die Worte von Papst Franziskus

                                                                                                              Best Practice
                                                        als Plädoyer für christliche Sozialarbeit gehört,
                                                        was in einem klerikalen Umfeld für die einen als
                                                        Ermutigung, für die anderen als schmerzhafte
     Der Papstbesuch –
                                                        Kritik wirkte. Wie in seinem gesamten Pontifi-
     ein Programm
                                                        kat setzte er auf zwei ignatianische Grundsätze:
    Im Jahr 2019 hat Papst Franziskus Rumä-             erstens die Fähigkeit jedes einzelnen Menschen,
nien besucht. Seine Begegnungen und seine               die Geister zu unterscheiden, und zweitens die
Worte sind ein Programm für den weiteren                untrennbare Einheit von Glaube und Gerech-
Weg. Er hat die tiefen religiösen Wurzeln in der        tigkeit.
Kultur Rumäniens angesprochen und mit dem
Zuspruch das Volk, das so viel gelitten hat, in sei-
ner Würde gesehen und aufgerichtet. Mit dem

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