Aufbruch nach sozialer Verwüstung - Georg Sporschill
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Georg Sporschill Aufbruch nach sozialer Verwüstung Das Sozialprojekt ELIJAH in Rumänien – ein kirchlicher Beitrag Das Soziale: Die Option für die Armen ist in Rumänien für die Kirche brennend. starten. Nach dieser Zeit bewohnte eine große Stehen die Kirchen auf der Seite der Horde unser erstes Kinderhaus und ließ mich Armen, befähigen sie die Reichen und nicht mehr los. Der Sozialverein Concordia vor allem die Neureichen zum Teilen? wurde gegründet. Die abenteuerliche Familie Die Ökumene im Land ist keineswegs wuchs, und wir suchten neue Häuser. Der Ein- eine Selbstverständlichkeit. Wird die satz führte mich von Rumänien weiter in die griechisch-katholische Kirche zwischen Republik Moldau und nach Bulgarien. Aus den sechs Monaten sind jetzt dreißig Jahre gewor- Orthodoxie und römisch-katholischer den. Straßenkinder aus der Ceausescu-Zeit gibt Kirche als Märtyrerkirche geschätzt, es nicht mehr. Die Europäische Union hat nicht wird ihr Raum gegeben? Die Groß- nur die Wirtschaft, sondern auch den Sozialstaat kirchen verlieren an Zulauf. Wie wird belebt. Die Kirchen konnten nach dem Ende des die Rolle der Freikirchen gesehen? Kommunismus ihre sozialen Aufgaben wieder Bestimmend sind dogmatisches Denken wahrnehmen. Und das Projekt Concordia wur- de von Nachfolgern übernommen. und eine starke Liturgie. Wie kann die Bibel in die Hand der Menschen Best Practice kommen, um die Unterscheidung der Neue Aufgaben Geister und ein verantwortliches Handeln zu fördern? Der jesuitische Auftrag, dorthin zu gehen, wo die Not am größten ist, führte uns nach Hos- N ach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Dezember 1989 landeten Tausende rumä- nische Heimkinder auf der Straße und traten P. Georg Sporschill SJ, geb. 1946, österreichischer Jesuit, gründete nach 1989 Sozialprojekte in Rumänien, Bul- damit vor den Vorhang der Welt. Gemeinsam garien, der Ukraine und in der Republik mit der Caritas wollte sich auch der Jesuitenor- Moldau. Jetzt unterstützt er Ruth Zen- kert und ihr Projekt ELIJAH für benach- den engagieren, um ihnen zu helfen. So wur- teiligte Roma-Familien. Für sein Enga- de ich 1991 für sechs Monate nach Bukarest gement erhielt er mehrere Ehrendoktorate und gesandt, um eine Aktion für Straßenkinder zu Auszeichnungen. Diakonia 52 (2021) Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung 55
man in Siebenbürgen. Nicht vergessen hatte ich, ELIJAH – dass viele unserer Schützlinge in Bukarest aus eine Freundschaft wächst Heimen und Elendsvierteln dieser Gegend ka- men. Meine heutige Gemeinde ist verstreut über Im Haus der ELIJAH-Gemeinschaft beginnt sechs Dörfer, in denen viele Roma-Familien in der Tag mit einem Morgengebet, das Volontä- Slums leben und ihren Platz in Europa suchen. re und Kinder vorbereiten. Einige Jugendliche Mit Ruth Zenkert gründete ich das Sozialwerk haben lesen gelernt, um das Tagesevangelium ELIJAH mit dem Ziel, den Kindern eine besse- vortragen zu können. Die Bibel hat bei den re Zukunft zu ermöglichen, als sie ihre Eltern Schwierigsten geschafft, was der Dorfschule hatten (www.elijah.ro). Meine Aufgaben sind nicht gelungen ist. Jeder, jede Einzelne spricht für einen katholischen Priester ungewöhnlich, einen Dank oder eine Fürbitte. Besonders schön da es in unseren Gemeinden keine Katholiken sind die Lieder mit Begleitung von Trommeln gibt. Die letzten Katholiken, Siebenbürger Sach- und verschiedenen Instrumenten. Zum Schluss sen, haben nach der Wende Rumänien verlas- erklärt Florin einen der 99 Namen Gottes aus sen, ebenso wie die evangelische Mehrheit. In dem Koran. So wird eine positive Beziehung Hosman thront vor der Kulisse der Karpaten die zum Fremden gestiftet. Jeden Morgen staune verlassene Kirchenburg über dem Dorf, Zeugin ich über die Botschaften, die mir die Jugend für eine achthundertjährige deutsche Geschich- schenkt. Die »participatio actuosa«, die tätige te in Rumänien. Unser Verein ELIJAH hat die Teilnahme aller, das liturgische Leitwort aus kleine katholische Kirche im Dorf übernommen dem II. Vatikanum, erfüllt sich hier. Anders als und aus der Ruine ein Sozialzentrum gemacht. in Ländern mit großem Wohlstand freuen sich An Festtagen feiern wir die Messe, zu der viele die Kinder auf jeden Gottesdienst. kommen. Öfter aber dient die renovierte Kirche An normalen Tagen feiere ich die Messe als Speisesaal und Kantine. Das angebaute Pfarr- abends in der Hauskapelle der ELIJAH-Gemein- haus auf der einen Seite wurde zum Kindergar- schaft. Zum engeren Kreis gehören gut zwanzig ten, die ehemalige einklassige Schule auf der junge Leute, die Ruth Zenkert um sich schart, anderen Seite beherbergt eine Arztpraxis und ehemalige Straßenkinder, die Sozialarbeiter ge- einen Zahnarzt. So hat die katholische Kirche worden sind, ausgestoßene Roma-Kinder aus ohne Katholiken eine Antwort auf die neue Not dem Dorf, junge Volontäre und ein 74-jähriger gefunden und wieder Zulauf bekommen. Wir Jesuit. Nicht zu vergessen zwei Hunde, die von konzentrieren uns auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. ELIJAH bietet zehn Program- me an: 1. Erste Hilfe für Familien, 2. Back to School, 3. Kantine für Schüler, 4. Musik weckt Talente, 5. Bauhof – Tischlerei – Landwirtschaft, 6. Berufsausbildung – Hauswirtschaft und Bä- ckerei, 7. Häuser im Romaviertel, 8. Schüler- wohnheim in Sibiu, 9. Startwohnungen, 10. Prophetenschule für MitarbeiterInnen. Erste Hilfe für Familien 56 Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung Diakonia 52 (2021)
Die Prophetenschule Unser Lehrbuch für die Sozialarbeit, das wir täglich zur Hand nehmen, ist die Bibel. Ne- ben den Lesungen im Morgengebet und in der Messe gibt es eine wöchentliche Bibelschule, an der die meisten MitarbeiterInnen teilnehmen. Momentan lesen wir das Lukas-Evangelium, Musik weckt Talente daraus ergeben sich ausführliche Diskussionen. Die Bibel in der Hand, gemeinsam mit Katho- der Straße zu uns kamen; sie wissen genau, liken und Mitgliedern von Freikirchen – diese wann Gottesdienst ist, und legen sich unter den Ökumene ist für viele in der orthodoxen Welt Altar. Der Ältere schnarcht manchmal. Wie gut neu. ist es, im Schatten des Allmächtigen zu ruhen. An unserer Haustüre hängt das Schild Die Geborgenheit, die unsere zwei Freunde be- »Casa Profetilor. Prophetenschule«. Was ist das zeugen, ist das große Angebot für uns alle. für eine Schule?, fragen Ankömmlinge. Der Pro- Als wir uns 2012 in Hosman niederlie- phet Elijah ist unser Patron. Wir möchten gegen ßen, fürchtete der orthodoxe Pfarrer eine neue Ungerechtigkeiten ankämpfen, Hungernden Konkurrenz, wie er sie in der evangelischen und Sterbenden zu Hilfe kommen; vor allem Freikirche schon hat. Die Freiheit und die ge- aber wollen wir wie der Prophet junge Men- schwisterliche Hochachtung der anderen, die schen für die sozialen Anliegen gewinnen. Das uns das II. Vatikanum gibt, besiegten Misstrauen Feuer ist charakteristisch für Elijah. Gegen die und Ängste. Einmal im Monat gehe ich mit der Götzendiener rief er Feuer vom Himmel. Gegen jungen Schar zum Sonntagsgottesdienst in der die böse Königin setzte er sich für die Entrechte- orthodoxen Kirche. Mir wurde der Ehrenplatz ten ein. Und er musste flüchten. Raben retteten unmittelbar vor der Ikonostase zugewiesen. Der sein Leben. »Die Raben brachten ihm Brot und orthodoxe Pfarrer ist ein Freund geworden und Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch Best Practice kommt oft zum Gebet, zum Essen und zum am Abend« (1 Kön 17,6). Die Raben des Elijah Singen in unser Haus. Provozierend sage ich zu sind unser Logo geworden, weil sie auch uns ihm, er müsste mir ein Gehalt bezahlen, da er täglich beschenken. Nicht »Zigeuner«, sondern sich um die alten Leute in der Kirche kümmere und ich für ihn die Jugend- und Sozialarbeit ma- che. Er freut sich über das Zusammenspiel und ist nicht eifersüchtig. Er akzeptiert sogar katholi- sche Mitglieder unseres Hauses als Taufpaten in der orthodoxen Kirche, wenn Roma-Clans ihre Kinder bringen. Die Paten müssen für das große Fest aufkommen, auch die Taufe ist nicht gratis. Ein festes Haus – wir bauen mit den Familien Diakonia 52 (2021) Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung 57
»Raben« ist in Rumänien das ärgste Schimpf- Die Situation der Kirchen … wort für die Romi. Doch sie sind es, die unser Leben spannend machen. Wer Brot gibt und Das Werk ELIJAH hat wie ein Meteorit dafür Sinn empfängt, macht einen guten Deal, in die kirchliche Landschaft Rumäniens einge- meinte Viktor Frankl. schlagen. Die Spiritualität des II. Vatikanums Auf seinen weiten Wegen in der Suche war nicht hinter den Eisernen Vorhang gedrun- nach Gott blieben Elijah Müdigkeit und Enttäu- gen. Und der Kommunismus hatte eine soziale schungen nicht erspart. In der größten Not ka- Verwüstung angerichtet. men ihm Engel zu Hilfe »Steh auf und iss! Sonst In der letzten Volkszählung 2011 bekann- ist der Weg zu weit für dich.« (1 Kön 19,7b) Im ten sich 81 Prozent der Bevölkerung zur ortho- Freundeskreis, der unser Werk trägt, sehen die doxen Kirche, 6,2 Prozent zur protestantischen Kinder die Engel, wenn sie beten: »Lieber Gott, Kirche, 5,1 Prozent zur katholischen Kirche, ich danke dir für den Engel neben mir.« Elijah 1,5 Prozent zu anderen Kirchen, 0,2 Prozent als hinterließ mit Elischa einen tüchtigen Nach- nicht religiös; 6 Prozent machten keine Angabe. folger, der seinen Geist weitertrug, und viele Die demokratische Entwicklung findet sich im Schüler. Der Gründer der Prophetenschule starb Dorf Hosman abgebildet. Die mächtige Kirchen- burg wurde von den katholischen Siebenbürger Sachsen vor 800 Jahren gebaut. Mit der Refor- mation wurde sie vor 400 Jahren evangelisch. Seit der Wende 1989 ist die Kirche verwaist, weil alle Gemeindemitglieder nach Deutschland ausgewandert sind. Sie kommen nur noch zu Besuch, die »Sommersachsen« halten einmal im Jahr einen Gottesdienst in der evangeli- schen Kirche. Auf dem Friedhof an der Kirche sind nur deutsche Namen zu lesen, soweit die Prophetenschule für Mitarbeiter Grabsteine nicht von Gestrüpp und Unkraut überwuchert sind. Sogar die Kultur des Toten- nicht, sondern wurde im feurigen Wagen in den gedenkens stirbt hier, weil die Leute nicht mehr Himmel aufgenommen. Wie Elijah wünschte da sind. Als Besonderheit gibt es in Hosman ich, dass viele junge Menschen die Schönheit eine katholische Kirche, weil in der Mitte des der Berufung zur Sozialarbeit verspüren und 19. Jahrhunderts ein Teil der sächsischen Bau- den prophetischen Umgang mit Menschen ler- ern mit ihrem Pfarrer unzufrieden war und sich nen können. aus Protest der katholischen Kirche anschloss. Jede Woche versenden wir an unseren So mussten sie eine Kirche bauen mit Pfarrhaus Freundeskreis ein »Bimail« als Zeugnis, wie uns und Schule, in der die Katholiken in deutscher die Bibel Kraft gibt. Die Genesis und der neue Sprache unterrichtet wurden, als Gegenüber zur Kommentar von Georg Fischer SJ sind in die- evangelisch-deutschen Schule im Ort. Die dritte sem Jahr unser Lernprogramm. Wenn Sie die Kirche im Dorf, zu der heute die meisten Men- kostenlose Zusendung wünschen, schreiben Sie schen gehören, ist die rumänisch-orthodoxe an bimail@elijah.ro mit ihren feierlichen Gottesdiensten, zu denen 58 Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung Diakonia 52 (2021)
meist ältere Leute kommen. Ausnahmen sind men, wonach alle Menschen als Gotteskinder Beerdigungen, Hochzeiten und Hochfeste wie dieselbe Würde haben. Dieser Glaubensgrund- Weihnachten und Ostern, an denen sich die satz ist im Blick auf die Roma-Bevölkerung heu- Kirche füllt. Über die Liturgie hinaus gibt es in te eine große Provokation für Kirchenführer und dieser Gemeinde keine Sozialarbeit, keine Kin- Politiker. der- und Jugendarbeit, auch nicht von Seite der politischen Gemeinde. Die Orthodoxen haben zwei Kirchenge- … und die Sozialarbeit bäude nebeneinander. Eines gehörte der unier- ten, griechisch-katholischen Kirche, bis sie im Sozialarbeit ist den kirchlichen Institutio- Jahr 1948 von den Kommunisten aufgelöst nen in der Zeit des kommunistischen Regimes wurde. Bischöfe, Priester und Gläubige wur- fremd geworden, weil sie Domäne des Staates den verfolgt und ins Gefängnis geworfen, wo war. Dazu kommt die orthodoxe Spiritualität, in viele starben. Nach der Wiederzulassung dieser der eher die prächtige Liturgie im Mittelpunkt Märtyrerkirche begann ein langwieriger Streit steht. Die katholischen Kirchen sind heute eine zwischen griechisch-katholischen und orthodo- Minderheit im Land, aber in Europa gut vernetzt xen Christen um Kirchenbesitz und Gebäude, und von dort unterstützt. In den letzten dreißig die durch das kommunistische Dekret 1948 den Orthodoxen übertragen worden waren. In vielen Gegenden haben sich in den vierzig Jah- ren der Auflösung die griechisch-katholischen Gemeindemitglieder in der orthodoxen Kirche assimiliert. In Hosman gibt es wie in den meisten Ge- meinden Rumäniens auch eine evangelische Freikirche, die vom Ausland unterstützt wird. Das Besondere an dieser Kirche ist der vorur- Best Practice teilsfreie Umgang mit der Roma-Bevölkerung, Kantine für Schüler der sie auch materielle Hilfen und Lernbetreu- ung anbietet. Und sie verbreiten die Bibel. Ver- Jahren mussten die Bischöfe Kirchen und Ge- ständlicherweise haben die »pocaiti« – die Be- meinden wiederaufbauen und brauchten dafür kehrten – einen starken Zulauf, was ein Ärgernis finanzielle Mittel. Die Kirchen aus den Wohl- für die großen Kirchen ist. Positiv gesehen ist standsländern hatten dafür nicht immer Ver- es eine Herausforderung an die Großkirchen, ständnis, sie wollten Sozialprojekte. Das soziale sich der Menschen anzunehmen und nicht dog- Empfinden ist eine Frage der wirtschaftlichen matisches Denken gegen die unterschiedlichen und religiösen Entwicklung in der Freiheit, die Kulturen zu verteidigen. Das heißt: Die Nöte in Rumänien noch so jung ist. In Herzen und der Menschen zur Aufgabe zu machen und ih- Hirnen regiert bei den entscheidenden Genera- nen die Bibel anzuvertrauen. Ein evangelischer tionen noch oft der Diktator, dem man nicht wi- Nachbarpfarrer meinte dazu, dass vor allem die dersprechen darf, den man aber hinten herum Freikirchen den religiösen Grundsatz ernst neh- doch betrügt, so gut es geht. Auch der Hunger, Diakonia 52 (2021) Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung 59
sie machen können und wollen? Als Alternati- ve zu den gefährlichen Geschenken, die viele Organisationen verteilen, wodurch sie die Leu- te aber nur unselbstständig machen und ihnen den Sinn zum Haushalten und Planen nehmen. Einerseits ist der freie Wille jedes Menschen zu respektieren, andererseits ist es schmerzlich zu sehen, wie an der ärmsten Hütte eine Satelli- tenschüssel hängt, obwohl die einfachsten Le- Häuser im Romaviertel bensgrundlagen fehlen. In der Hand fast jeden Kindes ist ein Handy, zumindest ein kaputtes. der in Rumänien jahrzehntelang herrschte, ist Wer kann, besorgt sich ein altes Auto. So wurde nicht vergessen. Heute hat zwar jeder Mensch Rumänien über Jahre zur Schrotthalde Euro- zu essen, bekommt Familienbeihilfe, Sozialhilfe pas. Die gut ausgebildeten und arbeitsfähigen und Kindergeld, aber der Hunger sitzt nach wie Menschen aber haben das Land verlassen, etwa vor in der Seele. Er stiftet Gier und Angst, das ein Drittel der Bevölkerung ist von Westeuropa Soziale aber braucht Großherzigkeit und Frei- angezogen und angeworben worden. Sie fehlen heit. Die Kirchen sind noch auf dem Weg zu in ihrer Heimat. Selbstverständlich sind mit den mehr Gerechtigkeit. Noch gibt es einen starken Arbeitskräften auch manche Probleme wie Kri- Klerikalismus, der von den Ängsten der Men- minalität, Prostitution und Betteln mitgegangen. schen lebt. Vor allem die Frauen bekommen Gefragt ist eine Politik des wirtschaftlichen und einstweilen nicht jene Hochschätzung und An- des sozialen Ausgleichs zwischen den Ländern erkennung, die im Westen selbstverständlich zu in Europa. Das Bildungswesen und die soziale sein scheint. Eine andere aktuelle Gefahr ist die Wohlfahrt in Rumänien müssen noch praktisch Flucht ins Spirituelle, weil man für die sozialen wachsen, auch wenn europäische Gesetze gel- und politischen Aufgaben noch nicht gerüstet ten. Nur so lassen sich Probleme wie Korruption ist. Sozialprojekte wurden nach der Wende von oder Abtreibung lösen und eine verantwortete Ordensgemeinschaften und NGOs aus dem Aus- Familienplanung anstreben. Gerade in den är- land nach Rumänien gebracht, die Wurzeln aber meren Bevölkerungsteilen sind Großfamilien müssen noch wachsen. üblich, in denen eine Frau mit dreißig Jahren bis In der Sozialarbeit zeigen sich diese Gefah- zu zehn Kinder hat, alle in der Familie Analpha- ren am deutlichsten im Umgang mit dem Geld. beten sind und in der Folge auch keine Arbeit Dazu passt das drastische Wort von Papst Fran- haben. Ausbildung mit dem Ziel der Arbeitsfä- ziskus, der eine argentinische Volksweisheit zi- higkeit ist deshalb die Hauptaufgabe eines Sozial- tierte: »Geld ist die Scheiße des Teufels.« Roma- projekts, zumindest so lange, bis der Staat seine Leute, die einmal Straßenkinder waren und seit sozialen Verpflichtungen wahrnehmen kann. Jahrzehnten mit uns leben und arbeiten, drücken Verschärft wird die Not noch durch die es lustig aus, indem sie auf Deutsch das bestim- Vorurteile gegenüber der Roma-Bevölkerung. In mende Interesse karikieren: »Geld, Geld, Geld.« einem Dorf würde kaum jemand verstehen und Damit ist auch das Betteln gemeint. Wie kann es akzeptieren, wenn der Bürgermeister sich zu gelingen, den Menschen Arbeit anzubieten, die sehr für die Roma-Bevölkerung einsetzen würde. 60 Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung Diakonia 52 (2021)
orthodoxen Patriarchen hat er in der neuen Ka- thedrale in Bukarest das Vaterunser gebetet, was in der aktuellen kirchlichen Situation in diesem Land keine Selbstverständlichkeit ist. Wichtig war sein Treffen mit der griechisch-katholischen Kirche, in der er sieben Märtyrerbischöfe selig- gesprochen hat. Ihr Bekenntnis zu Christus in der schwersten Zeit soll nicht vergessen werden. Zugleich hat er den Neuanfang dieser kleinen Sozialzentrum Kirche zwischen schwierigen Fronten gestärkt und sie den Großen zum Vorbild gegeben. Er Die Geldproblematik reicht vom rumäni- hat sich an die Jugend gewandt, ohne zu mo- schen Dorf bis nach Brüssel, weil die Kanäle, ralisieren; vielmehr hat er ihnen alle Liebe zu- über die das Geld zu den Bedürftigen fließen gesprochen und sie aufgerufen, sich sozial und soll, nicht vorhanden oder fehlgeleitet sind. politisch zu engagieren. Am auffälligsten war NGOs könnten in dieser Phase eine Überbrü- das Treffen mit den Roma-Vertretern, das der ckung, gleichsam Bypässe für das Herz Europas Papst ausdrücklich gewünscht hat. Diese Volks- bilden. Der grenzüberschreitende Einsatz von gruppe bat er im Namen der Kirche um Verzei- Volontären aus Rumänien und ganz Europa ist hung für Diskriminierung und Ungerechtigkei- dazu ein wichtiger Beitrag. Die Jungen lernen ten und leistete somit einen mutigen Beitrag für einander kennen und gegenseitig die unter- die Heilung der Wunden. Das Zusammenleben schiedlichen Talente schätzen. Auf der einen der Volksgruppen hat er als europäische Aufgabe Seite Wirtschaftlichkeit, Wohlstand und Geld, formuliert. Die Kirchen sollen nicht die Wurzel auf der anderen Seite Armut und menschliche eines Übels der Trennung, sondern Vorreiter für Großzügigkeit, Gastfreundschaft und eine tief Respekt und das Zusammenleben der verschie- verwurzelte Gläubigkeit. Wir haben einander denen Kulturen sein. viel zu geben. Ich habe die Worte von Papst Franziskus Best Practice als Plädoyer für christliche Sozialarbeit gehört, was in einem klerikalen Umfeld für die einen als Ermutigung, für die anderen als schmerzhafte Der Papstbesuch – Kritik wirkte. Wie in seinem gesamten Pontifi- ein Programm kat setzte er auf zwei ignatianische Grundsätze: Im Jahr 2019 hat Papst Franziskus Rumä- erstens die Fähigkeit jedes einzelnen Menschen, nien besucht. Seine Begegnungen und seine die Geister zu unterscheiden, und zweitens die Worte sind ein Programm für den weiteren untrennbare Einheit von Glaube und Gerech- Weg. Er hat die tiefen religiösen Wurzeln in der tigkeit. Kultur Rumäniens angesprochen und mit dem Zuspruch das Volk, das so viel gelitten hat, in sei- ner Würde gesehen und aufgerichtet. Mit dem Diakonia 52 (2021) Georg Sporschill / Aufbruch nach sozialer Verwüstung 61
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