Aufsätze Baden und der "vergessene" Krieg vor 150 Jahren
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Aufsätze Baden und der »vergessene« Krieg vor 150 Jahren Peter Kunze Die Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ist bei uns – anders als in Frankreich – angesichts der Schrecken der Weltkriege des 20. Jahrhunderts gänzlich verblasst. Dabei hatte der zunehmend grausamer geführte »Bruderkrieg« gravierende Folgen für beide Länder und auch die Menschen am Oberrhein: Für Deutschland brachte er die Reichseini- gung und das Kaiserreich, das dann Elsass-Lothringen annektierte. Frankreich wurde nach der Abdankung Kaiser Napoléons III. endgültig zur Republik. Die Julikrise 1870 nischen Frage« vom Zaune gebrochen werden, so wäre klar, dass dann die »gerechte Notwehr« Der Ausbruch des Krieges kam für Baden Preußens und seiner Verbündeten »die sofor- nach einer längeren Friedenszeit fast »wie aus heiterem Himmel«. Allerdings wusste man, dass Frankreich seit 1866 auf »Rache für Sa- dowa« (Königgrätz) aus war und die Rück- gewinnung der 1815 verlorenen linksrheini- schen Gebiete anstrebte. Daher hatte man sich Militärbündnissen mit Preußen angeschlos- sen und die Wehrpflicht eingeführt. Auslöser des Krieges war dann Juli 1870 der überraschende Konflikt zwischen Frank- reich und Preußen wegen der Thronfolge ei- nes Hohenzollern auf dem spanischen Thron. Dabei gelang es Bismarck mit diplomatischem Kalkül, Kaiser Napoléon III. am 19.7.1870 zur Kriegserklärung an Preußen herauszufordern (»Emser Depesche«). In Karlsruhe hoffte man zunächst, dass es Frankreich nicht zum Äußersten würde kom- Großherzog Friedrich I. von Baden men lassen. Sollte aber ein offensichtlich schon (Gemälde von Hans Thoma, 1906) geplanter Krieg unter dem »Vorwand der spa- (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) 422 Peter Kunze Badische Heimat 4 / 2020 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 422 24.11.2020 18:19:49
tige Vollendung des deutschen Staates« zur lärm« von 1848, als der Einfall revolutionärer Folge hätte; denn anders als in Paris erwartet, französischer Arbeiter nach Südbaden drohte. hatten sich Baden, Hessen–Darmstadt, Würt- Erneut wurden die Menschen jetzt von der temberg und Bayern sofort an die Seite Preu- »Franzosenfurcht« erfasst, zumal der franzö- ßens gestellt. Gegen Frankreich, das als An- sische Außenminister Gramont das Großher- greifer auch in Europa isoliert erschienen war, zogtum als »eine Zweigstelle Berlins« charak- bildeten Süddeutschland und Norddeutsch- terisiert hatte, »die man auch auflösen könne«. land als »Wacht am Rhein« damit schon als Ende Juli 1870 war es endgültig mit der ge- »ein unzertrennliches Ganzes«. Die auf Voll- wohnten »Gemütlichkeit« an den Grenzen endung der nationalen Einheit zielende Po- vorbei, als der Schweizer General Hans Herzog litik Bismarcks mit »Blut und Eisen« traf auf mit 37 000 Soldaten an die Grenze zu Baden überwältigende Zustimmung der liberalen Öf- und Frankreich vorrückte. Zuvor hatte Basel fentlichkeit in Baden, die sich von ihr nach der die Durchreise badischer Reservisten über den gescheiterten Revolution von 1848 auch einen Badischen Bahnhof blockiert, während fran- neuen Demokratisierungsschub erhoffte. zösische Soldaten immer noch Genf passieren durften. Daher warf das Großherzogtum der Schweiz einen Bruch der Neutralität vor. Zwar Nachbarn im Krieg blieb die Schweizer Grenze für Zivilisten offen, doch führte Frankreich eine Passpflicht für Die exponierte Lage des Landes weckte in Ba- alle Reisenden ein. Elsässer dagegen konnten den schmerzliche Erinnerungen an die im- die Grenzen weiterhin problemlos überqueren. mer wieder aufbrechenden Konflikte um die Trotz des Abbaus der Schiffsbrücken bei Grenze zu Frankreich – zuletzt in der »Rhein- Hüningen und Alt-Breisach stieg die Angst krise« von 1840 und beim sog. »Franzosen- vor einer französischen Invasion. Man brachte die öffentlichen Kassen in Si- cherheit und überprüfte alle Lebensmittelvorräte. Bei ei- nem Einmarsch nach Südba- den sollten die Bürger aber keinen Widerstand leisten. Zugleich wurden am Rhein- ufer Schutzwehren gebildet, die u. a. unter dem Befehl frü- herer »1848er« standen, etwa Markus Pflüger in Lörrach oder Friedrich Rottra in Efrin- gen. Wie andere Demokraten hatten sie sich nach dem sieg- reichen Krieg gegen Österreich (1866) der preußischen »Real- Aufruf an die Bewohner des Schwarzwaldes vom 31.7.1870 politik« zur Reichseinigung (Stadtarchiv Lörrach) zugewandt. Aber auch Fried- Badische Heimat 4 / 2020 Baden und der »vergessene« Krieg vor 150 Jahren 423 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 423 24.11.2020 18:19:52
rich Hecker oder August Willich befürworte- Niederlage der französischen Rheinarmee bei, ten von ihrer neuen amerikanischen Heimat da wichtige Truppenreserven im Raum Belfort aus – bei aller Skepsis gegen Bismarck – den zurückgehalten wurden. Krieg gegen Frankreich und die Rückerobe- rung von Elsass und Lothringen. Als die Basler Presse das Eintreffen eines Von Straßburg bis Belfort französischen Corps bei Hüningen ankün- digte, besetzte am 2. August 1870 eine Ab- Aufgrund der Bedrohung der Rheingrenze teilung von 500 württembergischen Soldaten, hatte Großherzog Friedrich I. von Baden sofort das sog. »Schwarzwalddetachement« unter nach der Emser Depesche die badische Feld- Oberst Adolf v. Seubert, die Tüllinger Höhe division mobilisiert. Zwei Wochen später er- bei Lörrach, um von dort aus die Situation warteten drei hochgerüstete deutsche Armeen zu erkunden. Gemeinsam mit Bauern und mit weit mehr als einer halben Million Solda- Schutzwehren aus der Umgebung wollte man ten den französischen Angriff am Rhein. Als dem Gegner nachts mit Wachfeuern und mi- sich dieser unerwartet verzögerte, überschritt litärischen Signalen eine viel größere Zahl man Anfang August zum Entsetzen der el- von Truppen vortäuschen und ihn so von ei- sässischen Bevölkerung (»Händ numme keini nem Angriff abhalten. Ängster, s’ kunnt kei preißische Nogel uf franze- Trotz des beeindruckenden Auftritts blieb sische Bode!«) die Grenze bei Lauterburg und es jedoch in Hüningen auf Anordnung des trug den Krieg, der nun auch ein badisch-elsäs- dortigen Kommandanten dunkel und still. sischer Konflikt war, nach Frankreich hinein. Dort standen französische Infanteristen so- Die blutigen Siege von Wissembourg und wie eine Schwadron Kürassiere, die dann in Woerth-Froeschwiller (4.8./6.8.1870) zeigten, der Schlacht von Froeschwiller-Woerth fast dass die französische Rheinarmee unter Mar- bis auf den letzten Mann umkam. Basel da- schall Mac-Mahon unvorbereitet und in weit- gegen war hell erleuchtet, überall ertönten gehender Unkenntnis der örtlichen Verhält- Alarmsignale zum Schutz der Grenze. Aber nisse in den Krieg gezogen war. Dies löste keiner wusste genau, was vor sich ging, ebenso wenig wie in den elsässischen Orten, aus de- nen am nächsten Tag die Men- schen nach Basel flüchteten. Nachdem Seubert weitere Gerüchte über ein nahendes deutsches Armeekorps ge- streut hatte, zog sich das De- tachement wieder in den Süd- schwarzwald zurück. Das Täu- schungsmanöver bei Lörrach führte zur Beruhigung der Bevölkerung und trug dann Eine Elsässerin zeigt französischen Kürassieren den Weg zur Rhein- wesentlich zur vernichtenden grenze (Gemälde v. P. L. Jazet, 1891) (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) 424 Peter Kunze Badische Heimat 4 / 2020 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 424 24.11.2020 18:19:52
Großherzog dafür, dass er sich nicht nur als erster an die Seite Preußens gestellt, sondern auch den »Raub Straßburgs« durch Frankreichs König Lud- wig XIV. rückgängig gemacht habe. Wenige Tage später for- derte die »Denkschrift der badischen Regierung an den Fürsten (Bismarck)« die größt- mögliche Rückverlagerung der französischen Grenze weg vom Rhein. Der französische Marschall Mac-Mahon in der Schlacht bei Wörth. Nach dem Fall Straßburgs Nach einer Zeichnung von F. Kaiser (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) rückten die badischen Trup- pen als Teil des XIV. Ar- dann auch eine panikartige Flucht der Be- meecorps über die Vogesen bis nach Dijon vor völkerung vom Oberelsass in die Schweiz aus und verteidigten bis Kriegsende die südliche (»L’empereur nous a trahi – mer sin verrote Frontlinie Richtung Belfort gegen die Voge- und verkäuft«). senarmee Garibaldis und die neu aufgestellte Die badische Division traf erst gegen Ende Ostarmee General Bourbakis. der Kämpfe auf dem Schlachtfeld von Woerth Dabei waren die badischen Soldaten jen- ein, besetzte dann als Vorhut die Stadt Hage- seits der Sprachgrenze in den Vogesen im nau und nahm im September 1870 an der Be- Kampf gegen Franc-Tireurs und Mobilgar- schießung und Eroberung Straßburgs unter den ganz auf sich allein gestellt. Schon zuvor dem preußischen General Au- gust v. Werder teil. Die frühere Reichsstadt wurde dabei durch badische und preußische Ar- tillerie so schwer getroffen, dass auch wertvolle Kulturgü- ter unwiederbringlich zerstört wurden. Die badische Regierung vertrat von Anfang an das Ziel einer Eroberung von Elsass und Lothringen zum Schutz des eigenen Territoriums. Be- reits bei der Siegesparade in Straßburg am 28.9.1870 dankte der Karlsruher Garni- Badische Truppen vor Hagenau im Juli 1870 sonspfarrer Lindenmeyer dem (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) Badische Heimat 4 / 2020 Baden und der »vergessene« Krieg vor 150 Jahren 425 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 425 24.11.2020 18:19:52
mussten sie allerdings erfahren, dass ihnen tierten »eingebettete« Spezial-Kriegsberichter- viele Elsässer – trotz der problemlosen Ver- statter – aber auch Maler, wie der Lörracher ständigung – feindlich gegenüberstanden, Friedrich Kaiser – das Geschehen im Sinne weil sie sie den verhassten »Preußen« gleich- ihrer militärischen Auftraggeber. setzte (»Der Preiß frißt Oll’s!«). Als Mobilgarden und Franc-Tireurs An- Nach dem Zusammenbruch des Kaiser- fang September 1870 mehrmals die Bahnli- reichs und der vergeblichen Hoff nung auf nie südlich von Neuenburg angriffen, wur- Entsatz durch die geschlagenen französischen den sie von bewaffneten Schutzwehren und Armeen schlossen sich auch Elsässer dem im badischem Militär vertrieben. Neben der Be- September 1870 von der neuen republikani- schießung Kehls und Breisachs durch franzö- schen Regierung ausgerufenen »Volkskrieg« sische Artillerie blieben dies die aber einzigen an und nahmen an Überfällen und Sabotage- Kriegshandlungen auf badischem Boden. Mit akten auf deutsche Truppen, Unterkünfte und der Besetzung des Oberelsass und dem Einrü- Eisenbahnlinien teil, was wiederum zu harten cken preußischer Ulanen in Hüningen kehrte Vergeltungsmaßnahmen führte. am Rhein wieder Ruhe ein. Immer wieder berichtete die badische Seit Juli 1870 war es auch immer wieder Presse über Gewalttaten elsässischer Bau- zu Verstimmungen zwischen der badischen ern an Verwundeten, Angriffen auf Lazarett- und der Schweizer Presse gekommen. Da- züge, den Einsatz sog. »barbarischer Völker im bei musste der Berner Bundesrat im Verlauf Krieg« (Turcos), die Misshandlung von Deut- des Krieges immer wieder die eigene Presse schen in Frankreich oder die Beschießung ermahnen, den Eindruck der Neutralität der von Kehl. Demgegenüber wurde die »deut- Schweiz nicht zu gefährden. sche Zivilisiertheit« hervorgehoben, mit der Anlass waren angebliche Beleidigungen man versuche, »das Herz der Elsässer« zu ge- deutscher Bürger in Basel. Man warf der winnen. Dazu zählte etwa das korrekte Ver- Schweiz daraufhin Parteilichkeit für Frank- halten bei Einquartierungen und Requirie- reich vor und verdächtigte zudem den fran- rungen, die humane Behandlung von Gefan- zösischen Konsul in Basel als Drahtzieher von genen und Verwundeten oder die Versorgung Spionageaktionen am Rhein und im Großher- der schon beim Durchmarsch der französi- zogtum. Als es im Elsass zu Misshandlungen schen Armeen schwer heimgesuchten Men- Deutscher kam, die erklärtermaßen unter schen. Allerdings scheute man sich nicht, die dem Schutz der Schweiz standen, ließen die Bombardierung und Zerstörung von Straß- in Lörrach ansässigen Franzosen verlautba- burg durch badische und preußische Trup- ren, dass sie hier nach wie vor unbehelligt le- pen als legitimes Mittel zur Rückeroberung ben könnten. der »von deutschen Händen erbauten Stadt« Der deutsche Hilfsverein in Basel wiederum zu rechtfertigen. Dem Festungskommandeur lobte den humanitären Einsatz der Schweiz Uhrig warf man vor, die Bevölkerung als für Verwundete beider Seiten. So wurden im Geisel zu halten. All dies gehörte zu einem sich September 1870 auf Schweizer Initiative etwa mehr und mehr entfaltenden Medienkrieg, bei 1500 Frauen, Kinder und Greise aus dem be- dem alle Meldungen über Truppenbewegun- lagerten Straßburg nach Basel evakuiert. gen, Kämpfe und eingesetzte Waffen der Mili- Das »Straßburger Denkmal« von Frédéric A. tärzensur unterlagen. Entsprechend kommen- Bartholdi, dem Schöpfer der Freiheitsstatue 426 Peter Kunze Badische Heimat 4 / 2020 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 426 24.11.2020 18:19:53
von New York und der »Löwen« von Belfort, Krieg, den das deutsche Volk mit seinem erinnert noch heute an dieses Ereignis. Erbfeind zu kämpfen hat, ein heiliger Krieg« Als die nach den Kämpfen um Belfort in sei. Diesen »heiligen Krieg« setzte Schellen- die Enge getriebene Bourbaki-Armee Anfang berg »dem letzten Entscheidungskampf um 1871 in die Schweiz fliehen musste und dort die Herrschaft Israels über Kanaan« gleich, interniert wurde, stellte man die Neutralität dem »Kampf um den Jordan«. In einem »hei- der Eidgenossenschaft erneut infrage. ligen Gotteswerk« gehe es jetzt um das »Ka- naan unseres Vaterlandes … durchflossen vom deutschen Jordan, dem stolzen Rhein«. Gottgewollter Krieg König Wilhelm I. von Preußen sei der neue gegen den »Erbfeind« »Josua«, der in diesem »gerechtesten Kampf vor Gott und den Menschen … die Einheit Von Anfang an wurde die Kriegsstimmung in Deutschlands repräsentieren und sein Recht Baden durch die nationalliberale Presse, die und seine Freiheit wahren sollte«. Die Predigt akademischen Eliten und den liberalen Pro- endete mit dem Aufruf »Stehet allesamt, wie testantismus als Kampf gegen den »Erbfeind« ein Mann, treu bis in den Tod für Volk und Frankreich weiter befeuert. Zu den Pfarrern Vaterland!« der evangelischen Landeskirche, die der Idee 1873 wurde Schellenberg zum Ehrenbürger eines »gottgewollten Kampfes für die gerechte Lörrachs ernannt und kurz darauf als Ober- Sache der Reichseinigung« – und damit den kirchenrat nach Karlsruhe berufen. Zielen des »Deutschen Protestantenvereins« – Dem Kriegspathos der evangelischen Kol- nahestanden, gehörte auch der Lörracher De- legen stand man in katholischen Kreisen Ba- kan Reinhard Schellenberg (1814–1890). Der li- dens deutlich reservierter gegenüber, sah man berale Theologe war 1848/49 als Vikar in Lör- doch eher in Preußen eine Bedrohung (Kul- rach und gewählter Abgeordneter der Frank- turkampf) als im papsttreuen Frankreich. furter Nationalversammlung, zwischen die Aber auch pietistische Gläubige kritisierten Fronten geraten, weil er sich für einen Verfas- die Landeskirche, da sie im Krieg kein legi- sungsstaat und die Einheit Deutschlands, aber times Mittel der Politik, sondern die Strafe gegen Republik und revolutionäre Gewalt aus- Gottes für menschliches Versagen sahen. sprach. Nach Niederschlagung der Revolution Die im Krieg zunehmend befestigte Al- durch den preußischen Kronprinz Wilhelm lianz von evangelischer Kirche, Monarchie zunächst strafversetzt, kehrte Schellenberg erst und Militär wurde später zur »protestanti- 1864 wieder nach Lörrach zurück und wurde schen Grundierung« der Nationalkultur des dort 1866 zum Dekan gewählt. Deutschen Kaiserreiches. Beim landesweit angeordneten Bettag pre- digte er dann am 31. Juli 1870 – also noch vor den großen Schlachten im Unterelsass – in Durch Krieg zur Nation der Lörracher Stadtkirche den heiligen Krieg gegen Frankreich in Analogie zur biblischen Mit der Schlacht von Sedan am 2.9.1870 – Landverheißung an Israel. Die Kirche dürfe später als »militärischer Gründungstag« des sich »nicht der allgemeinen Stimmung ent- Deutschen Kaiserreichs gefeiert – wurde der ziehen«, sondern müsse vermitteln, dass »der Deutsch-Französische Krieg endgültig zum Badische Heimat 4 / 2020 Baden und der »vergessene« Krieg vor 150 Jahren 427 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 427 24.11.2020 18:19:53
Friedrich Kaiser: Schlacht von Sedan. General Reille übergibt die Kapitulationsurkunde Napoléons III. an König Wilhelm I. von Preußen (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) Motor der nationalen Einheit Deutschlands. helm I. von Preußen, am 18.1.1871 im Spiegel- Nach dem Zusammenbruch des Kaisertums saal von Versailles zum »Deutschen Kaiser« in Frankreich und der Gründung der III. Re- aus. In einem Schreiben an den Großherzog publik traten Baden und die süddeutschen erklärte der Kaiser dann wenige Tage später, Staaten dem Norddeutschen Bund bei, aus dass das geeinte Deutschland nach »Sicher- dem dann mit der Verfassung vom 1. Januar stellung seiner Grenzen gegen Frankreich« 1871 das Deutschen Kaiserreich entstand. ein »Reich des Friedens und des Segens« sein Allerdings lehnten etliche frühere Revo- werde. lutionäre und Demokraten, die zuvor noch Auch wenn Baden mit der Reichsgründung für die Herstellung der deutschen Einheit im seine uneingeschränkte Souveränität aufgeben Krieg eingetreten waren, den nur als »Bund musste, blieb es ein eigenständiger Bundesstaat der Fürsten« und ohne Beteiligung der Par- mit Karlsruhe als Residenz der Großherzöge lamente verwirklichten preußischen Obrig- und Sitz des badischen Parlamentes. Wer als keitsstaat ab. »Badener« in den Krieg gezogen war, kam nun Mitten im Krieg und fern der eigenen Be- auch als »Deutscher« in seine Heimat zurück. völkerung rief Großherzog Friedrich I. von Durch die jetzt führende politische Kraft Baden seinen Schwiegervater, König Wil- des Kaiserreiches am Oberrhein erlebten 428 Peter Kunze Badische Heimat 4 / 2020 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 428 24.11.2020 18:19:53
Handel, Wirtschaft und Industrie einen gro- ßen Aufschwung. Die erhofften politischen Reformen und Freiheiten, wie sie dem auf die Einheit zielenden Willen des »Volkes in Waf- fen« entsprochen hätten, ließen jedoch auch in Baden weiter auf sich warten. Annexion und Friedenschluss Nach Sedan und dem Ende des Kaisertums in Frankreich stellte die deutsche Führung der neuen Republik zwei unverhandelbare Frie- densbedingungen: hohe Kriegsentschädi- gungen sowie die Abtretung von Elsass und Lothringen als Schutz vor einem erneuten französischen Angriff. Als dies kategorisch Allegorien von Lothringen und Elsass abgelehnt wurde und das republikanische (hinten Metz (links) und Straßburg), um 1875 Frankreich zu einem blutigen »Volkskrieg« (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) aufrief, rückten die deutschen Truppen wei- ter nach Paris vor. Nach einem letztlich aus- sichtlosen Kampf und der Kapitulation der zustimmen. Die bis dahin unbesiegte Festung Stadt am 28.1.1871 musste man den Bedin- Belfort ergab sich auf Befehl der republikani- gungen zu einem vorläufigen Friedensschluss schen Regierung den Deutschen. Schon seit September 1870 spielte die Frage des zukünf- tigen Friedens auch in der ba- dischen Presse eine zentrale Rolle. Man lehnte die Einmi- schung anderer europäischer Staaten in die Verhandlungen ab und beschwor die deutsch- sprachige Identität von Elsass und Lothringen. Frankreich müsse nach dem verlorenen Krieg für »die alten Wun- den am Leib der Germania« (Speyer, Heidelberg, Straß- burg) und die »Sünden der Rekruten aus dem Elsass melden sich 1871 an der neuen Vergangenheit büßen«. Landesgrenze am Col de Brémont zum Dienst in Frankreich Daher konnte man nicht (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) verstehen, dass sich die Elsäs- Badische Heimat 4 / 2020 Baden und der »vergessene« Krieg vor 150 Jahren 429 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 429 24.11.2020 18:19:53
Konservative, wie etwa der Lörracher Arzt Eduard Kaiser. So blieben die Annexion von Elsass-Lothringen und die Angst vor einer »Revanche« Frankreichs ein schwelender Kriegsgrund und eine große Belastung für den äußeren und inneren Frieden des Reiches. Nach dem Krieg traten in Deutschland übersteigerter Militarismus und nationale Überheblichkeit an die Stelle eines mahnend- mitfühlenden Gedenkens an die Verwun- deten und Gefallenen. Aber auch wer sich in Frankreich dem Revanchedenken wider- setzte, stand außerhalb der Erinnerungsge- meinschaft. All dies hat Jahrzehnte später mit Kronprinzenstandarte des Deutschen zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs beige- Kaiserhauses aus dem Elsass 1870/71 tragen. (Foto: Dreiländermuseum Lörrach) Umso mehr ist die Leistung derer zu wür- digen, die nach drei blutigen Kriegen die Versöhnung beider Nationen und die euro- ser, von denen viele nicht einmal Französisch päische Einigung in Frieden erreicht haben. beherrschten, politisch eher der aus einer Re- Heute können wir an den »vergessenen Krieg« volution hervorgegangenen »französischen von 1870/71 auf beiden Seiten des Rheins in Nation« als dem preußisch-protestantischen freundschaft licher Verbundenheit erinnern. Obrigkeitsstaat zugehörig fühlten und in den Wahlen zur neuen Nationalversammlung so- gar republikanisch wählten. Nicht wenige op- Weiterführende Literatur tierten sich dann später auch für Frankreich und verließen das neue »Reichsland Elsass- Hermann Pölking/Linn Sackarnd, Der Bruderkrieg. Deutsche und Franzosen 1870/71, Herder, Frei- Lothringen«, in das nun »altdeutsche« Be- burg, 2020. amte und Soldaten zuzogen. Michael Epkenhaus: Der Deutsch-Französische Weil man Frankreichs »Rache für Weißen- Krieg 1870/71, Reclam, Ditzingen, 2020. burg und Wörth« und eine mögliche »Revan- che« erwartete, löste es in Südbaden Sorgen aus, als das eigenständige »Territoire de Belfort« nach dem Krieg dann doch bei Frankreich blieb. Die harten Bedingungen des Frankfurter Friedens vom 10.5.1871 trafen dagegen auf fast einhellige Zustimmung. Nur sehr wenige sa- Anschrift des Autors: hen darin schon die Saat zu neuer Feindschaft Dr. Peter Kunze gelegt – darunter die später als »Reichsfeinde« Läublinstraße 13 geltenden Sozialdemokraten, die auf eine eu- 79576 Weil am Rhein pkweil@t-online.de ropäische Friedenslösung hofften, aber auch 430 Peter Kunze Badische Heimat 4 / 2020 422_Kunze_Baden und der vergessene Krieg.indd 430 24.11.2020 18:19:53
Sie können auch lesen